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Mit Sand und Blut

[Prequel zu Schwarzer Komet]
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Wow, es scheint mir noch gar nicht lange her zu sein, dass ich den Prolog hochgeladen habe - wie die Zeit verfliegt XD"

Dieses Kapitel hier arbeitet vorrangig mit Minerva-PoV und dieses Schema wird sich auch in Zukunft immer so durchsetzen, dass sich Sting und Minerva kapitelweise als PoV abwechseln, während andere Charaktere zwischendrin noch mit eingestreut werden.
Die zweite Szene mag in ihrer Schreibweise ein bisschen irritierend wirken, aber dazu wird es im späteren Verlauf eine Erklärung geben.
Außerdem tauchen hier bereits einige OCs auf. Keiner davon ist besonders wichtig - der wichtigste OC der ganzen Story ist im Grunde Athenaeos, an dem ich btw irgendwie einen Narren gefressen habe. Seine Beziehung mit Minerva wird in dieser Geschichte - und sogar darüber hinaus - immer wieder eine wichtige Rolle spielen.
Und es gibt natürlich viel World Building und auch einige kleinere Andeutungen, weil... why not? XD"
Und entschuldigt den kleinen Exkurs in die Botanik, aber ich habe mir die hübschesten/nützlichsten Wüstenpflanzen heraus gepickt und wollte sie dann einfach drin haben^^' (Immerhin habe ich eine Erklärung dafür, warum sie überhaupt erwähnt werden? XD")
Und ich habe keine Ahnung, ob man aus Datteln Tee brühen kann. Ich sage einfach mal, dass das hier geht. Ich persönlich stelle ihn mir sehr eklig vor, weil ich keine Datteln mag. Zuerst habe ich ja an Kaktustee gedacht, aber dann hatte ich mich dafür entschieden, dass ich die Stille Wüste an den afrikanischen Wüsten orientieren will und damit waren die Kakteen dann kein Thema mehr^^'

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
Yosephia Komplett anzeigen

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Der lachende Junge

Der angenehm süße Duft von Datteltee kitzelte Minervas Nase, als sie langsam wieder zu sich kam. Nur zu gut kannte sie diesen Duft. Ihr Onkel hatte immer Datteltee getrunken, während er über seiner Schreibtischarbeit gebrütet hatte. Er hatte ihr einmal erklärt, dass dieser Tee ihm half, Kraft zu tanken. Natürlich hatte sie diesen Tee auch selbst ausprobiert und sie mochte ihn, aber für sie war er in erster Linie eine Erinnerung an ihren Onkel – und das verlieh dem Duft nun eine schmerzhaft-bittere Note, die Minervas Kehle für einen Moment eng werden ließ.

Langsam öffnete Minerva die Augen. Über sich erkannte sie eine sorgfältig behauene und danach mit roten und blauen Malereien versehene Steindecke. Unter den Motiven erkannte Minerva neben stilisierten Tamarisken, Löwen, Menschenfiguren, Raben und Geiern auch mehrere Basilisken.

Noch nie hatte sie einen dieser Drachenartigen mit eigenen Augen gesehen, aber ihr Onkel hatte ihr viel von ihnen erzählt. Er hatte sie immer auf seinen Schoß gezogen und mit ihr die Zeichnungen in einem dicken Buch betrachtet, welche die Basilisken in allen Facetten darstellten. Wo dieser kostbare Foliant jetzt wohl war? Ob ihr Vater ihm überhaupt Beachtung geschenkt hatte, als er das Arbeitszimmer ihres Onkels inspiziert hatte?

Minerva wandte den Blick von den Zeichnungen ab und zur Seite. Sie stellte fest, dass sie in einer gemütlichen Schlafnische lag, die zu einer großzügigen Höhle mit eingelassenen Regalen, weiteren Schlafnischen, einer Kochstelle und einer gemütlichen Sitzecke gehörte. In den Regalen standen und lagen einige wenige Bücher, sowie Schriftrollen, geschnitzte und gemeißelte Figuren, Tonkrüge, Bastkörbe und allerhand Tierknochen und –zähne.

Es war ein Raum der Nachdenklichkeit, des Beratens und des Lernens. So hatte Minerva sich die Höhle des berühmten Wüstenweisen Gran Doma immer vorgestellt, von dem ihr Onkel immer in den höchsten Tönen gesprochen hatte. Allerdings hielt sich die beruhigende Wirkung der Höhle bei dem Mädchen in Grenzen. Zu frisch war der Schmerz des Verlusts, zu drängend das Pflichtgefühl.

Langsam kroch Minerva aus der Schlafnische heraus. Etwas bröckelte von ihren Wangen ab und als sie darauf herum tastete, bemerkte sie erst eine leicht krümelige Paste, die dick darauf aufgetragen war.

„Versuche, es dran zu lassen. Deine Haut wird die Feuchtigkeit aufnehmen, das wird die Schmerzen und das Schwindelgefühl lindern.“ Minerva zuckte zusammen und wirbelte herum. Der Wüstenweise stand im Eingang der Höhle und musterte sie aufmerksam.

Er war ein großer Mann, größer als die meisten anderen Männer, die Minerva kannte, und er hatte einen langen, ergrauenden Bart und ebenfalls ergrauende Haare, die ihm auf die Schultern gefallen wären, wenn er sie nicht nach Art der Wüstennomaden im Nacken zu einem Zopf geflochten hätte. Seine Gesichtszüge erinnerten Minerva an einen Greifvogel, markant und scharf geschnitten. Seine Augen waren schmal und ihr Blick schien sich direkt in Minervas zu bohren. Das Mädchen fühlte sich wie bei einer Prüfung, was ganz unwillkürlich den Trotz in ihm wach rief. Es würde jede Prüfung bestehen, die es auf sich nehmen musste, um dem Erbe seines Onkels gerecht zu werden!

Gran Doma hob die Augenbrauen ob dieser Herausforderung, sagte jedoch nichts dazu, sondern ging mit seinem knorrigen Stock aus Tamariskenholz zum Kochfeuer, um aus der gusseisernen Kanne Tee in zwei tönerne Becher zu schenken. Einen stellte er neben das Feuer, vom anderen nahm er einen vorsichtigen Schluck. Minerva kam der Aufforderung nach, ging zum Feuer und nahm den Becher an sich. Vorsichtig blies sie auf die heiße Flüssigkeit, ehe sie daran nippte.

Der Tee schmeckte genau so, wie sie ihn von ihrem Onkel in Erinnerung hatte. Ob er sich immer Datteln von den Wüstennomaden geholt hatte? Es hätte zu ihm gepasst. Seine Wurzeln in der Wüste waren ihm immer sehr wichtig gewesen und das hatte er auch so an Minerva weiter gegeben.

„Ich habe vorhin Händler nach Sabertooth geschickt, die heraus finden sollen, was dort vor sich geht“, begann Gran Doma das Gespräch schließlich und blickte über den Rand seines Bechers zu Minerva. „Es wird bis zu einem halben Mond dauern, bis sie wieder da sind. Bis dahin möchte ich deine Sicht der Dinge erfahren. Was ist geschehen? Wieso nimmt ein so junges Mädchen einen so gefährlichen Weg auf sich?“

Vorsichtig nippte Minerva wieder an ihrem Becher und betrachtete die Verwirbelungen der Flüssigkeit darin. Ihre Nase war voll und ganz vom süßen Dattelgeruch erfüllt. Minerva erzitterte, aber sie versuchte, es zu überspielen, indem sie langsam den Becher absetzte und dann direkt in die Augen des Wüstenweisens blickte.

„Onkel Athenaeos wollte, dass ich nach ihm Fürstin von Sabertooth werde. Er hat mich immer darauf vorbereitet.“

Bedächtig nickte Gran Doma. „Nach dem Recht der Unsterblichen Kaiserin bist du als Tochter von Fürst Athenaeos’ verstorbener Schwester die einzige legitime Nachfolgerin.“

„Aber Onkel ist tot“, erklärte Minerva gepresst und ganz unwillkürlich schlang sie die Arme um ihre angezogenen Beine. „Und Vater ist jetzt der Regent.“

„Auch das entspricht dem Recht. Du bist zu jung, um bereits auf dem Fürstenthron zu sitzen“, erklärte der Alte leise. „Dem Recht nach ist er der Regent, bis du deine achtzehnte Dürre erreicht hast und dein Erbe antreten kannst.“

„Er wird es mir aber nicht geben!“, erklärte Minerva heftig und sprang auf die Beine, die Hände zu zitternden Fäusten geballt. „Er wollte mich mit einem Lakaien verloben! Er will mich einsperren!“

Unbeeindruckt nahm Gran Doma einen weiteren Schluck Datteltee zu sich, ehe er zu Minerva aufblickte. Er war so groß, dass er im Sitzen beinahe mit der stehenden Minerva auf Augenhöhe war, aber das war es nicht allein, warum Minerva sich immer kleiner und schwächer unter seinem forschenden Blick fühlte. Ihre Wut auf ihn verflog langsam wieder und schließlich ging sie in die Knie, legte ihre Faust gegen die Stirn und bot Gran Doma dann die offene Hand dar, während sie sich verbeugte.

„Ich brauche Eure Hilfe. Ich will Onkels Erbe bewahren…“

Der Wüstenweise ließ sich Zeit für noch einen Schluck, ehe er sanft über Minervas Hand strich. Als das Mädchen aufblickte, zog er seinen Stock heran und zeigte ihn Minerva. An das knorrige Holz, das von den vielen Händen der Wüstenweisen bereits glatt poliert war, waren lauter teilweise unterschiedlich eingefärbte Baststricke geknotet worden, an welchen Federn, Knochen, Zähne, Holzstückchen, getrocknete Kräuter, kleine Papierrollen und Haarbüschel befestigt waren. Gran Doma verfolgte einen Strick, der aus einem schwarzen und zwei roten Stricken geflochten worden war und an dessen Ende ein schwarzes Haarbüschel hing, welches er nun hoch hielt.

„Dies sind die Haare deines Onkels, Minerva. Er hat als Kind mehrere Zyklen hier verbracht, er ist zum Reiter ausgebildet worden, hat den Herzschlag der Stillen Wüste gespürt, hat unsere Gebräuche kennen gelernt und verinnerlicht. An dem Tag, als er nach Sabertooth zurück gerufen wurde, hat er meinem Vorgänger diese Haare gegeben zum Zeichen seiner Verbundenheit…

„Ich habe Athenaeos sehr geschätzt. Alle Wüstennomaden haben ihn sehr geschätzt. In unseren Augen bist du die einzig wahre Fürstin von Sabertooth und deshalb nehmen wir dich gerne hier auf und bieten dir an Schutz und Ausbildung, was wir nur geben können. Aber wir können nicht um deinen Thron kämpfen. Wir sind zu wenige dafür.“

„Aber…“ Verstört starrte Minerva den alten Mann an, in den sie all ihre Hoffnungen gesetzt hatte. Als sie aus Sabertooth in die Stille Wüste geflohen war, hatte sie fest daran geglaubt, dass die Wüstennomaden ihr helfen können würden. Sie hatte für diesen Glauben ihr Leben riskiert!

Behutsam knüpfte Gran Doma das Haarbüschel los und ergriff dann Minervas Hand, um die Haare hinein zu legen. „Hat Athenaeos dir etwas darüber beigebracht, wie man Basilisken melkt?“

Zitternd schloss Minerva die Faust um die Haare ihres Onkels und schüttelte den Kopf. Sie brachte es nicht fertig, den Wüstenweisen anzusehen, denn auf einmal brannten ihre Augen auf geradezu schmerzhafte Weise und sie wollte auf gar keinem Fall, dass er sie weinen sah.

„Nun, zuallererst braucht es dafür die Erfahrung, das Nest eines Basilisken zu finden“, erklärte der Alte ruhig. „Dann braucht es die Geduld, den Schlupf abzuwarten. Und zu guter letzt braucht es die Besonnenheit, genau in dem Moment zu zugreifen, wenn der junge Basilisk nicht darauf vorbereitet ist.“

Gran Doma beugte sich vor und legte Minerva eine Hand auf die Schulter. Seine Augen wirkten erstaunlich sanft, als das Mädchen gezwungenermaßen aufblickte. „Erfahrung, Geduld und Besonnenheit, Minerva. Das sind deine wichtigsten Werkzeuge zum Thron von Sabertooth.“
 

Mit schmerzverzerrtem Gesicht ließ der Junge sich auf einer steinernen Bank im Fürstlichen Garten von Sabertooth nieder. Seine rechte Hand war dick bandagiert und auch um den Kopf trug er einen Verband. An seiner linken Wange klebte eine unangenehm riechende Paste auf einer Schürfwunde und seine linke Seite tat beim Atmen weh. Laut dem nervösen Arzt bestand kein Grund zur Sorge, aber er hatte dazu geraten, einen Heiler zumindest die Prellung an den Rippen kurieren zu lassen. Aber der Junge war natürlich nicht zu einem Heiler gebracht worden. Wieder einmal nicht. Laut seinem Vater würden Heiler die Menschen verweichlichen lassen.

Und der Sohn des Blutschakals durfte nicht verweichlichen. Er musste härter, stärker, schneller und klüger als alle anderen sein. Tag ein, Tag aus wurde das dem Jungen eingetrichtert und das schon, solange er sich erinnern konnte. Als kleiner Junge hatte er bereits hölzerne Waffen in die Hand bekommen. Nun, mit acht Sommern, hielt sein Vater ihn für stark genug, um mit richtigen, wenn auch noch stumpfen Waffen zu kämpfen.

Was mit den Holzwaffen für den Jungen ganz einfach gewesen war, bereitete ihm nun wieder die größten Schwierigkeiten. Er war das erhöhte Gewicht einfach nicht gewohnt, aber laut seinem Vater war das nur eine faule Ausrede für sein Versagen – und die Bestrafung für Versagen hatte der Junge unbarmherzig zu spüren bekommen. Auch nicht das erste Mal.

Zum Glück musste der Blutschakal nun seiner Aufgabe als neuer Rüstungsmeister von Sabertooth nachkommen. Das gab dem Jungen endlich einmal wieder die Gelegenheit, den Frieden des Gartens zu genießen. Hier, im langen, dunklen Schatten einer großen, uralten Pinie, konnte er die einzige Freude genießen, die er in seinem Leben bisher kennen gelernt hatte. Hier musste er nicht hart sein, hier konnte er sich einfach entspannen und die Pflanzen um ihn herum betrachten.

Der Garten war nicht besonders groß, maß an jeder Seite vielleicht dreihundert Schrittlängen, und war von Mauern umgeben. Eine kleine Oase im hektischen Getümmel der großen Fürstenstadt. Rückzugsort für Generationen von Orlands.

An einem künstlichen Kanal, der einmal quer durch den Garten floss, wuchs hohes Papyrusgras, das zur Hälfte vor kurzem geerntet worden war. Im gesamten Garten standen Apfelbäume, Dattelpalmen, Olivenbäume, Granatapfelbäume und diese eine hoch aufragende Pinie, deren Äste bereits altersschwach und an mehreren Stellen abgebrochen waren.

Zwischen den Bäumen befanden sich allerhand Sträucher, darunter auch Myrte. Am weitesten vom Kanal entfernt wuchsen einige Weihrauch- und Myrrhepflanzen. Und auf den freien Grasflächen wuchsen wild durcheinander Safrankrokusse, Bilsenkraut und Hornklee.

Gewiss befanden sich noch allerhand mehr Pflanzen in diesem Garten, doch der Junge kannte sie nicht. Ginge es nach seinem Vater, wären ihm auch die aufgezählten unbekannt, doch er hatte sich heimlich ein Buch mit sehr detaillierten Pflanzenzeichnungen besorgt und damit die Pflanzen bestimmt. Einfach um einmal mit etwas anderem als Kämpfen und Gewalt zu tun zu haben…

Er konnte nicht einmal erraten, welche Strafe ihm blühen würde, wenn sein Vater jemals davon erfahren sollte, womit er sich in seiner Freizeit beschäftigte, aber er hatte das perfekte Versteck für das Buch gefunden. Sein Vater würde es nie finden, dessen konnte er sich sicher sein.

Je länger der Schatten der Pinie wurde, desto behaglicher fühlte der Junge sich. Der Schmerz der Verletzungen war noch immer da, blieb mit jedem Atemzug präsent, aber dennoch verspürte der Junge Geborgenheit. Der Schatten schien ihn einzuhüllen, war lindernd kühl, fühlte sich wie eine schützende Decke an – oder gar wie eine Rüstung…

„Raios? Raios, wo bist du?“

Der Junge zuckte zusammen, als die gebrechliche Stimme des Meisters der Bücher vom Garteneingang her erklang. Schnell huschte sein Blick zum Obelisken in der Nähe, dessen Schatten am Boden auf die Markierung für die fünfte Stunde fiel. Obwohl es entsetzlich weh tat, sprang der Junge auf die Beine und beeilte sich, zum Besitzer der Stimme zu kommen.

„Verzeiht mir, Meister, ich habe die Zeit vergessen“, erklärte wahrheitsgemäß.

Der verhutzelte Mann blickte den Jungen forschend an, sagte jedoch nichts zu den sichtbaren Blessuren oder zur Kurzatmigkeit seines Schülers, wofür dieser ihm aufrichtig dankbar war. Jeder wusste, was er zu erdulden hatte, aber darüber sprechen wollte er nicht, konnte er nicht.

„Wir werden heute eine verkürzte Lehrstunde abhalten, damit du rechtzeitig zum Essen kommst. Das können wir uns schon erlauben“, erklärte der Alte nur und drehte seinen dürren Körper, um zurück in den Palastkomplex zu humpeln, schwer auf den Olivenholzstock gestützt.

Der Junge beeilte sich, ihm zu folgen, aber im Gehen warf er der Pinie einen letzten sehnsüchtigen Blick zu. Beinahe hatte er den Eindruck, als würde ihr Schatten ihm bedauernd hinterher winken…
 

Ein Dutzend wohlgenährter, aufmerksamer Kindergesichter blickte Minerva entgegen, als sie hinter Gran Doma in die Unterrichtshöhle trat. Sie war mit handgeknüpften Teppichen und mit Bastmatten ausgelegt, einige mit teilweise schon verblassenden Mustern oder Bildern versehen, andere einfarbig.

Die Wände waren über und über bemalt, aber es schien ein System hinter all den Motiven zu stecken. Ein Viertel der Wände war mit lauter Tier- und Pflanzenzeichnungen versehen, alle ausgesprochen detailgetreu. Ein Viertel enthielt das fiorianische Alphabet, Konjugations- und Deklinationstabellen, einfache Satzschemata und dann das Ganze noch mal für die boscanische Sprache. Das dritte Viertel schien sich der Mathematik zu widmen. Minerva erkannte viele der Formeln wieder, die ihr Onkel ihr in Sabertooth beigebracht hatte. Gewicht- und Längenmaßeinheiten, Winkelbemessungen. Vieles davon verstand Minerva selbst noch nicht, aber sie hatte die Abbildungen beim Überblättern des Lehrbuches gesehen.

Das letzte Viertel war schwieriger zu deuten. Es war in lauter kleinere Segmente eingeteilt. In einigen davon waren vereinfachte Menschen und Basilisken dargestellt, in anderen wiederum nur Mensch, aber in unterschiedlichen Farben. Zwischendurch waren auch Segmente mit Drachen zu sehen. Vielleicht standen diese Segmente für Geschichtslektionen oder für Legenden? Ungewollt zuckte Minerva zusammen, als sie ein Segment mit zwei Löwen sah, die einem Basilisken gegenüber standen.

Schnell wandte sie den Blick davon ab und ließ ihn weiter über die Höhle schweifen. Die rund behauene Decke war mit Sternbildern verziert worden, die gewiss auch Unterrichtszwecke hatten. Bei den Wüstennomaden schien alles einem Zweck zu dienen, egal wie sehr es zuerst nach Dekoration aussehen mochte.

„Auch wenn ihr es vor zwei Tage wahrscheinlich schon mitbekommen habt, das ist Minerva. Sie wird ab sofort bei uns leben und unsere Lebensweise erlernen. Benehmt euch und macht es ihr nicht schwer“, erklärte Gran Doma mit Strenge in der Stimme. Trotzig schob Minerva das Kinn nach vorn. Sie war eine Orland, sie brauchte nicht den Schutz eines alten Mannes, wenn irgendjemand meinte, sich mit ihr anlegen zu können!

Die meisten der Kinder sahen sie mit einer Mischung aus Neugier und Skepsis an. Doch ein Junge schenkte ihr ein strahlendes Grinsen. Er stach in jedweder Hinsicht aus der Gruppe heraus. Seine Haare hatten die Farbe von Stroh und erinnerten in ihrer gezielten Wildheit an eine Löwenmähne. Es gab kein Anzeichen dafür, dass sie die meiste Zeit unter einem schützenden Kopftuch platt gedrückt wurden, wie es bei den anderen Kindern der Fall war. Auch hatte der Junge im Gegensatz zu den anderen Kindern kein Kopftuch um den Hals hängen. Seine Haut war jedoch gleichmäßig gebräunt und die Haare waren teilweise beinahe weißblond gebleicht, also schien er dennoch viel an der Sonne zu sein. Sein Körper war der eines schlaksigen Jungen von acht Dürren, so wie Minervas Körper auch. Und seine Augen mit den seltsam schlitzartigen Pupillen waren von einem außergewöhnlich tiefen Blau, wie Minerva es bisher nur bei mit kostbarem Indigo gefärbten Kleidungsstücken gesehen hatte.

Irgendwie haftete ihm etwas Animalisches an. Anders als die anderen Kinder konnte der Junge kaum still sitzen und er hörte auch dann nicht auf zu grinsen, als Minerva den Blick von ihm abwandte und sich ganz an den Rand der Gruppe setzte, wo sie alle Kinder aus dem Augenwinkel heraus beobachten konnte, während sie Gran Doma ihr Hauptaugenmerk schenkte.

Der Wüstenweise blieb bei der Wand mit den vielen Segmenten stehen und deutete auf eines davon. Es zeigte mehrere Menschenfiguren und ihnen gegenüber seltsam unförmige Wesen, deren Konturen nur sehr vage denen eines Menschen ähnelten. Die Menschenfiguren hielten Speere und Säbel in die Höhe, die anderen Wesen schienen unbewaffnet zu sein.

„Wir sind beim letzten Mal bei den Golem-Kriegen stehen geblieben. Kann sich einer von euch noch erinnern, was ich darüber erzählt habe… Sting?“

Der Blondschopf blinzelte überrascht und sein Kopf drehte sich langsam nach vorn. „Was?“ Einige Kinder um ihn herum kicherten, aber der Junge namens Sting ließ sich keinerlei Verlegenheit anmerken.

Gran Doma musterte den Jungen scharf. „Die Golem-Kriege, Sting? Erinnerst du dich?“

„Ähm… das war vor… achthundert Zyklen…“, begann Sting gedehnt.

„Achthundertfünfzig“, flüsterte ein Mädchen besserwisserisch neben ihm.

Der Blonde schnitt ihr eine Grimasse und blickte dann wieder nach vorn auf das Segment, als könnte es ihm einen Hinweis geben. „Die Menschen wollten die Stille Wüste für sich haben und haben das Brutgebiet der Steingolems angegriffen.“

„Die Golems haben die Menschen angegriffen“, widersprach ein Junge mit dunkelbraunen Haaren eifrig.

„Ist doch egal“, knurrte Sting genervt.

„So ist es aber nicht gewesen!“, erboste sich der Junge weiter.

„Woher sollen wir das wissen?“, erwiderte Sting rebellisch. „Keiner von uns war dabei. Und die Geschichte haben die Menschen weiter erzählt, nicht die Golems.“

Eine lautstarke Diskussion unter den Kindern brach aus. Die meisten hielten daran fest, dass Sting die Geschichte falsch angefangen hatte. Unbeeindruckt saß Sting einer Mehrheit gegenüber, das Kinn trotzig vorgeschoben, die Arme vor der Brust verschränkt.

Erst als Gran Doma mit seinem Stock gegen die Wand klopfte, verstummten die Kinder, die meisten von ihnen verlegen oder gar beschämt.

„So eine Lektion mag etwas früh sein, aber Sting spricht einen wichtigen Punkt an, Kinder.“

„Aber Meister, Ihr habt gestern selbst gesagt, dass die Golems die Menschen angegriffen haben“, piepste ein schwarzhaariges Mädchen mit großen Augen.

„Ich habe gesagt, dass überliefert wird, dass die Golems die Menschen angegriffen haben, Niura, das ist ein Unterschied“, erwiderte der Wüstenweise geduldig. „Sting hat Recht, wenn er sagt, dass keiner von uns die Ereignisse damals mit eigenen Augen beobachten konnte. Wir wissen nur das, was die Menschen darüber erzählt haben, und Menschen wollen es selten zugeben, wenn sie etwas Schlechtes getan haben. Es kann also durchaus sein, dass die Menschen damals als erste angegriffen haben…“

Der Alte verstummte und richtete seinen Blick auf Minerva, die langsam die Hand gehoben hatte. Eines nach dem anderen wandten auch die anderen Kinder ihr die Köpfe zu, offenkundig verwirrt.

„Du musst dich nicht melden, Minerva. Hier bei uns hat jeder das Recht, dann zu sprechen, wenn er etwas zu sagen hat.“

Das Mädchen ließ die Hand wieder sinken. Diese Vorgehensweise erschien ihm ausgesprochen unzivilisiert. In Sabertooth hatten die Männer und Frauen stets um Erlaubnis gebeten, bevor sie etwas gesagt hatten. Sogar bei den Versammlungen des Rates von Sabertooth war das so zugegangen. Minerva hatte ein paar Mal dabei sitzen und zuhören dürfen. Nicht dass sie viel von dem Gerede über Sachen wie Steuern, Verträge und Allianzen verstanden hätte, aber sie hatte doch zumindest die Verhaltensregeln verstehen können. Es war für sie schwer vorstellbar, dass das hiesige Vorgehen tatsächlich funktionieren konnte.

Nun gut, das war das Problem der Wüstennomaden, tat Minerva es ab und brachte ihr Anliegen zur Sprache: „Wieso lehrt Ihr etwas, von dem Ihr nicht sicher wisst, wie es war? Was bringt das? Ist das nicht Zeitverschwendung?“

Mit großen Augen starrten die Jungen und Mädchen sie an. Ein Junge in ihrer Nähe rutschte sogar etwas von ihr weg. Sie taten gerade so, als hätte Minerva ein Verbrechen begangen. Anscheinend durfte man doch nicht einfach sagen, was man wollte, stellte Minerva beinahe gehässig fest.

„Es ist nur dann eine Zeitverschwendung, wenn man nichts daraus lernt, Minerva“, erklärte Gran Doma ruhig, aber mit einer gewissen Strenge in der Stimme. „Wenn man die Dinge so wie Sting hinterfragt, lernt man au-“

„Solltet Ihr nicht stattdessen etwas lehren, was im Kampf weiter hilft?“, platzte es aus Minerva heraus.

Einige der Kinder keuchten entsetzt. Sting jedoch bedachte Minerva schon wieder mit diesem strahlenden Grinsen, das sie deutlich genug sah, obwohl sie gar nicht in seine Richtung blickte.

Nun blickte Gran Doma sie unverhohlen streng an. „Die Wüstennomaden sind kein Kriegervolk, Minerva. Wir kämpfen, wenn wir uns verteidigen müssen, und darauf werden wir vorbereitet, aber hier und jetzt geht es nicht darum. Das Leben besteht aus sehr viel mehr als aus Kämpfen.“

„Das ist sinnlos!“, begehrte Minerva auf und sprang auf die Beine. „Das hilft mir nicht weiter!“

„Wenn du tatsächlich der Meinung bist, dann kannst du gerne in den Inneren Kreis gehen und dir da eine Beschäftigung suchen“, erwiderte Gran Doma noch immer streng und deutete auf den Ausgang der Höhle.

Trotzig stemmte Minerva sich in die Höhe, drehte sich um und verließ die Höhle mit hoch erhobenem Kinn. Noch während sie dem Gang folgte, hörte sie, wie der Wüstenweise mit seiner Lektion über die Golemkriege fortfuhr, als wäre nichts gewesen. Der Gedanke, wie wenig er sich um die kümmerte, erfüllte sie mit bitterer Einsamkeit und ihre Hände ballten sich zu hilflos zitternden Fäusten, während sie versuchte, lauter aufzustapfen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: Arianrhod-
2018-02-18T22:43:28+00:00 18.02.2018 23:43
So, das krieg ich heute auch noch hin. >.< Wenn schon nicht den Kommentar für die Week, dann wenigstens den!

Zuallererst muss ich mal sagen, dass mir diese Schulhöhle (oder wie auch immer sich das nennt) wahnsinnig gut gefallen hat! Das ist eine tolle Idee, die Schulbücher sozusagen als Wandgemälde zu machen. Und es fügt sich so gut in das ein, was man / ich über die Wüstennomaden weiß. :)

Datteltee gibt es übrigens, die Info ist nur eine Googlesuche entfernt. XD“
Anyway, mir gefiel die Verknüpfung von dem Tee, Minervas Erinnerungen und ihrem Onkel. Das hat etwas schmerzlich-nostalgisches. Ich gehe davon aus, dass Athenaeos diese Angewohnheit ebenfalls von den Wüstennomaden mitgebracht hat. Und das erwähnte Buch, ist das schon in diesem eienen OS aufgetaucht?
Die Höhlen der Wüstennomaden gefallen mir, obwohl ich zugeben muss, dass ich mich da vermutlich nicht sehr wohlfühlen würde – die müssen da alle auf einem Haufen hocken, ohne viel Platz für sich selbst. >.< Das wäre nichts für mich, passt aber perfekt auf dieses Volk.

Und dann Auftritt Gran Doma! Du kriegst es hier echt gut hin, ihn sympathisch wirken zu lassen und er füllt seine Rolle gut aus. ^^ Der Stock ist wieder so ein schönes Detail mit seinen kleinen Anhängseln. Außerdem muss Grans Gedächtnis echt hervorragend sein, dass er sich das merken kann. ^^“ Ist der Stock nicht irgendwann viel zu voll?
Das Gespräch fand ich gut und der Kontrast zwischen den beiden ist ziemlich krass, aber auch ziemlich verständlich. Gran bleibt ruhig, bedächtig, überlegt. Er hat sich sicher schon einiges zusammengereimt, was passiert ist. Ich finde es auch schön, dass sie so rückhaltlos Unterstützung findet, von ihm, aber auch von den Nomaden, die da sicher zugestimmt haben, dass sie bleiben darf. Auch sein Rat am Ende der Szene ist da schön auf einer Linie mit.
Minerva dagegen ist aufgebracht und wütend und kann keine Sekunde warten. Aber den Mut hat sie jetzt schon – es kann ja nicht einfach sein, allein durch eine Wüste aufzubrechen. Ich bin sehr gespannt, wie sie sich entwickeln wird um zu der Person zu werden, die sie in SK ist. Sie hat noch einen langen Weg zu gehen.

Das setzt sich auch wunderbar in der dritten Szene fort. Minerva war hier zornig und ungeduldig und versteht nicht, warum sie nicht etwas Nützliches lernen darf, dass ihr bei ihrer Aufgabe hilft, weil sie die ja sofort morgen angehen will. Oder halt gerne würde…
Ich weiß, es ist nicht leicht, geduldig zu sein, v.a. bei so großen Dingen, und sie ist noch sehr jung, aber sie wird schon noch lernen, sich in Geduld zu üben und dass das, was Gran Doma den Kindern hier beibringt, vielleicht doch noch nützlich sein kann. Irgendwie.
Was ich ja schon erwähnt habe, ist, wie toll ich die Sache mit den Wandgemälden finde. Das passt einfach so verdammt gut!
Während die anderen Kinder halt … naja, Kinder sind, sticht Sting schon deutlich hervor. Und auch wenn er im Moment ein wenig Blödsinn redet, weil er alles vergessen hat (da bin ich sicher ^^“), haben seine Gedanken eindeutig Hand und Fuß. Will man ihm gar nicht zutrauen, aber hinter seiner leichtfertigen Fassade steckt etwas.
Dass er Minerva super-spannend findet, hat er im letzten Kapitel ja schon gezeigt. Hier macht er keinen Hehl aus seinem Interesse und er wird sicher nicht lange warten, ehe er sie anspricht. Vermutlich gleich, nachdem der Unterricht vorbei ist. Ich bin ja gespannt, wie sie auf ihn reagieren wird. Im Moment hat sie ja alle Krallen ausgefahren und die sind scharf genug.

Und die zweite Szene… Am man, kann man ihn irgendwie knuddeln oder sonst was Gutes tun? >.< Er tut mir ja fürchterlich leid, v.a. da ich weiß, dass sich das nicht so bald ändern wird. Aber trotzdem – wie kann man ein Kind so behandeln? Ihm Waffenkunst beizubringen ist in solchen Settings ja nichts Ungewöhnliches, aber diese Art ist einfach unmenschlich.
Es ist nur ein kleiner Einblick, den du in sein Leben gestattest, aber er zeigt schon einiges, auch wenn gar nicht so viel passiert. Trotzdem… es hat gereicht um zu zeigen, wo er steht und was er durchmacht. Wenigstens scheint er in dem Lehrer eine freundliche/unterstützende Seele gefunden zu haben. Hat er verdient!
(Wo hat er denn dieses Buch versteckt?)

Whups, irgendwie lang geworden. XD“ Aber ich hau mich jetzt auch aufs Ohr.
Gruß
Arian


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