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Sommer in Hasetsu

von

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Teil 3 - Tanabata

„Yuuri?“

„Hm?“

„Überall in der Stadt wird etwas vorbereitet. Gibt es etwas zu feiern?“

Ich seufze und reibe mir mit den nassen Händen über mein Gesicht. Ich habe gehofft, er würde nicht danach fragen, bis es soweit ist.

„Tanabata“, antworte ich Viktor, der sich gerade nach den obligatorischen Dehn- und Steckübungen und einem Spagat am Beckenrand auf einen der Steine gesetzt hat. Mit ins Wasser will er momentan nicht, ist ihm zu warm. Aber ich muss ins Wasser, sagt er, damit ich besser entspannen kann und meine Muskeln weich bleiben.

„Und was ist das?“

„Man nennt es auch Sternenfest“, erkläre ich, „und in Japan feiert man es immer am 7. Juli.“

„Ah, also morgen. Und was wird gefeiert?“ Viktor sieht mich interessiert an und schlägt die Beine übereinander. Für einen kurzen Moment habe ich schon wieder mehr gesehen, als ich wollte und ich drehe mich beschämt zur Seite.

„An Tanabata können sich der Hirte und die Weberin nach einem Jahr der Trennung endlich wiedersehen“, fahre ich fort und richte den Blick nach oben gen Himmel. „Das ganze Jahr über sind sie durch die Milchstraße getrennt, aber an diesem einen Tag können sie sich sehen.“

„Ein Liebespaar?“

Ich höre, dass Viktor vom Stein aufsteht und zum Becken gelaufen kommt.

„J-Ja“, antworte ich und werde nervös, denn Viktor steigt gerade doch ins Wasser und kommt zu mir.

„Warum sind sie getrennt?“, fragt er weiter. Ich versuche krampfhaft, meinen Blick am Himmel zu halten, doch meine Augen huschen immer wieder in seine Richtung, um zu sehen, ob er noch näher kommt. Hatte er nicht gesagt, ihm sei zu warm? Offenbar nicht, aber mir wird gerade sehr warm...!

„I-ihre Liebe hielt sie von ihrer Arbeit für den Himmelskaiser ab, deswegen trennte er sie und gewährte ihnen nur diesen einen Tag im Jahr.“

Viktor hält inne. „Eine blöde Geschichte“, kommentiert er und das Interesse ist dahin. „Und das feiert ihr? Ich finde das grausam.“

„Nein, wieso grausam? Für uns ist das eine schöne Geschichte“, versuche ich meine Kultur zu verteidigen. „Das Tanabata ist ein schönes Fest. Es werden überall Bambuszweige geschmückt und jeder kann einen Zettel mit einem Wunsch daran befestigen. Man hofft, dass der Wunsch dann in Erfüllung geht.“

„Warum?“

Eh, warum? Warum denn nicht? Will er wirklich diskutieren?

„Was gefällt dir daran nicht?“, frage ich angesäuert über seine ablehnende Haltung.

„Mir gefällt die ganze Idee nicht“, antwortet er. „Ein Fest für zwei Liebende zu feiern, die sich nicht sehen dürfen, weil sie arbeiten sollen, ist an sich schon blöd. Aber wenn es dann soweit ist, wird der Tag mit egoistischen Wünschen überlagert, statt sich für die beiden zu freuen. Ich würde mir wünschen, dass sie zusammenbleiben können.“

Jetzt hat er zu viel gesagt. Er hat es wirklich geschafft, dass ich sauer bin.

„Du hast gefragt, das ist die Antwort. Wir Japaner mögen das Sternenfest. Es hat etwas sehr Romantisches an sich und die Menschen kommen dabei zusammen. Jeder freut sich, dass die beiden Liebenden sich an diesem einen Tag wiederfinden. Außerdem ist ihre Liebe besonders, weil sie stark ist. Sie übersteht Jahr für Jahr, auch wenn sie getrennt sind. Das gibt anderen Liebenden Mut.“

Es bleibt einen kurzen Moment still, aber Viktors Blick durchbohrt mich beinahe.

„Yuuri. Das sagst du nur so leicht daher, weil du noch nie von jemandem getrennt wurdest, den du an deiner Seite haben wolltest.“

Jetzt verschlägt es mir wirklich die Sprache. Abgesehen davon, dass er gerade das ganze Tanabata schlecht geredet hat, hat er mir nicht schon wieder offen ins Gesicht gesagt, dass ich mit 23 Jahren immer noch keine Beziehung hatte? Nur weil er damit nie Probleme haben wird, heißt das doch nicht, dass man andere ständig daran erinnern muss...!

...Es tut weh. Es zieht fürchterlich in meiner Brust.

„Ich gehe“, sage ich knapp und stehe auf. Ich drehe mich auch gar nicht mehr zu ihm um. Mir ist zum Heulen zumute... Ich trockne mich ab, ziehe meine Sachen an und verschwinde so schnell ich kann aus dem Onsen.
 

„Ah, Yuuri? Schon fertig?“ Mari steht mir im Flur gegenüber. „Wo ist Viktor?“

„Noch im Wasser.“ Ich habe keine Lust zu reden.

„Ich hab den Yukata bekommen, nach dem du gefragt hast. Er liegt auf deinem Bett.“

„Den brauch' ich nicht mehr.“ Und erst recht nicht darüber.

„Waaaas? Ich hab' bei allen Freunden rumgefragt, um diesen einen noch auftreiben zu können!“

„Tut mir Leid“, antworte ich und gehe schnell an ihr vorbei um der Situation zu entgehen.
 

Ich bin danach bis zum Schloss gelaufen.

Seit einiger Zeit schon sitze ich dort auf einer der Bänke und denke nach. Meinen Rucksack mit den Schlittschuhen habe ich mitgenommen, aber auf halbem Weg gemerkt, dass die Halle ja Sommerpause hat. Das ist mir noch nie passiert. Die Schlittschuhe mitzunehmen, obwohl die Halle geschlossen hat, aber Viktor hat es geschafft.

Was hat er gegen das Tanabata? Und warum muss er mir immer wieder vorhalten, dass ich noch keine Beziehung hatte? Es ist nicht so, als wäre ich noch nie verliebt gewesen! Und was für eine Ahnung hat er schon... Offenbar hat ja nichts gehalten, egal wie viele da schon waren, also kann's ja keine sehr starke Liebe gewesen sein... Und warum werde ich das Gefühl nicht los, gleich heulen zu müssen?!

…Ich wollte, dass er sich freut. Wollte seine leuchtenden Augen sehen, wenn ich ihn frage, ob er mit mir und meiner Familie zum Fest gehen will. Ich habe Mari extra um Hilfe gebeten, einen Yukata für ihn zu besorgen... Stattdessen sagt er es ist blöd, dann nennt er es grausam und egoistisch... Der hat doch den Knall nicht gehört...!

Als ich spät in der Nacht nach Hause komme, ist keiner mehr wach. Leise und auf Zehenspitzen schleiche ich mich die Treppe nach oben und insbesondere an Viktors Zimmer vorbei, aber das Holz knarzt und Makkachin wird auf mich aufmerksam. Ich höre seine Krallen auf dem Holzboden und wie er an die Schiebetür stupst. Er fängt an zu piensen. Schnell gehe ich weiter und als ich meine Zimmertür erreiche, macht jemand Licht hinter mir an. Viktor ist wach geworden.

Ich drehe mich um und sehe den schwachen Schein der Lampen durch die Türschlitze in den Flur fallen. Dann einen Fuß auf dem Holzboden, es folgt der zweite. Schritte. Makkachin pienst lauter, aber ich bin schon in meinem Zimmer verschwunden und habe die Tür geschlossen. Für eine Weile lausche ich, ob Viktor in den Flur geht oder nicht, aber ich höre nichts mehr. Auch Makkachin nicht. Er ist in seinem Zimmer geblieben und nicht rausgekommen. Gut. Ich will nicht noch zu dieser Stunde mit ihm diskutieren.

Als ich mich meinem Bett zuwende, sehe ich den Yukata dort liegen. Und dann kann ich es nicht mehr halten, die Tränen kommen doch. Er ist so ein Idiot...!
 

Am nächsten Tag ist Viktor schon unterwegs, als ich gegen Mittag wach werde. Mutter sagt, er sei zum Frühstücken nach unten gekommen und danach mit Makkachin nach draußen gegangen. Wann er wieder käme, habe er nicht erwähnt. Na gut, ist mir sogar recht.

Ich gehe zurück in mein Zimmer und setze mich an meinen Laptop. Aber eigentlich weiß ich nicht so wirklich, was ich machen soll. Es fehlt an Elan, ich habe keine Lust auf irgendwas und in meinem Kopf dreht sich schon wieder alles um Viktors blödes Verhalten. Ohne eine wirkliche Absicht zu verfolgen, rufe ich seinen Twitter auf. Nichts. Dann Instagram. Auch nichts. Letztes Update vorgestern, als er ein Foto von Makkachin beim Spielen mit seinem neuen Ball gepostet hat. Ich seufze schwer. Das hätte alles so schön werden können und jetzt? Bloß weil irgendwas nicht seiner Idealvorstellung entspricht, holt er zum Rundumschlag aus...

Die Zeit schleicht in den Nachmittag. Ich habe eine Menge dummer Videos geschaut, immer wieder Viktors Twitter aktualisiert (immer noch kein Update) und stelle überraschend fest, dass ich damit schon mehr als zwei Stunden verschwendet und noch nichts Sinnvolles gemacht habe. In etwa drei Stunden wollen wir runter zum Fest gehen. Gibt es irgendwas, dass ich bis dahin machen könnte, ohne noch gefühlt fünfzig Mal auf Aktualisieren zu klicken?

Ich könnte ihm ja auch einfach eine Nachricht schicken, denke ich. Ich habe seine Nummer. Hm. Und was soll ich sagen? „Hallo Viktor, wo bist du?“ Klingt ziemlich dumm für eine erste iMessage. „Hallo Viktor, wann kommst du zurück?“ Klingt genauso dumm. Klingt genau genommen so, als würde ich nicht wissen, was ich ohne ihn machen soll.

Nach einer weiteren verschwendeten Stunde rappele ich mich dann doch auf. Ich überlege, ob ich joggen gehen oder Mari fragen soll, ob ich im Onsen helfen kann, damit wir heute Abend rechtzeitig schließen können. Ich entscheide mich für Letzteres und sie hat auch gleich eine Aufgabe für mich. Da Vater noch unterwegs ist, soll ich den Badebereich der Herren kontrollieren, den Boden mit Wasser abspritzen und aufräumen. Das ist sicher keine erfüllende Aufgabe, aber Saubermachen muss sein und immerhin hätte ich dann auch etwas zu unserem gemeinsamen Ausgehen beigetragen. Und ich habe etwas zu tun, das mich ablenkt.

Als ich fertig bin, wartet Mari vor den Umkleiden auf mich. Sie schaut mich missgestimmt an. Wahrscheinlich nimmt sie mir das mit dem Yukata immer noch übel.

„Willst du ihn wirklich nicht fragen?“

„Nein.“

„Was ist los?“

„Gar nichts.“

Sie zieht eine Augenbraue hoch.

„Er will nicht, okay?“, entgegne ich genervt.

Mari sagt nichts darauf und das ist gut so. Es wäre das Letzte, was ich bräuchte, wenn Mari meinte, mir Ratschläge geben zu müssen... Meine Schwester, der jeder Typ beim ersten oder zweiten Date wegrennt, weil sie immer noch irgendwelchen Musikern, Schauspielern oder Idolen hinterher schmachtet, soll sich gefälligst aus meiner – ich halte inne. Meiner was eigentlich?

„Na, meinetwegen. Mach' dich fertig, damit wir los können“, sagt sie und stellt Waschmopp und Eimer in den Wandschrank. Ich räume meinen Mopp ebenfalls dazu, aber meine Gedanken hängen fest. Was ist das, was ich mit Viktor habe, eigentlich? Er ist mein Trainer, aber auch mein Idol und irgendwie... Argh, es ist doch auch egal, was es ist, er will ja nicht! Er sagt, es ist blöd, dabei ist er selbst blöd und weiß gar nicht, was er verpasst... dann soll er es eben verpassen!

Ich bin gerade auf dem Weg zurück in mein Zimmer, um mich fertig zu machen, als Viktor plötzlich vor mir steht. Er hat scheinbar auf mich gewartet.

„Yuuri?“

„Keine Zeit.“ Ich gehe vorbei.

„Yuuri.“

„Wir gehen gleich, ich muss mich fertig machen.“

„Yuuri, ich möchte mit dir reden.“

„Aber ich nicht.“

„Yuuri, bitte.“

„Nein.“

Für einen Moment ist er still, dann: „Ist dir dein Stolz so wichtig, ja?“

Er soll einfach den Rand halten, denke ich, und haue die Schiebetür hinter mir fester zu als nötig gewesen wäre.
 

Das Tanabata ist noch genau so schön wie vor fünf Jahren, aber ich kann mich kein bisschen daran erfreuen. Vielleicht liegt es aber auch daran, weil mich alle anschauen, als ginge die Welt unter. Es ist nicht meine Schuld, dass hier Untergangsstimmung herrscht, okay? Vor allem meine Mutter sieht mich ständig mit diesem mitleidigen Ausdruck an und als es mir zu blöd wird, verabschiede ich mich kurzerhand, um mir etwas zu essen zu kaufen. Dabei habe ich gar keinen wirklichen Hunger, aber es würde ablenken. Unentschlossen laufe ich zwischen den Ständen entlang, bis meine Augen an Takoyaki hängen bleiben und ich mich in Schlange einreihe.

Ich schaue zu, wie die Bällchen mit Zahnstochern flink in den Blechen gewendet werden. Das hat Viktor bestimmt noch nicht gesehen. Ob er überhaupt schon mal Takoyaki gegessen hat? Halt, warum denke ich überhaupt schon wieder an ihn?!

„Yuuri, bist du ganz allein?“ „Wo ist Viktor?“ „Kaufst du gerade Frustessen?“

Erschrocken drehe ich mich um und sehe Axel, Lutz und Loop mit großen Augen vor mir stehen und Zuckerwatte schlecken. Wie kommen die Drei bitte auf die Idee, dass ich Frustessen kaufe?!

„Nein, alles gut“, versuche ich sie mit einem gespielten Lächeln abzuwimmeln. Sie schauen sich unbeirrt an.

„Er lügt.“ „Natürlich lügt er.“ „Sie haben sich gestritten.“

„...“

„Viktor ist jetzt bestimmt traurig.“ „Weil Yuuri wieder stur gewesen ist.“ „Dabei hat er sich so bemüht.“

Ok, jetzt reicht es mir.

„Woher wisst ihr Drei, dass wir Streit hatten?!“

„Viktor war bei uns.“ „Er hat nach Tanabata gefragt.“ „Und warum dir das so wichtig ist.“

Was...?! Wieso... WAAAS?! Viktor war bei Yuko und den Drillingen und hat nach dem Tanabata gefragt?! Ich verstehe nicht... Warum? Vor lauter Schreck bekomme ich gar nicht mit, dass ich an der Reihe wäre, um zu bestellen, als ich mich der Verkäufer direkt anspricht: „Hey, Junge, was ist, hast du die Probleme mit deiner Freundin jetzt geschnallt oder nicht?“

„Äh, entschuldigen Sie bitte“, haspele ich ihm entgegen und mache einen Schritt aus der Reihe, um die Dame hinter mir vorzulassen.

„Junge, ich sag' dir was“, beginnt der Verkäufer erneut und wedelt mit dem Finger vor mir hin und her, „heute ist Tanabata. Das ist der denkbar dümmste Tag im Jahr, um sich mit seiner Freundin zu streiten.“

Er macht eine Pause und sieht mich eindringlich an. Dann beginnt er schief zu grinsen: „Vertrag' dich mit ihr. Bring' die Hübsche her, ich mach' euch ein paar schöne Takoyaki und dann ist alles wieder gut, was sagst du?!“

Die Hübsche? Ach so... er versteht den Namen falsch. Meine „hübsche Freundin“... Ich fühle, dass meine Wangen zu glühen beginnen. Als hätten Viktor und ich eine Beziehung... vielleicht haben wir das in gewisser Weise auch irgendwie... Also nicht so, aber... Wer weiß, ob ich die Chance noch einmal bekäme? Und Viktor... Ich starre auf mein Handy in der Hand.

„Jetzt schaut er total dämlich.“ „Warum sagt er nichts?“ „Er sollte sich mit Viktor vertragen!“

Das tue ich doch schon längst... Es ist vielleicht eine ungewöhnliche, erste iMessage, aber etwas sagt mir, dass das die Nachricht ist, auf die er wartet. Ich rufe seine Nummer auf, beginne wie in Zeitlupe mit dem Tippen und jeder weitere Buchstabe lässt mein Herz fester schlagen.
 

Willst du mit mir zum Tanabata gehen?
 

Senden.

Mein Blick hängt am Display fest. Zugestellt. Wie lange würde es dauern, bis – oh Gott. Gelesen. Er hat es wirklich gelesen! Sofort erscheint die graue Denkblase und mein Puls schießt nochmal weiter in die Höhe. Er schreibt zurück... Oh bitte, sei nicht sauer... Bitte sei nicht so dumm wie ich und lehne ab! Du wolltest dich entschuldigen...

Brrzzz.

Dann bin ich nicht mehr zu halten.

„Ich hab was zu erledigen, bis später!“, lasse ich die Drillinge wissen und der Verkäufer ruft mir noch hinterher, dass ich jetzt auf jeden Fall mit meiner Freundin vorbei kommen müsste, weil ich ihm das schuldig wäre, aber ich kann nicht anders, als mich auf dem schnellsten Weg zurück nach Hause zu machen.
 

Das ist ja fast wie ein Date, Yuuri.

Wo treffen wir uns?
 

Eine dreiviertel Stunde später bin ich wieder zurück auf dem Tanabata und obwohl es immer noch so schön ist wie vor fünf Jahren und 45 Minuten, ist es trotzdem kein Vergleich zu irgendeinem Jahr davor. Weil er da ist, wir uns wieder vertragen und irgendwie ein Date haben. Der dunkelblaue Yukata steht Viktor unglaublich gut und meine Wangen glühen vor Stolz, dass er das auch so empfindet und sich darüber freut, traditionelle, japanische Kleidung zu tragen.

Als wir schließlich den Takoyaki-Verkäufer erreichen, klappt diesem nur ein bisschen die Kinnlade runter, dass meine „hübsche Freundin“ ein hübscher Freund ist und als er realisiert, dass dieser Freund Viktor Nikiforov ist und ich eben ich, steht ihm der Mund gleich ein weiteres Mal offen. Vor lauter Schreck lässt er die Takoyaki anbrennen und Viktor hat gleich doppelt Unterhaltung, denn das Zubereiten der Bällchen mit den Zahnstochern findet er wie vermutet „Amazing!“ und kann gleich nochmal zuschauen. Dass sich die Fischflocken auf den Takoyaki durch die Hitze noch auf und ab bewegen, fasziniert ihn ebenso. Essen mit Special Effects. Oh Mann, denke ich und muss schmunzeln. Was braucht es, einen fünffachen Weltmeister ins Staunen zu versetzen? Tintenfischbällchen und ein paar Fischflocken. Ich fass' es nicht.

Als ich unser Bambusschiffchen mit den Takoyaki entgegen nehme und kurz über die unglaublich lange Schlange staune, weil Viktor und ich hier gerade unser Essen gekauft haben, beugt sich der Verkäufer erneut zu mir und flüstert mir ehrfürchtig zu, dass ich einen verdammt guten Fang gemacht hätte und bloß aufpassen sollte, dass mir niemand Viktor streitig macht, sofern er aus dem kleinen Drama schlussfolgern darf, dass da ein bisschen mehr läuft als nur Training. Ich winke schnell und entschieden ab, aber ich glaube, dass er mir das keine Minute später noch geglaubt hat. Viktor spießt sich seinen ersten Takoyaki nämlich nicht selbst auf einem Zahnstocher auf, sondern lässt sich das Tintenfischbällchen von mir in den Mund geben. Erst durch die irritierten und argwöhnischen Blicke der Leute um uns herum begreife ich, dass Viktor mir gerade aus der Hand gegessen hat. Oder ich ihn gefüttert habe... Eigentlich beides. Dabei stehen wir mitten auf einem öffentlichen Fest...! Oh Mann, wie peinlich, aber dafür ist es schon zu spät...!

Stopp, ermahne ich mich entschieden. Viktor kennt das nicht. Ich hab ihm einfach nur gezeigt, wie man Takoyaki isst. Da ist nichts dabei. Und dass er mich so glücklich anlacht ist auch normal für ihn. Himmel, meine Knie sind so weich wie Wackelpudding...

Nachdem wir unsere restlichen Takoyaki (jeder für sich) gegessen haben, laufen wir zwischen den Ständen entlang. Allerdings bleibt es auch anderen Besuchern des Tanabata nicht verborgen, dass ich den Schönsten von allen bei mir habe und neugierige Augenpaare folgen uns immer wieder. Gruppen von jungen Frauen kichern, wenn wir vorbeilaufen oder bitten uns um ein gemeinsames Foto. So bewegen wir uns mehr im Stop-and-go-Modus, als gemütlich zu schlendern. Ich mache zudem etwas langsamer, denn Viktor war noch nie auf einem japanischen Fest dieser Art und ich möchte, dass er sich umschauen kann. Es ist schon wieder niedlich zu beobachten, wie sehr er versucht, die Eindrücke mit seinen Augen festzuhalten. Dennoch irritiert es mich, dass das Leuchten, von dem ich mir sicher war, dass er es in den Augen haben würde, nur noch zögerlich zum Vorschein kommt. Generell verhält er sich sehr zurückhaltend, seit wir beim Essen die ganze Zeit über beobachtet wurden. Dabei spüre ich, dass es ihn in den Fingern juckt, das ein oder andere näher zu betrachten oder gar auszuprobieren.

„Viktor, wir können auch an einen der Stände gehen, wenn du willst“, versuche ich es.

„Ja.“

Das klingt nicht überzeugend. Normalerweise ist er kaum zu bremsen, wenn er eine fixe Idee im Kopf hat und nicht selten bin ich derjenige, der bei diesen Ideen ungefragt mit in der ersten Reihe steht. Aber jetzt gerade macht er den Eindruck, als wisse er nicht, wohin mit sich. Er würde gerne, aber irgendwas hält ihn ab und ich würde zu gerne wissen, was.

Wir bleiben wieder stehen, als eine Gruppe von fünf Mädchen uns nach einem Foto fragt. Eine darunter ist sehr groß, und sie sieht Viktor mit einem verträumten Blick an, während die anderen vier auf sie einreden, dass Viktor gar nicht wie ihr Ex-Freund aussehen kann, weil doch schon der junge Kerl am Lotteriestand wie ihr Ex-Freund ausgesehen haben soll. Die Lauteste darunter redet irgendwas davon, dass sie früher einmal die Beste im Eislaufen gewesen sei und deswegen ein Recht auf das erste Foto habe, während ihre Freundin mit den langen, schwarzen Haaren an ihrem Yukata zerrt und ruft, dass sie ja wohl einen Freund habe und sich nicht so vordrängeln soll. Ich stutze. Die hat einen Freund? Der arme Kerl... Viktor macht dennoch ein freundliches Gesicht, obwohl er nichts von dem versteht, was vor ihm passiert und nachdem die Mädchen sich auf ein Gruppenfoto und gar keine Einzelbilder geeinigt haben, ziehen sie auch weiter. Was denken die sich eigentlich, Viktor einfach so unter sich aufteilen zu können, aber im selben Moment glaube ich begriffen zu haben, warum Viktor sich so zurückhält. Er versteht zu wenig von seiner Umgebung, wird zu oft erkannt und ständig beobachtet, als wäre er nur eine von vielen Attraktionen auf diesem Fest. So weit hatte ich gar nicht gedacht und mir wird sofort schwer ums Herz. Das lag nicht in meiner Absicht...

„Viktor, wir können auch schon vorgehen und einen guten Platz für das Feuerwerk suchen“, schlage ich ihm vor und hoffe, dass ihn das etwas mehr begeistern kann.

„Feuerwerk?“

„Ja, das Tanabata endet immer mit einem Feuerwerk.“

„Es gibt ein Feuerwerk?“, wiederholt Viktor.

„Magst du kein Feuerwerk?“, frage ich verwundert zurück.

Er senkt den Kopf. „Doch, aber Makkachin ist alleine.“

Die Antwort ist ein Schlag ins Gesicht. Wir haben Makkachin nicht mitgenommen. Das Knallen der Raketen ist für Hunde unerträglich laut und ich erinnere mich noch gut an Vicchans erstes Feuerwerk damals zu Silvester. Vicchan war völlig verschüchtert und verängstigt und Makkachin wird es nicht anders gehen... Viktor hat nicht gewusst, dass es ein Feuerwerk geben würde, also hätte ich daran denken müssen... Ich schaue auf die Uhr. Das Feuerwerk wird in etwas weniger als einer Stunde beginnen. Bis wir nach Hause gegangen, Makkachin geholt und wieder zurück beim Tanabata wären, würde das Feuerwerk schon so gut wie angefangen haben und wir würden keine vernünftigen Plätze mehr bekommen. Schuldbewusst blicke ich in Viktors Gesicht. Ich kann die Antwort daraus ablesen, auch wenn er nichts sagt. Ich verstehe es ja auch, aber ich ärgere mich fürchterlich über mich selbst. Ich war so versessen darauf, ihn hierher zu bringen, dass ich alles andere nicht beachtet habe... Vielleicht hatte er mit den egoistischen Wünschen zum Tanabata doch ein bisschen Recht gehabt... Aber dann weiß ich wenigstens, was zu tun ist.

„Dann gehen wir zu Makkachin“, sage ich und greife nach seiner Hand. „Aber einen Gefallen musst du mir zuhause dann noch tun.“

Viktor starrt auf unsere Hände, dann zu mir. „Einen Gefallen...?“

„Ja“, sage ich ein bisschen bestimmter.

„Okay.“

„Gut, dann los.“

Wir drehen um und gehen den Weg zurück über das Fest. Die ersten Schritte fühlen sich ungewohnt an und mein Herzschlag hat sich um ein Vielfaches erhöht, weil ich gar nicht weiß, ob es ihn stört, aber er lässt es einfach geschehen. Mein Blick wandert verstohlen zu meiner rechten Hand, in der ich immer noch seine linke halte. Wir halten wirklich Händchen. Ich weiß nicht, warum ich ihn überhaupt an die Hand genommen habe, aber loslassen will ich ihn auch nicht mehr.

Wir schlängeln uns durch die Besuchermassen in Richtung der Bushaltestelle. Die Menschen schieben sich dicht gedrängt an uns vorbei und machen es uns schwer, zusammen zu bleiben, sodass wir loslassen müssen, aber irgendwie schaffen wir es, uns an der Haltestelle einzureihen. Wir schweigen und schauen in unterschiedliche Richtungen, während wir auf den Bus warten, aber unsere Hände haben sich im Schutz der Menge wieder gefunden und diesmal war es Viktors Hand, die nach meiner gesucht hat. Mir schlägt das Herz bis zum Hals; ich bin völlig überfordert und ich kann Makkachin gar nicht dankbar genug dafür sein, dass er Angst vor Feuerwerk hat.

Der Bus kommt zum Halten und wir steigen ein, aber während der Fahrt trauen wir uns nicht mehr, uns an die Hand zu nehmen, auch wenn uns unsere verlegenen Blicke etwas anderes sagen. Folglich dauert es nur, bis wir ausgestiegen und schnellen Schrittes um die Ecke gebogen sind, dass Viktor nach meiner und ich nach seiner Hand greife und wir beide lachen müssen. Es gibt nicht mal einen Grund dazu, aber es tut gut, es befreit und es schwebt ein unausgesprochenes Einverständnis zwischen uns, dass es einfach richtig ist, Hand in Hand zu gehen. Wir laufen die letzten Meter in Stille nebeneinander her und ich hätte nie geglaubt, dass Schweigen so angenehm sein kann.
 

Zuhause begrüßt uns Makkachin aufgedreht und überglücklich, dass seine beiden Lieblingsmenschen ihn nicht vergessen haben und er wieder Gesellschaft hat. Wir nehmen ihn mit in den Hof und werfen ihm seinem neuen Ball ein paar Mal, während wir auf dem roten Teppich vor der Eingangstür sitzen und uns mit der Tatsache beschäftigen müssen, dass wir alleine sind, aneinander lehnen und unsere Hände immer noch miteinander spielen. So langsam werde ich durch die Stille doch nervös, weil ich keine Ahnung habe, was ich sagen könnte. Ich bin durch den Umstand, dass wir schon für gut eine halbe Stunde dümmlich grinsend Händchen halten, etwas aus dem Konzept gebracht...

„Yuuri“, richtet Viktor schließlich das Wort an mich, „was ist eigentlich dieser Gefallen, den ich dir tun soll?“

Stimmt ja, der Gefallen! Ich habe schon fast gar nicht mehr daran gedacht...!

„Äh, ja, also... Es ist nichts Großes… Wenn du... Du darfst aber nicht lachen!“, stammele ich vor mich hin.

Er lacht, amüsiert von meiner Unsicherheit. „Schon gut, mach' ich nicht.“

„Ok, warte hier“, sage ich, lasse seine Hand los, gehe nach drinnen und komme mit einem Buch, zwei Papierstreifen und einem Stift wieder zurück. Das ist jetzt nicht so, wie es sein sollte, aber da wir nicht mehr beim Fest sind, müssen wir eben etwas improvisieren.

„Ich hatte ja gesagt, dass man sich an Tanabata etwas wünschen kann... und man schreibt den Wunsch auf einen Zettel und hängt ihn an einen der Bambuszweige... also...“

„Ich soll einen Wunsch aufschreiben?“

„Also... I-ich hätte gerne, dass du meinen aufschreibst...“, lasse ich ihn wissen. Oh Gott, er hält mich bestimmt für total bescheuert. Er sieht mich für einen Moment auch so an, dann fängt er sich.

„Okay“, antwortet Viktor und nimmt einen Zettel sowie den Stift aus meiner Hand. „Was soll ich schreiben?“

„Dass wir zusammen beim Grand Prix Gold gewinnen.“

Es dauert genau eine Sekunde, bis Viktor doch lacht, aber merkwürdigerweise weiß ich, dass er mich nicht auslacht. Er lacht, weil er verstanden hat, warum ich will, dass er es aufschreibt und ja, ich an seiner Stelle würde darüber wahrscheinlich auch lachen, denn eigentlich sollte ich das besser selbst aufschreiben. Aber in meiner Vorstellung ist es einfach wirkungsvoller, wenn er es aufschreibt.

„Bitte entschuldige, Yuuri...“, sagt er. „Ich hab nun wirklich mit viel gerechnet, aber nicht damit. Aber wenn dir das wichtig ist, dann schreibe ich es auf. Nur können die Weberin und der Hirte Englisch? Auf Japanisch kann ich das nämlich nicht.“

Jetzt muss ich lachen. „Englisch ist in Ordnung.“ Er kommt manchmal auf Ideen... Ich gebe ihm das Buch als Unterlage und lehne mich etwas zu ihm hinüber, damit ich sehen kann, was er schreibt:

Win gold together at GPF

„Schreib' noch dazu, dass es mit dir zusammen sein soll“, fordere ich ihn auf.

Win gold together at GPF with Victor.

„In Ordnung so?“, fragt er und muss schon wieder kämpfen, nicht zu lachen. Ich nicke und nehme Zettel und Stift wieder entgegen.

„Und was ist mit dem zweiten Zettel?“

„Also...“, beginne ich. „Der ist für dich. Falls du willst...“

Er sagt nichts.

„Wirklich, nur wenn du willst...“, wiederhole ich.

„Und du würdest meinen Wunsch aufschreiben?“

„Warum schreibst du ihn nicht selbst auf...?“, frage ich überrumpelt zurück.

„Vielleicht aus demselben Grund, warum ich deinen aufschreiben sollte?“

Eh? Was soll ich denn aufschreiben können, dass es für ihn wirkungsvoller wird? Aber Viktor sieht mich unglaublich eindringlich an. Es scheint ihm wirklich wichtig zu sein...

„Na gut...“, willige ich zögerlich ein und ziehe die Kappe vom Stift. „Was soll ich schreiben?“

Jetzt lehnt sich Viktor zu mir herüber, um genau zuschauen zu können. Mein Herz schlägt so sehr, es tut schon weh.

„An die Liebenden, Yuuri: ,Steht für immer Seite an Seite und lasst euch nie mehr trennen‘.

Was, ernsthaft? Das ist sein Wunsch? Das hatte er gestern im Onsen schon gesagt...! Hat er das wirklich so gemeint? Gut, also dann... Ich setze den Stift aufs Papier und halte sofort inne. Mein Herz beginnt noch schneller zu schlagen als gerade eben und das Blut schießt mir mit Hochdruck in die Wangen bei den Worten, die sich soeben in meinem Kopf formieren. Wie von selbst schreibe ich das auf, was plötzlich so viel mehr ist, als nur ein Wunsch zum Tanabata:
 

離れずにそばにいて。 (Stay close and never leave)
 

Mir wird ganz anders. Ich kann kaum einen Gedanken fassen, ich weiß auch nicht, wie es passiert ist und warum gerade ich, aber... Wenn das so wäre... Ich schlucke. Unsicher drehe ich den Kopf. War sein Gesicht vorhin auch schon so nah? Einen Moment halte ich inne, aber kann es schließlich nicht mehr zurückhalten. Ohne noch etwas zu denken umarme ich ihn, vielleicht ein bisschen intimer als sonst.
 

Für einen Moment ist es ganz still.
 

„Yuuri... langsam habe ich wirklich das Gefühl, wir haben ein Date.“

„Ja, kann sein“, nuschele ich und halte ihn weiter fest.

„Okay... Ich bin...überrascht.“

„Bild' dir nichts ein! Das war eine Ausnahme“, stelle ich sofort klar. Himmel, ich weiß nicht, was gerade in mich gefahren war... Ich kann ihm nicht in die Augen sehen. Viktor lacht verlegen und legt seine Arme um meinen Oberkörper.

„Aber wir, nun ja... sind dann zusammen...?“

„Ein bisschen“, gestehe ich, weil mehr traue ich mich gar nicht zu sagen. Das Gefühl, dass ich gerade empfinde, kann ich nur schwer beschreiben, aber dieses unausgesprochene Einverständnis zwischen uns kehrt zurück und wir verharren in unserer Umarmung. Makkachin hat sich auf den Boden vor uns gelegt und scheint uns zu bewachen, damit niemand dieses tiefe Einverständnis stören kann.

Dann hören wir das Feuerwerk über den Dächern und Makkachin fängt sofort an zu bellen, sodass wir uns nach drinnen in Viktors Zimmer zurückziehen. Wir sitzen auf dem Bett, unser Beschützer liegt zwischen uns und wir streicheln ihn zur Beruhigung, bis es leiser wird. Dabei wandern meine scheuen Blicke immer wieder zu Viktor hinüber. Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn jemals zuvor so gesehen zu haben, wie jetzt. Kein Foto kommt an das heran, wie er sich mir gerade zeigt. Die blauen Augen leuchten, er lächelt verlegen, aber vor allem sieht er aus wie Viktor.

...Mein Viktor.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Yukata = legerer (Sommer-)Kimono.

Takoyaki = Gebackene Tintenfischbällchen, die mit Soße, Mayonnaise und Fischflocken garniert gegessen werden.

離れずにそばにいて = Hanarezu ni soba ni ite; der Titel von Viktors Kürprogramm. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  --lina--
2018-01-07T13:29:59+00:00 07.01.2018 14:29
Ich bin ja soooooooooooooooooooooooo am Grinsen!
Hach ja, das hab ich gebraucht :D
Die Beiden sind einfach viel zu süß!! <3
Ein wundervolles Kapitel, auch wenn man sie beide hätte schlagen können >< Aber gut, sie haben sich ja von alleine wieder gefangen, von daher geht das schon :D
Liebe an dich!!


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