Zum Inhalt der Seite

Sommer in Hasetsu

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Teil 1 - Mai 2016

„Yuuri, findest du nicht, dass Viktor viel alleine ist?“

Eh, wo kommt das denn plötzlich her? Irritiert blicke ich zu Yuko.

„Es tut mir Leid, wenn ich dich das so direkt frage. Ich habe gestern zufällig deine Mutter im Supermarkt getroffen und sie hat mich darauf angesprochen“, beginnt meine langjährige Freundin etwas besorgt, während sie mir beim Ausziehen der Schlittschuhe zuschaut. Es ist gerade Trainingspause und Viktor ist zu Lawson am Ende der Straße gegangen, Onigiri für unsere Pause zu kaufen. „Sie macht sich Sorgen um Viktor, weil er doch die Sprache nicht spricht, keine Freunde und keine Familie hier hat. Aber ihr kommt doch gut miteinander aus, oder?“

Ich wundere mich und senke meinen Blick zurück auf die Schnürsenkel. Wie kommt meine Mutter denn darauf? Viktor ist jeden Tag mehrere Stunden mit mir zusammen in der Halle... Wenn das Training beendet ist, sind wir noch in unserem Onsen und wir essen auch oft zusammen zu Abend.

„Unternehmt ihr denn auch mal was zusammen? Außer dem Training?“, fragt Yuko weiter. „Was macht ihr am Wochenende?“

Das hat gesessen. Ich fühle mich von Yuko unangenehm überrumpelt und mir ist sofort klar, was Mutter gemeint hat. Die vernichtende Wahrheit ist, wir machen nichts zusammen. Wenn wir mit dem Essen fertig sind, geht Viktor mit Makkachin nach draußen und ich ziehe mich in mein Zimmer zurück. Das Wochenende über sehe ich Viktor nur selten, weil ich die freien Tage nutze, um auszuschlafen und wenn ich wach werde, ist er schon längst unterwegs. Manchmal mit Makkachin, manchmal auch ohne.

„Ich will dir keinen Vorwurf machen“, entschuldigt sich Yuko schnell beim Anblick meines regungslosen Gesichts. „Aber er ist wegen dir hier und dadurch schon irgendwie dein Gast, oder? Ihr versteht euch doch gut, wenn ihr hier in der Halle seid, warum nicht auch am Wochenende?“

„Ich weiß doch gar nicht, was ihn interessiert...“, weiche ich aus.

„Dann frag ihn doch?“

Es ist mir unangenehm. Also, vielleicht ist unangenehm das falsche Wort, aber es ist so surreal. Ja, Viktor hat mit mir schon darüber gesprochen, dass ich weniger verklemmt sein sollte und beim Training klappt das auch schon sehr gut. Ich weiß auch, dass ich vor ihm keine Angst zu haben brauche, aber allein dass er hier ist, ist mehr als ich auf die Kette bekommen kann. Und was weiß ich, ob er überhaupt Interesse daran hätte, mit mir etwas zu unternehmen?

„Also er hat nach dir gefragt“, fügt Yuko hinzu.

Auch das hat gesessen. Jetzt bin ich erst recht aus der Fassung.

„Er hat nach mir gefragt?“ wiederhole ich verunsichert.

„Ja, es ist aber schon etwas her. Du warst noch spät in die Halle gekommen, weil dich irgendwas aufgewühlt hatte. Jedenfalls ist eine Weile später auch Viktor aufgetaucht. Er wollte wissen, ob du hier bist. Angeblich warst du plötzlich verschwunden, aber er kennt dich nicht so gut wie wir und wusste nicht, wo er dich finden kann oder was los ist. Er sah schon etwas besorgt aus.“

„Warum sagst du mir das nicht?“

„Ich wusste nicht, dass es wichtig sein könnte“, antwortet sie ehrlich. „Takeshi und ich konnten ihm die Sorge nehmen, dass er etwas falsch gemacht hat. Es ist nicht so, dass du ihn nicht interessierst, Yuuri. Wegen dir ist er doch überhaupt hier. Manchmal wenn du nicht hinschaust, beobachtet er dich.“

Sie macht eine Pause und setzt sich zu mir auf die Bank. „Weißt du, für uns alle ist es irgendwie unwirklich, dass er hier ist. Jeden Tag, wenn ich euch trainieren sehe, kann ich auch nicht glauben, dass es real ist. Aber wenn wir ihn alle als irreal behandeln, dann existiert er nicht. Während ich in der Vorbereitungsphase Yurio beim Training geholfen habe, hat er viel über Viktor gesprochen. Dass ihm dieses Agape-Gelaber auf den Geist geht und dass Viktor nicht mehr ganz dicht wäre, zu glauben, dass man mit den Gedanken an eine Reisschüssel ein Programm laufen kann. Er hat ganz ohne Vorbehalte von Viktor gesprochen und ich hatte den Eindruck, dass solange Yurio hier war, Viktor etwas gelöster schien. Im Moment wirkt er wieder stiller und wenn er nach dir schaut, auch ein bisschen nachdenklich.“

Yukos Worte treffen mich und ich fühle mich schlecht, das nicht bemerkt zu haben.

„Es ist nicht so, dass ich ihm aus dem Weg gehen würde...“

„Das weiß ich doch“, versucht sie mich aufzumuntern. „Du bist ihm nicht egal, Yuuri. Sonst wäre er nicht hier her gekommen und auch nicht hier geblieben.“

„Und was soll ich machen?“, frage ich. Es ist ja jetzt nicht so, dass man alle Tage einen fünffachen Weltmeister bespaßen müsste...

„Yuuri~“

Wenn man vom Teufel spricht. Da ist er wieder mit den Onigiri.

„Endlich wieder kühl...“

„Ist dir warm?“, fragt Yuko.

„Es ist furchtbar warm draußen. Dabei ist es doch erst Ende Mai!“

Yuko und ich schauen uns verwundert an.

„Es sind doch nur 23 Grad?“, bemerke ich, aber Yuko stupst mir den Ellbogen in die Seite. Ja, ich versteh ja schon...! „Wie warm wird es in Russland im Sommer?“

„Bestenfalls 20 – im Juli oder August.“

„Oh. Also im Juli und August werden wir über 30 Grad haben.“

Viktor stöhnt. „Ich werde sterben... oder ich zieh in die Eishalle um...“

Yuko stößt mir wieder in die Seite. Was denn? Ich rede doch mit ihm!

„Er ist doch gerne in eurem Onsen, oder?“, flüstert sie mir eindringlich zu. „Frag ihn, ob er im Meer schwimmen gehen will. Abkühlung und so.“

„Wir könnten vielleicht schwimmen gehen. Im Meer, zur Abkühlung“, rede ich ihr nach, wobei ich noch nicht weiß, ob das eine gute Idee ist und was ich generell für eine Reaktion erwarte. Zuerst schaut Viktor mich nur an. Er sieht beinahe so aus, als wisse er nicht, ob das gerade ein Witz oder ernst war.

„Unser Onsen ist im Sommer generell zu heiß... u-und wir könnten Makkachin mitnehmen...“, stottere ich nervös weiter und schaue zur Seite. „Bei dem dichten Fell ist ihm sicher auch warm...“

Viktor reagiert absolut nicht, bis er plötzlich auf mich zukommt und mich überschwänglich umarmt.

„Du rettest mich, Yuuri!“

Ich bin wie erstarrt und Yuko muss lachen.

„Die Badesaison fängt nächste Woche an. Das Wasser wird noch etwas frisch sein, aber das geht schon“, sagt sie. „Ich bin dann wieder vorne arbeiten.“

Viktor lässt mich wieder los, und ich werde rot, so sehr leuchten die blauen Augen auf einmal. Ist das jetzt so etwas Besonderes, mit mir schwimmen zu gehen? Naja, Hauptsache, da ist jemand glücklicher als noch gerade eben.
 


 

Am Wochenende ist es dann soweit. Die Sonne scheint hell und warm und wir haben unsere Sachen für einen Ausflug an den Strand gepackt. Meine Eltern haben uns ihr kleines Auto zur Verfügung gestellt und ich bin heilfroh, dass sie mich vor Viktors unerwarteter Ankunft einige Male mit dem Transporter zum Einkauf bei unserem Großhändler geschickt haben, dass ich wieder an das Autofahren in Japan gewohnt bin. Ein Unfall aufgrund mangelnder Fahrpraxis nach fünf Jahren Auslandsaufenthalt mit dem besten Eiskunstläufer der Welt auf dem Beifahrersitz wäre nämlich nicht empfehlenswert.

„Ich wusste nicht, dass du einen Führerschein hast“, sagt Viktor, nachdem er Makkachin auf die Rückbank gelassen und sich neben mich gesetzt hat. Der Sitz sieht auf einmal sehr, sehr klein aus. Fast wie ein Kindersitz, aber das liegt daran, dass Viktor für japanische Verhältnisse einfach sehr groß ist.

„Naja, meine Eltern wollten, dass ich ihn mache, damit ich unseren Transporter fahren kann“, erkläre ich. „Das war noch bevor ich nach Detroit gezogen bin. Schnall‘ dich an.“

„Ist das nötig?“

„Ja. Sonst fahr ich nicht los.“

„Aber hier fahren alle doch immer so gesittet und langsam?“

„Schnall‘ dich bitte an.“

„Schon gut...“ Klick.

Na bitte, geht doch.

Wir fahren los. Ich erinnere mich noch halbwegs an den Weg zum Badestrand hinunter, sofern nicht irgendwo innerhalb der letzten fünf Jahre die Straßenführung geändert worden ist.

„Bist du in Detroit Auto gefahren?“

„Nur ein paar Mal. Die Autos in Amerika sind mir zu groß.“

„Du solltest in Russland kein Auto fahren“, lacht Viktor. „Ehrlich, ich bin total fasziniert, dass sich alle an die Regeln und die Geschwindigkeitsbegrenzung halten.“

„Macht ihr das in Russland nicht?“

„Man nimmt es nicht so genau.“

„Fährst du Auto?“

„Nicht oft. Nur wenn Makkachin mal zum Tierarzt muss oder ich ihn bei einen Hundesitter geben muss, weil ich unterwegs bin.“

„Das ist in der Saison wohl ziemlich oft, oder?“

„Während der Saison ist er generell bei jemand anderem. Es wäre zu stressig für ihn, ständig von einer Wohnung in die andere zu wechseln. Dafür ist er schon zu alt.“

„Du wohnst allein?“

„Ja.“

„Dann bist du den Sommer über immer allein in deiner Wohnung?“

„Ich bin kaum zuhause. Auch im Sommer nicht. Training, Termine, irgendwas ist immer.“

„Ist dir langweilig hier?“

Er schaut mich mit großen Augen an. Dann lacht er. „Nein, gar nicht! Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, aber... Oft werde ich wach und komme mir vor, als wäre das alles gar nicht real. Ich kann aufstehen, wann ich will. Ich kann gehen, wohin ich will. Ich kann essen, was ich will.“

Sein Blick wird melancholischer und ich muss mich anhalten, den Blick auf die Straße zu richten.

„Man grüßt mich normal auf der Straße. Ich kann mit Makkachin Zeit verbringen... Ich bin nicht alleine in irgendeinem Hotelzimmer...“ Sein Mund ist noch offen, als wolle er etwas sagen, aber Viktor bricht ab. Ok, das war zu viel. Etwas unwirsch halte ich am Seitenstreifen.

„Bist du einsam, Viktor?“, frage ich ihn und könnte mich dafür ohrfeigen, so eine indiskrete Frage zu stellen. Viktor sieht mich völlig überrascht an. Es dauert noch einen Moment, aber dann lächelt er zu mir herüber: „Nein, nicht mehr. Jetzt bist du da, Yuuri. Und Makkachin. Deine Familie.“

Mein Gesicht muss feuerrot leuchten. Zumindest fühlt es sich so an, aber gleichzeitig bin ich ziemlich schockiert darüber, was er für Banalitäten aufgezählt hat und noch bevor ich mich fragen kann warum, verstehe ich es. Er ist berühmt. Er wird fast überall erkannt. Er kann nicht dahin gehen, wo er gerade möchte. Er hat immer einen strengen Termin- und Trainingsplan. Wahrscheinlich auch einen noch strengeren Ernährungsplan. Er sieht seinen Hund nur jedes halbe Jahr. Er ist alleine in seiner Wohnung oder in unpersönlichen Hotelzimmern. Wenn ich mir das vorstelle, dann wird mir irgendwie ganz anders...

„Yuuri, fahren wir weiter?“

„Was, äh, ja, natürlich.“ Ungeschickt starte ich den Motor erneut.

„Mach dir keine Gedanken, Yuuri“, sagt er zu mir, als wir uns in den Verkehr einreihen. „Es geht mir gut. Ich bin froh, dass ich hier bin.“

Den Rest der Fahrt über schweigen wir.
 

Es sind noch nicht viele Menschen am Strand. Die Wassertemperatur liegt bei knappen 19 Grad und ja, es ist verdammt frisch. Also zumindest für mich. Aber Viktor und Makkachin sind definitiv ein anderes Wärme-Kälte-Verhältnis gewohnt und haben sich direkt in die Fluten gestürzt. Ich habe es gerade bis zu den Knien geschafft und damit ist es auch vorbei.

Aber so kann ich ganz ungeniert Viktor und Makkachin zusehen, wie sie durch das Wasser toben. Man sieht, dass die Beiden sich in- und auswendig kennen. Viktor schnappt sich Makkachin ein paar Mal und lässt ihn ins Wasser plumpsen, aber der Hund lässt alles mit sich machen. Er ist total auf Viktor fixiert und hat seinen Spaß. Genauso wie Viktor selbst, der sich über die gemeinsame Zeit mit seinem Hund wirklich zu freut. Es beruhigt mich irgendwie, aber nach einer Weile muss ich seufzen. Hätte ich das mit Vicchan nur auch nochmal erleben können...

„Hey, Yuuri!“, ruft mir Viktor zu. „In meiner Tasche ist ein Tennisball, wirfst du mir den eben mal her?“

„J-ja klar!“, antworte ich hastig und schlurfe durch den Sand zurück zu unseren Sachen. Viktor hat eine große, korallenfarbige Tasche dabei, die wie ich gerade feststelle, von Valentino ist. Und ich habe einen gammeligen, zehn Jahre alten Rucksack. Was für ein Taschenduo. Aber es wundert mich nicht mehr, die meisten Dinge, die Viktor besitzt, sind nicht gerade von der preisgünstigen Sorte. Das Erste, was mir davon aufgefallen ist, war sein Kulturbeutel von Louis Vuitton, der einen festen Platz in unserem Badezimmer eingenommen hat. Zuerst dachte ich, der Beutel gehört meiner Schwester und fragte mich schon, wo sie das Geld dafür herhatte, bis mir ein neugieriger Blick hinein den eigentlichen Besitzer verraten hat. Ich hatte einen halben Herzinfarkt an diesem Morgen, zum Einen, weil ich gar nicht damit rechnete, Viktors Sachen in unserem Familienbadezimmer zu finden und zum Anderen, weil ich mir wie ein Schnüffler vorkam. Dabei es war nur logisch. Er hat kein Gästezimmer, sondern das ungenutzte Esszimmer bezogen und irgendwo müssen seine Sachen ja hin. Trotzdem, was für ein Schock...!

Diesmal darf ich seine Tasche aber ganz legal öffnen und finde besagten Tennisball eingepackt in einer Plastiktüte. Einen kurzen Moment frage ich mich warum, dann erkenne ich, dass darunter Viktors Wechselkleidung liegt. Das erklärt natürlich den Plastikbeutel. Ok, der Geruch des Tennisballs vielleicht auch. Ich erinnere mich, dass Vicchans Spielzeug irgendwann auch so gestunken hat, kurz bevor meine Mutter es dann entsorgt und ein Neues geholt hat.

Ich stopfe die Plastiktüte in den Sand und gehe mit dem Stinkeball zurück zum Wasser.

„Viktor! Ich werfe!“

„Okay!“

Mein Wurf ist fast eine Punktlandung, der Ball fällt etwa einen halben Meter vor Viktor ins Wasser. Und Makkachin ist total aufgedreht. Er hat den Ball natürlich sofort erkannt – oder gerochen, je nachdem. Viktor fischt den Ball aus dem Wasser und hält ihn hoch, dass Makkachin ihn sehen kann, aber nicht drankommt. Der Hund wird sichtlich nervös, so sehr freut er sich, mit seinem Herrchen spielen zu können. Die Szene erinnert mich an das Foto, auf dem ich Viktor zum ersten mal mit Makkachin gesehen habe. Viktor hatte genau dasselbe, offene und ehrliche Lachen, das ich heute nicht nur sehen, sondern auch hören kann. Es ist irgendwie ansteckend und ich muss leise mitlachen, wenn ich die Beiden so zusammen sehe.

„Hey, Yuuri! Fang!“

Eh, was? Viktor wirft den Ball zu mir zurück und Makkachin hechtet hinterher, bemüht den Ball vor mir zu erreichen, aber vergeblich. Da steht er jetzt vor mir und schaut doof, weil ich seinen Ball in der Hand habe. Ob Makkachin auf denselben Trick reinfällt wie Vicchan? Einen Versuch wäre es wert...

Ich zeige Makkachin den Ball in der rechten Hand. Der Hund wedelt mit dem Schwanz und ist total nervös; er will, dass ich werfe. Dann führe ich den Ball hinter meinen Rücken, nehme ihn mit der linken Hand und halte ihn wieder nach oben. Makkachin ist irritiert, weil der Ball plötzlich auf der anderen Seite ist, aber er ist immer noch aufgeregt und will, dass ich endlich werfe.

„Was machst du da, Yuuri?“, ruft Viktor und kommt ein paar Schritte auf uns zu. „Wirf her!“

„Warte kurz“, antworte ich und nehme den Ball wieder hinter meinem Rücken in die rechte Hand. Makkachin fängt an zu bellen und sieht aus, als wolle er gleich hochspringen. Ich beuge mich leicht vor, nehme den Ball wieder hinter meinen Rücken, aber klemme ihn in meiner Badehose fest. Dann zeige ich Makkachin beide Hände. Der Ball ist weg.

Der Hund versteht die Welt nicht mehr. Er schaut mich belämmert an, fängt an zu suchen, springt nach links und nach rechts, schaut hilflos zu Viktor und alles dreht sich für ihn nur um die Frage, wo sein Ball geblieben ist. Ungerührt davon sage ich: „Tja, Makkachin, der Ball ist weg. Dumm gelaufen. Beschwer‘ dich bei Viktor, er hat ihn mir zu geworfen.“

Der Hund ist völlig von der Rolle und wendet sich ihm. Dann hole ich den Ball wieder hervor und halte ihn hoch, dass Viktor ihn sehen kann, aber Makkachin nicht. Viktor fängt augenblicklich an zu lachen und steigt in das Spiel mit ein: „Ich hab deinen Ball auch nicht, schau.“ Er zeigt Makkachin ebenfalls beide Hände. Kein Ball. Scheiße aber auch.

In dem Moment werfe ich Viktor den Ball wieder zu, er saust an Makkachin vorbei und der Hund macht einen Satz als würde er beim Springreiten teilnehmen und landet mit einem Bauchplatscher wieder im Wasser. Bei diesem grandiosen Sprung von Makkachin müssen wir beide aus vollem Hals lachen und ich stelle fest, dass der Unterschied zwischen uns vielleicht gar nicht so groß ist, wie ich dachte.
 

Als wir am Abend schließlich zurück nach Hause aufbrechen, sind wir alle drei schlagskaputt. Makkachin liegt während der Fahrt platt auf der Rückbank und Viktor muss auch kämpfen, nicht einzuschlafen. Ich bin zwar auch müde, aber es geht noch. Ich muss ja auch fahren. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, dass Viktors Nase und Wangen gerötet sind. Da hat sich wohl jemand einen leichten Sonnenbrand geholt, denke ich schmunzelnd.

Zuhause angekommen wartet meine Mutter bereits ungeduldig mit dem Abendessen auf uns. Sie hat seit dem ersten Tag einen Narren an Viktor gefressen und nennt ihn auch nur Vicchan, sodass ich nachvollziehen kann, dass es ihr nahe ging, dass wir außerhalb des Trainings kaum etwas miteinander zu tun hatten. Jetzt aber freut sie sich und strahlt, dass insbesondere Viktor einen so schönen Tag gehabt hat und zum ersten Mal schlägt dieser auch Alkohol zum Abendessen aus, so müde ist er, dass wir alle müssen lachen. Mari räumt etwas irritiert das Bier zurück in den Kühlschrank und Mutter bietet ihm stattdessen kalten Tee an, den Viktor auf Japanisch dankend annimmt. So ein paar Wörter spricht er mittlerweile schon, unter anderem arigatou, itadakimasu, go-chisou-sama deshita(*)... hauptsächlich die Wörter, die beim Essen ständig fallen und auch von unseren Gästen häufig benutzt werden. Vater staunt jedes Mal darüber und Mutter ist absolut verzückt. Einzig Mari ist indifferent wie immer, denn seit Yurio abgereist ist, scheint sie mit mir und Viktor beleidigt zu sein, weil sie den Blondschopf lieber noch etwas länger hier gehabt hätte. Ganz verübeln kann ich es ihr aber nicht. So ein bisschen vermisse ich ihn auch und manchmal warte ich nur darauf, dass er um die Ecke springt und Schimpfwörter durch die Gegend brüllt. Auf seinem Instagram-Account hat er mich gesperrt, sodass ich nicht mitbekomme, wie es ihm in Russland geht, aber immerhin scheint er mit Yuko regelmäßig zu schreiben.

Nachdem Mutter den Tisch abgeräumt und Vater wieder nach unten zu seinen Kumpels zum Fußball schauen verschwunden ist, mache auch ich den Fernseher an und suche nach irgendeiner Talkshow, von der man sich berieseln lassen kann. Makkachin liegt unter dem Tisch und pooft vor sich hin. Ich beobachte, wie Viktor sich sein Kissen auf dem Boden zurecht legt und wahrscheinlich dauert es nicht mehr lange, bis auch er schläft.

„Yuuri“, ruft meine Mutter nochmal. „Fragst du Vicchan, ob er Creme für sein Gesicht haben will? Er hat sich ein bisschen verbrannt.“

Ich schaue zu ihm, wie er mit dem Kopf in meine Richtung liegt und tatsächlich schon fast eingeschlafen ist. Einen Moment lang überlege ich, aber kann nicht widerstehen, knie mich vor ihn und poke ihn sachte auf den Kopf. Er schlägt die Augen sofort auf und sieht mich verdattert an.

„Warum pokest du mich schon wieder...?“

„Viktor...“, sage ich leise. „Du kannst gleich schlafen, aber du solltest dir das Gesicht noch einreiben, du hast dich verbrannt.“

„Verbrannt...?“

„Deine Nase ist ganz rot und deine Wangen auch“, antworte ich. „Mutter hat Aloe-Creme hier. Du hast sehr helle Haut und bist die viele Sonne nicht gewohnt, deswegen bist du auch so groggy.“

Viktor richtet sich noch einmal auf und Mutter kommt zu uns herüber und gibt ihm ein bisschen Creme auf den Zeigefinger. Irgendwie klappt es mit der Koordination aber nicht mehr so ganz, sodass Mutter ihm zur Hilfe eilt und ich hin- und hergerissen bin, ob ich es niedlich oder übertrieben unbeholfen finden soll, dass ein erwachsener Mann sich von meiner Mutter gerade die Nase einreiben lässt. Wenn ich allerdings sehe, wie sehr Mutter dabei strahlt, kann ich Viktor dafür eigentlich nicht böse sein. Und er ist wirklich müde. Also doch niedlich, beschließe ich und frage mich direkt, ob ich mir das erlauben darf, ihn niedlich zu finden. Er ist mein Trainer! Wobei er heute vielmehr wie ein Freund war... und beim Essen und gerade jetzt eher wie ein Familienmitglied... Argh, was sollen diese Gedanken!

Meine Mutter verschwindet zurück in den Flur. Wir sind allein. Mir wird auf einmal ganz merkwürdig und mein Puls hat die doppelte Schlagzahl.

„Was schaust du im Fernseh, Yuuri?“

„N-Nichts Besonderes, ich hab noch nicht entschieden...“

„Darf ich mich zu dir setzen?“

Oh nein, nein, nein! Komm' mir nicht zu nahe! denke ich, aber zu spät. Er sitzt neben mir an die Wand gelehnt, die Beine angezogen und das Kissen umarmt vor seinem Oberkörper, aber er hat Abstand gelassen. Sein Kopf liegt etwas schief auf der Seite vor Müdigkeit, aber er lächelt mich an.

„Danke, Yuuri. Das war der schönste Tag, den ich seit Langem hatte.“

Dann fallen die blauen Augen wieder zu und er döst ein. Ich schlucke. Für den Bruchteil einer Sekunde könnte Viktor noch etwas anderes gewesen sein.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Sodele, ich hoffe ihr hattet Spaß mit dem ersten Teil :D
Über Feedback würde ich mich sehr freuen!
Flokki

(*) Übersetzungen:
arigatou = „Danke.“
itadakimasu = „Guten Appetit.“ (sinngemäß)
go-chisou-sama deshita = „Danke für das Essen.“

Glossar:
Lawson = 24-Stunden-Supermarkt-Kette (Konbini)
Onigiri = Dreieckige Reisklopse mit verschied. Füllungen Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Wei_Ying
2017-12-27T18:23:16+00:00 27.12.2017 19:23
omg, ich bin jetzt schon in Love mit deiner FF^^

Ich habe mir auch schon viele Gedanken darüber gemacht, wie es im Sommer mit ihnen gelaufen sein könnte. ^^;
Aber ich liebe es, wie du die Charaktere beschreibst ♥ So authentisch wie sie in der Serie auch sind..
vorallem deinen Viktor könnt ich ja knutschen (wieder mal xD aber ne, das überlassen wir mal Yuuri xD)... er, dieser brilliante Eiskunstläufer, lässt hier ein kleines bisschen hinter die Fassade blicken, noch mehr als in der Serie und es ist ja auch in der Realität oft so, dass derartig erfolgreiche Menschen innerlich leiden, dass das, was man in der Öffentlichkeit sieht, nicht das Seelenleben widerspiegelt... und grade Viktor scheint einfach unfassbar happy zu sein, dass er Yuuri hat, sowohl in der Serie als auch in deiner FF... hach ♥
Einfach süß. Grade das Ende, wo er so übermüdet ist und es nichtmal schafft, sich einzucremen /D voll cute. Das lief alles in meinem Kopfkino so ab als wäre es ne Animefolge gewesen ♥

ich freue mich auf die folgenden Kapitel ♥
Antwort von:  Flokati
27.12.2017 20:36
Vielen Dank!
Es freut mich sehr zu hören, dass die Charaktere getroffen sind und insbesondere Viktor.
Ich bin sehr gespannt, was du zum weiteren Verlauf sagst! :)
Flokati
Von:  --lina--
2017-12-27T14:31:02+00:00 27.12.2017 15:31
Endlich!! Endlich gehts weiter :D
Ich bin total happy und freu mich wie'n Klops!!
Die Beiden sind einfach viel zu süß! Du triffst sie so gut, dass ich dich knutschen möchte!!
Auch Yuuris Mama und Yuuko hast du super getroffen und ich freue mich auf die kommenden Wochen. Das Grinsen in meinem Gesicht ebbt grad nicht mehr ab. Hach ja und nun zurück zur Arbeit ^^ ❤️
Antwort von:  Flokati
27.12.2017 15:36
Vielen lieben Dank, Süße <3
Ich wünsch' dir einen entspannten Restarbeitstag :D


Zurück