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Drachenengel (Buch 1)

{inspiriert von Breath Of Fire, Final Fantasy & Herr der Ringe}
von

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Dämonentempel (Teil 3)

Hanryo und Chikará fuhren mit einem leeren Nachtzug zurück nach Hause. Sie waren die einzigen im Personenwagon und setzten sich in einem Abteil gegenüber an der Fensterseite. Hanryo las eine Zeitung, die irgendwer dort auf dem Platz liegen gelassen hatte, während Chikará ziemlich erschöpft auf vier nebeneinanderliegenden Sitzplätzen lag, ihr Mantel diente ihr als Decke, sie schlief aber nicht, sondern schaute aus dem Fenster hinaus zum dunklen Nachthimmel. Sie hätte gerne geschlafen, aber sie konnte es nicht, weil ihr Verstand immer noch sehr aufgewühlt war, dass es ihr unmöglich war, Ruhe zu finden. Sie konnte es nicht fassen, dass irgendwann einmal in ihrem Leben dieses verfluchte kleine Rostmesser für sie fast den Tod bedeutet hätte. Auch wenn sie sonst unverwundbar war, mit dieser Waffe war sie sterblich und das machte ihr Angst. Zum ersten Mal, nachdem sie von ihrer wahren Herkunft und Abstammung erfahren hatte, spürte sie eine gewisse Existenzangst, eine Angst vorm Tod, vorm Ende. Dieser großen Furcht waren die Menschen immer ausgesetzt, auch Chikará selbst, als sie sich früher für einen normalen Menschen gehalten hatte, aber nun wurde ihr erneut bewusst, wie schlimm es war, wenn man ständig Angst um sein Leben haben musste. Wovor hatte sie Angst? Menschen hatten auch nicht ununterbrochen Angst vorm Tod, redete sie sich ein. Menschen konnten durch alles mögliche sterben, sie nur durch diese eine Waffe, wieso hatte sie also derart große Angst davor zu sterben, wenn doch die Chance eigentlich derart gering war? Vielleicht weil ihr Vater wohl dasselbe Ende gefunden hatte? Aber es gab doch keine Verbindungen zwischen ihr und ihrem Vater, vielleicht gab es sie niemals, warum kümmerte sie dessen Schicksal auf einmal? Chikará flüchtete sich in ein Gespräch mit ihrem Gefährten, um das Chaos in ihren Kopf zu unterdrücken. "Hanryo?"

Er schaute sie daraufhin an und legte die Zeitung weg. "Ja."

"Wovor fürchtest du dich am meisten auf dieser Welt?"

Er zögert mit der Antwort, da er kurz darüber nachdenken musste. "Davor, dass die Drachen oder sonst irgendwer die Welt wieder genauso tyrannisch beherrschen würde, wie es damals der Fall war."

"Fürchtest du dich nicht vor deinem Tod, du bist ja schließlich nicht unverwundbar wie ich?"

"Natürlich fürchte ich mich davor, aber ich sehe das so, wenn ich sterbe, dann wäre ich immerhin wieder mit meiner verstorbenen Familie vereint, das gibt mir die Kraft, keine Angst vor dem Tod zu haben."

"Woher willst du denn wissen, dass du nach dem Tod wieder mit ihnen vereint bist? Niemand weiß genau, was nach dem Tod mit unseren Seelen passiert, vielleicht sterben sie auch mit dem Körper zusammen?"

"Das denke ich nicht. Mein Glaube besagt, dass es so ist, wie es gerade erläutert habe."

"Und wenn dein Glaube nicht wahr ist, was würdest du dann tun?"

"Nichts."

"Nichts?" Chikará war sehr überrascht über diese Antwort und gespannt auf die folgende Erklärung..

"Genau, wenn nach dem Tod nichts mehr wäre, so wäre das nicht schlimm für mich, da ich es vorher nicht wusste und somit ohne Angst sterben konnte."

"Ich könnte nicht so stark an eine nicht bewiesene These glauben wie du."

"Glaube du einfach nur an das, was du für richtig oder bewiesen hältst, egal ob die anderen es auch glauben oder nicht, die Hauptsache ist, dass dein Glaube dich selbst glücklich macht."

Sie ließ diese Worte lange auf sich wirken, sie wollte aber schließlich dazu nichts mehr hinzufügen, da sie ja keiner Religion angehörte und damit noch niemals zuvor über ein mögliches Leben nach dem Tod nachgedacht hatte. Sie hatte keine Lust, sich nun auch noch darüber den Kopf zerbrechen zu müssen und fing daher ein neues Thema an: "Wenn ich sterben würde, wärst du dann traurig?" Dass diese Frage ziemlich überflüssig war, wusste sie sehr wohl, aber dennoch wollte sie noch einmal die Gewissheit haben, dass ihr großes Vertrauen und ihre Freundschaft von Hanryo erwidert wurde.

Dieser starrte sie ein wenig verwundert an. "Ja, selbstverständlich wäre ich dann sehr traurig. Heute bist du für mich meine Familie, und wenn ich dich nun verlieren wurde, wie meine richtige Familie damals, dann würde ich wieder vor einem großen Abgrund stehen, den ich vielleicht nicht ein zweites Mal überwinden könnte."

"Ich wäre auch sehr traurig, wenn du sterben würdest. Ich meine, ich habe niemanden anders mehr als dich auf dieser Welt."

Hanryo seufzte. "Chikará, es ist dir überhaupt nicht gut bekommen, dass du das Schwert im Tempel gesehen hast, stimmt es?"

Sie kratzte sich am Kopf. "Ja, das stimmt wirklich. Ich kann irgendwie im Moment an nichts anderes mehr denken, als an diese verfluchte Rostklinge. Ich habe ehrlich gesagt auch große Angst davor, irgendwann einmal zu sterben, und der Gedanke, dass ich früher fast gestorben wäre, ohne heute zu wissen, weder wieso man mich töten wollte, noch wer es war, macht mich verrückt und innerlich völlig fertig."

"Die Angst vor dem Tod haben wir alle, Menschen ebenso wie Drachen, und zu deinen quälenden Fragen, nun, ich kann dir leider nicht mit einer Antwort dienen. Ich weiß genauso wenig wie du, aber vielleicht können wir auf dem anderen Kontinent mehr darüber erfahren."

"Ich habe Angst, dass derjenige, der mich damals fast getötet hätte, noch leben könnte und vielleicht noch mal versuchen könnte, mich zu töten?"

Er grinste sie an. "Chikará, wo ist denn dein Optimismus geblieben?"

Sie atmete tief durch. "Du hast vielleicht recht. Im Moment bin ich vielleicht etwas zu nachdenklich, aber ich bin halt wirklich sehr beunruhigt. Vielleicht hätten wir das Schwert besser mitnehmen und an einen anderen, sichereren Ort verstecken sollen?"

"Nein, das hätten wir nicht tun dürfen."

Sie konnte diese Äußerung nicht nachvollziehen. "Was? Erkläre mir das, was meinst du damit, wieso hätten wir es nicht entwenden dürfen?"

"Versuche es so zu sehen, das dieses Wakizashi existiert, ist auch irgendwo gut. Stelle dir vor, ein anderer Kaiserdrache als du würde versuchen die Welt zu unterwerfen, wie dein Vater damals, alles zu beherrschen. Nur durch diese Waffe hätte man dann noch eine letzte Möglichkeit, um ihn aufzuhalten, ohne sie, könnte man überhaupt nichts gegen solch einen Tyrannen unternehmen."

Chikará überlegte kurz und nickte schließlich. "Du hast wohl recht. Ich bin eben manchmal sehr naiv und ängstlich, ich denke zeitweise noch wie ein Kleinkind."

Hanryo kicherte flüchtig. "Das ist nicht schlimm, du bist ja auch noch nicht allzu alt für unsere Verhältnisse."

"Sage mal, falls ich wirklich irgendwann einmal Drachenkaiserin werden würde, was hat man so für Aufgaben in dieser hohen Stellung zu übernehmen?"

"Du musst schöne Kleider tragen", antwortete er grinsend.

"Das werde ich nicht, und ich meinte die Frage eigentlich ernst", entgegnet Chikará mit einem kleinen Hauch von Wut über diese Anspielung auf ihren individuellen Kleidungsstil.

"Du müsstest unsere Art eigentlich nur anführen und würdest fast uneingeschränkte Solidarität genießen von Seiten der übrigen Drachen. Du müsstest entscheiden, wie es mit unserem Volk weitergehen soll."

"Müsste ich das dann ganz alleine entscheiden?"

"Sofern sich unsere Wege bis dahin nicht trennen würden, was ich nicht hoffe, so würde ich dir immer helfend zur Seite stehen. Aber schaue noch nicht so weit nach vorne, es kann noch so viel passieren, unsere Reise ist noch ziemlich lang."
 

Chikará schloss kurze Zeit danach ihre erschöpften Augen, sie schlief tief und fest und befand sich in einer Welt, die frei war von ihren antwortlosen Fragen, bis sie durch eine Vollbremsung des Zuges aufschreckte. Man hörte das laute Quietschen der Bremsen, darauf folgte eine mächtige Druckwelle aufgrund des plötzlichen Stillstandes, die Hanryo ebenso wie Chikará fast auf den Boden geworfen hätte, wenn beide nicht schnell genug aus Reflex reagiert hätten und sich nicht an den Lehnen ihrer Sitzplätze festgehalten hätten. Völlig erschreckt richtete sich Chikará schwankend und mit weitgeöffneten Augen wieder auf. "Was war das?"

Hanryo war mit dem Kopf gegen die Wand des Abteils gestoßen und hielt sich nun mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hände am Hinterkopf. "Ich weiß es nicht, wir gehen nachsehen."

Sie liefen zur Ausgangstüre des Wagons, über den Notfallmechanismus öffneten sie sie. Draußen herrschte noch dunkle Nacht, der Zug steckte irgendwo im dicht bewaldeten Niemandsland fest. In der Ferne waren aber die Beleuchtungen einer Stadt zu erkennen, die neben den Vollmond etwas Licht spendeten in der Finsternis. Chikará und Hanryo rannten weiter neben den Schienen entlang bis zur Lokomotive, ohne auf dem Weg etwas Bedeutsames für den unerwarteten Zwischenfall bemerken zu können. Der Lokführer stieg indes hastig aus dem Führerhaus und jagte zu dem folgenden Gleisabschnitt, der durch die Scheinwerfer der Lokomotive erhellt wurde. Als die beiden einzigen Fahrgäste näher herankamen, sahen sie durch die Lichtkegel der Lampen, dass sich vor der Lokomotive ein großer Baumstamm auf den Gleisen befand. Dies war wohl der Grund für den unerwarteten Stop. Der Stamm konnte, so erkannte man es auf den ersten Blick, nicht per Zufall umgefallen sein, sondern er wurde mit Hilfe einer spitzen Waffe oder mit entsprechendem Werkzeug gefällt, die Schnittspuren im Holz sprachen eine eindeutige Sprache. Der Lokführer hatte mittlerweile die beiden Personen bemerkt, die einige Meter weit hinter ihm standen, und drehte sich zu ihnen um. Erst jetzt erkannte Chikará, dass es sich nicht um einen Lokführer, sondern um eine Lokführerin handelte. Es war eine junge, recht hübsche Frau von schlankem Körperbau und mit langen, zusammengebundenen, orangeblonden Haaren, sie trug einen blauen Arbeitsanzug. Als sie sich zu ihnen gewandt hatte, sah man auch ihr fast schon anmutiges, natürlichwirkendes Gesicht und ihre tiefblauen Augen, wobei man ihr dennoch einen gewaltigen Zorn anmerkte. "So ein Mist!", schimpfte sie wütend. "Diese verdammten Baumfäller sind noch zu blöd, um einen Baum richtig zu fällen, und dann lassen sie ihn auch noch mitten auf der Fahrbahn liegen, mindestens einmal im Monat passiert das denen! Die Bahngesellschaft glaubt mir das natürlich nie, ,ich würde nur zu lange Pausen machen' heißt es immer, und deshalb haben sie mir geschworen, mir beim nächsten Vorfall dieser Art fristlos zu kündigen, und heute ist dieser verfluchte, nächste Vorfall! Sonst haben mir stets Schaffner und Fahrgäste geholfen, mit ungefähr zwölf Leuten bekommt so einen Koloss ja schon bewegt, aber heute Nacht ist niemand mehr da, der mir helfen könnte! Wenn ich nicht in zehn Minuten am nächsten Bahnhof bin, bin ich meinen Job los! Was soll ich jetzt bitte tun, soll ich versuchen durch telepathische Kräfte das Teil zu bewegen?" Sie hielt sich verzweifelt die Hände vor ihr Gesicht, senkte ihren Kopf etwas und schüttelte ihn völlig entrüstet.

"Wir können dir helfen", entgegnete Hanryo gelassen.

Sie nahm ihre Hände wieder herunter und schaute die beiden mit einem leicht erheiterten Blick an. "Ihr wollt mir helfen? Wie denn bitte? Ihr werdet jawohl nicht den Baumstamm mit bloßen Händen wegtragen können, oder?"

"Doch, das können wir durchaus."

Die Lokführerin schaute nervös auf ihre Armbanduhr. "Gut, versucht es ihr Spinner, mir ist jetzt jede Hilfe recht, und wenn ich jetzt sehe, wie einfältig und schwach ihr seid, dann habe ich wenigstens vor meiner Kündigung noch gut gelacht!" Sie setzte sich zusammengekauert auf die Schienen.

Hanryo nickte ihr noch zu, auch wenn sie es nicht mehr gesehen hatte, und forderte Chikará dazu auf, zu versuchen, den Baumstamm wegzuschieben. Diese lachte kurz und verstand nicht, wie sie das schaffen sollte, aber den Beweis, dass sie dazu nicht in der Lage war, erbrachte sie gerne. Sie legte ihre Hände auf die Rinde und drückte mit ihrer ganzen Kraft gegen das schwere Hindernis. Zu ihrer eigenen Verwunderung schaffte sie es sofort, die zentnerschwere Last ein wenig zu bewegen, und als Hanryo ihr schließlich half und genauso wie sie begann, den Stamm wegzudrücken, war es kein Problem mehr, die Gleise wieder frei zu räumen. Nachdem die Aktion beendet, schaute Chikará ihren Gefährten etwas entgeistert an, sie wollte beinahe nicht glauben, was sie gerade zusammen geschafft hatten.

"Wir sind körperlich viel stärker als Menschen", erklärte er ihr daraufhin.

"Wieso sagst du mir das erst jetzt?"

"Hast du das denn niemals selbst gemerkt?"

"Glaubst du, ich hätte vorher in meinem Leben schon einmal versucht, einen Baumstamm einfach so wegzuschieben? Du hättest mir ruhig schon früher von meinen körperlichen Möglichkeiten erzählen können."

"Du hast mich niemals danach gefragt." Er drehte sich um und ging zur Lokführerin, die mittlerweile wieder aufrecht stand und alles genau beobachtet hatte. Sie war etwas bleich im Gesicht geworden, ihr Mund war weitgeöffnet, ihre Augen schienen wie in Trance, man konnte beinahe meinen, sie würde jeden Moment vor Staunen in Ohmmacht fallen. "Kraftsport nützt also einscheinend doch etwas."

"Selbstverständlich", kommentierte Hanryo lächelnd. "Können wir jetzt weiter fahren?"

Sie erwachte schlagartig aus ihrer Starre. "Ja! Sofort! Wir haben sowieso keine Zeit!"
 

"Halt!", schrie plötzlich eine unbekannte Männerstimme.

Hanryo und die Lokführerin drehten sich sogleich in die Richtung, aus welcher der Schrei gekommen war, genau in diesem Moment spürte Chikará auf einmal ein Messer an ihrer Kehle. Eine ganz in schwarz gekleidete Person mit vermummtem Gesicht hielt sie mit der einen Hand fest an der Taille umschlossen, und mit der anderen drückte sie ihr eine Klinge an die Halsschlagader. Noch bevor irgendeiner reagieren konnte, stürmten zwei weitere schwarze Gestalten hervor und bedrohten auch Hanryo und die Lokführerin mit Messern. Hanryo hob gelassen die Hände und nickte Chikará unauffällig zu, die daraus verstand, dass sie sich genauso verhalten sollte wie er, sie verstand zwar nicht weshalb, folgte aber dennoch mit innigem Vertrauen seiner Anweisung. Die Lokführerin wurde wieder ziemlich blass und begann stark auf der Stirn zu schwitzen, als eine der schwarzen Personen schließlich auch ihr ein Messer zu ihrem Hals hin entgegenstreckte, zitternd und völlig verängstigt hob sie ihre Hände hoch.

"Ihr haltet euch also für Ninjas. Was soll das werden?", fragte Hanryo ohne Furcht und mit vorgespielter Langeweile, die er durch ein lautes, aber aufgesetztes Gähnen demonstrierte.

"Spiel dich nicht so auf! Gib dein Geld her oder sie stirbt!", brüllte mit aggressiver Stimme derjenige der Ninjas, der Chikará bedrohte und festhielt.

Hanryo ließ sich davon in keiner Weise beeinflussen. "Es tut mir leid, da werdet ihr sie wohl töten müssen. Ich konnte sie sowieso noch niemals leiden. Ob sie tot oder lebendig ist, würde höchstens den Bestatter interessieren."

"Wir machen ernst! Überleg dir gut, was du sagst!"

Die Lokführerin mischte sich mit großer Fassungslosigkeit für Hanryos Handeln ins Gespräch ein. "Du lässt doch wohl nicht für ein bisschen Geld deine Freundin sterben!",

"Gut, unter einer Bedingung könnten wir eventuell verhandeln", sagte Hanryo immer noch ruhig. "Ihr lasst bitte die Lokführerin gehen, sonst wird sie gleich noch einen Herzinfarkt erleiden, und falls das passieren würde, dann wärt ihr fast schon so etwas wie echte Mörder."

Der Ninja, der Chikará in seiner Gewalt hatte, nickte zu dem, der die Lokführerin festhielt, jener ließ diese daraufhin los.

Hanryo wandte sich sofort zu ihr. "Verschwinde."

"Aber du wirst sie doch nicht wirklich sterben lassen!", schrie ihn die Lokführerin völlig geschockt an.

"Verschwinde einfach nur!", befahl er ihr genervt. Sie flüchtete daraufhin hektisch ins Führerhaus der Lokomotive und schaute nicht mehr zurück zu den anderen.

"So", fuhr Hanryo fort. "Mein ganzes Geld liegt noch im Zug, ich müsste es dementsprechend erst noch holen gehen, bevor ich es euch übergeben könnte."

"Du lügst! Gib es endlich her!"

"Wie soll ich es euch geben, wenn es sich noch im Zug befindet? Ich kann leider nicht zaubern oder so, auch wenn es mir einige Leute durchaus zutrauen."

"Das ist jetzt deine letzte Chance, gib uns dein Geld, oder sie stirbt, dein lächerlicher Auftritt ist jetzt vorbei!"

"Wie kann man so fixiert auf Geld sein? Aber, weißt du was, ich habe mittlerweile auch keine Lust mehr auf diese Albernheiten." Genau in dem Moment, in dem er das letzte Wort ausgesprochen hatte, drehte er sich blitzartig zur Seite und trat dabei dem Ninja, der ihn bis dahin bedroht hatte, mit dem rechten Fuß mitten ins Gesicht, wonach der Schattenkämpfer bewusstlos und an Mund und Nase blutend zu Boden fiel. Direkt stürmte der Ninja, der zuvor die Lokführerin gefangen hielt, auf Hanryo zu und wollte ihn mit einem schnellen Messerhieb am Oberkörper verletzen. Sein vermeintliches Opfer blockte mit der linken Handkante den Angriff ab und schlug mit der rechten Faust gegen die Schläfe des Ninjas, jener stürzte daraufhin benebelt zu Boden, wo er vergeblich versuchte aufzustehen. Mit einem harten Tritt in die Nierengegend erledigte Hanryo ihn endgültig, der vor Schmerzen stöhnende Verlierer blieb auf dem Bauch liegen. Hanryo setzte anschließend noch seinen Fuß auf den Halswirbeln seines hilflosen Widersachers ab und wandte sich grinsend zu Chikará und zu dem Ninja, der sie noch in seiner Gewalt hatte. "Wie soll dein Freund sterben, durch Ersticken oder Genickbruch? Beides ist mit schrecklichen Qualen verbunden, aber die darauffolgende, ewige Ruhe entschädigt das."

Der letzte der Ninjatruppe verlor nach dieser scheinbar gewissen- und herzlosen Provokation die Kontrolle über sich selbst und rammte in seinem schier grenzenlosen Zorn mit voller Wucht Chikará sein Messer in den Hals. Dabei brach die Klinge über und fiel ihm aus der Hand. Bei Chikará brannten nun auch alle Sicherungen durch, sie riss sich wütend von ihrem Peiniger los und schlug ihm gleichzeitig ihren rechten Ellebogen mitten ins Gesicht. Es folgten noch ein paar kräftige Fauststöße gegen den Oberkörper und Kopf des völlig überraschten Ninjas, dieser hätte solch einer zierlichen Frau niemals zuvor eine derart große Körperkraft zugetraut. Nach den letzten Schlägen, die er, ohne sich noch großartig gegen sie verteidigen zu können, einsteckten musste, war der Ninja besiegt und taumelt nur noch in Geistesabwesendheit umher. Chikará hob das übergebrochene Messer auf, sie packte ihren, eigentlich schon bezwungenen Kontrahenten am Arm und zog ihn nahe an sich heran, währenddessen schaute sie ihm direkt in die fast bewusstlosen Augen. "Du wolltest mich ernsthaft töten?", hauchte sie leise und dunkel. Dann stach sie ihn ohne zu zögern die Messerklinge in die Brust, woraufhin der Ninja einen allerletzten, lauten Todesschrei ausstieß. Anschließend ließ Chikará seinen sterbenden Körper fallen und ging mit einem leichten, stolzen Grinsen zu Hanryo.

"Das waren nur Debütanten", sprach er. "Bilde dir nicht ein, dass das ernstzunehmende Gegner waren, und vor allem hättest du ihn ruhig am Leben lassen können, ich habe keinen einzigen von denen sinnlos getötet, ganz im Gegensatz zu dir!"

Sie wurde durch diese unerwartete Moralpredigt nur erneut wütend. "Wenn ich ein normaler Mensch wäre, dann wäre ich jetzt tot! Dieser Idiot hatte nichts anderes verdient als den Tod!"

Bevor das Streitgespräch zwischen den beiden sich vertiefen und verschlimmern konnte, kam glücklicherweise die, durch den Todesschrei aufgescheuchte Lokführerin vorsichtig zurück aus dem Führerhaus. Als sie die momentane Situation sah, lief sie strahlend ihren beiden Rettern entgegen. Da sie während ihrer Abwesenheit nicht versucht hatte, einen Blick zum Kampfplatz zu riskieren, wusste sie nichts von Chikarás Unverwundbarkeit. "Ich habe zwar nicht mitbekommen, wie es euch gelungen ist, die Ninjas zu besiegen, aber ich muss gestehen, ihr habt dem Anschein nach verdammt viel drauf! Ohne euch wäre ich jetzt nicht nur meinen Job, sondern auch mein Leben los! Wie kann ich mich nur jemals bei euch dafür bedanken? Ich könnte euch zum Beispiel vielleicht kostenlos Fahrtickets bis an euer Lebensende besorgen, wenn ihr es wollt, oder könntet ihr eventuell ein bisschen Hightech in euerm Alltag gebrauchen, ich könnte euch alle Maschinen beschaffen, die ihr wollt! Nur mit Geld kann ich euch leider nicht dienen, davon habe ich selbst nicht allzu viel. Nun, wie kann ich euch meine Dankbarkeit zeigen?"

"Wir taten nur, was wir konnten, um dir zu helfen. So wie wir, hätte wohl jeder gute und gewissenhafte Kämpfer in unserer Situation gehandelt", antwortete Hanryo bescheiden.

"Wenn ihr euch mit einem einfachen ,Dankeschön' auch begnügt, so soll es mir recht sein. Wie heißt ihr denn überhaupt?"

"Ich heiße Hanryo und meine bezaubernde Begleitung heißt Chikará."

Letztgenannte lachte daraufhin ein wenig.

"Freut mich sehr eure Bekanntschaft zu machen, ich bin Tsuzuri. Chikará, mir fällt da auf, du bist doch auch von meinem Volk, oder?"

Sie überlegte kurz und entschloss sich, sicherheitshalber zu lügen, da sie noch nicht wusste, ob man Tsuzuri vertrauen konnte. "Ja, klar, ich bin natürlich auch von deinem Volk", antwortete sie, ohne überhaupt zu wissen, welchem Volk ihre neue Bekanntschaft angehörte.

Tsuzuri freute sich. "Endlich trifft man hier im Osten einmal Leute, die nicht dieser primitiven Menschenrasse angehören."

Plötzlich hörte man Maschinen aus der Ferne näherkommen, Chikará und Hanryo schauten verwundert in Richtung der Stadt, zu der die Gleise führten, und von der aus auch die Geräusche kamen, sie konnten aber in der Dunkelheit nicht genau erkennen, was den Lärm verursachte.

"Ach ja", begann Tsuzuri. "Ich hatte eben, als ich ins Führerhaus flüchten konnte, über Funk die Polizei gerufen. Ich konnte ja nicht wissen, dass ihr die Ninjas so leichtfertig bezwingen konntet."

Hanryo kratzte sich am Kopf und atmete tief durch.

"Was ist?", fragte Tsuzuri verwundert. "Ihr habt doch nichts Kriminelles getan, und dass ihr einen von denen umgebracht hat, können wir doch bestimmt als Notwehr begründen?"

"Das Problem ist ein anderes", erläuterte Hanryo. "Erst einmal hat Chikará keinen Ausweis, und des weiteren müsste die Polizei aus dieser Region noch einen Haftbefehl gegen mich haben."

"Einen Haftbefehl, weshalb denn das?"

"Es ist eine sehr lange Geschichte, es geht aber nicht darum, dass ich etwas Kriminelles getan haben soll, sondern lediglich darum, dass man mir Kontakt zu gefährlichen Untergrund- und Terrororganisationen nachgesagt hat."

"Ist denn da etwas Wahres dran?", wollte Tsuzuri neugierig wissen.

"Ja, aber lass uns das bitte nicht vertiefen, dafür haben wir jetzt wirklich keine Zeit."

"Nun, wir haben also ein ernstzunehmendes Problem direkt vor uns." Tsuzuri überlegte kurz. "Geht nach hinten zu dem letzten Wagon, klettert vorerst auf das Dach und seid leise, die werden die Wagen bestimmt nur von Innen kurz inspizieren, und passt bitte auf, dass ihr nicht herunterfallt, wenn der Zug wieder anfährt."

"Die werden dir bestimmt nicht glauben, dass du alleine diese drei Ninjas besiegt hast", meinte Hanryo.

Tsuzuri seufzte. "Meinen Job bin ich sowieso los, was habe ich noch zu verlieren? Verschwindet endlich auf das Dach!"

"Danke." Er klopfte ihr leicht und freundschaftlich auf die Schulter und lief weg zum Ende des Zuges. Chikará gab Tsuzuri nur ein kurzes, flüchtiges Nicken als Zeichen ihrer Dankbarkeit, da sie ihrer offenen und naiven Person immer noch nicht wirklich vertrauen konnte. Anschließend folgte sie ihrem Gefährten eilig zum hinteren Teil des Zuges.
 

Irgendwann später in der Nacht, es musste ungefähr eine Stunde seit der Auseinandersetzung mit den Ninjas vergangen sein, setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Chikará und Hanryo lagen nebeneinander auf dem Dach des letzten Wagons, von wo aus sie hoch zum schwarzen Himmel schauten. Der kühle Fahrtwind spendete ihnen eine kleine Erfrischung nach den letzten Kämpfen, der monotone Lärm der Lokomotive war lauter als die Schreie der Nachtvögel. Es roch nach Öl und Qualm, manchmal auch nach den Zedern, die neben den Schienen standen. Der Vollmond überwund mit seiner Helligkeit die winzigen Sterne am Firmament, Wolken schwebten an ihnen vorbei.

Die Polizei hatte Chikará und Hanryo nicht gefunden, und wie es aussah, hatten sie sogar Tsuzuris Version der Geschehnisse geglaubt, trotz ihrer offensichtlichen Unwahrscheinlichkeit. Jedoch konnte Chikará auch jetzt nicht ihr Misstrauen gegenüber der Lokführerin verdrängen, obwohl jene ihr und ihrem Gefährten am Ende dem Anschein nach wirklich geholfen hatte. Hanryo machte sich darüber keine Gedanken, er genoss lediglich den Blick auf den wunderschönen Nachthimmel. "Die Sterne und der Mond sind schon faszinierende Himmelskörper, niemand weiß, woher sie kommen, seit wann sie existieren, einige glauben sogar, sie wären Lebewesen."

"Interessante Vorstellung", entgegnete Chikará mit einem ironischen Unterton. "Aber wieso sollte man viel darüber nachdenken, die Wahrheit über sie werden wir sowieso niemals erfahren, schließlich fallen sie ja nicht zu uns herunter, und wir können nicht zu ihnen nach oben gelangen, oder kannst du etwa so hoch fliegen?"

"Nein, natürlich nicht, niemand kann das, kein Vogel, kein Insekt und kein Drache. Die Einzigen, die das eines Tages vielleicht schaffen könnten,, sind die Jishus. Sie haben Maschinen, mit denen sie fliegen können wie die Vögel, und angeblich planen sie bereits solche, die hoch bis zum Mond fliegen werden."

"Meinst du, sie werden das tatsächlich schaffen?"

"Ich weiß es nicht, vorstellbar ist alles, vor tausend Jahren hatte auch noch niemand damit gerechnet, dass man irgendwann einmal mit Zügen große Entfernung derart kurz überbrücken können würde. Auch wenn ich oft schlecht über die Jishus spreche, sie haben die Welt doch insgesamt sehr zum Positiven hin verändert durch ihre Maschinen und ihre Technik."

"Diese Tsuzuri, gehört sie eigentlich auch zu den Jishus, oder zu welchem Volk gehört sie?", fragte Chikará, gespannt auf die Antwort wartend.

"Sie ist eine Jishu, damit hast du schon recht. Es war vorhin durchaus clever von dir, zu sagen, dass auch du zu diesem Stamm gehören würdest, das hat uns schließlich irgendwo geholfen, ihr Vertrauen zu gewinnen, welches wir letzen Endes dringend gebraucht hatten. Stelle dir nur vor, was passiert wäre, wenn uns die Polizei gefunden hätte? Aber zum Glück kommen wir jetzt trotz der Zwischenfälle noch halbwegs im Zeitplan wieder zurück nach Hause."

"Wie kam sie denn überhaupt darauf, dass ich eine Jishu wäre, immerhin hat sie mich ja von sich aus gefragt, ob ich eine wäre?"

"Die blauen Haare sind wahrscheinlich schuld gewesen, viele Jishus haben künstliche Haarfarben, du hast dich doch bestimmt auch über ihre eigene gewundert, so ein strahlendes Orange bekommt man ohne schwere künstliche Manipulation nicht hin."

"Ist so etwas bei denen modern?"

"Sie wollen sich von den normalen Menschen abgrenzen, anders sein als sie, charakterlich ebenso wie optisch."

"War sie deswegen auch so extrem redefreudig zu uns?"

"Eher nicht deswegen, das ist nur, ich meine, was soll man denn auch anderes von Leuten erwarten, die den Großteil ihres Lebens alleine vor Maschinen verbringen? Das Leben einer Jishu ist sterbenslangweilig, und sobald irgendetwas Außerordentliches passiert, erwachen sie aus ihrem Wachschlaf."

"Du sagtest doch einmal, sie würden mit der Kaisergarde zusammenarbeiten, sollten wir nicht aus diesem Grund sehr vorsichtig mit ihnen sein und versuchen, wenn möglich, den Kontakt mit ihnen zu vermeiden?"

"Ja, was die Führungsspitze von denen betrifft, da hast du recht, aber armselige Mechanikerinnen, Maschinen- oder Lokführerinnen wie Tsuzuri haben damit nichts zu tun, sei also unbesorgt."

Beide schwiegen kurz und lauschten den mechanischen Geräuschen des fahrenden Zuges und den kalten Nachtwinden.

"Wie lange werden wir noch hier oben, auf dem Wagon, bleiben können?", ergriff Chikará das Wort. "Auch wenn es sich vielleicht ein wenig komisch anhört, aber wenn ein Tunnel auf der Strecke kommen würde, dann hätten wir doch ein ernstzunehmendes Problem, oder sehe ich das falsch?"

"Bis zum nächsten Bahnhof werden keine Unterführungen kommen, ich kenne die Strecke, die wir entlang fahren, einigermaßen. Erst nach dem nächsten Bahnhof wird es für uns hier oben gefährlich, deshalb werden wir uns bemühen, beim nächsten Halt des Zuges im Bahnhof der folgenden Kleinstadt, vorsichtig vom Dach herunter zu klettern und uns wieder einen ordnungsgemäßen Fahrplatz suchen. Während der Fahrt von hier wegzukommen, nun, das wäre selbst mir ein wenig zu riskant."

Chikará genügte diese Erklärung, um sich wieder innerlich mit einen anderen Thema zu befassen. Sie schloss einige Zeit ihre Augen, sie wollte Hanryo noch etwas mitteilen, was ihr sehr am Herzen lag, jedoch wusste sie noch nicht, wie sie es ihm am besten beibringen konnte. Schließlich sprach sie mit einer sehr klaren und leicht traurigklingenden Stimme. "Hanryo?"

"Ja, was ist los?" Er drehte sich zu ihr und schaute sie gespannt an.

"Die folgende Frage ist vielleicht etwas gemein, vielleicht auch etwas zu persönlich, sie könnte dich mit ihr an Schatten zurückerinnern, über die du lieber niemals mehr gesprochen hättest, aber bitte beantworte sie mir trotzdem, die Antwort ist für mich sehr wichtig. Wie viele Menschen hast du damals, als du Soldat warst, umgebracht? Es müssen sehr viele gewesen sein, oder liege ich damit falsch?"

Er atmete tief durch. "Du hast recht, ich verabscheue die Erinnerungen an meine dunkle Vergangenheit, oft belasten sie meinen Verstand und meine Seele, aber vor dir will ich keine Geheimnisse haben, erst recht nicht solche. Es waren mehrere Hunderte, vielleicht auch Tausende, die ich getötet habe, anfangs habe ich noch stolz mitgezählt, mit der Zeit verlor ich jedoch den Überblick, wie viele es genau waren."

"Und weshalb hast du sie getötet? Du hast sie nur getötet, weil es keinen anderen Ausweg mehr gab, und versuche bitte nicht, mir jetzt zu begründen, dass man diese Konflikte auch hätte anders lösen können, das konnte man bestimmt nicht. Dein Leben oder ihr Leben, das war die Frage, und jeder, davon bin ich fest überzeugt, jeder hätte sich in dieser Lage, genauso wie du, für sein eigenes Leben entschieden, ich hätte es auch nicht anders gemacht als du. Und was war mit dem Tod meines Vaters? Egal wie schlecht er war, deiner Meinung nach, hätte ebenso er nicht sterben dürfen, aber du betontst doch selbst immer wieder, wie froh du bist, dass er tot ist. Also, mache dir nicht unnötig Gedanken darüber, ob ein Mord gerechtfertigt war oder er es nicht war, Tote sind tot, man kann im nachhinein sowieso nichts mehr daran ändern. Vielleicht hätte ich den Ninja nicht töten müssen, vielleicht hätte man auch mich damals töten sollen, vielleicht wäre das besser für die Welt gewesen, vielleicht auch nicht, erst später weiß man immer alles besser. Wenn ich ein normaler Mensch wäre, wäre ich bei der Attacke des Ninjas gestorben. Wenn das so geschehen wäre, dann wäre der Ninja jetzt noch am Leben, oder er wäre tot, weil du ihn getötet hättest, um mich zu rächen. Wer weiß, was du gemacht hättest, wenn sich alles so ereignet hätte, dann wärst du erneut zum Mörder geworden, und hättest einen weiteren Mörder auf dem Gewissen, wäre das besser? Ich wäre sowieso tot, was hätte ich noch von deiner Rache gehabt? Vielleicht hättest du ihn auch nicht getötet, vielleicht hättest du an meiner Stelle deine Gedanken frei von Rachegelüsten halten können, vielleicht auch nicht. Darum, verzeihe es mir bitte, wir sind nur Lebewesen, keine Götter, die absolute Kontrolle über alles haben. Oft sind wir stark, oft viel zu stark, von unseren Gefühlen gesteuert. Sie bewegen uns zu Fehlern, zum Schlechten hin, aber auch manchmal zum Guten hin, nur wissen wir niemals im voraus, was gute und was schlechte Folgen haben wird. Unsere Gefühle siegen dann. Meine Rachsucht hat gegen meine Vernunft gesiegt, als ich ihn getötet habe. Erst als du mich angesprochen hast, verschwanden Rachsucht, Hochmut und Egoismus aus meinem Verstand, und ich konnte wieder klar denken und habe angefangen, an meinem Verhalten zu zweifeln, berechtigterweise. Wenn ich es jetzt rückgängig machen könnte, dann würde ich es sofort tun, nicht aber kann ich dafür garantieren, dass mir so etwas niemals wieder passieren würde, und das kann niemand, auch du nicht. Deshalb nenne mich bitte nicht eine Mörderin, auch wenn ich das wohl seit heute bin. Du weißt, wenn alles anders verlaufen wäre, hätte ich ihn vielleicht nicht getötet. Aber selbst wenn ich keinen negativen Einfluss durch meine Gefühle gehabt hätte, so hätte ich ihn wohl ebenfalls getötet, weil ich dann auch kein Unrechtsbewusstsein gehabt hätte, und was noch schlimmer wäre, dann hätte ich jetzt auch keine Reue und keine Einsicht, dann wäre auch ich auf einem anderen Wege ebenfalls tot. Verzeihe mir bitte meine Tat. Du, Hanryo. Und auch du, Geist und Seele des Ninjas, falls du mich jetzt hörst, so verzeihe mir bitte, ich bereue es tief, dich getötet zu haben." Sie hielt sich die Hände vor ihr Gesicht, damit Hanryo nicht ihre Tränen sah, für die sie sich schämte. Ihr war so, als würde mit den Tränen auch ein Teil der Kraft, die den Ninja getötet hatte, aus ihrem Körper und Geist verschwinden. In Gedanken sprach sie ein Gebet, dass sie irgendwann einmal in den Slums gehört hatte, zur Vergebung ihrer Schuld, obwohl sie nicht die geringste Ahnung hatte, welchem Gott, Dämon oder Geist es eigentlich gewidmet war. Währenddessen erschallte der Todesschrei des Ninjas ununterbrochen in ihrem verwirrten Kopf. Sie begann, sich zu fragen, wofür er das Geld braucht hätte, nach dem er gefordert hatte. Er hätte es für alles Mögliche brauchen können, um sein eigenes Leben zu verbessern, um das Leben vom jemand anderem zu verbessern, oder vielleicht auch um selbst am Leben zu bleiben? Die letzte, winzige Träne lief an ihrer Wange herunter, in den schwachen Mondlichtfetzen, die zwischen ihre Finger hindurchdrangen, glänzte sie ein wenig. Wozu dachte Chikará über so etwas überhaupt nach? Hanryo hatte ihr einst gesagt, sie sollte nicht jeden, der stirbt, nachtrauen, aber wenn sie selbst ihn getötet hatte, was war dann? Noch vor einigen Stunden, hatte sie an nichts anderes, als an ihren eigenen Tod denken können, und nun, erkannte sie, wie naiv ihr Denken gewesen war. Menschen starben schnell, schnell und leicht, man brauchte nicht viel, um ihrem schwachen Leben ein Ende zu setzen, ein übergebrochnes Messer reichte zum Beispiel sogar schon dafür aus.

"Es gibt keinen triftigen Grund", begann Hanryo, der damit versuchte, Chikarás nervlichen Tiefpunkt zu ignorieren und ihr vielleicht auch etwas neue Hoffnung zu geben. "Es gibt überhaupt keinen Grund, der es rechtfertigt, jemanden zu töten. Jeder, egal wie schlimm und grausam sein Handeln war, jeder verdient das Leben. Ich bereue heute jeden einzelnen Mord, den ich vollbracht habe, den ersten ebenso wie den letzten. Einige waren feindliche Soldaten, mein eigenes Leben hing davon ab, ob ich sie am Leben ließ oder nicht, andere standen mir einfach nur im Weg, und das war der bequemste und unkomplizierteste Weg, um sie loszuwerden. Früher war mir auch das Leben eines Menschen nicht so wichtig, wie das Leben eines Drachen oder eines anderen Geschöpfes, dementsprechend schwach war meine innere Barriere, wenn es darum ging, einen Menschen zu töten. Man hatte mir damals immer eingeredet, wir wären etwas Besseres als die Menschen, und früher habe das sogar geglaubt. Ich war richtig stolz, wenn ich einen Menschen getötet hatte. Aber nicht nur Soldaten oder Kämpfer habe ich getötet, auch zahlreiche hilflose Wesen, Behinderte und Verkrüppelte, Frauen und kleine Kinder, es war mir gleich, solange es nur Menschen waren. Ich kann das nicht entschuldigen und will es auch nicht versuchen, aber glaube mir, zu Zeiten deines Vaters haben so ziemlich alle Drachen so gedacht wie ich. Einige meinten später, es wäre unser Schicksal gewesen, dass unser Volk untergeht, weil unser Hochmut und Egoismus alles zerstörte, was uns unterordnetet war. Wer weiß, vielleicht gäbe es heute überhaupt keine Menschen mehr, wenn dein Vater noch Leben würde? Andere Arten haben wir ausgelöscht, die schwächeren zuerst, die stärkeren danach, nur die Menschen leisteten großen Widerstand. Wenn du selbst zu einer großen Gemeinschaft gehörst, wo jeder dasselbe tut, und wo jeder dieselben Meinungen vertritt, ist es dir beinahe unmöglich, aus diesem Kreis zu entkommen. Ich konnte es nicht, ich wollte es damals auch nicht, erst als alles zu spät war und unser Volk gefallen war, konnte ich die Wahrheit erkennen. Weißt du, oft habe ich die Last nicht ausgehalten, die ich in meinem Gewissen mit mir trug, all die sinnlosen Morde, die ich vollbracht habe. Ich dachte auch daran, mich zur Befreiung von meiner Schuld selbst zu töten, aber ich konnte nicht, selbst dafür war meine Seele zu jener Zeit zu schwach. Ich zog ziellos umher, ich beobachtete die Menschen und lernte von ihnen, auch sah ich, dass sie nicht viel besser waren als wir, aber dennoch hatten ebenso sie eine Chance verdient, um die Welt wieder zu neuem Glanze zu führen. Ob sie es geschafft haben, kann ich nicht beurteilen. Erinnere dich an deine Zeit in den Slums, und du wirst sagen, sie hätten es nicht geschafft, schaue dir hingegen die Hauptstadt des Ostens an, und du wirst sagen, sie hätten es geschafft. Aber wie dem auch sei, sie haben ohne Zweifel genauso getötet wie wir, genauso wie wir hassen sie Wesen anderer Arten, vielleicht ist der einzige Unterschied zwischen ihnen und uns der Name. Ob ich als Drache Menschen getötet habe, oder später als Mensch Drachen getötet hätte, wäre dasselbe gewesen. Aber wenn ich meine Schuld einsehe, so bin ich vielleicht doch noch etwas Besseres, als die übrigen Mörder, die das nicht können oder wollen, egal ob sie Drachen oder Menschen sind."

Mit dieser Rede hatte er das Bild des perfekten Kämpfers und Mentors, das Chikará von ihm bis dahin hatte, endgültig zerstört. Zum ersten Mal, sah sie in ihm keinen großen Lehrmeister oder weisen Gefährten, sondern jemanden, der genauso war wie sie selbst, nicht besser und nicht schlechter als sie. "Ich bin ebenso ein Mörder wie du, egal ob man Tausende oder nur eine einzige Person getötet hat, am Ende sind wir alle Mörder, die einen vielleicht schlimmere und grausamere als die andere, aber dennoch alle Mörder. Vielleicht kann uns zumindest die Einsicht von einem Teil unserer Schuld erlösen?"



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