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Noise Break

[Demonic Reverie]
von

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Kapitel 7: Ich würde alles für dich tun


 

Nerida war nie an einer Tätowierung interessiert gewesen, egal unter welchen Umständen oder um welches Motiv es sich dabei handeln mochte. Sie hielt nicht sonderlich viel von derartigem Körperschmuck, vor allem nicht an ihr selbst – aber sie verurteilte auch niemanden, der sich ein solches stechen ließ. Sie wollte nur für sich keines.

Deswegen war sie auch nicht begeistert, als sie am nächsten Morgen vor dem Spiegel stand. Ihr Rücken hatte nicht mehr gebrannt, nur noch etwas gejuckt, darum war ihr der Gedanke gekommen, sie müsste sich diesen einmal ansehen, nur um sicherzugehen. Glücklicherweise hatte ihr Kleiderschrank einen Spiegel auf der Innenseite, so dass sie nicht einmal das Zimmer verlassen musste. So stand sie nun da, sah über ihre Schulter und betrachtete das Bild, das sich ohne ihr Wissen auf ihrem Rücken ausgebreitet hatte. Es war eine Waage, deren Mittelpunkt von jenem kristallinen Schild gehalten wurde, das sie im Kampf am Arm trug. Die Verbindung beider Kristalle bildete dabei den Schwerpunkt, wo der Stab der Waage in perfekter Balance gehalten wurde. Im Grunde gefiel ihr das Motiv und sie konnte auch ihre Waffe wiedererkennen, aber dennoch war sie nicht begeistert.

Außerdem bin ich erst 14.

Wenn sie nicht vorsichtig war, würden ihre Eltern dieses Bild entdecken und dann käme sie in Erklärungsnot. Nicht auszudenken, was ihr Vater von ihr hielte, sobald er erst einmal wusste, dass sie sich ebenfalls für den Kampf entschieden hatte. Noch dazu ohne im Vorfeld etwas über eine Tätowierung zu wissen.

Wusste Sabia davon? Falls ja, müsste sie diese fragen, weswegen sie nichts gesagt hatte.

Frustriert stieß sie Luft durch ihre Lippen, dann zog sie sich rasch an, bevor jemand auf die Idee käme, in ihr Zimmer zu stürmen. Normalerweise passierte das nicht, da man ihre Privatsphäre respektierte, aber sie wollte kein Risiko eingehen. Durch die Tür klangen die Stimmen ihrer Familie gedämpft herein, während sie alle ihrem normalen Leben nachgingen. Vor allem die von Darien flatterte regelrecht durch die Atmosphäre, während er sich bereits auf den Schultag zu freuen schien. Besonders seine Lebhaftigkeit beneidete Nerida im Moment mehr als alles andere. Sie würde nun auch kämpfen, dafür hatte sie sich entschieden, aber noch fehlte ihr die Zuversicht, die ihm zu eigen war. Vielleicht – hoffentlich – käme das mit der Zeit noch.

Erst nachdem sie vollständig angezogen war und mehrmals geprüft hatte, dass man durch diesen dunklen Pullover nichts sehen konnte, fühlte sie sich einigermaßen gefestigt. Noch immer juckte es unangenehm, als wolle es mit aller Gewalt Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Dazu erschien ihr sogar die Wolle kratziger als normalerweise. Das ließ sie nur noch mehr in Frage stellen, warum irgendjemand sich freiwillig eines stechen ließ.

Ein richtiges ist vielleicht aber nicht so störrisch.

Schließlich – viel später als sonst – nahm sie ihre Schultasche und schloss sich ihrer Familie im Esszimmer an. Das Frühstück war inzwischen fast vorüber, aber das störte sie nicht, ihr war ohnehin nicht nach Essen.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Vane sofort. »Sonst kommst du nicht erst so spät.«

Sie entschuldigte sich sofort. »Ich habe nur ein wenig verschlafen – und vergessen, dass ich vor der Schule noch schnell in die Bibliothek muss. Deswegen muss ich jetzt auch schon los.«

Da sie eine schlechte Lügnerin war, hoffte sie, dass dies genügte. Glücklicherweise hinterfragte das auch niemand, selbst Ronan hatte nur ein Problem damit: »Dann gehen wir heute nicht zusammen zur Schule?«

Sie lächelte ihm entschuldigend zu. »Nein. Aber morgen bestimmt wieder.«

Das war alles, was sie beantworten musste. Danach folgten nur noch Bitten ihrer Eltern, unterwegs vorsichtig zu sein, was sie auch versprach, ehe sie sich auf den Weg machte – und dabei hoffte, Sabia noch vor Beginn des Unterrichts zu sehen.

 

Mehrere Stunden später hatte sich diese Hoffnung zerschlagen. Sie war Sabia nicht vor dem Unterricht begegnet und dann erst recht nicht währenddessen, schließlich teilten sie sich keine Kurse. Aber auch in der Mittagspause empfand Nerida es als hoffnungslos, Sabia zu finden. Auf ihre Anfragen per Handy erhielt sie lediglich eine halbherzige Entschuldigung, verbunden mit dem Angebot, sich nach dem Unterricht zu treffen. Für Nerida blieb nur ein Schluss übrig: Sabia wollte nicht gemeinsam mit ihr gesehen werden. Dummerweise konnte sie das sogar verstehen. Wenn man beliebt war, sollte man sich den Ruf nicht ruinieren, indem man sich mit ihr sehen ließ.

Obwohl ihr rationaler Verstand das begriff, fühlte sie sich dennoch verletzt. Das konnte sie nicht ändern. Um sich zu beruhigen, suchte sie deswegen nach der Hälfte der Pause erst einmal die Toiletten im zweiten Stock auf, die um diese Zeit erfahrungsgemäß angenehm verlassen waren. Da sie weit weg von der Mensa war und es außerdem nur zwei Kabinen gab, bevorzugten die meisten doch eher die geräumige Toiletten im Erdgeschoss.

Nachdem sie sichergestellt hatte, dass wirklich niemand hier war, stellte Nerida sich an das Waschbecken. Ein kurzer Blick in den Spiegel verriet ihr, dass sie etwas blasser war als sonst. Andere beachteten sie nicht derart intensiv, also war es hoffentlich noch niemandem aufgefallen. Sie nahm ihre Brille ab und spritzte sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht, um ihre Rationalität wieder in den Vordergrund dringen zu lassen. Es half etwas, dass die Zurückweisung nicht mehr so sehr schmerzte. Auch die Farbe schien wieder in ihr Gesicht zurückzukehren.

Im Grunde, so sagte sie sich, hätte sie damit rechnen müssen, dass es derart weitergehen würde. Warum sollte Sabia, die bestimmt beliebt war, sich mit ihr abgeben? Dass Nerida sie vor ihrer ersten Begegnung nie an der Schule gesehen hatte, musste schließlich nichts bedeuten, sie gab sich eher Mühe, unauffällig zu sein und achtete dabei auch nicht auf andere.

Bestimmt hat sie Freunde, die Zeit mit ihr verbringen wollen. Wir kennen uns ja gerade mal ein paar Tage.

Sie beugte sich ein wenig vor, um ihre Augen besser betrachten zu können. Sie waren grün, unauffällig, aber ihre Pupillen wirkten heller als die der Menschen, nicht so tiefschwarz wie es sein müsste. Genügte dieses Merkmal bereits, dass sie derart von anderen ausgeschlossen wurde?

Vielleicht sollte ich Sabia danach fragen.

Nach dieser kurzen Nahbetrachtung, stellte sie sich wieder aufrecht hin und setzte ihre Brille auf. Im selben Moment flog die Tür auf und prallte gegen die Wand. Nerida zuckte zusammen und sah sofort zu jenen, die ihre Ruhe störten – am liebsten hätte sie sich nun in Luft aufgelöst.

Noch am Vortag hatte Sabia ihr versichert, dass es einige Zeit dauern würde, bis Orabela und Charity wieder in der Schule sein könnten, doch da standen sie beide leibhaftig vor ihr. Die Blicke, mit denen sie Nerida aufspießten, verhießen nichts Gutes. Sie stand inzwischen mit dem Rücken zum Waschbecken und klammerte sich mit den Händen daran fest.

Keiner von ihnen sagte etwas. Orabela schloss die Tür und lehnte sich dann dagegen, um weitere Besucher auszuschließen. Charity dagegen kam mit langsamen Schritten auf Nerida zu. Ihre mahlenden Kiefer verrieten, dass sie wieder einmal Kaugummi kaute.

»Also Belfond«, sagte Orabela von der Tür aus, »Chari will mit dir mal über Berni sprechen.«

»W-warum?«

»Was ist das für eine Frage?«, blaffte Charity sie an. »Es ging ihr großartig, bis sie mit dir gesprochen hat – seitdem ist sie im Krankenhaus. Also erzähl uns lieber schnell, was du mit ihr gemacht hast, sonst müssen wir ein paar andere Saiten aufziehen.«

Sie führte ihre Methoden dafür nicht weiter aus, aber ihr eindringlicher Blick verriet Nerida, dass sie auch gar nicht mehr wissen wollte. Sie ließ deswegen das Waschbecken wieder los und hob möglichst unschuldig die Hände. »Ich habe ihr nichts getan.«

Charitys Augen verengten sich. »Das glaube ich dir nicht. Irgendwas stimmt doch nicht mit dir.«

Spürte sie es an ihrer Aura? Konnte sie das in ihrem Gesicht lesen? In ihren Augen?

»Zeig ihr doch das Spielzeug, das du extra für sie mitgebracht hast«, sagte Orabela, immer noch gegen die Tür gelehnt als wäre das alles nur eine Plauderei.

Nerida wollte sich gar nicht ansehen, was Charity für sie hatte, doch da griff diese bereits in ihre Tasche und zog etwas hervor. Nach einem kurzen Klacken wurde ihr auch klar, worum es sich handelte: ein Teppichmesser mit einer scharfen Klinge, die gerade ausgefahren worden war.

Ihr schauderte, als sie sich nur vorstellte, wie man ihr damit über die Haut fuhr. Sie wollte das nicht, wollte nur noch weg, egal wohin. Selbst das Refugium eines Albtraums hätte sie nun akzeptiert.

Wenn ich eines schaffen könnte …

Charity ließ ihr keine Zeit, den Gedanken zu beenden. Ein kurzer heißer Schmerz fuhr über ihre Wange, als das Messer sie dort streifte. Dann floss etwas Blut aus dem Schnitt. Nerida war nicht einmal Zeit geblieben, diesem Angriff auszuweichen.

Orabela applaudierte amüsiert, aber in Charitys Augen war keine Regung zu erkennen. Selbst als sie den oberflächlichen Blutfilm auf der Klinge betrachtete, schien sie das nicht zu kümmern.

»Warum tust du das?«, fragte Nerida leise.

»Was für eine blöde Frage! Du nervst schon seit dem ersten Tag! Kriegst nie deine Zähne auseinander und starrst einen immer so dämlich an. Wofür hältst du dich eigentlich?!«

»Sie hält sich für was Besseres«, sagte Orabela von der Tür her. »Du solltest ihr mal eine Lektion erteilen, damit sie nicht mehr denkt, sie sei ein Prinzesschen.«

Das tat sie nicht, das wollte sie ihnen sagen, aber Charity war schneller. Nerida riss ihren rechten Arm hoch, um den Angriff abzuwehren. Der folgende Schnitt war tiefer als der erste, begleitet von einem brennenden Schmerz, der sich in ihrem gesamten Unterarm ausbreitete. Ihr Ärmel saugte sich rasch mit Blut voll, ein unangenehmes Gefühl, auf das sie gern verzichtet hätte. Nerida ging einen Schritt zur Seite, ein verzweifelter Versuch, dieser Situation zu entgehen. Doch ihre Knöchel knickten unter ihr weg, so dass sie schmerzhaft auf dem Boden landete.

»Typisch.« Charity verpasste ihr einen schlaffen Tritt in den Unterleib. »Wenn etwas passiert, willst du natürlich sofort verschwinden, aber nicht einmal das kannst du richtig.«

»Anscheinend kann sie nur strebern«, kommentierte Orabela.

Im Moment hätte Nerida ihnen nur zu gern demonstriert, was sie noch konnte, doch alles in ihr schien durcheinander zu wirbeln, selbst ihre eigenen Kräfte, die sich in diesem Zustand weigerten, jegliche Form anzunehmen. Sogar das, was sie so anders machte, ließ sie in dem Moment, in dem sie es am meisten brauchte, im Stich, es war frustrierend. Sie glaubte sogar, das spöttische Lachen der drei Albträume zu hören.

Charity kniete sich neben sie. »Eigentlich wollte ich eher dein Gesicht verschönern. Kann ja nicht schaden, dich wenigstens mal interessant aussehen zu lassen, wenn du schon so super-langweilig bist. Vielleicht hast du dann wenigstens mal was zu erzählen.«

Sie wollte noch einmal zustechen, doch Nerida hob wieder ihren Arm. Als Charity diesen wegstieß, nutzte sie den anderen, um ihre Angreiferin auf Distanz zu halten. Die frische Wunde protestierte dabei, aber darauf wollte sie keine Rücksicht nehmen.

»Hilf mir endlich mal!«, fauchte Charity genervt über die Schulter in Orabelas Richtung.

»Kannst du denn gar nichts?«, fragte diese seufzend. »Ich habe dir doch erklärt, wie du es tun sollst.«

Dennoch kam sie ebenfalls herüber. Sie setzte sich hinter Nerida und packte sie an den Schultern, um sie dann auf den Boden zu zwängen. Ihre Arme festhaltend beugte sie sich über Nerida. »Tss, selbst in dieser Situation kannst du noch den Mund nicht richtig aufbekommen, was?«

»Dann würde ich ihr eh nur die Zunge abschneiden«, sagte Charity lachend, während sie sich auf Neridas Beine setzte. »Sie weiß also schon, warum sie lieber die Klappe hält.«

Egal wie sehr sie sich bemühte, sie wurde derart stark von den beiden festgehalten, dass sie sich nicht befreien konnte. Jeder Druck von ihrer Seite, wurde mit wesentlich mehr von der anderen beantwortet. Orabelas eiserner Griff schmerzte fast mehr als die Wunde an ihrem Arm.

Charity beugte sich über sie, kam ihrem Gesicht, vor allem mit dem Messer, viel zu nahe. »Dann wollen wir mal …«

Ihre Stimme erstarb, Nerida erkannte Verwirrung in ihrem Gesicht, konnte sich den Grund aber nicht erklären. Orabela offenbar auch nicht: »Was ist jetzt schon wieder?«

»Ich hab ihr vorhin einen Kratzer verpasst.« Mit der Klinge deutete sie auf Neridas Wange. »Aber der ist jetzt weg.«

»Bist du sicher?«

»Ja, verdammt!« Dennoch griff Charity grob an ihr Gesicht und wischte das angetrocknete Blut fort. »Siehst du?! Die Wunde ist weg!«

Wie konnte sie das nur vergessen? Selbst als Halbdämonin übertrafen ihre Heilkräfte noch die eines normalen Menschen. Ein derart kleiner Kratzer musste also schnell wieder verschwunden sein.

»Das ist unmöglich«, bemerkte Orabela. »Vielleicht war sie einfach zu klein. Schau dir halt mal ihren Arm an, da siehst du bestimmt noch was.«

Noch einmal versuchte Nerida sich aus den Umklammerungen der beiden zu retten. Mit aller Macht stemmte sie sich gegen die fremden Körper, doch keine von ihnen ließ auch nur im Mindesten nach. Charity griff nach ihrem Arm – und riss die Augen auf. »Was ist das jetzt?!«

Bevor Orabela wieder nachhaken konnte, verdrehte Charity Neridas Arm derart, dass sie die Wunde sehen konnte – jene, die sich gerade vor ihren Augen wieder verschloss.

Mit einem erschrockenen Ausruf ließ Orabela sie los und fiel nach hinten. Charity hielt ihren Arm dagegen immer noch fest und starrte Nerida an. Plötzlich verengten sich ihre Augen wieder zu Schlitzen. »Du bist ein Freak. Und eine Hexe.«

Nerida schüttelte mit dem Kopf. »N-nein, bin ich nicht.«

Selbst jetzt war ihre Stimme schwach. Genau das schien auch Orabela wieder zu reizen, denn sie kehrte an ihren Platz zurück, um Neridas Arme festzuhalten. »Die Theorie müssen wir doch mal prüfen, oder? Du solltest ihr ein Auge rausschneiden, dann sehen wir ja, ob sie das auch heilen kann. Wie eine echte Hexe eben.«

Adrenalin schoss durch Neridas Körper und ließ sie erneut die Muskeln anspannen. »Lasst mich los!«

Sie wand sich unter Charity, um sich von dieser zu befreien, doch stattdessen wurde der Druck auf ihre Beine stärker. Es kam ihr vor als ob die bevorstehende Verstümmelung Charity ebenfalls mit Adrenalin erfüllte, das ihres überstieg.

»Anscheinend freut sie sich schon darauf«, bemerkte sie lachend. »Dann sollten wir sie nicht warten lassen.«

Sie beugte sich über Nerida, das Messer bereits erhoben. Licht reflektierte bedrohlich von der Klinge, doch sie konnte ihren Blick nicht abwenden. Den Schmerz erwartend begann ihr Körper unkontrolliert zu zittern. Hitze erfüllte ihr Inneres und vertrieb die ihr so vertraute Kälte. Ihr leises Wimmern ging fast im viel zu schnellen Klopfen ihres Herzens unter. Das immer näher kommende Messer war nur noch wenige Zentimeter entfernt – da hörte sie plötzlich eine Stimme, die sich über alle anderen Geräuschen hinwegzusetzen schien: »Was soll das werden?«

Charity und Orabela setzten sich sofort wieder aufrecht hin und starrten dem Störenfried entgegen. Nerida ihrerseits wäre vor Erleichterung am liebsten in Tränen ausgebrochen, besonders als sie die Person erkannte.

Sabia stand in der Nähe der Tür und sah kühl auf sie alle herunter. Erst als ihr Blick auf Nerida zu liegen kam, wurde ihr Gesicht ein wenig weicher, was diese so weit beruhigte, dass ihre innere Hitze nachzulassen begann.

»Wir haben nur eine nette Unterredung mit unserer Freundin«, sagte Orabela und tätschelte Neridas Wange. »Ist das so verkehrt?«

»Sie sieht nicht so aus als wäre sie besonders glücklich.«

»Die Gute ist nur ein wenig nervös.«

Sabias Blick war eiskalt, als sie Orabela damit bedachte und sie sogar zum Verstummen brachte. Charity ließ sich davon aber nicht beeindrucken: »Sie ist ein Freak, du solltest sie nicht verteidigen. Ihre Wunden sind innerhalb von Sekunden verheilt!«

Mit einer kaum bemerkbaren Bewegung nahm Sabia das Messer an sich. Selbst Charity musterte verdutzt ihre leere Hand.

»Habt ihr damit ihre Verletzungen verursacht?«, fragte Sabia.

Die beiden nickten stumm.

»Ist euch dabei nicht aufgefallen, dass das Messer stumpf ist?«

Zum Glück war Nerida nicht die einzige, die von dieser Aussage verwirrt war. Sie erinnerte sich an den Schmerz, der durchaus echt gewesen war, genau wie ihre Verletzungen. Dennoch ließ sich Sabia nicht davon abhalten, ihre Behauptung zu beweisen, indem sie das Messer kurzentschlossen in ihren eigenen Unterarm stieß. Das Blut spritzte hervor, aber dennoch blieb sie bei ihren Worten: »Absolut stumpf, sage ich doch.«

Sie fuhr damit fort, sich mit der Klinge die Haut aufzuschlitzen. Nerida sog scharf die Luft ein. Der Anblick ließ sie immer wieder zusammenzucken. Wie konnte Sabia diesen Schmerz nur ertragen?

Charity und Orabela waren derweil wesentlich weniger beeinflusst von dem Spektakel. Dafür wirkten ihre Blicke … verträumt, fast schon abwesend.

»Oh«, sagte Charity. »Es ist wirklich stumpf. Ich dachte, es wäre scharf.«

»Richtig.« Endlich hörte Sabia auf damit, sich selbst zu verletzen. »Außerdem wird es Zeit für euch zu gehen. Ihr werdet woanders gebraucht. Und lasst Nerida zukünftig in Ruhe.«

Die beiden nickten. Sabia fuhr die Klinge wieder ein und reichte das blutige Messer an Charity zurück. Diese achtete nicht einmal auf die Flüssigkeit, sondern steckte es einfach ein. Ohne jedes Wort standen sie und Orabela dann auf und verließen die Toiletten.

Während Nerida sich aufrecht hinsetzte, flatterte ihr Herz immer noch mit einer Frequenz, die ungesund sein musste, solange man kein Kolibri war. Doch das ignorierte sie erst einmal, als Sabia sich neben sie kniete. »Alles in Ordnung?«

Statt zu antworten, griff Nerida sich den Arm der anderen, um sich die Wunden anzusehen. Sie fürchtete sich nicht vor Blut, ekelte sich auch nicht vor dem, was der menschliche Körper beherbergte, aber ihr Magen fühlte sich flau an, während sie das blutige Massaker aus Haut, Fleisch und Sehnen betrachtete. Es erschien ihr wie ein Wunder, dass Sabia ihren Arm überhaupt noch bewegen konnte.

»Das ist nicht so schlimm wie es aussieht«, beruhigte diese sie sofort. »Das heilt schnell wieder.«

»Aber es sieht so brutal aus.« Neridas Sicht verschwamm ein wenig. »Warum hast du das getan?«

Sie spürte, wie die Panik abebbte und die Kälte wieder in ihr Inneres zurückkehrte. Das ließ sie endlich wieder einen klaren Gedanken fassen. Aber keiner von ihnen konnte ihr erklären, weswegen die andere so weit gegangen war.

Sabia legte ihre andere Hand unter Neridas Kinn und brachte sie dazu ihr ins Gesicht zu sehen. Ihr Ausdruck war von grimmiger Entschlossenheit. »Ich würde alles für dich tun. Alles, was nötig ist. Ich bin immer auf deiner Seite, egal was kommt.«

Wieder sog Nerida scharf die Luft ein, ihr Herz schlug schneller, diesmal aber vor freudiger Aufregung. Sabia lächelte ein wenig. »Präg dir das gut ein.«

»Aber warum?« Sie konnte nicht anders, sie musste es hinterfragen. »Warum tust du das?«

Während sie auf die Antwort wartete, spürte sie, wie die Wunden verheilten, die Haut an Sabias Arm sich wieder schloss als wäre nie etwas geschehen. Lediglich der zerfetzte Stoff ihres Oberteils und das zurückgebliebene Blut verrieten, dass überhaupt etwas passiert war.

Sabias Lächeln wurde noch eine Spur strahlender und traf damit direkt in Neridas Herz. »Weil wir Freunde sind, Nerida. Und diese passen aufeinander auf. Ab sofort werde ich dich in der Schule nicht mehr aus den Augen lassen. Das verspreche ich dir.«

Sie musste mehrmals tief durchatmen, um das ungewohnte Gefühl in ihrer Brust wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Meinst du das wirklich ernst?«

»Natürlich.« Sabia strich ihr durch das Haar und löste dabei einen der zerzausten Zöpfe. »Ich werde von jetzt an auf dich aufpassen, damit so etwas nicht noch einmal geschieht.«

»Aber was ist mit deinen anderen Freunden?«

Sie schüttelte mit dem Kopf und löste auch Neridas anderen Zopf. »Keiner von denen ist so wichtig wie du. Absolut keiner.«

Ihre Stimme klang derart aufrichtig, dass man ihr alles glauben musste. Deswegen konnte auch Nerida keinerlei Widerspruch einlegen. Während sie das noch verarbeitete, fuhr Sabia ihr nun mit beiden Händen durch die Haare, um sie einigermaßen zu bändigen.

»Ich verstehe das nicht«, gestand Nerida schließlich. »Aber ich bin wirklich froh darüber. Danke, Sabia.«

Möglicherweise tat sie das ohnehin nur weil sie beide Störbrecher waren. Aber das kümmerte Nerida nicht. Noch niemals waren ihr auch nur annähernd solche Worte gesagt worden, deswegen wollte sie diese nun wertschätzen und das auch zeigen.

»Dann sind wir ab sofort wirklich Freunde«, sagte Sabia zufrieden und umarmte Nerida dann.

Nach wenigen Sekunden löste sie sich aber auch schon wieder von ihr, um sie stattdessen noch einmal zu mustern. »Jetzt sollten wir dich aber wieder ansehnlich machen. Sonst gibt es da draußen nur viel zu neugierige Fragen. Leider wirken meine Illusionen nicht bei großen Massen.«

Auf diese Weise war es ihr also gelungen, Orabela und Charity zu täuschen. War es dennoch notwendig gewesen, sich derart zu verletzen, um etwas zu beweisen?

Nein, darüber wollte Nerida nicht nachdenken, nicht gerade jetzt.

Sie ließ sich von Sabia wieder nach oben helfen. Ihr Gegenüber lächelte sie freudig an. »Und sobald wir das erledigt haben, gehen wir zusammen essen. Du musst unbedingt wieder Farbe in deine Wangen bekommen – und es kann nicht schaden, wenn man uns zusammen sieht.«

Vielleicht würde sie dann als normal wahrgenommen werden, alles könnte besser werden. Und dass Sabia sich Sorgen um sie machte, aus welchem Grund auch immer, rührte ihr Herz nach wie vor. Deswegen gab sie keine Widerrede und stellte auch keine weiteren Fragen, sondern ließ Sabia an ihrem zerfetzten Ärmel herumnesteln, um den Schaden zu verstecken.

Nun waren sie nicht mehr nur Partnerinnen im Kampf, sondern auch Freundinnen – und dieser Gedanke erfüllte sie mit derart viel Glück, dass sie für den Moment sogar die ungewollte Tätowierung auf ihrem Rücken vergaß.
 



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