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Der Schatten in mir

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Liest hier eigentlich noch jemand? Gebt mal ein Lebenszeichen von euch. xD Frag mich immer, ob ich die Kapitel ins Leere hinein hochlade, zumal ich es hier eh ständig fast vergesse. xD' Komplett anzeigen

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Drache gegen Drache

Gegen Mittag des nächsten Tages war Zayn auf dem Weg zu seiner Mutter, um das an Chandra gegebene Versprechen einzuhalten. Er würde zwar nicht von seiner Bereitschaft abweichen, das zu tun, was er für richtig hielt, aber ihm war nach viel Grübelei gedämmert, dass er den Sorgen anderer Menschen nicht unbedingt mit den härtesten Vorwürfen und Abweisungen begegnen sollte.

Als er sie nicht in der Küche fand und auf das Klopfen an ihrem Apartment im zweiten Stock auch keine Reaktion folgte, begab er sich nach unten. Arbeitete sie etwa? Nicht ausgeschlossen, am Wochenende aber auch nicht der Regelfall.

Auf halber Strecke zur Krankenstation kam ihm aus Richtung des vorderen Gebäudeteils Jill entgegen, gefolgt von Enton – und Vince.

„Du hast Besuch!“, rief seine Schwester und blieb mit verschränkten Armen vor ihm stehen. Ihr Blick hätte wohl einschüchternd gewirkt, wäre sie ihm nicht nur bis zur Brust gereicht. „Ich kann nicht immer deine Freunde reinlassen, nur weil du zu faul bist.“

Freunde ist ja wohl übertrieben, es ist immer Vince, der hier unangemeldet auftaucht“, meinte Zayn irritiert und warf seinem Freund einen Blick zu.

„Hey, ich hab dir geschrieben, dass ich gleich da bin“, verteidigte dieser sich.

„Hast du?“ Zayn warf einen Blick auf die ungelesene Nachricht in seinem PDA, dann zuckte er die Schultern. „Hm, das muss ich wohl übersehen haben.“ Unter der Woche, wenn die Rezeption in der Eingangshalle besetzt war, war das Labor frei zugänglich für Menschen, die hier arbeiteten oder einen Termin hatten und jene, die mit ihren Pokémon in die Praxis seiner Mutter wollten, aber übers Wochenende kehrte immer Ruhe ein und wenn Vince mal herkam, ließ Zayn ihn für gewöhnlich über einen Seiteneingang herein. Manchmal, so wie heute, geschah es aber auch, dass Jill, deren Zimmer nach vorne ausgerichtet war, ihn zuerst sah und zur Tür flitzte. So schlimm konnte sie es gar nicht finden, immerhin hatte Zayn nicht vergessen, wie gerne seine Schwester anscheinend mit Vince über Chandra und ihn tratschte.

„Ich hab jetzt gerade aber überhaupt keine Zeit“, meinte Zayn und wollte schon weitergehen. „Ich muss zu Mom.“

„Die ist nicht da“, erwiderte Jill ungerührt. „Irgendein dringender Notfall.“

Zayn seufzte. Wie er es sich gedacht hatte.

„Und das heißt“, setzte sie sichtlich aufgeregt an, „dass du Zeit hast!“

„Wofür?“

„Für Enton und mich.“ Zur Bestätigung ihrer Worte quakte das gefiederte Pokémon einmal zustimmend. „Ich fände es so cool, wenn Enton ein paar Attacken lernen würde. Zum Beispiel Konfusion! Ich habe gelesen, dass Entons das lernen können, obwohl sie ja keine Psychopokémon sind.“

Ein wenig überrumpelt von der Bitte seiner Schwester schwieg Zayn zunächst. Jill hatte bislang nie den Wunsch geäußert, Enton irgendwelche Attacken beibringen zu wollen. Das Wasserpokémon war für sie seit jeher ein Kuschel- und Spielpartner und ihr bester Freund. Genaugenommen hatte sie Attacken immer mit Kämpfen in Verbindung gebracht und fand schon allein die Vorstellung, Enton könnte sich versehentlich an einer Möbelkante stoßen, schrecklich. „Seit wann willst du, dass Enton Attacken einsetzen kann? Du wolltest doch nie, dass Enton kämpft“, sprach er seinen Gedanken aus.

Jill begegnete diesem mit einem Seufzen. „Es geht auch gar nicht ums Kämpfen! Du denkst auch immer nur daran. Ich will, dass Enton Konfusion lernt, weil das richtig praktisch wäre. Dann muss ich nicht mehr extra aufstehen, wenn wir im Bett liegen und ich Enton noch einen Pirsifriegel geben will, die aber immer genau dann woanders liegen. Oder wenn meine Schultasche mal wieder zu schwer ist, dann könnte Enton sie einfach hinter mir herschweben lassen. Das würde so viele Probleme lösen!“ Jill plapperte so lange, bis ihr die Luft ausging und ihre Wangen vor Aufregung rot wurden.

Zayn verschränkte die Arme. „Aber Jill, Enton ist weder dein Packesel noch dein Pokémon für alles …“

„Aber Enton will das alles auch tun! Siehst du!“ Sie deutete auf Enton zu ihren Füßen, welches freudig die Ärmchen nach oben hob und bereit schien, es mit allen liegengelassenen oder zu schweren Objekten dieser Welt aufzunehmen. Der Anblick erwärmte Zayns Inneres und ließ ihn seine Sorgen für den Moment vergessen.

„Ich weiß nicht“, blieb er dennoch unentschlossen. „Mom würde das bestimmt nicht gutheißen. Du weißt, wie sie ist. Es hat damals einiges an Überzeugungsarbeit gekostet, dass du Enton behalten durftest. Wenn es jetzt Attacken lernt … sie wird das Schlimmste befürchten.“

Zayn war älter gewesen als Jill jetzt, als er sein erstes Pokémon bekommen hatte und selbst damals war seine Mutter nervös deshalb gewesen. Sie würde Jill frühestens in drei Jahren erlauben, mit einem Pokémon zu kämpfen.

„Ach, das wird sie nie erfahren“, versicherte Jill. „Sie ist ja nicht da.“

Zayn hatte zuletzt nicht unbedingt die besten Erfahrung damit gemacht, dass sie irgendetwas schon nicht erfahren werde … „Wenn sie erfährt, dass ich dir geholfen habe … Ich habe in letzter Zeit echt viele Minuspunkte bei ihr gesammelt. Sie wird mir den Kopf abreißen.“

„Ach komm schon! Bitte!“ Jill warf sich ihm an die Seite und umklammerte seinen rechten Arm. „Bitte, Zayn. Bitte, bitte, bitteeeee.“ Sie sah aus großen, hellblauen Augen zu ihm hoch. „Du kannst doch nicht Nein zu diesem süßen Wesen sagen.“

Natürlich meinte sie Enton, auf welches sie nun zeigte. Enton gelang die Imitation ihres Blickes perfekt – die Arme an seinen Kopf gelegt und diesen etwas gesenkt, sah es zu ihm hinauf und direkt in seine Seele. Abgerundet wurde die Darbietung durch ein leises Quaken. Nur ein kaltherziger Mensch hätte ihm seinen Wunsch abschlagen können …

„Na gut“, gab Zayn sich geschlagen. „Wir können das jetzt machen. Aber wenn Enton Konfusion nicht gleich heute perfekt beherrscht, wirst du mir nicht den ganzen Tag in den Ohren liegen, klar?“

Er hatte Jill noch nie viel abschlagen können. Zudem hatte er sie in den letzten Wochen tatsächlich ein wenig vernachlässigt, weil er entweder mit Chandra zusammen gewesen war oder schlichtweg nicht den Kopf für ihre kindliche Leichtigkeit gehabt hatte. Dabei tat es gut, die Welt hin und wieder auf ein unbeschwerte Art zu betrachten.

„Ja, versprochen!“

Als Enton vor ihn trat und die Arme nach oben streckte, ging er in die Knie, um es hochzuheben – es liebte es, die Welt von einen höheren Perspektive aus zu sehen. „Wow, Jill, vielleicht solltest du Enton ein paar Pirsifriegel weniger geben. Es ist ganz schön schwer geworden.“ Enton warf einen Blick durch den Flur und hinunter auf Jill, als es oben angekommen war.

„Siehst du, noch ein Grund, ein bisschen mit Enton zu trainieren. Da kann es gleich abspecken“, strahlte Jill und tätschelte ihr Pokémon.

„Ich seh schon, du hast dir Argumente zurechtgelegt“, sagte Zayn trocken. „Heb sie dir für Mom auf, falls sie doch davon erfährt.“

Kurz darauf setzte er Enton wieder auf dem Boden ab, sodass es gemeinsam mit Jill vorauslief. Er wandte sich Vince zu, welcher die Diskussion der beiden Geschwister nur amüsiert schweigend verfolgt hatte.

„Schwer beschäftigt, wie immer“, grinste er.

„Irgendeiner von uns muss ja was zu tun haben, wenn du schon immer nichts Besseres mit deiner Zeit anzufangen weißt, als hierherzukommen“, kontere Zayn. Mit halbem Ohr hörte er, wie Jill Enton vorschlug, dass es nach Konfusion ja vielleicht auch Aquaknarre erlernen könnte.

„Ach, insgeheim wartest du doch nur darauf, dass ich vorbeikomme und dich aus deinem Elend befreie“, sagte Vince.

„Welches Elend?“

„Dass du total auf Chandra stehst, ihr das aber nicht in aller Fülle sagen kannst, weil du befürchtest, dass sie in dir eher nur den Freund mit gewissen Vorzügen sieht.“

Zayn blickte vor zu Jill, doch die schien davon nichts mitbekommen zu haben, da sie nach wie vor mit Enton sprach. „Na du musst es ja wissen. Apropos – ich hoffe für dich, dass du deine neuesten Erkenntnisse über mein Privatleben nicht direkt mit meiner Schwester geteilt hast“, sprach er mit gesenkter Stimme.

„Natürlich nicht, was denkst du von mir?“, fragte Vince daraufhin mit einem derart unschuldigem Blick, als könnte er kein Wässerchen trüben.

„Einiges“, seufzte Zayn.

„Na vielen Dank auch.“

Kurz nach Jill kamen sie im Eingangsbereich des Labors an, gegenüber der gläsernen Fassade, in deren Mitte die Türen lagen. Das strahlende Licht der Sonne fiel auf die Scheiben und tauchte das Gebäudeinnere in eines warmes Licht.

„Geh du mit Enton schon mal nach draußen, ich komme gleich nach“, sagte Zayn zu Jill.

„Aber lass uns nicht zu lange warten“, antwortete sie und eilte fröhlichen Gemüts mit Enton nach draußen durch die Türen, welche sich von innen automatisch öffneten.

Als er mit Vince allein war, lehnte Zayn sich gegen die Wand in seinem Rücken und verschränkte die Arme vor der Brust. „Es ist einfach alles zum Haareraufen. Meine Mutter ist stinksauer und will von dem ganzen Thema am liebsten gar nichts mehr hören. Chandra hat panische Angst davor, dass ihr Bruder sie findet und zurück nach Pyritus schleift. Sie versucht, es nicht zu zeigen, aber ich sehe es ja. Und ich klebe jetzt mehr denn je in diesem verdammten Labor fest und weiß nicht, was ich tun soll. Nicht mal diesem verdammten Gallopa kann ich helfen.“

„Na ja“, Vince vor ihm räusperte sich, als habe er nicht ganz mit diesem Ausbruch gerechnet, „vielleicht ist es ja nicht verkehrt, wenn du jetzt erst mal abwartest, statt dich direkt in den nächsten Kampf zu stürzen und ihnen somit wieder in die Arme zu laufen.“

„Aber ich kann doch nicht einfach nichts tuend hier herumsitzen und warten!“

„Dann betrachte es als Zeit, in der wir uns einen Plan überlegen können. Du kannst dich nicht immer nur auf dein Glück verlassen. Das hat jetzt zweimal funktioniert, aber beim nächsten Mal geht das Ganze vielleicht nicht so gut für dich aus. Und so sehr du mir manchmal auf die Eier gehst, es wäre ziemlich langweilig ohne dich alten Klugscheißer.“

„Danke, ich versteh schon, du bist ungemein aufmunternd“, schmunzelte Zayn, woraufhin er seinem Freund eine Hand auf die Schulter legte. „Nein, mal ernsthaft. Danke. Auch wenn ich nicht weiß, womit ich deine Unterstützung verdient habe. So oft wie ich schon ein totaler Arsch war.“

„Du warst mindestens genauso oft nur ein halber Arsch, passt also“, erwiderte Vince leichthin. „Außerdem muss ich ja noch dafür sorgen, dass das mit Chandra und dir was wird. Kann ja keiner auf Dauer mit ansehen, wie du dich quälst. Du wirst mich also nicht los in nächster Zeit, egal wie sehr du es versuchst.“

„Gut zu wissen.“ Zayn kannte Vince sein halbes Leben lang und sie waren schon durch einige schwere Zeiten gegangen, weshalb die Erkenntnis nichts Neues, aber dennoch nicht weniger wichtig war: Ein wahrer Freund war tausendmal mehr wert als ein Dutzend oberflächlicher Freundschaften.

„Ach übrigens, ich bin gestern Theo begegnet. Der –“

„Lass mich raten. Er hängt immer noch mit Glenn rum?“

Vince zuckte die Schultern. „Ja, kein Plan, was ihn bei dem Vollpfosten hält. Vielleicht schnorrt er ja immer noch Gras. Jedenfalls hat er erzählt, dass Glenn meinte, du müsstest dich ja immer wichtigmachen.“

Zayns Blick schweifte leicht abwesend an Vince vorbei und gerade als er etwas auf dessen Worte entgegnen wollte, verschwand einfach jedweder Gedanke aus seinem Kopf, gelöscht wie auf Knopfdruck. Blankes Entsetzen verankerte sich mit eisigem Griff in seiner Brust und ließ ihn erstarren.

„Nein, nein, nein, nein, nein“, kam es ihm tonlos über die Lippen.

„Ja, das hab ich auch gesagt … Zayn? Was ist los?“ Irritiert bemerkte Vince‘ die Fassungslosigkeit in Zayns Gesicht.

Aber der hatte sein Gegenüber vollkommen ausgeblendet. Er realisierte nicht einmal, wie er Vince mit der Schulter anstieß, als er an diesem vorbei und in Richtung der Türen eilte, kaum dass der Schock seinen Körper wieder freigegeben hatte.

Die automatischen Türen teilten sich im letzten Moment, ehe es zur Kollision gekommen wäre. Und nun, mit klarer Sicht, die nicht länger durch das Spiegeln der Sonnenstrahlen an den Glasscheiben getrübt werden konnte, löste sich auch das letzte Bisschen festgehaltenen Zweifels in Nichts auf.

Ray.

Jeder Muskel in Zayns Körper spannte sich an, als er Jill vor ihm stehen sah. Ihr Blick glitt nach oben und er hörte sie etwas sagen, doch im selben Augenblick brachte Zayn sich mit großen Schritten hinter sie.

„Jill!“ Seine Worte hallten laut und deutlich über den Platz. „Ich will, dass du reingehst.“

Verwirrt blickte sie sich zu ihm um. „Aber Zayn, ich –“

„Geh rein, sofort!“

Eingeschüchtert von seinem harschen Ton senkte sie den Kopf und trottete gemeinsam mit Enton zurück. Im Eingang wartete Vince und schob die beiden hinter sich und außer Sichtweite. Das befreite Zayn nicht von seiner Anspannung, aber immerhin stand seine Schwester nicht länger zwischen ihm und …

„Du bist also Zayn.“

Zayn wandte sich der kühlen Stimme zu. Rein äußerlich wirkte er beherrscht. Nahezu ruhig. Er hatte die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt, um ihr Zittern zu unterdrücken. Es war keine Furcht, die sie zum Zittern brachte – es war heiße Wut, welche das eisige Entsetzen in ihm geschmolzen hatte. Sie hätte ihn nur allzu gerne dazu verleitet, sich hier und jetzt auf ihren Auslöser zu stürzen, allerdings wusste er um die Torheit dieser Aktion. Nur weil Ray hier allein vor ihm stand, hieß das noch lange nicht, dass er es auch war. Wenngleich Zayn niemanden sonst sehen konnte, sollte er lieber kein Risiko eingehen.

Aber es fiel ihm schwer, beim Anblick von Chandras Bruder nicht aus der Haut zu fahren. Bis auf das eine Mal vor ihrer Haustüre hatte er ihn nur auf Bildern gesehen. Schon damals hatte Ray ein starkes Gefühl von Antipathie in ihm erzeugt, welches sich mittlerweile um das Zehnfache verstärkt haben musste.

Wie er ihn so musterte, begann er zu verstehen, weshalb Chandra sich – neben allen anderen Gräueln – so sehr von Ray einschüchtern ließ. Zayn selbst war alles andere als klein, aber Ray überragte ihn doch noch um ein paar Zentimeter Höhe. Er schien nicht auffallend breit gebaut, aber seine ganze Statur strahlte ungeheure Selbstsicherheit aus. Statt einer angespannten Körperhaltung präsentierte er sich entspannt; die Hände steckten sichtbar locker in den Taschen seines schwarzen Mantels, was neben der allgemeinen Vorsicht ein weiterer Grund für Zayn war, Distanz zu wahren.

Aber es war wohl der Ausdruck in diesen stahlgrauen Augen, die bar jeglicher Wärme waren – und auf völlig andere Art kalt, als Zayn das je bei sich selbst beobachtet hatte –, der Verunsicherung hervorrief.

Wie konnte dieser Mensch es wagen, hier mit so viel Selbstgefälligkeit zu stehen, als wäre das völlig normal?

Und – was noch viel wichtiger war, aber für Zayn nicht weniger rätselhaft – wie um alles in der Welt hatte Ray ihn finden können? Er hatte das Risiko darin gesehen, dass er in Portaportus und anschließend in dem Video gewesen war, aber das allein hätte niemals ausgereicht, um ihn binnen zwei Tagen ausfindig zu machen. Ebenso unwahrscheinlich erschien ihm ein Schuss ins Blaue seitens Ray. Dessen Selbstsicherheit räumte jede Möglichkeit, er könnte nicht mit hundertprozentiger Sicherheit davon überzeugt gewesen sein, hier richtig zu sein, aus.

Zayn unterdrückte das Gefühl der Unruhe und sagte das Erste, das ihm einfiel: „Was willst du hier?“ Es war offensichtlich, aber er wollte es von Ray selbst hören.

Dieser ließ sich zu einem knappen Lächeln hinreißen. „Da du so höflich bist, muss ich mich wohl nicht vorstellen.“ Selbst sein Ton war entspannt, nahezu plaudernd. Als keine Antwort kam, fuhr er fort: „Du weißt, was ich will. Du hast etwas, das mir gehört.“

„Etwas, das dir gehört?“, echote Zayn. „Deine Schwester ist kein Gegenstand. Sie ist nicht dein Besitz.“

Rays Schulterzucken fegte die Worte beiseite, als wären sie bedeutungslos. „Du solltest nicht von Dingen reden, die du nicht verstehst. Aber wie dem auch sei. Es freut mich, dass wir uns endlich mal kennenlernen. All die letzten Wochen habe ich mich gefragt, wer derjenige ist, der es gewagt hat, meine Schwester zu entführen.“

„Da verwechselst du etwas. Jemanden zu entführen, heißt, die Person gegen ihren Willen mitzunehmen. Chandra aber war mehr als gewillt, dir den Rücken zuzukehren.“

„Bedauerlicherweise“, seufzte Ray. „Was hast du ihr versprochen, hm? Oder sollte ich besser fragen, was du ihr gegeben hast? Ach nein, sag nichts.“ Sein scheinheiliges Lächeln bekam eine höhnische Nuance. „Es ist immer dasselbe mit ihr. Falls du glaubst, etwas Besonderes zu sein, dann muss ich dich leider enttäuschen. Du bist nur einer in einer langen Reihe an Typen, die sie rangelassen hat. Aber mach dir nichts draus, das hätte jedem passieren können.“

Zayns eigenes Gesicht fühlte sich an wie versteinert, als er den Spott über sich ergehen ließ. In den letzten Jahren hatte er eine Mauer um sich herum errichtet, an der abfällige Äußerungen anderer abprallten; es war ihm gleich, was jene sagten, die ihn nicht kannten. Aber Rays Worte richteten sich auch gegen Chandra und es fiel ihm schwer, dessen Spott nicht auf die verdiente Art zu begegnen, zugleich wollte er aber auch nichts sagen, das Ray als Bestätigung auslegen könnte.

„Das alles spricht nicht gerade für dich als Bruder. Solltest du sie nicht eigentlich beschützen? Gerade in einer Stadt wie Pyritus.“

„Oh, ich habe sie immer beschützt. Vielleicht sogar ein bisschen zu sehr, sonst hättest du nie zu einem Problem werden können“, erwiderte Ray kalt.

„Ich habe getan, was notwendig war, und ich würde es jederzeit wieder tun.“ Zayn stellte weiterhin eine gefasste Miene zur Schau, aber ihm saß die Gewissheit im Nacken, dass Chandra irgendwo im Labor war, und er hatte keinen Schimmer, was passieren würde, wenn sie herausfand, dass ihre größte Angst sich bewahrheitet hatte. Das durfte nicht geschehen. Er musste alsbald eine Lösung finden, Ray von hier fort zu bekommen. Nur wie? Nach allem, was Chandra ihm erzählt hatte, war ihm überdeutlich bewusst, dass er diesen Mann besser nicht unterschätzte.

Ray begegnete Zayns Worten mit einem Lachen. „Der tragische Held.“

„Wie hast du uns überhaupt finden können?“

Sein Gegenüber nahm die Hände aus den Manteltaschen, nur um die Arme zu verschränken. Als er sprach, wandte er sich ein wenig von Zayn ab und ließ den Blick über die Umgebung schweifen. „Ehrlich gesagt hast du mich etwas enttäuscht. Da hast du es geschafft, mir ein Cryptopokémon und meine Schwester zu stehlen, ohne dass ich wusste, wie mir geschah. Wochenlang hatte ich keinen einzigen Anhaltspunkt auf euren Verbleib. Ich habe diese ganze verdammte Region auf den Kopf stellen lassen – nichts.“ Ein scharfer Unterton unterwanderte seine Stimme. „Konnte ja keiner wissen, dass du ausgerechnet vom Pokémon-Hauptlabor kommst. Ein schönes Fleckchen. Passt zu der kleinen, feigen Ratte, die ich mir unter dir vorgestellt habe. Aber irgendwann macht selbst jemand wie du einen Fehler.“ Seine Augen fanden wieder Zayn und ein herablassendes Grinsen schmückte seine Lippen. „Du willst wissen, woher ich plötzlich wusste, wo du bist? Na ja, du solltest vielleicht aufpassen, welche Pokémon du im Kampf einsetzt.“

Zayn verstand nicht ganz und diese Irritation musste Ray ihm im Gesicht abgelesen haben. „Es war dein Arkani, welches mich zu dir geführt hat.“

„Wie?“ Sicher, es hatte eine besondere Fellfärbung, aber Arkani war längst kein für sich sprechendes Erkennungszeichen von Zayn.

Oder lag es etwa …

Bevor er den Gedanken zu Ende bringen konnte, fuhr Ray fort. „Die Einzelheiten brauchen dich nicht zu interessieren. Was zählt, ist, dass du mich direkt hierhergeführt hast. Natürlich musste ich mich erstmal überzeugen, dass meine Spur richtig war. Doch auch das hast du nicht bemerkt. Pech für dich.“

Eine Erwiderung blieb Zayn im Hals stecken. Er war schuld daran, dass Ray nun hier war?

„Aber genug geplaudert“, stellte Ray mit nunmehr dunkler Stimme klar.

Er kannte diese Tonlage. Gehört hatte er sie das letzte Mal, als er in Chandras Kleiderschrank gesessen hatte und dem Gespräch zwischen ihr und Ray gefolgt war. Damals hatte es ihn erzürnt, dass jemand so mit der eigenen Schwester sprach.

Jetzt aber … sandte sie ihm einen nervösen Schauer über den Rücken.

„Ich bin wegen Chandra gekommen und ich werde nicht ohne sie gehen.“

„Dann wirst du eine Enttäuschung erleben.“

Ray löste die Arme voneinander und trat einen Schritt vor, während Zayn sich anherrschte, an seinem Platz zu verharren. „Wer entscheidet das? Du?“

„Wenn du glaubst, dass ich dir Chandra einfach so übergebe, dann hast du dich geschnitten.“

„Einfach so vielleicht nicht, aber lass dir eines gesagt sein, Zayn“, meinte Ray mit kühler Überzeugung. „Auf die ein oder andere Art kriege ich immer, was ich will. Du entscheidest maximal, wie anstrengend du es dir machen willst.“

Zayn schüttelte leicht den Kopf. „Du widerst mich an.“

„Gut so. Schließlich bin ich nicht hier, um dir zu gefallen. Also? Wo ist Chandra?“ Zayn blieb ihm eine Antwort schuldig. „Soll ich selbst suchen gehen?“

Er machte Anstalten, das in die Tat umzusetzen, doch Zayn stellte sich ihm konsequent entgegen. In seinen Worten lag tiefe Verachtung. „Wag es ja nicht, sonst –“

„Sonst? Spiel nicht den Helden, wenn du es nicht verkraften könntest, deinen Einsatz zu verlieren.“

„Wovon sprichst du?“

Rays Blick war todernst. „Ich sage dir jetzt, wie es hier läuft. Gib mir Chandra und ich bin nachsichtig. Mach es uns beiden schwer und lebe mit den Konsequenzen. Möchtest du wirklich riskieren, dass irgendjemandem hier etwas zustößt, nur weil du einen Narren an meiner verzogenen Schwester gefressen hast? Was sollte mich daran hindern, deiner Schwester etwas anzutun?“

Gefühle, Moral, Menschlichkeit?, dachte Zayn. Alles Dinge, von denen Ray vermutlich noch nie gehört hatte.

„Du bedrohst ein Kind?“, stieß er entsetzt hervor.

„Das liegt ganz bei dir.“

„Das ist selbst für dich erbärmlich.“ Zayn spürte seine Hände schwitzig werden. Er gab es ungern zu, doch er fühlte sich in die Enge getrieben, einer Lösung fern. Es war nicht abzuschätzen, ob hinter Rays Worten ein Bluff lag oder ob er wirklich Gewalt anzuwenden bereit war. Worin er sich hingegen sicher war: Ray war nicht allein. Unweit von hier, wenn auch nicht sichtbar, musste er Verstärkung haben; er war schlicht zu selbstsicher. Und Zayn konnte kein Risiko eingehen. Er sah nicht hinter sich, da er ebenso wenig riskieren konnte, sein Gegenüber aus den Augen zu lassen, aber er wusste, dass er darauf vertrauen konnte, dass Vince auf Jill auspasste.

Er griff möglichst unauffällig zu seinen Pokébällen, aber Ray bemerkte die Bewegung; etwas blitzte in seinen Augen auf.

„Ich bin nicht der Unmensch, für den du mich hältst. Ich möchte lediglich Chandra zurück und es liegt nicht in meinem Sinne, unnötiges Leid zu verursachen. Es liegt bei dir, ob du mich dazu zwingst. Aber ich bin entgegenkommend und mache dir ein Angebot.“

Mit jedem gesprochenen Wort nahm der Hass in Zayn zu, schwellte zu einem schmerzenden Knoten in seinem Inneren an, der ihn zweifeln ließ, wie lange er sich seine erzwungene Selbstbeherrschung noch würde bewahren können. Mühsam kam ihm ein „Ach ja?“ über die Lippen.

Unerwarteterweise wandte Ray sich von ihm ab, als er antwortete: „Nach dem, was ich so von dir gehört habe, sollst du ein guter Trainer sein. Davon würde ich mich gerne einmal selbst überzeugen.“ Er hatte sich einige Meter von Zayn entfernt, ehe er sich wieder umdrehte. „Also, folgender Deal: Besiege mich in einem einzelnen Kampf. Wenn du gewinnst, werde ich ohne Chandra gehen und du wirst nie wieder etwas von mir hören.“

Diese Wendung kam unerwartet für Zayn. Natürlich erschien es ihm nur logisch, dass derjenige, der hinter der Entstehung der Cryptopokémon stand, auch selbst welche besaß. Zumindest schloss er aus, dass Ray mit normalen Pokémon kämpfen würde. Aber er traute diesem scheinheiligen Vorschlag keine Sekunde lang … Zwar kannte er nicht den exakten Grund, aber Chandra war für ihren Bruder viel zu wichtig, als dass er sein Geschäft von einem einzelnen Kampf abhängig machte.

„Und wenn du gewinnst?“

„Dann gibst du mir Chandra ohne Wenn und Aber, vergisst deine jämmerliche Schwärmerei und hältst dich in Zukunft aus meinen Angelegenheiten raus“, stellte Ray klar. „Ist das nicht fair? Niemandem muss etwas passieren und du kannst mir hinterher nicht vorwerfen, dich nicht gewarnt zu haben.“

Zayns erster Impuls war es, diesen wahnwitzigen Vorschlag abzulehnen und dessen Überbringer so etwas wie ‚Das kannst du vergessen!‘ entgegenzuschleudern, doch er zügelte sich. Er lag für ihn auf der Hand, dass Ray hier bloß ein perfides Spielchen mit ihm trieb – niemals würde er ohne Chandra gehen. Seinem Angebot lagen nur zwei Gedanken zugrunde.

Erstens wollte er diese Auseinandersetzung zu seinem Vorteil drehen. Zayn sollte glauben, dass er über das weitere Geschehen entschied und im Falle von Verletzten der Schuldige wäre. Zweitens musste Ray so sehr von seinem Sieg überzeugt sein, dass es für ihn einer unwesentlichen Kleinigkeit gleichkam, Zayn diesen Deal vorzuschlagen.

Nichtsdestotrotz, Zayn würde nicht darauf hereinfallen. Vermutlich würde Ray letztlich so oder so auf Gewalt zurückgreifen, auch wenn Zayn keine Ahnung hatte, wie diese aussehen würde. Es stand ihm nicht danach, das herauszufinden, daher gab es nur eine Möglichkeit.

Er musste diesen Kampf gewinnen.

Er griff sich einen Pokéball vom Gürtel und lief auf den leeren Platz vor dem Labor, in einiger Entfernung zu Ray. „Du kannst dein Glück versuchen, aber ich werde dich selbst im Falle einer Niederlage nicht mit Chandra gehen lassen!“, rief er ihm laut und deutlich entgegen.

Ray lächelte, als hätte er nichts anderes erwartet, und holte etwas aus der Innentasche seines Mantels. „Du wirst nach diesem Kampf nicht mehr in der Lage sein, das zu verhindern.“

Die Drohung ignorierend, sah Zayn, wie sein Gegner den hervorgeholten Pokéball vor sich hielt und dieser sich ohne Weiteres öffnete, um ein großes Pokémon freizugeben.

Es besaß einen überwiegend hellgrünen, schlanken Körper, der in einen langen Schweif auslief, an dessen Ende ein kleiner rotgrüner Fächer saß. Aus seinem Rücken ragten große flache Flügel, deren Ränder rot leuchteten, und der schmale Kopf besaß zwei nach hinten gerichtete Fühler beachtlicher Länge mit spitzen Enden. Die Augen wurden von stechend roten Lidern geschützt. Es stand auf zwei kräftigen Beinen, wohingegen seine Arme kurz, jedoch an den Enden klauenbesetzt waren.

Zayn zeigte sich möglichst unbeeindruckt angesichts des Libelldras, auch wenn es eine nicht zu verachtende Größe aufwies. Pokémon seiner Art waren hier selten, da sie ein trockenes, eher wüstenartiges Klima bevorzugten. Wenn überhaupt, würde man sie eher in der Gegend rund um Pyritus anfinden – es war also nicht allzu verwunderlich, sich nun einem gegenüberzusehen.

Ungewohnt war hingegen eine andere Sache. Obwohl Zayn davon überzeugt war, dass es sich bei dem Libelldra um ein Cryptopokémon handelte, wirkte dieses anders als die, die ihm bisher begegnet waren. Während man dem Granbull und dem Knogga von neulich deutlich von Anfang an eine gewisse Unruhe hatte ansehen können, zeigte sich dieses drachenartige Pokémon ruhig und beherrscht. Ein Blick in seine Augen verriet zwar eine tiefe Kampfeslust, aber es erweckte keineswegs den Eindruck, als würde es sich ohne eine klare Anweisung auf einen Kontrahenten stürzen. Zayn vermochte nicht zu sagen, ob er das gut oder unheimlich fand. Er kannte die Cryptopokémon als impulsive, kaum zu kontrollierende Kampfmaschinen – was musste man diesen armen Wesen denn noch antun, um ihnen diese Unkontrollierbarkeit wieder auszutreiben?

Gefasst ließ er den hervorgeholten Pokéball aufspringen, sodass sich sein eigenes Drachenpokémon materialisierte. Er hatte schon davor beschlossen, für diesen Kampf auf Nummer Sicher zu gehen und sein stärkstes Pokémon zu wählen und nach Rays Wahl sah er sich darin bestätigt, dass Brutalanda hier am geeignetsten war. Er durfte Chandras Bruder nicht unterschätzen.

Der zeigte sich angesichts Zayns Pokémon äußert zufrieden. „Du machst es mir aber auch zu einfach“, höhnte er und näherte sich seinem Libelldra.

Zayn hatte allmählich genug von diesen Kommentaren. „Ich werde niemals gegen ein Cryptopokémon verlieren!“ Und schon gar nicht gegen dich. Wie gut konnte Ray als ‚Trainer‘ schon sein? Er sah in Pokémon nichts weiter als eine Möglichkeit, Kontrolle durch Machtdemonstration zu erlangen, aber die Gefühle dieser Geschöpfe waren ihm so egal, dass er abstoßende Experimente an ihnen vornahm, nur um sie – scheinbar – zu optimieren.

Ray lachte ob dieser Aussage nur in sich hinein. „Es gibt immer ein erstes Mal.“ Im nächsten Moment senkte das Libelldra seinen Körper Richtung Boden, legte die Flügel flach nieder und ließ seinen Trainer auf seinen Rücken klettern. Als es sich wieder leicht erhob, mit zum Abflug bereiten, angespannten Flügeln, sah Ray von der erhöhten Position auf Zayn herab. „Wenn du so gut bist, wie du denkst, dann hast du ja sicher kein Problem damit, diesen Kampf etwas spannender zu gestalten.“

Für einen Moment zögerte Zayn – damit hatte er nicht gerechnet.

Mit schneidender Stimme fügte Ray hinzu: „Und komm besser gar nicht auf die Idee, dem nicht zuzustimmen. Wenn nötig, lasse ich Libelldra auch das Labor angreifen, und na ja, mal sehen, wie widerstandsfähig das gute Stück ist.“

Die Worte entfachten einen Zorn in Zayn, der ihn gar nicht darüber nachdenken ließ, dass Ray bei so einem Manöver auch Chandra gefährden würde. Er war schlichtweg erzürnt wegen dieser schamlosen Drohung und mit abermals vor Wut zitternden Fäusten sah er zu Brutalanda, welches ihm einen nicht minder entschlossenen Blick zuwarf und ein kehliges Grollen ausstieß.

Brutalandas letzter richtiger Kampf lag schon eine Weile zurück. Seither brannte es darauf, seine angestaute Energie an einem Pokémon herauszulassen, das eine größere Herausforderung war als die, auf die es normalerweise Jagd machte. Wenn es in Libelldra die Chance sah, seinen Druck abzubauen, würde Zayn dem nicht im Wege stehen.

Nicht, dass er eine Wahl gehabt hätte.

Brutalanda senkte seinen Körper nach unten und Zayn zog sich an der schuppigen Haut nach oben auf seinen Rücken. Er hatte schon oft zur Fortbewegung auf Brutalandas Rücken gesessen, aber noch nie zu einem Kampf. Ihm war bewusst, dass das eine ganz andere Art von Risiko war, aber er musste Vertrauen darin haben, dass sein Pokémon und er auch in dieser Lage eine Einheit bildeten. Solange er Brutalanda nicht mit vollem Körpereinsatz angreifen ließ, sondern auf distanzbasierte Attacken setzte, sollte es machbar sein.

Wie er allerdings gegen das Libelldra gewinnen sollte, ohne Pokémon und Reiter dabei vom Himmel zu holen … Na ja, da würde ihm schon noch etwas einfallen. Wenn Ray nicht völlig wahnsinnig war, würde er seinem Pokémon befehlen, zu landen, sobald dieses sich dem Ende seiner Kräfte näherte.

Zayn musste einfach darauf und auf sich vertrauen. Weder konnte er verlieren noch wollte er unbeabsichtigt zum Mörder werden. Sosehr er Ray auch verabscheute.

Brutalandas Muskeln bewegten sich unter Zayn, als es die Flügel hob und zum Abheben ansetzte. Seine Mutter würde bei diesem Anblick vermutlich einen Herzinfarkt erleiden – gut, dass sie nicht hier war.

Ohne ein weiteres Wort an Ray zu richten – der Ausdruck in seinem Gesicht sagte mehr als genug –, befahl er Brutalanda, sich in die Lüfte zu erheben. Libelldra tat es ihm gleich und nur wenige Sekunden später befanden sich beide Pokémon weit genug oben, um sowohl den angrenzenden Wald als auch die Glaskuppel des Labors problemlos überblicken zu können.

Zayn richtete den Blick nach vorne. Am ruhigsten saß er auf dem Rücken seines Drachens, wenn er dem Horizont entgegensah und nicht allzu viele Gedanken an den Boden weit unter ihm verschwendete. Die Luft hier oben war etwas kühler als unten, doch es fröstelte ihn nicht, dafür jagte viel zu viel Adrenalin durch seinen Körper. Sein schnell schlagendes Herz nahm er kaum wahr; alle seine Sinne waren darauf fokussiert, sich der Situation und seiner Umgebung bewusst zu sein, um keinen fatalen Fehler zu begehen.

Denn er wusste: Ein Fehler oder eine Unachtsamkeit – und es würde keine zweite Chance geben.

Er wies Brutalanda an, über den Wald zu fliegen, sodass sie nicht länger in der Nähe des Labors waren. Das Drachenpokémon preschte nach vorne und durchschnitt die Luft, seinen Kontrahenten hinter sich lassend. Die entstehenden Winde peitschten Zayn entgegen, doch er fand sicheren Halt an den zackigen Schuppen. Als er den Kopf wandte, sah er Libelldra tatsächlich in einiger Entfernung hinter sich. Es schien langsamer zu sein.

Brutalanda flog einen weiten Kreis, um seinen Gegner wieder in den Blick zu bekommen. Nun erstreckten sich unter ihnen die grünen Weiten der Baumwipfel und gerade als Zayn sich fragte, ob er als Erster einen Angriff wagen sollte, schoss Libelldra nach vorne und überwand die Distanz erschreckend schnell. Ein helles Leuchten glomm in dem aufgerissenen Maul des Pokémons, fast so hell wie die vom Himmel herabbrennende Sonne.

„Runter!“, schrie Zayn und Brutalanda stob steil nach unten, um dem Hyperstrahl zu entgehen, als dessen Stärke strahlenförmig durch die Luft schoss. Es flog einen weiten Bogen hinter Libelldra, ehe es wieder an Höhe zunahm und seinerseits einen Hyperstrahl abfeuerte. Der Rückstoß der Attacke ließ einen Ruck durch den Körper des Drachenpokémon fahren, den auch Zayn allzu deutlich spürte – er war jedoch nichts gegen die Druckwelle, die entfacht wurde, als Libelldra, welches sich längst umgedreht hatte, mit einem weiteren Hyperstrahl antwortete und beide Attacken aufeinanderprallten. Die gebündelte Energie der Angriffe verpuffte in einem blendenden Gleißen und während Brutalanda um einige Meter nach hinten gedrückt wurde, keuchte Zayn, als die stürmische Böe ihm die Luft aus den Lungen presste.

Kaum dass sich der Raum zwischen den Pokémon gelichtet hatte, nahm Brutalanda seinen Flug wieder auf. Das Schlagen seiner weiten Schwingen scholl in kräftigen Wellen durch die Luft, während Libelldras Flügelschlag eher wie ein rasiermesserscharfes Sirren klang, dem man besser nicht zu nah kommen sollte.

„Versuch, es nicht frontal zu treffen. Wir wollen es nur schwächen, nicht direkt besiegen“, wies Zayn sein Pokémon an, während der Schweiß auf seiner Stirn in der Sonne funkelte. „Und triff um Himmels willen nicht diesen Vollidioten!“ Libelldra hielt seinen Körper beim Fliegen etwas gehobener als Brutalanda, weshalb Ray größtenteils hinter dessen Hals verschwand. Dennoch würde Zayn ihn keine Sekunde vergessen. „Flammenwurf!“

Grollend flog das Pokémon seinem Gegner wieder entgegen und entfachte einen Strahl puren Feuers in seinem Maul, dessen Hitze selbst einige Meter weiter hinten deutlich zu spüren wahr.

Libelldra wich geschwind aus, doch Brutalanda ließ nicht locker und nahm für wenige Meter die Verfolgung auf, bis es ihm gelang, den Fächer an Libelldras Schwanz zu versengen. Ein Kreischen durchschnitt die Luft. Kaum hatte Zayns Drache sein Feuer eingestellt, da hatte Libelldra sich schon zu ihnen gewandt und kam ihnen wie ein violett leuchtender Blitz entgegengeschossen.

„Fuck, weich aus!“, entwich es Zayn atemlos, als sich Furcht wie eine Faust schmerzhaft um sein Herz wand und zudrückte. Nur einen Wimpernschlag später machte sein Magen einen Satz, als Brutalanda sich seitlich nach unten fallen ließ, um der Rammattacke haarscharf zu entgehen. Mit aller Kraft presste er die Glieder an die Schuppen seines Pokémons, als er den scharfen Windzug spürte, den Libelldra erzeugte, als es geschossartig über ihnen hinwegpreschte. Mit sich trug es einen Schleier aus tiefer Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit – dieser und der Luftzug pressten ihm den Sauerstoff aus den Lungen, sodass er wie ein nutzloser Sack auf Brutalandas Rücken lag, verzweifelt darauf bedacht, bloß nicht abzurutschen. ofHf

Sein Pokémon befand sich bereits wieder in vollem Flug und vergrößerte mit schweren Flügelschlägen die Distanz zwischen sich und dem Cryptopokémon. Es flog schneller, als es das Zayn unter normalen Umständen zugemutet hätte, aber dies hier waren keine normalen Umstände.

Dieser Kampf war todernst und wer ihn verlor, würde sein Ende unterhalb der Baumkronen finden.

Zayn erhob sich allmählich wieder, während ihm die Winde um den Kopf peitschten. Mit eiserner Entschlossenheit verweigerte er einen Blick nach unten und genoss jeden Atemzug der hier oben dünneren Luft, solange es ihm möglich war.

Was nicht lange sein sollte. Das Sirren der dünnen Flügel Libelldras wurde zunehmend lauter. Brutalanda flog gerade einen Halbkreis, als ein dunkler Strahl durch die Leere zwischen ihnen schoss. Mit Leichtigkeit gelang es ihm diesmal, der Attacke zu entgehen, doch das Cryptopokémon ließ nicht locker. Geschwind nahm es die Verfolgung auf und feuerte einen finsteren Strahl nach dem anderen ab. Zwar konnte Brutalanda jedem ausweichen, doch das verbrauchte Zeit, in welcher sein Gegner immer näherkam. So nahe, dass es plötzlich direkt neben ihnen war, hinter sich einen gleißend hellen Schweif, der auf Brutalandas linke Seite zielte. Das Drachenpokémon war im Begriff, sich mit den Flügeln von seinem Angreifer fortzustoßen, doch es war zu spät, um dem Eisenschweif gänzlich zu entgehen. Das Ende von Libelldras Schweif schlug mit einem dumpfen Laut gegen die schuppige Haut.

Zayn vernahm das Brüllen seines Pokémons nur mit halbem Ohr, viel zu beschäftigt war er damit, sich abermals festzuklammern. Der Schlag hatte Brutalanda für einen kurzen Moment in eine Schieflage versetzt, die ganz schnell sein Ende bedeuten konnte, wenn er nicht aufpasste.

Er schlug die Zähne aufeinander und hielt sich mit verbissener Inbrunst fest. Er würde nicht verlieren.

Brutalanda unter ihm fing sich wieder, und plötzlich wurde es unfassbar heiß. So heiß, dass er es nicht wagte, sein Gesicht der Hitzequelle zuzuwenden. Er vernahm ein schrilles Kreischen von Libelldra und wie sich das Sirren einige Meter zu entfernen schien. Dann verschwand das Brennen aus der Luft und kühler Wind trat an seine Stelle, als Brutalanda wieder nach vorne zog.

Zayn wagte es, den Kopf zu heben. Er erkannte Libelldras nun von rötlichen Brandwunden gezeichneten Schweif – die Spuren des Feuerodems.

Ein tiefes Brüllen vorausschickend, stürzte sich Brutalanda in Richtung seines Feindes. Zayn befürchtete schon eine frontale Attacke, doch dann spürte er den Rückstoß des Hyperstrahls, der sich seinen Weg nach vorne bahnte. Libelldra wich nach unten hin aus, tauchte unter Brutalanda hinweg, nur um seinerseits mit einem Hyperstrahl zu antworten. Dieses Mal entging Brutalanda dem Angriff nur um Haaresbreite.

Die Ursache des warmen Leuchtens vor Brutalanda erkannte Zayn erst, als es bereits zu spät war. „Nein, nicht!“, wollte er seinem Pokémon dennoch zurufen, doch der Wind riss ihm die Worte von den Lippen.

Das Leuchten schoss in Form einer grellen Kugel in Richtung ihrer Gegner und mit einem Knall zerbarst der soeben erschaffene Meteor und schickte einen Hagel aus glühenden Gesteinsbrocken auf diese nieder. Zayn wagte kaum hinzusehen, doch das Entsetzen fesselte seine Aufmerksamkeit – so lange, bis Brutalanda wieder Kurs auf Libelldra nahm, welches geschwind den herabstürzenden Überresten des Meteors auswich.

Noch ein letztes Mal versuchte Zayn, seinem Drachen etwas zuzubrüllen, doch es war so oder so vergebens. Brutalanda war zu sehr in Rage, als dass es auf einen Befehl zum Rückzug gehört hätte. Geschickt flog es zwischen den letzten Resten des Draco Meteors hindurch und attackierte Libelldra mit mehreren Hyperstrahlen.

Und dann ging plötzlich alles so schnell, dass Zayn kaum mehr hinterherkam. Obwohl Brutalanda durch seine höhere Position einen Vorteil hatte, gelang es Rays Pokémon, allen Angriffen auszuweichen. Als Draco Meteor endlich erstarb, wurde es so schnell, dass jeder Hyperstrahl chancenlos war. Libelldra schoss durch die Luft und nur das Sirren seiner Flügel verriet, wo es sich aufhielt – und aus welcher Richtung es angeschossen kam.

Brutalanda stellte seine Angriffe ein und stieß sich gerade mit den Schwingen nach vorne hin ab, als Zayn den Kopf schräg nach links unten wandte. Doch sie beide waren zu langsam; die Erkenntnis kam zu spät.

Während ein Hyperstrahl leuchtend hell war, war der Cryptostrahl Libelldras das genaue Gegenteil. So schwarz, als verschlucke er das Licht in unmittelbarer Umgebung, aber mit Sicherheit nicht weniger zerstörerisch. Es blieb gar nicht die Zeit, Entsetzen angesichts der sich rasant vergrößernden Schwärze zu empfinden.

Doch Zayn sollte nicht das Ziel des Angriffes sein.

Der Schrei Brutalandas schnitt durch die Luft – so wie der dunkle Strahl durch die lederne Haut seines linken Flügels.

Für einen grotesken Moment lang schien die Zeit still zu stehen. Zayn starrte einfach nur auf das Loch im Flügel seines Drachenpokémons, schien mit äußerster Präzision die zerfetzten Ränder wahrzunehmen. Brutalandas Schrei schien wie auf Dauerschleife im Hintergrund zu hängen.

Aber dann holte die Realität ihn wieder ein, und in dieser Realität konnte Brutalanda sich nicht länger in der Luft halten.

Zwar versuchte es noch immer, mit dem verletzten Flügel zu schlagen, was es zumindest nicht pfeilgerade in die Tiefe fallen ließ, doch das genügte nicht. Wie in einem steilen, schnellen und vor allem unkontrollierten Sinkflug stürzte Brutalanda nach unten.

Zayn vergaß in diesen Sekunden alles. Ray spielte keine Rolle mehr. Er könnte sie endgültig von hinten erledigen – sie hätten dem nichts entgegenzusetzen.

Mit aller Mühe hielt er sich am Rücken seines Pokémons fest und schnappte immer wieder nach Luft. Unmöglich, die Augen zu öffnen, presste er sein Gesicht gegen die harten Schuppen. Sein Kopf schien leer und zugleich war er brechend voll. Die Gesichter all der Menschen, an denen ihm etwas lag, zischten hinter seinen Lidern vorbei, keines davon wirklich greifbar. Schier tausend Möglichkeiten, was er hätte anders machen können, rasten durch seinen Kopf – doch es war zu spät.

Er hoffte, dass seine Mutter und Jill über einen weiteren Verlust hinwegkommen würden.

Dass Chandra nicht an ihrem Bruder zerbrechen würde.

Dass sie es ihm verzeihen würden, dass er versagt hatte.

Zayn spürte die starken Bewegungen von Brutalandas Schwingen und seinen Muskeln unter sich. Im nächsten Moment versank die Welt in einem Orchester aus brechendem Geäst und raschelnden Blätterwerk. Mit letzter Kraft hielt er sich auf Brutalanda, als sie durch die Baumkronen fielen. Er spürte jeden Ruck, der durch den Körper des Drachenpokémons lief, als wäre es sein eigener.

Es krachte, Brutalanda stürzte nach vorne und die Kraft des Aufpralls schleuderte Zayn über dessen Kopf hinweg.

Dann wurde alles schwarz.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  True710
2020-08-11T20:54:17+00:00 11.08.2020 22:54
Episch! Der Cliffhänger ist nahezu zerreisend, weshalb ich auf eine schnelle Fortsetzung hoffe. Ich bin über jedes Kapitel dieser Story froh, ich hoffe ich muss nicht zu lange warten. :)
Somit lädst du auf keinen Fall ins Leere hoch!
Antwort von:  Lucinia
15.08.2020 01:04
Vielen Dank für das Lebenszeichen und die lieben Worte. ^.^ Ich hoffe, es dauert dieses Mal nicht ganz so lange (da der Cliffhanger wirklich fies ist, gebe ich zu) und entschuldige mich an dieser Stelle auch mal für die langen Wartezeiten. xD'


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