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Cruel Fairytale

- Hänsel & Gretel -
von

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Unter dem Kirschblütenbaum

Ich schwänzte die nächsten Stunden und verbrachte den restlichen Schultag auf dem Dach des Schulgebäudes. Ich hatte mich hingelegt, die Arme unter meinem Kopf verschränkt, den Blick gen Himmel gerichtet, und sah dem Vorbeiziehen der Wolken zu. Es war ein warmer, sommerlicher Tag, der einem das Gefühl gab, die Welt sei in Ordnung. Befreit von Leid und Grausamkeit.

Dass ich Ärger bekommen würde, weil ich den Unterricht versäumte, stand außer Fragen, aber wie sollte ich mich jetzt noch auf den Unterricht konzentrieren? Ich war durcheinander und wütend auf mich selbst, sodass ich ohne Zweifel eine Schlägerei anfangen würde, wenn mir jemand dumm kam. Mir ging das Gespräch mit Ayumi nicht mehr aus dem Kopf. Ich verstand nicht, warum sie so merkwürdig reagiert hatte. Ich konnte zwar nachvollziehen, dass es ihr unangenehm war, aber ihre Reaktion war maßlos übertrieben. Es schien sie auf einmal zu stören, dass ich etwas mit Kumi hatte. Dabei war sie überhaupt diejenige, die mich mit ihr verkuppeln wollte. Mädchen waren dermaßen kompliziert!

Allerdings... wie hätte ich wohl reagiert, wenn ich sie mit jemandem erwischt hätte?

Ich schob den Gedanken beiseite, weil ich mir nicht vorstellen wollte, wie jemand Ayumi küsste. Ich schloss die Augen und lauschte der Stille, als sich ein Schatten über meine Augen legte. Ich hob mühsam die Lider und sah Murai vor mir aufragen.

„Na, du fauler Sack“, meinte Murai und stellte sein Bein auf seinem Brustkorb ab, „solltest du nicht im Unterricht sein?“

Der Druck mit dem Fuß verstärkte sich und ich umfasste ihn, um ihn wegzudrücken.

„Sagt der Richtige!“

„Ich mach meine Aufsichtsrunde, du Arschgesicht.“

Die Beleidigungen waren ein Teil unserer Freundschaft, also grinsten wir uns an, er nahm seinen Fuß runter und setzte sich zu mir auf den Boden. Er reichte mir eine kalte Cola.

„Woah! Wo hast du die denn her!?“

„Staatsgeheimnis“, sagte er zwinkernd, „nun trink schon. Sonst wird sie warm und schmeckt wie Pisse.“

Ich nahm einen großen Schluck und spürte erst jetzt, wie durstig ich war.

„Das tat gut“, sagte ich zufrieden, nachdem ich die Dose leer getrunken hatte.

„Hattest du Streit mit Ayumi?“

Diese unerwartete Frage von Murai wischte mir mein Grinsen aus dem Gesicht.

„Wie kommst du drauf?“

Yuji zuckte ungerührt mit den Schultern. „Du verkriechst dich immer nach oben, wenn irgendwas ist. Und da ich nichts von einer Schlägerei mitbekommen habe, ist es das Naheliegende.“

Ich beobachtete meinen Freund von der Seite und staunte zum unzähligen Mal darüber, wie gut er mich kannte.

Der Wind wehte uns sanft durchs Haar, als wollte er uns liebkosen. Mein Blick wanderte zum Horizont, weit weg in die Ferne gerichtet. Ich spürte, wie sich mein Herz zusammenzog und der Schmerz mir die Luft raubte. Ich stand auf und stellte mich an den Rand des Dachs. Immer noch die Dose in der Hand, breitete ich meine Arme aus.

„Was denkst du? Würde der Tod sofort eintreffen, wenn ich mit mit dem Kopf aufschlage? Oder würde ich mich vor Schmerzen winden, bis ich endlich den Löffel abgebe?“

Hinter mir breitete sich Stille aus, sodass es den Anschein hatte, Yuji sei gar nicht mehr da. Doch dann tauchte er in meinem Blickfeld auf.

„Hm, schwer zu sagen“, sagte er nachdenklich und blickte nach unten auf den Schulhof, „es ist ganz schön hoch, aber es besteht die Wahrscheinlichkeit, dass du sogar überlebst.“

Ich wollte nicht wirklich springen und mir das Leben nehmen. Wenn ich das täte, könnte ich Ayumi gleich mit in den Tod reißen. Wer würde denn auf sie aufpassen, wenn ich weg wäre?

Ich nahm Sicherheitsabstand von der Kante ein und sah missmutig zu meinem Freund.

„Danke für diese Auskunft“, sagte ich zynisch.

„Was ist denn? Ich wollte dir nur helfen.“

„Helfen? Du hättest mich einfach springen lassen!“

Murai sah mich mit einer solchen Gleichgültigkeit an, dass mir ein Schauer über den Rücken lief.

„Wenn du wirklich sterben wolltest, dann ja.“

Sprachlos starrte ich ihn an, bis er mich angrinste.

„Klang das überzeugend?“

Ich knirschte mit den Zähnen, weil er mich schon wieder reingelegt hatte.

„Ich wäre dir hinterher gesprungen, um deinen dummen Arsch persönlich in die Hölle zu befördern. Ist doch Ehrensache.“

„Ach hat doch dein Maul...“

 

Nach dem Unterricht wartete ich auf dem Schulhof auf Ayumi, aber sie tauchte nicht auf. Unruhig trat ich von einem Fuß auf den anderen und sah mich suchend nach ihr um. Da erblickte ich Kumi und ging geradewegs auf sie zu, um sie nach Ayumi zu fragen. Man musste kein Genie sein um zu begreifen, dass sie sauer war. Meinetwegen. Aber Ayumi war mir wichtiger und Kumi war grade die einzige Freundin von ihr, die ich sah.

„Dass du noch so unverschämt bist und mich überhaupt ansprichst“, presste sie zwischen den Zähnen hervor, „du hast wohl echt kein Schamgefühl.“

Da hatte sie wohl recht. Ich senkte jedoch meinen Blick und versuchte ein schlechtes Gewissen vorzutäuschen. Es schien zu funktionieren. Kumi seufzte und antwortete resigniert:

„Ayumi ist vor ein paar Minuten mit Murai weg.“

„Was?!“ Mir blieb das Wort beinahe im Hals stecken.

Kumi zuckte ungerührt mit den Schultern.

„Du hast richtig gehört. Sie sind bestimmt schon nach Hause gegangen. Ohne dich wie es aussieht. Da fällt mir ein, Ayumi war vorhin voll komisch drauf. Sie hatte geweint, glaub ich. Vielleicht kann sie Murai ja ein wenig trösten.“

Kein einziges Wort kam mir über die Lippen. Als hätte ich mit einem Mal das Sprechen verlernt. Ich wandte mich abrupt um, ohne mich zu bedanken und stürmte über den Schulhof durch das Eingangstor auf die Straße. Hektisch sah ich mich nach meiner Schwester und Yuji um, aber sie waren nicht in Sicht. Ich wusste nicht warum, aber mich überkam ein seltsames Gefühl. Ayumi war noch nie ohne mich gegangen. War sie etwa so sauer auf mich? Ich beschleunigte mein Tempo und kam bei dem Park an, durch den unser Nachhauseweg verlief. Mein Blick huschte hin und her, bis ich die beiden unter einem Kirschbaum entdeckte. Mein Herz raste wie verrückt und ich war außer Atem, aber ich hatte sie eingeholt.

„Ayu...“, fing ich grade an, doch hielt plötzlich inne. Murai hatte sie fest an sich gezogen, seine Hand in ihrem langen Haar vergraben. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als er sich zu ihr hinabbeugte und sie küsste, um dann noch heftiger zu schlagen.

Ich wusste nicht, wie lange ich wie angewurzelt da stand und die beiden beobachtete. Erst als sich Ayumi von Yuji löste und ihn von sich drückte, setzte mein Verstand wieder ein.

Meine Schwester und mein bester Freund.

Großartig.

Ich setzte mich wieder in Bewegung und kam auf die beiden zu, die mitten im Gespräch innehielten und zu mir sahen. Ayumis erschrockener Gesichtsausdruck wies darauf hin, dass sie nicht mit mir gerechnet hatte. Dachte sie etwa, ich würde sie alleine mit Yuji gehen lassen? Da kannte sie mich aber schlecht. Aber vielleicht hatte sie nur nicht damit gerechnet, dass ich sie auf frischer Tat erwische. Sie senkte verlegen ihren Blick. Spannung breitete sich aus, die deutlich an meinen Nerven kratzte.

„Lass uns gehen“, sagte ich ausgesprochen ruhig zu Ayumi, ohne darauf einzugehen, was sich soeben vor meinen Augen abgespielt hatte.

„Hyde“, fing Murai an und packte mich am Arm, doch ich riss mich augenblicklich los.

„Fass mich nicht an!“

Yuji wich vor mir zurück und hob abwehrend seine Hände. Er warf Ayumi einen kurzen Blick zu, doch sie hielt ihren Blick gesenkt.

„Sie ist erwachsen, Hyde“, hörte ich ihn sagen, doch seine Worte klangen wie aus einer anderen Welt, die außerhalb meiner Reichweite war, „sie braucht keinen Aufpasser.“

Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

„Halt bloß dein Maul. Ich will nichts mehr hören“, zischte ich. Erstaunlicherweise sagte er tatsächlich kein Wort mehr. Sonst hätte das böse geendet. Nicht unbedingt für ihn. Schließlich war er älter und vor allem stärker als ich. Aber das wäre kein Hindernis, um mich mit ihm anzulegen.

„Komm, Ayumi“, presste ich hervor, packte Ayumi am Arm und zerrte sie mit mir.

Widerstandslos folgte sie.

Ich stampfte wütend voraus und zog sie unnachgiebig mit mir. Durch die ganze Aufregung rauschte mir das Blut in den Ohren. 

„Hyde“, flüsterte sie nach einer Weile, „Hyde, du... du tust mir weh.“

Ich blieb ruckartig stehen, sodass sie leicht gegen mich stieß, doch ich kehrte ihr weiterhin den Rücken.

„Und? Hat's Spaß gemacht, mit Murai rumzumachen?“, sagte ich ungehalten. Ich konnte einfach nicht anders. Mein Mund hatte ein Eigenleben entwickelt und die Worte sprudelten unkontrolliert aus ihm heraus. 

Sie antwortete mir nichts darauf und das machte mich nur noch wütender. Ich drehte mich zu ihr um, packte sie an beiden Armen und zwang sie, mich anzusehen.

„Ob's dir Spaß gemacht hat, hab ich gefragt!“

Ayumi sah mich unsicher an. Sonst war sie immer so schlagfertig, aber jetzt schwieg sie und sah mich mit ihren großen Augen an.

„Warum er, hm? Du weißt, dass er Mädchen wie Unterwäsche wechselt. Willst du eine von seinen Eroberungen sein?“ Ich schnaubte. „Für so dumm hab ich dich nicht gehalten.“

Irgendwie... war ich enttäuscht von ihr. Auch wenn es ihr gutes Recht war, ich... konnte es nicht ertragen. Ja, ich wusste, es war falsch, so zu denken, so zu fühlen. Aber ich hatte doch niemanden außer ihr. Sie war der wichtigste Mensch für mich auf dieser Welt. Ich wollte sie beschützen. Nur das wollte ich.

Als ich nicht mehr mit einer Antwort rechnete, fing sie dann doch an zu sprechen.

„Ich hatte diesen Zettel zufällig entdeckt...“, murmelte sie mit gesenktem Blick.

Ich sah sie fragend an, weil ich nicht verstand, was sie meinte.

„Was?“

„Den Zettel... den du Kumi zugesteckt hast. Er fiel ihr aus der Tasche. Sie wollte ihn heimlich lesen, aber da ich hinter ihr sitze, konnte ich die Nachricht überfliegen. Und ich erkannte deine Schrift.“

Erst jetzt hob sie den Blick und sah mich wieder mit ihren ausdrucksvollen meeresgrünen Augen an.

„Ich wollte sichergehen, dass du es wirklich bist, dass du ihr diese Nachricht geschrieben hast. Deswegen bin ich ihr gefolgt.“

Jetzt ergab das einen Sinn, warum sie um diese Uhrzeit auch in der Schülerbibliothek war, aber was hatte es mit dem Kuss auf sich? Warum hatte sie Murai geküsst? Wo sie doch heute Morgen noch so widerstandsfähig war.

„Aber du wolltest mich doch mit ihr verkuppeln“, sagte ich nun etwas milder, auch wenn ich immer noch nicht verstand, wie der Kuss mit Yuji damit zusammen hing.

„Ja... aber ich hätte nicht gedacht, dass...“

Ayumi hielt mitten im Satz inne und schüttelte den Kopf, als hätte sie es sich anders überlegt.

„Vergiss das bitte. Ich habe überreagiert.“

Ich wusste nicht, ob ich nachhaken sollte. Sie hatte eindeutig etwas anderes sagen wollen.

Ich entdeckte eine verirrte Kirschblüte in ihrem Haar, die wie ein unglückseliges Zeichen an den Kuss unter dem Kirschbaum erinnerte.

„Und der Kuss mit Murai?“, fragte ich widerwillig, während ich ihr Haar von der Blüte befreite und sie zu Boden fallen ließ. „Ist es dir ernst mit ihm?“

Ayumi versteifte sich und wich meinem Blick aus. Ich hielt sie immer noch fest, nur diesmal nicht so grob.

„Ich ehm... Ich war so durcheinander und... er hat mich getröstet. Dann hat er mich auf einmal geküsst und ich... ich habe es zugelassen", gestand sie, ohne mir dabei ein einiges Mal in die Augen zu sehen.

Ihre Worte schnitten wie Messer in meine Haut. Langsam ließ ich sie los.

Zum ersten Mal wusste ich nicht, was in ihrem Herzen vorging. Es sah ihr gar nicht ähnlich, dass sie sich von jemandem einfach küssen ließ. Und was hatte sie überhaupt durcheinander gebracht? Etwa die Sache mit Kumi? Warum? So viele Fragen strömten durch meinen Kopf, auf die ich keine Antwort wusste.

„Bist du sauer auf mich, Hyde?“

War ich das? Sie hatte nichts Unrechtes getan und doch ließ der Schmerz in meiner Brust nicht nach.

„Nein“, entgegnete ich, ohne selbst zu wissen, ob es der Wahrheit entsprach, „warum sollte ich?“

Schweigen breitete sich zwischen uns aus wie eine tiefe, dunkle Kluft.

„Lass uns gehen“, sagte ich schließlich, als die Stille kaum zu ertragen war.

Eine leichte Brise kam auf und wirbelte die Kirschblüten vor unseren Füßen auf.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Narudia
2018-03-04T11:43:40+00:00 04.03.2018 12:43
Hey May,

Ohje ich hatte ja schon fast mit sowas gerechnet. Ich weis grad nicht wer von den 3en mir am meisten leid tut. Jeder hat Fehler gemacht und war zu gleich Opfer. Aber Hyde hat Recht Ayumi hatte angefangen ihn verkuppeln zu wollen, und das tat sie aus freien Stücken obwohl sie ihn liebt auch wenn sie niemals damit gerechnet hätte das er drauf eingeht, kann sie es ihm eigentlich nicht vorwerfen wenn er es doch tut er ist auch nur ein Mensch und dazu ein Mann xD. Murai ist hier einfach nur Mittel zum Zweck denke ich. Er scheint durchaus Interesse an Ayumi zu haben vielleicht sogar ernsthaftes im Gegensatz zu seinen vorherigen Eroberungen auch weil er hydes bester Freund ist, denke deswegen hatte er sich bisher zurück gehalten. Aber er hat recht ayumi ist alt genug um zu entscheiden was sie will und tut. Es war nicht richtig sich nur küssen zu lassen weil sie gekränkt war durch hydes Aktion vorher. Das wird sicher noch ein Liebesdrama zwischen den 3 eigentlich mag ich Murai er scheint in Ordnung zu sein es ist sicher nicht einfach die Schwester des besten Freundes zu lieben. Vor allem da ich mir denken kann das er durchaus von hydes Gefühlen für Ayumi weis es aber nicht sagt. Hachja ich bin echt gespannt wie es weitergeht. Lass uns nicht zu lange warten!

Glg Narudia
Antwort von:  May_Be
04.03.2018 20:04
Hi Narudia!

Vielen lieben Dank für deinen Kommentar!

Du vermutest also ein Liebesdrama zwischen den dreien... hm, wer weiß, wer weiß :D
Bald erfährst du, ob du richtig lagst *_*

Bis zum nächsten Mal!
LG May


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