Isolation
1. Isolation
„Sie haben vier neue Nachrichten“, hörte Sakura die computerprogrammierte Stimme ihres Anrufbeantworters. Sobald sie nach dem Piepton die Stimme ihrer besten Freundin Ino hörte, die ein lautes „Sakura!“ in ihr Telefon schrie, drückte sie auf Nachricht löschen. Sie gab sich nicht mal die Mühe um sich die weiteren drei Nachrichten anzuhören. Sakura war sich zu 100% sicher, dass sie ebenso von Ino stammten.
Erschöpft ließ sie sich auf ihre gemütliche Couch fallen und kuschelte sich erneut unter die Decke. Warum war sie nochmal aufgestanden? Ach ja, ihre Taschentücher waren ausgegangen. Schon seit zwei Wochen schlug sie sich mit dieser hartnäckigen Erkältung rum und hatte seitdem mehr oder weniger in Isolation gelebt. Sie war nur einmal kurz vor die Tür gegangen um sich Medikamente von der Apotheke zu holen. Sakura war allen Anrufen, Nachrichten und unverhofften Besuchen aus dem Weg gegangen.
Mit schmerzenden Gliedmaßen kämpfte sie sich von ihrer angenehmen Position hoch und schlurfte zu dem Schrank, in dem sie die Taschentücher aufbewahrte. Wenn das so weiterging, würde sie nochmal Nachschub holen müssen. Allein der Gedanke daran, ihre Wohnung zu verlassen, bereitete ihr eine Gänsehaut. Deswegen ging sie auch Inos Anrufen aus dem Weg. Ihre Freundin wollte sie bestimmt von einer Party auf die nächste schleppen. So wie sie Ino kannte, würde eine Erkältung nicht als Ausrede akzeptiert werden.
Als sie sich schnäuzte fiel Sakuras Blick auf ihren aufgeklappten Laptop, den sie ebenfalls seit Tagen nicht mehr angerührt hatte. Der Stapel Papier daneben war ihr seit heute Vormittag ein Dorn im Auge. Es ärgerte sie, dass sie durch die Erkältung so starke Kopfschmerzen hatte und nicht mal daran zu denken war, sich an den Computer zu setzen und ihre Arbeit zu erledigen. Sie tapste zu dem Kalender, der ebenfalls auf dem Schreibtisch stand, und blätterte zur nächsten Woche. Sakura arbeitete als Grafikdesignerin und war besonders in Momenten wie diesen dankbar, dass sie von zuhause aus arbeiten durfte. Zumindest ersparte sie somit ihren Kollegen den Anblick ihrer blutunterlaufenden Augen und der roten Nase.
In acht Tagen war die neue Website von Kakashi fällig und ein Plakat für ein Galadinner musste sie ebenfalls noch fertigstellen. Sakura stellte den Kalender missmutig wieder an seinen Platz zurück und rieb sich danach die schmerzenden Schläfen. Wie sollte sie das alles mit dieser Erkältung schaffen?
Stöhnend wickelte sie sich in ihre Decke ein und setzte sich auf den Bürostuhl. Sie erweckte ihren eingestaubten Laptop zum Leben und kniff die Augen zusammen, als das helle Licht erschien.
Schnell tippte sie eine Mail an Kakashi um ihn zu fragen, ob es okay wäre, wenn er seine neue Website eine Woche später erhalten würde. Es war sowieso mehr ein Gefallen ihrerseits, also sollte er damit kein Problem haben. Seine Fanseite für seine Flirtparadies Bücher konnte gar nicht so wichtig sein.
Sobald sie die Mail verfasst hatte, klappte sie ihren Laptop wieder zu und tapste zurück zu ihrer Couch, die sie bereits sehnsüchtig erwartete.
* * * * * *
„Sakura Haruno! Wenn du mir nicht sofort antwortest, werde ich die Polizei rufen, hörst du?!“, schrie Ino zwei Tage später erneut in den Anrufbeantworter. Sakura seufzte und löschte auch diese Nachricht. Sie musste wirklich ein Gespräch mit Ino führen. Ansonsten würde es wohl nicht mehr lange dauern und die Polizei würde tatsächlich vor ihrer Nase stehen und nach einer Vermissten suchen, die sich nur wie ein Igel im Winterschlaf in ihrer Wohnung eingenistet hatte. Allein die Vorstellung jemand könnte sie in ihrem momentanen Aufzug sehen, flößte ihr Angst ein.
Sakura warf einen kurzen Blick in den Spiegel und erschrak als sie ihre fahle Gesichtsfarbe und die geschwollenen Augen sah. Heilige Scheiße. Sie musste wirklich dringend mal wieder an die frische Luft! Nun, da ihre Erkältung ein wenig abgeschwächt war, könnte sie ja zumindest ihre Freundin anrufen. Langsam plagte Sakura wirklich das schlechte Gewissen aber sie wusste, wie Ino war. Keine Krankheit hätte sie davon abgehalten Sakura nach draußen zu schleifen.
Sie atmete tief durch und griff nach ihrem Telefon. Bereits nach dem ersten Läuten ertönte die Stimme ihrer besten Freundin: „Sakura?! Bist du das?! Oder irgendein Perversling, der meine beste Freundin entführt hat und nun Lösegeld verlangt?!“
Sakura schmunzelte. Sie konnte sich bildlich vorstellen, wie Ino die Hand in die Hüfte gestemmt hatte und wütend die Nase rümpfte. „Nein, ich bin es wirklich“, antwortete sie zögerlich, da sie nur zu gut wusste, wie eine wütende Ino war.
„Hallo? Warum antwortet mir niemand? Wenn das wirklich irgendein perverser Entführer ist, dann wünsch ich Ihnen viel Spaß mit Sakura Haruno, denn sie ist nervtötend! Vorausgesetzt natürlich, sie spricht mit Ihnen mehr als mit mir!“, keifte Ino weiter.
Während ihre beste Freundin weiterhin Beschimpfungen äußerte, blickte Sakura auf die Signalanzeige auf dem Display ihres Handys. Sie hatte vollen Empfang. Warum konnte Ino sie nicht hören?
„Hallo??“, sagte sie dieses Mal etwas lauter, doch Ino schien erneut nichts von ihr zu hören.
Sie seufzte ergeben und legte auf. Vermutlich war es besser, eine Nachricht an Ino zu verfassen. Wenigstens musste sie sich dann nicht die vielen Beleidigungen anhören. Sie liebte ihre beste Freundin aber manchmal war sie ziemlich erbarmungslos.
Schnell tippte sie eine Nachricht:
Hab wohl Probleme mit dem Telefon. Ich bin kein Entführer und mir geht es soweit gut. Bin nur etwas krank und konnte mich deshalb nicht so verhalten, wie es sich für eine beste Freundin gehört. Tut mir leid.
Es dauerte keine Minute, bis sie Inos Antwort lesen konnte:
Jeder Entführer würde an dieser Stelle behaupten, dass er kein Entführer ist. Aber weil so eine blöde Ausrede nur Sakura einfallen kann, werde ich dir mal glauben. Ich hoffe, dass dich das Ebola Virus erwischt hat – denn keine andere Krankheit entschuldigt dein Benehmen! Hab dich trotzdem lieb und wünsch dir gute Besserung.
Sakura schmunzelte und versprach ihrer Freundin in einer weiteren Nachricht, dass sie sich, sobald sie wieder völlig gesund war, bei ihr melden würde.
Froh darüber, dass Ino nun ein wenig beruhigter war, schmiss sie ihr Handy zurück auf die Couch und schlurfte zu ihrem Laptop. Doch bevor sie sich endlich an die Arbeit machen konnte, hörte sie, wie jemand an ihrer Tür läutete. Sie blickte schweigend auf die Tür, in der Hoffnung, der Besucher würde wieder Leine ziehen, doch dann hörte sie erneut die Türklingel ertönen.
Sakura stöhnte leise und ging zur Tür um durch den Spion zu spähen. Genervt musste sie feststellen, dass ihre Nachbarin Yuko vor ihrer Tür stand und ungeduldig ihre lockigen Haare um ihren Finger zwirbelte. Was wollte die denn?
Yuko war eindeutig die unbeliebteste Bewohnerin in diesem Haus und doch wickelte sie jeden Mann mit ihrer roten Mähne um den Finger. Wenn sie vor Sakuras Tür stand, konnte das kein gutes Zeichen sein.
Sie atmete tief durch und öffnete langsam die Tür. Yuko hörte auf mit ihren Haaren zu spielen und blickte stattdessen direkt auf Sakura.
Es fühlte sich beinahe so an, als würde sie direkt durch sie hindurchsehen. Da Yuko kein Wort sprach, sondern lieber Löcher in die Luft starrte, erhob Sakura das Wort: „Hi Yuko, kann ich dir helfen?“
Doch Yuko antwortete nicht, lugte stattdessen um die Ecke um einen Blick in Sakuras Wohnung zu erhaschen. „Sakura? Bist du da?“
„Was soll der Mist?“, erwiderte Sakura. „Ich steh direkt vor dir!“
Mit gerunzelter Stirn sah Sakura Yuko dabei zu, wie sie einen Schritt in die Wohnung trat und sich im Gang und im Wohnzimmer umsah. „Okay, ich werde weder im Schlafzimmer noch im Badezimmer nach dir suchen! Ich will dich auf keinen Fall nackt sehen“, rief sie laut und verzog beim letzten Satz angewidert ihren Mund, als hätte sie was ekliges gegessen. Sakura rollte mit ihren Augen. Schönen Dank auch. Zuerst wurde sie ignoriert und nun auch noch beleidigt!
„Ist das eine Art Streich? So lustig hätte ich dich gar nicht eingeschätzt“, sagte Yuko sarkastisch und nahm weiterhin keine Notiz von Sakura, die inzwischen direkt vor ihr stand und mit den Armen vor ihrem Gesicht wedelte.
Yuko seufzte nach einigen Sekunden. „Na gut. Ich wollte dir sowieso nur sagen, dass ich mit meinem Auto an deinem alten Rostkübel gestreift bin. Wird sowieso Zeit für ein neues Auto, findest du nicht?“, grinste sie zuckersüß, blickte jedoch weiterhin durch Sakura hindurch. Sie ging zum Schreibtisch und nahm sich einen Notizzettel. Als sie eine Nachricht für Sakura, die immer noch im selben Raum stand, geschrieben hatte, zuckte sie mit ihren Schultern und verließ die Wohnung.
Sakura blickte perplex auf die geschlossene Tür. Was, zum Teufel, war das denn gewesen?!
Irgendwie fühlte sie sich noch unwohler, als heute Morgen. Und das lag eindeutig nicht an ihrer Erkältung. Hatte Yuko sie wirklich nicht gesehen? Aber das war doch nicht möglich, oder?
Hastig lief Sakura zu ihrem Spiegel im Schlafzimmer, doch sie konnte sich eindeutig darin sehen. Sie sah zwar nicht erstklassig aus, aber deswegen konnte Yuko sie doch nicht einfach übersehen, oder?
Ihr Herzschlag beschleunigte sich und Sakura spürte ein ungewöhnliches Kribbeln im Nacken. Bevor sie noch weiter über dieses seltsame Ereignis nachdenken konnte, schnappte sie sich ihre Schlüssel und verließ ihre Wohnung ebenfalls.
Sie klingelte an der Tür ihres Nachbars gegenüber. Der alte Haru würde sie vermutlich für verrückt erklären, wenn sie ohne wirklichen Grund vor seiner Tür stand, doch irgendwie brauchte Sakura die Bestätigung, dass sie nicht für jeden unsichtbar war. Yuko hatte ihr bestimmt einen dummen Streich gespielt. Sakura war ihr seltsamerweise schon immer ein Dorn im Auge gewesen.
Als Haru die Tür öffnete und Sakura ihn mit einem strahlenden Lächeln begrüßte, doch Haru nur grüblerisch den Gang auf und ab sah, rutschte ihr das Herz in die Hose.
„Haru? Bitte sag mir, dass du mich sehen kannst!“, flehte sie ihn sehnsüchtig an, doch Haru schien sie nicht zu hören. Er blickte durch sie hindurch, als würde sie gar nicht hier stehen.
Frustriert schreite Sakura laut. Doch nicht mal das schien Harry zu bemerken. Er zuckte mit den Schultern und schmiss die Tür vor Sakuras Nase zu und hinterließ eine ratlose, junge Frau, die mit klopfendem Herzen zurück in ihre Wohnung stürmte.
Entweder hatte sich die gesamte Welt nach ihrer wochenlangen Isolation gegen sie verschworen, oder Sakura war tatsächlich unsichtbar.