Zum Inhalt der Seite

Die Treppe

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Verlassen

„Stefan? Armin?“ Seine Stimme schallte ungehört durch den dunklen Wald.

Was war denn passiert? Er war sich nicht einmal sicher. Wahrscheinlich spielten sie ihm nur einen Streich. Er war sich beinahe sicher gewesen, dass es so kommen würde. Es war zu erwarten gewesen. Sie würden warten, bis er panisch würde, würden aus irgendeinem Gebüsch hervorspringen und ihn dann auslachen.

Ruhig bleiben, sagte er sich und leuchtete mit der Taschenlampe in alle Richtungen.

Gefallenes Laub lag nass am Boden. Feuchtigkeit hatte die Baumstämme dunkel verfärbt. Dabei war der letzte Regen mittlerweile einige Stunden her.

Sein Atem bildete dünne Wölkchen über seinem Mund. Es war verdammt kalt, jedenfalls für Oktober. Aber die Kälte, das rief er sich in den Kopf, war die einzige wirkliche Gefahr. Sicher, der Wald war groß, aber es gab hier keine gefährlichen Tiere. Genau, selbst wenn er sich wirklich verirrt haben sollte oder die beiden Arschlöcher geplant hätten, ihn für den Rest der Nacht hier allein zu lassen, würde ihm wohl kaum etwas passieren. Das gefährlichste hier im Wald waren Füchse, die Menschen ohnehin nicht angriffen, und Wildschweine, die im Herbst normaler Weise ja auch nicht auf Ärger auswahren. Zumindest hatte sein Vater ihm das früher immer gesagt, wenn er sich im Wald gefürchtet hatte.

Ihm konnte also nichts passieren. Spätestens am Morgen würde man nach ihm Suchen, würde sein Handy Orten oder so und dann wäre alles okay.

Doch verflucht. Der Schleier der Dunkelheit schien seine Welt zu jeder Seite zu begrenzen. Sein Blickfeld reichte dort, wo er mit der Taschenlampe hinschien, vielleicht zwanzig Meter in das Dickicht hinein. Abseits des Lichtkegels endete seine Welt schon nach zwei Metern.

Er merkte, wie ein Schauer seinen Rücken hinab lief.

„Stefan? Amin? Leute? Wo seid ihr?“ Er wollte nicht zu verzweifelt klingen, doch ganz konnte er die Angst nicht unterdrücken. „Verdammt noch mal, es ist nicht mehr lustig!“

Was sollte er jetzt tun?

Er sah nach links. Er sah nach rechts. Eigentlich sollte es reichen, würde er dem Weg zurück zum Parkplatz folgen. Selbst wenn die anderen ihn zurückgelassen hatten – und einmal ehrlich, er glaubte kaum, dass sie solche Arschlöcher wären – könnte er dort einfach auf den Morgen warten.

Ja, genau. Das könnte er tun.

Wenn er nicht irrte hatte er auf der Fahrt hierher eine Tankstelle gesehen. Wahrscheinlich fünf Kilometer oder so vom Waldparkplatz entfernt. Vielleicht sollte er dorthin gehen.

Oder vielleicht war auch genau das eine schlechte Idee.

Logisch gesehen wusste er es: Er war 16, hager und nie besonders kräftig gewesen. Würde jemand versuchen, ihn zu überwältigen, würde es demjenigen sicher gelingen. Ja, logisch gesehen, war die Wahrscheinlichkeit größer, dass ein Mensch ihn entführte, tötete oder sonst etwas mit ihm machte, als dass ihm hier im Wald etwas passierte.

„Armin? Stefan?“ Warum versuchte er es überhaupt? Arschlöcher!

Er würde Parkplatz zurückgehen. Wenn sie da waren: Gut. Wenn nicht würde er dort warten. Genau.

Tief holte er Luft, im Versuch seine Nerven zu beruhigen. Vergebens. Noch immer spürte er die Angst wie einen schweren Stein im Magen sitzen und kämpfte, auch als er die ersten Schritte machte, gegen den Drang an, über die Schulter zu schauen. Waren das Schritte, hinter ihm?

Es konnte nichts sein. Es lohnte sich nicht zu schauen. Wenn waren es Armin und Stefan. Dann sollten sie ihn erschrecken. Doch wahrscheinlich war er hier allein. Vollkommen allein. Was sollte er schon sehen?

Er schaute doch. Natürlich war da niemand. Der Weg lag vollkommen verlassen dar.

Er ging weiter, beschleunigte seine Schritte. Es war alles in Ordnung. Es konnte ihm nicht passieren. Es gab keinen Grund sich zu fürchten. Es konnte nicht passieren!

Menschliche Instinkte. Es waren nur irgendwelche Urinstinkte, die Alarm schlugen, weil er im Dunklen im Wald war. Doch einmal ehrlich: Diese Instinkte hatten ihren Ursprung in einer Zeit, zu der Säbelzahntiger oder vergleichbare Ungeheuer einem Menschen im dunklen Wald auflauern konnte. Hier gab es ja nicht einmal Wölfe. Er hatte keinen Grund zur Furcht. Keinen Grund …

Dennoch raste sein Herz.

Verdammt. Sollte er nicht langsam zum Parkplatz kommen? Vielleicht nicht zum Parkplatz, aber waren sie nicht erst auf einem weiten Schutterweg gelaufen, ehe sie den kleinen Pfad, auf dem er immer noch lief, benutzt hatten?

Wahrscheinlich waren es nur seine Nerven, die dafür sorgten, dass die Zeit sich länger anfühlte. Ja. Wahrscheinlich war es so.

Er fischte sein Handy aus der Hose, klappte den Bildschirmschutz zur Seite, machte es an. Vielleicht sollte er seinen Vater anrufen. Er wäre sauer, aber er könnte ihn holen fahren. Und wenn die beiden Arschlöcher ihn wirklich allein gelassen hatten, würde sein Vater ja ohnehin etwas von der doofen Mutprobe erfahren. Genau. Es würde seine Nerven beruhigen, die Stimme seines Vaters zu hören.

Er sah auf den Bildschirm, der vertrautes, bläuliches Licht in die Dunkelheit strahlte. Natürlich hatte er keinen Empfand.

Was war mit GoogleMaps? Er hatte Karten der Gegend lokal gespeichert. Sofern er GPS Signal hatte … Doch natürlich, so erklärte ihm die App keine Minute später, hatte er kein GPS-Signal.

Er fluchte leise.

Es war nicht besonders ungewöhnlich im Wald keinen Empfang zu haben, sagte er sich. Wenn er am Parkplatz zurück war, ja, wenn er wieder dort war, dann würde er wahrscheinlich jemanden erreichen können. Und es würde nicht schwer sein, den Parkplatz zu finden. Er war er dem geschotterten Weg gefolgt, dann dem Trampelpfad. Nun lief er den Trampelpfad zurück und würde dann dem Schotterweg folgen. Kein Problem. Er musste nur ruhig bleiben!

Aber was, wenn er vorhin in seiner Panik in die falsche Richtung gelaufen war? Was, wenn er sich geirrt hatte und nun weiter in den Wald hinein lief? Was … Ach, er verunsicherte sich nur selbst!

Er schloss die Augen. Atmete. Ein. Aus. Ein. Aus. Sein Herz wollte nicht aufhören, ihm bis zum Hals zu schlagen. Er musste ruhig bleiben. Einfach weiterlaufen. Dann konnte nichts passieren. Einfach weiterlaufen.

Vielleicht sollte er Musik anmachen, um seine Nerven zu beruhigen. Oder sollte er besser Akku sparen?

Wieder heulte eine Windböe zwischen den kahlen Bäumen hindurch. Er hörte Rascheln. Er hörte das Knistern von brechenden Ästen. Nichts weiter als die Tiere der Nacht. Vielleicht der Wind. Der Wald. Nur der harmlose Wald.

War das ein Lachen gewesen? Eine Stimme in der Ferne? Die Stimme eines kleinen Kindes.

Sein Gehör spielte ihm einen Streich! Es wollte etwas vertrautes hören, wo nur Fremdes war! Es war niemand hier, schon gar kein Kind. Und doch, da klang es wieder so.

Ein Fuchs? Sicher nicht mehr, als ein Fuchs.

Ganz automatisch beschleunigte er seine Schritte, joggte nun fast. Der Schotterweg musste bald kommen. Bald. Bald. Hätte er nicht schon kommen müssen? Wieso war der Boden unter seinen Füßen noch immer uneben? Wieso schien es, als würde auch der Trampelpfad dem Dickicht weichen? Hatte er eine Abzweigung verpasst? War er doch in die falsche Richtung gelaufen?

Er blieb stehen. Sah sich um. Er bildete sich das alles nur ein. Er musste ruhig bleiben. Ruhig! Er durfte nicht panisch bleiben. Waren das Tränen, die in seinen Augen brannten? Er war doch kein Feigling. Kein Feigling … Doch er wollte nach Hause. Er wollte nicht länger hier sein?

„Stefan? Armin?“ Beinahe kroch ein Schluchzen in seiner Kehle hervor. Nein, nein, er durfte nicht nachgeben! Er durfte sich der Furcht nicht hingeben. Er durfte nicht …

Er wollte zurück. Zurück nach Hause. Er hätte nicht herkommen sollen. Er hätte wissen müssen, dass so etwas passiert. Natürlich würden die anderen ihn nicht mitnehmen, wenn nicht, um ihm einen Streich zu spielen. Sie konnten ihn doch nicht einmal leiden. Wieso sollten sie ihn da mitnehmen, wenn nicht, um ihm eins auszuwischen. Er war so ein Idiot.

„Bitte! Irgendwer! Armin? Stefan?“

Stille. Das Rauschen des Windes. Der ferne Ruf eines Tieres. Einer Eule? Knistern von Laum. Knarzen von Bäumen. Wieder das Lachen. Eine Stimme. „Hallo?“ Sie klang fragend.

Vielleicht war doch jemand hier. Ein Jäger? Eine Jägerin wohl eher. Die Stimme klang weiblich.

Wieso wurde er noch panischer. „Hallo? Ist da wer?“

Die Stimme wiederholte ihre Frage nur. „Hallo?“

Sie kam irgendwo von seiner linken Seite. Vielleicht ein anderer Weg? Vielleicht sogar ein Parkplatz? Sollte nicht irgendwo hier auch ein Waldcafé sein? Oder halt eine Jägerin. Es gab auch Jägerinnen.

Er leuchtete in den Wald. „Hallo?“ Da waren nur Büsche und Bäume. Nur Büsche und Bäume. Nein! Da war auch ein Licht. Ein fernes Licht. Ja, jetzt wo er lauschte hörte er auch etwas anderes. Musik. „Hallo?“

Sicher war es das Waldcafé. Er war nie da gewesen, aber er war sich sicher, davon gehört zu haben. Seltsam, dass noch jemand da war. Aber vielleicht gab es ja eine Feier. Eine Hochzeit? Da feierten die Leute doch bis in den Morgen hinein.

„Ist da wer?“ Das war die Frauenstimme.

Ja, sie war deutlich zu hören. Auch die Musik.

Ganz automatisch wandte er seine Schritte in den Wald hinein. Er hatte ein Ziel: Das Licht. Da waren Menschen. Sicher würde ihn jemand nach Hause fahren können. Dann wäre alles in Ordnung. Armin und Stefan würden schon schauen, wenn er am Montag nichts weiter erwähnen würde. Er könnte so tun, als wüsste er nicht, wovon sie redeten.

„Hallo?“, erklang die Frauenstimme erneut.

„Ich bin hier!“ Er hastete durch das Unterholz, das dankbarer Weise licht genug war, als das er laufen konnte. „Ich komme zu Ihnen! Warten Sie!“

„Komm her!“

Es war nicht weit. Vielleicht dreihundert Meter. Pah. Da musste er in Sport doch mehr zum Aufwärmen laufen. Ja, vielleicht waren es auch vierhundert. Aber nicht mehr. Selbst wenn der Boden uneben war. Er konnte hier laufen. Um die Pflanzen, die er dabei zertrat, machte er sich im Moment keine Gedanken. Da war Licht, Wärme, Leute.

Doch warum wurde das Licht nicht größer. Warum wurde die Musik nicht lauter?

„Wo bist du?“ Die Stimme klang dünn. Sie klang wirklich, wie die eines Kindes.

Seine Sinne spielten ihm einen Streich. Gleich wäre er da. Gleich, nur noch ein wenig. Schon lichtete sich der Wald – nur ein Haus sah er hier nicht. Kein Café, keine Menschen. Kein Licht.

Und doch war hier etwas auf der Lichtung, die er hier betrat. Etwas, dass hier nicht hergehörte.

Seine Taschenlampe flackerte. Da war wieder das Licht. Auf dem Absatz der Treppe, die dort mitten im Wald stand. Eine alte, schöne Wendeltreppe. Und das Licht schwebte über der fünften Stufe. Laub hatte sich auf den Blättern abgelegt.

Wie kam die Treppe hierher?

Das Licht schwankte zur Seite, als wäre es eine Laterne, die jemand hielt. Dann bewegte es sich drei Stufen empor. Es wartete. Eine Sekunde, zwei, drei. Dann bewegte es sich weiter hoch.

„Warte.“ Die Worte kamen ihm automatisch über die Lippen. Er verstand nicht, was er sah. Doch eine Sache wusste er: Das Licht wollte ihn wohin führen. An einen Ort, wo man ihm helfen konnte. An einem Ort, wo es ihm besser ging. Er konnte diesem Wald entkommen, wenn er dem Licht nur folgte. Er konnte entkommen.

Seine Taschenlampe erlosch gänzlich, als er sie fallen ließ, doch er hatte sie beinahe vergessen. Er machte einen Schritt. Dann noch einen.

„Hallo?“ Das war die Stimme. Von wo kam sie?

Es war egal. Er würde sie finden.

Noch ein Schritt, dann noch einer. Er hatte die erste Stufe erreicht.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Nyx-Ulric
2018-01-12T20:49:38+00:00 12.01.2018 21:49
Glückwunsch zu dieser gelungenen FF :)
Ich finde du hast die Stimmung wirklich gut erzeugen können. Während es bei vielen anderen Genre etwas unpassend sein kann, wenn man zu sehr mit Wortwiederholungen spielt, finde ich es hier sehr passend. Es erzeugt beim lesen das Gefühl, wie aussichtslos es für den Jungen ist. Egal wo er sich hinwendet, es gibt keinen Ausweg. Eine Treppe die mitten im Wald hinaufführt ist ja auch nicht gerade ein optimistischer Ausgang. xD

Ich hätte mir vielleicht ein etwas runderes Ende gewünscht, denn auch wenn ich nachvollziehen kann, dass du das Ende etwas offen lassen willst, würden 1-2 Sätze die die Ausweglosigkeit betonen, noch deutlich etwas rausholen :) Aber ansonsten kann ich nichts zum meckern finden. Weiter so!

Lg
Nyx


Zurück