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Auf der anderen Seite des Lichts

von

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Das Ende einer Kindheit

Der Gestank, der vom Fluss herüberwehte, war kaum auszuhalten.

Es roch nach verwesenden Leichen und Morast, sodass sich jeder, der in die Nähe des Gewässers kam, gezwungen sah, durch den Mund zu atmen.

Dennoch hockte ein kleiner Junge von vielleicht fünf Jahren auf der ausgedörrten Fläche des Ufersaums und warf zum wiederholten Male seine Angelschnur aus. Mit verbissener Miene suchte der Junge die Oberfläche des nur gemächlich fließenden Flusses nach einer Bewegung, einem Anzeichen von Leben ab.

Irgendwo musste es doch noch Fische geben – zumindest einen einzigen!

Ein hochgewachsener Mann mittleren Alters schlurfte mit schleppenden Schritten auf den angelnden Jungen zu. Das aschfahle Gesicht des Mannes war von tiefen Sorgenfalten zerfurcht und sein Körper so ausgemergelt, dass die athletische Figur von einst nur noch mit Mühe zu erkennen war.

Anstatt aufzublicken starrte der Junge auch dann noch auf den Fluss, als der Mann an ihn herantrat und ebenfalls aufs Wasser hinabsah.

Einige Herzschläge lang verweilten die Beiden schweigend und unbewegt, doch dann legte der Mann dem Jungen sanft die Hand auf die Schulter und blickte ihn resigniert an. „Lass es gut sein, Link. Das hat doch keinen Sinn.“

Der Junge riss den Kopf herum, sodass sein braunes, von wenigen blonden Strähnen durchzogenes Haar durch die Luft wirbelte wie der Rocksaum einer Tänzerin. „Aber Vater! Was sollen wir denn dann essen?!“

Seine knöchernen Schultern zuckend versuchte der Mann sich an einem aufmunternden Lächeln, das das Meeresblau seiner Augen jedoch nicht erreichte. „Deine Mutter und ich werden uns schon etwas einfallen lassen. Jetzt komm, bevor dich die Steppenreiter holen.“

Link warf einen letzten, trotzig wirkenden Blick auf seine Angelrute und seufzte dann resigniert auf. Er versuchte schon seit dem Morgengrauen, einen Fisch zu fangen und inzwischen ging die schwarze Sonne schon wieder unter.

Vermutlich hatte sein Vater Recht und sein Unterfangen war von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen…

Die Flüsse waren offenbar ein für alle Mal leer gefischt.

Wenn er noch länger hierbleiben und sich mit fruchtlosen Fangversuchen plagen würde, würde er vermutlich wirklich nur ein Opfer der Steppenreiter.

Ein Frösteln ging durch den schmalen Körper des Kindes, als es die dargebotene Hand seines Vaters ergriff und an seine letzte Begegnung mit den gefürchteten Reitern dachte.

Früher hatte Link die Geschichten über sie für Ammenmärchen gehalten, die Eltern ihren Sprösslingen erzählten, damit sie rechtzeitig zum Abendessen daheim waren. Doch vor etwa einem Vierteljahr hatte er feststellen müssen, dass er sich damit furchtbar geirrt hatte.

Damals hatte er sich auf der Jagd nach essbaren Kleintieren zu weit von seiner Heimatstadt entfernt, sodass die Sonne bereits untergegangen gewesen war, bevor er das Stadttor hatte erreichen können. Plötzlich hatte es so ausgesehen als stünde der Horizont in Flammen und die Erde hatte zu beben begonnen.

Und dann hatte Link sie gesehen…

Riesige Skelette, die auf halbverwesten Kadavern von Schlachtrössern über die weite Ebene geprescht waren.

Link hatte sich beinah übergeben müssen, als er beobachtet hatte wie einer der Steppenreiter eine junge Frau, die ebenfalls noch auf Nahrungssuche gewesen war, erwischt und ihr den Kopf von den Schultern gerissen hatte, um ihr Blut zu trinken.

Dass er selbst mit dem Leben davon gekommen war, hatte Link seinem Vater zu verdanken.

Dieser hatte sich den Monstern tapfer in den Weg gestellt und seinen einzigen Sohn schwertschwingend verteidigt, bis dieser durch das Stadttor geschlüpft war und sich so in Sicherheit gebracht hatte. Die schwere Beinverletzung, die Links Vater sich dabei zugezogen hatte, ließ ihn noch immer leicht humpeln.

Während er seiner Mutter weinend dabei zugesehen hatte wie sie die ausgefranste Oberschenkelwunde verarztet hatte, hatte Link sich geschworen, nie wieder so unvorsichtig und hilflos zu sein!

Seitdem trainierte er so oft er Zeit fand mit einem kleinen Holzschwert, das er an seinen Gürtel gebunden stets bei sich trug.
 

Während er nun Hand in Hand mit seinem Vater zurück nach Hyrule-Stadt ging, ließ er seinen Blick über das weite Ödland, das er seine Heimat nannte, schweifen.

Jegliches Gras, das es hier vielleicht einmal gegeben haben mochte, war vollständig verdorrt, sodass nichts anderes übrig geblieben war als roter Sand. Die stinkenden Flüsse, die dieses karge Land durchzogen, waren so verschmutzt, dass ihr Wasser grünlich schimmerte. Vor allem im violetten Licht der untergehenden Sonne wirkte die Färbung der Gewässer besonders ungesund.

Link betrachtete den toten, kaum Wärme spendenden Himmelskörper, der hinter den zerklüfteten Gebirgsausläufern im Osten verschwand. Irgendwie erinnerte ihn die erloschene Sonne seiner Welt jedes Mal an die dunklen, leeren Augenhöhlen eines Totenschädels.

Schaudernd wandte der Junge sich wieder ab und ließ sich von seinem Vater über die marode Brücke ins Innere von Hyrule-Stadt führen. Bald schon würde die Zugbrücke hochgezogen, um die Steppenreiter und all die anderen Monster, die dieses Land bevölkerten, auszuschließen.

Link fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis eine der bereits sehr einsturzgefährdet wirkenden Stadtmauern unter einer Monsterattacke fallen würde.

Auf dem zentralen Platz der Stadt begegneten die Beiden einigen anderen Bewohnern, doch anstatt höflich zu grüßen, beäugten sich die Passanten mit gegenseitiger Skepsis.

Wer es geschafft hatte, ein wenig Nahrung zu sammeln, umfasste sein Päckchen noch fester und eilte schleunigst auf sein Heim zu. Wer bislang leer ausgegangen war, stierte jeden Entgegenkommenden hungrig an und schien zu überlegen, wie er ihm die Tagesausbeute abjagen konnte. Es kam nicht selten vor, ein solcher Kampf ums Essen tödlich endete.

Gedankenversunken betrachtete Link die rostroten Flecken auf der gepflasterten Straße, stumme Zeugen solcher Auseinandersetzungen, und fragte: „Wieso hassen uns die Göttinnen so sehr?“

Der Junge erinnerte sich daran, dass sein Vater ihm vor einiger Zeit die Geschichte über die Schöpfung der Welt erzählt hatte.

Nayru, Farore und Din hatten zum Anbeginn der Zeit das Licht- und das Schattenreich geschaffen. Während das Lichtreich vor Leben nur so übersprudelte und den Luxus immerwährenden Friedens genoss, herrschten im Schattenreich Hunger, Krieg und Tod.

Seit einigen tausend Jahren gab es zudem noch die Mittelwelt, die von den Göttinnen als eine Art Grenzgebiet entworfen worden war. Dort vermischten sich das Gute und das Böse zu einem harmonischen Ganzen, sodass die Bewohner dieser Welt zwar Leid und Entbehrungen kannten, jedoch trotzdem weitestgehend ein ruhiges Leben führen konnten.

Sein Vater schüttelte müde den Kopf und bog in eine Seitengasse ab. „Ich weiß nicht, ob die Göttinnen uns hassen, Link. Wo es Licht gibt, muss es nun mal auch Schatten geben. Und je heller das Licht, desto dunkler der Schatten… In diesem Leben hatten wir Pech, mein Sohn, aber ich glaube fest daran, dass wir in der Mittelwelt wiedergeboren werden – so wie unsere Doppelgänger heute.“

Im ersten Moment war Link verwirrt, dass sein Vater nicht in der Lichtwelt leben wollte, doch dann fiel ihm wieder ein, dass seine Mutter ihm mal erzählt hatte, Lichtwesen würden ewig leben. Vermutlich konnte man deswegen auch nicht als Reinkarnation in der Lichtwelt landen.

Da sich seine anfängliche Verwirrung diesbezüglich von selbst gelegt hatte, fragte der Junge: „Doppelgänger?“ Dabei zog er leicht am Arm seines Vaters, um ihn daran zu erinnern, dass er Mühe hatte, mit dessen ausgreifenden Schritten mitzuhalten.

Mit einem milden Lächeln verringerte dieser sein Tempo damit sein noch kurzbeiniger Sohn nicht neben ihm herrennen musste.

Dann erklärte er in ruhigem Ton: „Es heißt, dass jedes Lebewesen in jeder Welt ein Gegenstück hat damit das Gleichgewicht gewahrt wird. Es gibt also noch zwei Links. Einen in der Licht- und einen in der Mittelwelt.“

Überrascht riss der Junge die Augen auf. „Es gibt mich dreimal?“ „Ja.“ „Und dich und Mutter auch?“ „Ja, uns ebenfalls.“

Unwillkürlich musste Link daran denken, seinen Gegenstücken zu begegnen.

Ob sie zusammen spielen könnten, wenn sie sich träfen? Wäre es dann als hätte er plötzlich zwei Brüder? Als wäre er auf einmal ein Drilling? Und könnten sie dann alle zu ihren Eltern in die Lichtwelt ziehen, wo er nie wieder würde hungern müssen?

Plötzlich stahl sich ein breites Grinsen auf Links Gesicht.

Das klang herrlich!

Er hatte sich immer Geschwister gewünscht – und wenn es Essen im Überfluss gäbe, müsste er sich nicht einmal Gedanken darum machen, dass er seine Mahlzeiten würde teilen müssen.

„Ich will die anderen Links unbedingt mal kennen lernen!“, verkündete er mit einer Euphorie wie nur Kinder sie entwickeln können.

Bei der Begeisterung in seiner Stimme legte sich ein dunkler Schatten über die Augen seines Vaters, der ein mitfühlendes Gesicht zog. „Das geht leider nicht.“

„Warum nicht?“ Link sah mit einem enttäuschten Hundeblick zu seinem Vater auf, der vor ihrem Haus stehen blieb und sich etwas verlegen im Nacken kratzte.

„Niemand kann zwischen den Welten wechseln. Dieses Privileg besitzen nur die Göttinnen allein.“

Die Mundwinkel nach unten ziehend hakte Link nach: „Wirklich niemand?“

Er wollte nicht wahrhaben, dass sein schöner, kindlicher Plan zerplatzen sollte wie eine Seifenblase.

Sein Vater starrte über ihn hinweg in die Ferne und murmelte: „Es gibt Legenden über sieben Lichtwesen, die in der Mittelwelt leben. Doch Geschichten besagen auch, dass dieser Wechsel nur ein einmaliges Geschenk der Göttinnen war. Angeblich können die Lichtwesen niemals in ihre Heimat zurück.“

Link ließ traurig den Kopf hängen, doch sein Vater sprach mit nachdenklicher Stimme weiter: „Allerdings soll auch einem Dämonenfürsten der Wechsel in die Mittelwelt gelungen sein.“

Wie an unsichtbaren Fäden gezogen, riss Link den Kopf wieder hoch und starrte seinen Vater aus großen Augen an. „Ja? Wirklich?“

Der ausgelaugt wirkende Mann nickte mit einem grimmigen Gesichtsausdruck. „Ja. Ganon, der Prinz der Schweinedämonen, soll vor hunderten von Jahren einen Weg gefunden haben. Doch niemand weiß, welche Art von Magie er dafür eingesetzt hat.“

Das Herz schlug Link bis zum Hals und er sah aus funkelnden Augen zu seinem noch immer gedankenversunken erscheinenden Vater auf.

Es gab also doch eine Möglichkeit!

Der Knabe schwor sich, dass er eines Tages herausfinden würde, wie Ganon den Weltenwechsel vollzogen hatte. Dann würde er zusammen mit seinen Eltern dieser Hölle entfliehen und in der Mittelwelt ein neues, sorgenfreies Leben beginnen.

Obwohl er keine Ahnung hatte, wo er mit seinen Nachforschungen beginnen sollte, hätte Link am liebsten sofort losgelegt.

Doch sein Vater kehrte schließlich aus den fernen Landen seiner Gedanken zurück und deutete mit dem Kinn in Richtung Haus. „Wir sollten nicht hier draußen rumstehen und uns den Kopf über solche Nichtigkeiten zerbrechen. Deine Mutter ist sicher schon krank vor Sorge, wo wir bleiben.“

Link nickte und folgte seinem Vater durch den ausgetrockneten, trostlosen Vorgarten zur Haustür, während ein Teil seines Geistes sich bereits mit der Frage beschäftigte, wo er mit der Suche nach Antworten anfangen wollte.
 

Kaum dass die Beiden über die Schwelle getreten waren, erhob sich eine dürre, blonde Frau aus ihrem Sessel vor der Feuerstelle und seufzte erleichtert auf: „Link! Arn! Da seid ihr ja endlich!“

Links Vater eilte mit wenigen, langen Schritten zu seiner zerbrechlich wirkenden Frau herüber und schloss sie in die Arme. „Tut mir leid, Medila. Es ist spät geworden, ich weiß.“

„Ich dachte schon, die Steppenreiter hätten euch geholt!“ Medila löste sich von ihrem Gatten, ging in die Knie und hielt die Arme für ihren Sohn auf, der sich ihr sogleich um den Hals warf. „Tut mir leid, Mutter, aber ich konnte dir keinen Fisch fangen!“

Über Links Schulter hinweg suchte Medila Arns Blick, der genauso hoffnungslos war wie der ihre.

Wie sollten sie ihre kleine Familie nur ernähren?

Arn und sie waren schon jetzt am Rande des Hungertods, da sie zugunsten ihres Sohnes immer wieder auf Essen verzichtet hatten.

Trotz ihrer Verzweiflung bewerkstelligte Medila es irgendwie, ihrer Stimme einen sanften und beruhigenden Klang zu verleihen: „Das macht doch nichts, mein Schatz. Ich bin dir dankbar, dass du es überhaupt versucht hast. Ich werde schon etwas anderes auftreiben, das wir heute essen können.“

Link klammerte sich noch fester an den abgemagerten Oberkörper seiner Mutter und legte seine Stirn auf ihr Schlüsselbein. Arn wandte mit einem schmerzverzerrten Gesichtsausdruck den Blick ab und starrte in die glimmenden Überreste des fast erloschenen Feuers im Kamin.

Seine Familie war am Ende.

Es gab keine Fische mehr in den Flüssen und sämtliche Wildtiere schienen weitergezogen zu sein. Das Einzige, was es hier reichlich gab, waren Dämonen – doch ihr Fleisch war giftig.

Den Bewohnern Hyrules blieb nur noch eine Chance: Sie mussten ebenfalls in die Ferne aufbrechen, den Tieren hinterher.

Arn zweifelte jedoch daran, ob er und seine ausgehungerte Frau eine solche Reise überleben würden.

Doch was würde dann aus Link?

Was sollte er bloß tun?!

Medila drückte ihren Sohn noch einmal und freute sich, das sein Körper trotz der schlimmen Situation nicht zu knochig war. Es erfüllte sie immer wieder mit Stolz, wenn sie daran dachte, dass Arn und sie es bislang geschafft hatten, einen wohlgenährten Jungen großzuziehen.

Dann schluckte sie die Tränen, die in ihrer Kehle brannten, herunter, löste sich sanft von Link und stand auf. „Ich schau mal in der Küche, was ich uns zaubern kann. Geh du doch so lange hoch in dein Zimmer und spiel ein wenig. Ich ruf dich, wenn das Essen fertig ist.“

Link nickte und eilte wortlos die knarrende Holztreppe nach oben.

In letzter Zeit verhielten seine Eltern sich merkwürdig, fand er. Ihr Lächeln hatte seit einigen Wochen etwas Fratzenhaftes und ihr Lachen klang gekünstelt.

Was war nur los?
 

Die Sorge um seine Eltern vertrieb Links Grübeleien bezüglich Ganons Weltenwechsel und er schlich sich in das Schlafzimmer von Arn und Medila, anstatt in seines zu gehen und mit seinen Holzsoldaten zu spielen. Als er seiner Mutter vor ein paar Monaten beim Wäschezusammenlegen geholfen hatte, war ihm aufgefallen, dass eine der Bodendielen ein Loch hatte, durch das man in die Küche blicken konnte.

Dieses Wissen wollte er nun ausnutzen.

Das Ohr auf das hohle Astauge gepresst, rollte Link sich auf dem Boden zusammen und lauschte. Zunächst hörte er außer dem Rauschen seines eigenen Blutes und einem komischen, ein wenig nach Schluckauf klingenden Seufzen nichts, doch dann drang die tränenbrüchige Stimme seiner Mutter an seine Ohren: „Was sollen wir nur tun, Arn? Wir haben absolut nichts zu essen!“

Link riss überrascht die Augen auf.

Es gab nichts mehr zu essen?

Gar nichts?!

Bei diesen Worten wurde ihm schlagartig klar, was das seltsame Geräusch eben gewesen war: seine Mutter hatte schluchzend geweint.

Haltsuchend zog der Junge die Beine noch näher vor die Brust und schlag sich die Arme um die Knie.

Die Zukunft tat sich plötzlich als tiefschwarzer, alles verschlingender Schlund vor ihm auf. Die einzige Möglichkeit, diesem Albtraum zu entkommen, war, einen Weg in die Mittelwelt zu finden.

Er musste so schnell wie möglich herausbekommen, wie Ganon es damals geschafft hatte – sonst wäre es für seine Familie zu spät.

Von unten klang das Geräusch raschelndes Stoffes an Links Ohren, als sein Vater seine Frau noch fester umarmte. „Ich weiß, Medila, ich weiß…“

Die Trostlosigkeit in Arns Stimme brachte Links Herz dazu, sich schmerzhaft zusammenzuziehen.

Sein Vater durfte nicht aufgeben!

Er fand doch immer einen Weg…

Eiskristalle bildeten sich unter Links Haut und bohrten ihre scharfen Kanten so tief in sein Fleisch, dass jeder Atemzug schmerzte.

Am liebsten wäre er nach unten gestürmt und hätte sich seiner Mutter wieder in den Arm geworfen. Doch die Angst vor der Zukunft lähmte seine Glieder, sodass ihm nichts anderes übrig blieb als wie paralysiert liegen zu bleiben.

„Ich sehe nur einen einzigen Ausweg.“

Links Ohrmuschel zuckte und er jubelte stumm in sich hinein.

Sein Vater hatte also doch eine Idee!

Doch warum klang er so leblos und traurig?

Einen Ausweg zu haben war doch etwas Gutes!

„Verrat ihn mir, Arn.“

Gespannt wie ein Flitzebogen presste Link sich noch fester auf das Dielenloch, um nicht eine Silbe zu verpassen.

Unten stieß sein Vater einen langgezogenen Seufzer aus, bevor er seine Gattin warnte: „Du wirst mich dafür hassen.“

Erneut erklang das Rascheln von Stoff, bevor Medila etwas entgegnete. Der schrille Klang ihrer Stimme ließ Link vermuten, dass seine Mutter eine Ahnung hatte, was im Kopf seines Vaters vor sich ging: „Was hast du vor?!“

Es entstand eine lange Pause, während der von unten nur das schwere Atmen der beiden Ehepartner zu hören war. Link kaute vor Anspannung auf der Unterlippe, ohne das aus den vielen kleinen Wunden sickernde Blut zu schmecken. Als Arn schließlich wieder das Wort ergriff, hätte Link beinah einen Satz gemacht, so sehr stand der Junge unter Strom.

„Wenn wir uns weiterhin darauf konzentrieren, Link durchzufüttern, bedeutet das unser Ende…“

„Was hast du vor?!“ Medila klang hysterisch und schien sich nur mit Müh und Not beherrschen zu können, ihren Mann anzuschreien. „Sollen wir ihn etwa aussetzen und sich selbst überlassen?!“

Link hatte plötzlich das Gefühl, an dem Kloß in seiner Kehle ersticken zu müssen und die Welt um ihn herum drehte sich auf einmal viel zu schnell.

Er war der Grund, weshalb seine Eltern es so schwer hatten?

Sein Vater wollte ihn im Stich lassen?

Der vollkommen überforderte Junge wusste nicht einmal mehr, welche der beiden Erkenntnisse er schlimmer und erschreckender fand.

Sich nicht fassen lassen wollende Gedanken wirbelten so laut durch seinen Geist, dass er fast verpasst hätte wie sein Vater sagte: „Nein, ich will ihn nicht aussetzen. Nur die Göttinnen allein wissen, was dann mit ihm passieren würde. Womöglich würde ein Dämon ihn erwischen und–“

„Was. Hast. Du. Vor?!“ Inzwischen war überdeutlich zu hören, dass Medila am liebsten geschrien hätte.

Arn holte ein letztes Mal tief Luft und erklärte endlich: „Wenn wir so weitermachen wie bisher, haben wir keinerlei Überlebenschancen. Doch wenn wir verhungern, ist Link völlig auf sich allein gestellt – und damit ebenfalls dem Tod geweiht. Ich fürchte, unsere einzige Möglichkeit ist es, zu kaltblütigen Mördern zu werden.“

Bei diesen Worten schoss Link augenblicklich Gallensaft in die Kehle und er rollte sich herum, um sich zu erbrechen. Hustend und röchelnd würgte er grünweißlichen Schaum aus seinem leeren Magen hervor und spuckte ihn neben das Bett seiner Eltern.

Sein Vater wollte ihn umbringen?!

Link konnte es nicht fassen… und doch machten die Aussagen seines Vaters für ihn keinen anderen Sinn.

Er war ein Klotz am Bein, den es loszuwerden galt…
 

Während Link sich im ersten Stock weinend erbrach, starrte Medila ihren Mann in der Küche sprachlos an.

Arn sprach unterdessen mit gedämpfter Stimme weiter: „Du und Link, ihr müsst damit nichts zu tun haben. Ich allein werde mir die Hände schmutzig machen.“

Langsam ließ Medila die Hand, die sie sich vor den Mund geschlagen hatte, wieder sinken und schüttelte benommen den Kopf.

Nur allmählich begriff sie, was ihr Mann ihr sagen wollte und dass er Recht hatte. „Nein. Du musst diese Bürde nicht allein tragen.“

Überrascht riss Arn die Augen auf und starrte seine Frau verwundert an. Er hatte damit gerechnet, dass sie ihn anschreien und verdammen würde. Darauf, dass sie ihn unterstützen wollen würde, hätte er im Traum nicht gehofft.

Unter seinen verblüfften Blicken drückte Medila den Rücken durch und straffte ihre knöchernen Schultern, bevor sie in feierlichem Ton verkündete: „Ich liebe Link und dich mehr als alles andere auf der Welt. Und wenn ich zur Mörderin werden muss, um euch zu retten, dann ist das eben so. Ich werde nicht davonlaufen.“

Mit Tränen in den Augen wollte Arn seine Gattin in die Arme schließen, als von oben ein lautes Krachen an ihre Ohren drang.

Alarmiert legten die Eltern ihre Köpfe in den Nacken und keuchten den Namen ihres Sohnes, bevor sie zur Treppe hinüber stürzten.

Link, dem beim Aufstehen die Knie eingeknickt waren, rieb sich die schmerzende Stirn.

Bei dem Versuch, seinen Sturz noch irgendwie aufzufangen, war er von der Kommode seiner Mutter abgerutscht und mit dem Stirnbein auf einen danebenstehenden, als stummer Diener fungierenden Stuhl geknallt.

Der Junge versuchte angestrengt, die flirrenden Glühpunkte, die in seinem Sichtfeld tanzten, wegzublinzeln, als er die Schritte hörte.

Er wirbelte herum und wich beim Anblick seiner Eltern so weit zurück wie er konnte.

„Link, Schätzchen, was ist passiert?“ Medila streckte eine Hand nach ihrem Sohn aus, doch dieser fauchte sie an: „Bleib weg! Ich weiß, was ihr vorhabt!“

Ein verletzter Ausdruck schlich sich in die Augen seiner Mutter und sie blieb wie angewurzelt mitten im Raum stehen. „Von was redest du?“

Arn trat neben sie und bedachte Link ebenfalls mit einem ratlosen Blick. „Hattest du einen Albtraum?“, versuchte der verwirrte Vater sein Glück.

Mit wild schlagendem Herzen ließ Link instinktiv seine Hand über die Wand hinter sich wandern und brüllte: „Macht euch keine Mühe! Ich weiß, dass ihr mich nur in eine Falle locken wollt.“

Seine Eltern sahen sich hilflos an.

Was war bloß in ihren ansonsten so sanftmütigen Sohn gefahren?

Links Finger strichen noch immer unbemerkt über die mit Lehm und Kalk bestrichene Wand. Der Junge wusste nicht, nach was er tastete, bis er es zu fassen bekam. Doch dann umfasste er es so entschlossen als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

Medila stieß einen kleinen Schrei aus und Arn riss völlig verdattert die Augen auf, als Link das Schwert seines Vaters aus seiner Scheide zog. Obwohl die Klinge der Waffe fast so lang wie Link groß war, hielt der Knabe sie erstaunlich ruhig vor sich.

Wieder aus seiner Paralyse erwachend sagte Arn: „Leg das Schwert weg, Junge. Du verletzt dich noch.“

Als der Mann einen Schritt auf seinen Sohn zumachte, knurrte dieser ihn wütend an: „Komm ja nicht näher!“

„Werd doch bitte wieder vernünftig!“ Der flehende Ton seiner Mutter ging Link ans Herz und das Schwert in seinen Händen begann zu zittern. Doch dann dachte er wieder an das belauschte Gespräch zwischen seinen Eltern und packte das Heft noch fester.

„Nein! Geht einfach weg und lasst mich alleine!“

Medila knetete vor Verzweiflung ihre Hände und sah ihren Mann hilfesuchend an. Dieser presste die Lippen aufeinander und sagte in strengem Ton: „Das reicht jetzt. Gib mir das Schwert, Link!“

Doch kaum dass Arn an seinen Sohn herangetreten war, riss dieser in Todesangst die Klinge nach oben wie er es so oft mit seinem Holzschwert geübt hatte.

Die scharfe Schneide glitt problemlos durch Arns Bauchdecke, bis sie gegen das Brustbein stieß. Bevor Link realisieren konnte, was er dort tat, kippte der Junge sein Handgelenk so wie sein Vater es ihm in einer Trainingslektion gezeigt hatte und rammte Arn die Schwertspitze mitten ins Herz.

Medila kreischte bei diesem Anblick laut auf und brach die Augen verdrehend zusammen, als auch ihr geschwächtes Herz vor Schock stehenblieb.

Purpurnes Blut rann in breiten Bahnen über den Griff des Schwertes auf Links Hand und Unterarm.

Als dem Jungen endlich klar wurde, dass er soeben seinen eigenen Vater erstochen hatte, ließ er schlagartig das Schwertheft los als hätte er sich verbrannt.

Arns Leiche fiel zuerst auf die Knie und stürzte dann wie ein nasser Sack zur Seite. Der dumpfe Aufprall hallte übernatürlich laut in den Ohren des Jungen wider.

Dieser wich immer wieder „Nein… Nein…“ stammelnd an die Wand zurück, an der er schließlich zu Boden rutschte und hysterisch zu weinen begann.
 

Link hatte keine Ahnung, wie lange er dort gekauert und geschluchzt hatte, doch als er endlich wieder aufstand erhellte nicht nur der inzwischen aufgegangene Mond den Raum. Auch Link selbst schien sich grundlegend verändert zu haben.

Alles Kindliche schien mit seinen unzähligen Tränen aus ihm herausgewaschen worden zu sein.

Das einstmals offene, verletzlich wirkende Gesicht war zu einer ausdruckslosen Maske verhärtet und seine gesamte Körperhaltung drückte plötzlich einen nie dagewesenen Kampfeswillen aus.

Über die Leichen seiner Eltern hinwegsteigend, trat Link an den zersprungenen Spiegel seiner Mutter heran und sah sich selbst ins Gesicht.

In seinen Augen schien ein Funke zu glimmen, den er noch nie zuvor wahrgenommen hatte.

Für einen Moment fragte der Knabe sich, was dieses neue Funkeln in seinen Iriden wohl sein mochte. Doch er verwarf den Gedanken schnell wieder.

Derartige Details waren auf einmal irrelevant für ihn…

Dann bückte er sich zu dem toten Körper seines Vaters hinab und tauchte zwei Finger in die noch nicht vollständig durchgetrocknete Blutlache. Sein Spiegelbild anstarrend verpasste der Junge sich mit dem Blut seines Vaters eine gruselige Kriegsbemalung, bevor er das tödlich scharfe Schwert wieder an sich nahm.

Anschließend wandte er sich ein letztes Mal dem Spiegel zu und sagte zu sich selbst als würde er einen Schwur ablegen: „Link starb an diesem Tag zusammen mit seinen Eltern. Ab heute trage ich den Namen Dark. Ich werde der furchtbarste Krieger werden, den die Schattenwelt je gesehen hat. Und ich werde einen Weg finden, die Göttinnen für ihren Frevel zur Rechenschaft zu ziehen. Sie werden dafür büßen, dass sie die Schattenwelt und ihre Bewohner den Dämonen überlassen haben!“

Mit einem letzten Blick auf die Leichen seiner Eltern fügte der Junge leise flüsternd an: „Und ich werde einen Weg finden, mir mein Leben zurückzuholen – so wie es hätte sein sollen, wenn die Göttinnen gerecht wären!“

Dann schnallte er sich das Schwert seines Vaters um und verließ sein Elternhaus, um niemals mehr zurückzukehren.



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