Manchmal erinnere ich mich noch.
Dann taucht die Vergangenheit wieder aus den hintersten verstaubten Winkeln meines Gedächtnisses auf, all meine Versuche, sie zu vergessen, lächerlich machend.
Denn wie könnte ich je die prunkvolle goldene Krone vergessen? Das höchste Zeichen königlicher Würde, das Symbol ultimativer Macht. Statt sie zu tragen, hatte ich sie zu einem handlichen goldenen Apfel schmelzen lassen, weil ich mich nie an ihr Gewicht gewöhnt hatte. Vielleicht hatte ich das auch nie wirklich gewollt. Das Blut meines Vorgängers hatte sich auch nie abwaschen lassen.
Wie könnte ich meine Armee vergessen, Milliarden von Soldaten unter meiner alleinigen Kontrolle? Ihre Rüstungen glänzten so schön in der Sonne, wenn sie im Schlosshof ihre Paraden vollzogen. Aber auf Dauer reichte mir das nicht. Ich wollte sie in Aktion sehen. Also gab es Krieg, viele Kriege, und ich gewann sie alle. Mein Königreich wuchs ins Unermessliche, ebenso wie die Furcht vor mir. Die letzten paar Staaten der Welt kapitulierten einfach bedingungslos, mit angstgeweiteten Augen und vor Panik zitternden Fingern baten ihre Regenten mich um Gnade.
Ich versprach, sie zu verschonen. Natürlich war das gelogen.
Ich erwachte erst aus meinem Rausch, als mir die ganze Welt gehörte und es nichts mehr zu erobern gab. Ich hörte zwar von Abermilliarden Todesopfern, aber sie waren mir egal und das Weinen der Überlebenden hörte ich nicht auf meinem Thron.
Wie könnte ich meine Untertanen vergessen, meine treuen, braven Untertanen? Sie jubelten, sangen Hymnen, überschütteten mich mit Blütenblättern. Manchmal vergaß ich tatsächlich die Angst und den Widerwillen auf ihren Gesichtern, ihre nervösen Seitenblicke auf meine Soldaten und dass die Hymnen alle von mir stammten. Ich lächelte, winkte in die Menge und suchte mir ein paar besonders widerwillig Aussehende für die Guillotine heraus.
Wie könnte ich die Guillotine vergessen, meinen treuesten Freund und zugleich interessantesten Zeitvertreib? Ganze Nachmittage verbrachte ich mit den Hinrichtungen der Revolutionäre, denn an Revolutionären mangelte es mir wahrhaftig nicht. Während ihre Köpfe in Säcken abtransportiert wurden, dachte ich amüsiert daran, dass jeder einzelne von ihnen meinen Kopf auf einem Silbertablett hatte sehen wollen. Wenn mir mal die Revolutionäre ausgingen, suchte ich einfach wahllos Leute aus der Menge aus. Letztendlich war es mir egal, wessen Blut meine Guillotine rot färbte, und von meinen Untertanen verlangte ich dasselbe. Ich ließ Ehemänner die Hinrichtung ihrer Frau bejubeln -und umgekehrt-, Kinder die ihrer Eltern. Natürlich blieb auch meine eigene Familie nicht verschont.
Wie könnte ich meine Familie und Freunde vergessen, meine schärfsten Kritiker und härtesten Zweifler? Ich fasse es nicht, dass du zu so etwas fähig bist, hast du nicht schon genug Blut vergossen, kannst du nicht nur noch ein einziges Mal die Wahrheit sagen, blablabla. Ich hörte ihnen schon gar nicht mehr zu. Die Luft hoch oben auf meinem Thron war ohnehin dünn und mir schon längst zu Kopfe gestiegen. Wer nicht mein Freund war, war mein Feind und wer mein Feind war, der würde eben der Freund der Guillotine werden, das war meine Philosophie. Sie war einfach, aber wirkungsvoll.
Und schließlich: Wie könnte ich die Zeit vergessen, als mir die ganze Welt zu Füßen lag? Ich hätte dem Wasser befehlen können, mich zu tragen, und es hätte meinen Befehl befolgt. Ich hätte meiner Armee befehlen können, kollektiven Selbstmord zu begehen, und sie wären mit Freude von einer Klippe gesprungen. Ich hätte den Wellen, den Flammen und den Stürmen befehlen können, sich auf meiner Welt auszutoben und nichts außer Knochen und Asche zurückzulassen. Ich hätte an die Tür zum Himmelsreich klopfen, und, sollte man mir nicht sofort Einlass gewähren, sie genauso gut aufbrechen lassen können. Auf meinem Thron stand ich über allem und jedem, alle Fäden des Schicksals liefen in meinen Händen zusammen. Meine Untertanen warfen sich vor mir in den Staub, die Armee kniete vor mir nieder, selbst die gefährlichsten Bestien wagten es nicht, mich anzugreifen und sämtliche Naturgewalten gehorchten meinem Kommando.
Ich war kein Mensch mehr, oh nein. Ich war viel mehr als das.
Ich. War. Gott.
Wie es letztendlich zur Revolution kam, weiß ich nicht. Vielleicht hatte ich zu vielen Soldaten geliebte Menschen geraubt, vielleicht hatten sie verstanden, dass ihre Leben mir egal waren. Vielleicht hatten sie auch endlich erkannt, dass sie Milliarden von Menschen waren, die besten, stärksten, furchtlosesten Kämpfer des Planeten, und ich im Grunde nur ein schwächliches junges Mädchen, das noch nie im Leben eine Liegestütze geschafft hatte.
Alles, was damals für mich zählte, war, dass ich verloren hatte.
Alles. Mein Volk, meine Armee, meine Macht, meine Freiheit.
Ich fiel nicht im Krieg, heldenhaft für mein Königreich kämpfend. Ich fiel auf meiner eigenen Parade zu Ehren meines Geburtstages, durch die hinterlistige Verschwörung meiner Armee mit dem gemeinen Volk. Sie warfen mich von meinem prunkvoll geschmückten Wagen und dann brauchte es nur ein Paar Handschellen und einige Tritte in den Magen, um aus der großen, mächtigen Königin ein wimmerndes, Blut spuckendes Wrack zu machen.
Es war mir schleierhaft, warum sie mich nicht sofort zur Guillotine trugen und mir heimzahlten, was ich so vielen von ihnen angetan hatte. Obwohl die Mordlust in ihren Augen glänzte, traten sie mich nur halbtot und warfen mich in mein eigenes Gefängnis, nachdem sie zuvor sämtliche ihrer Leute von dort entlassen hatten. Ich erwachte in einer Zelle, einer ganz normalen Zelle, nicht etwa in der Folterkammer oder dem Todestrakt. Warum weigerten sie sich, mich zu töten? War es ein fehlgeleiteter Anfall von Mitleid mit ihrer Ex-Herrscherin? Damals fand ich das dumm, ich lachte über ihre Naivität. Aber heute weiß ich es besser.
Vielleicht fanden sie, dass die Guillotine schon genug Blut geschmeckt hatte. Vielleicht wollten sie sich auf keinen Fall auf meine Stufe stellen. Vielleicht wollten sie mich aber auch einfach nur noch etwas leiden lassen, während sie mein gesamtes Lebenswerk zerstörten.
Nun, metaphorisch gesehen hatten sie das schon längst, aber jetzt folgte der praktische Teil. Sie versenkten all ihre Waffen und meine heißgeliebte Guillotine an der tiefsten Stelle des Meeres, sie zerschlugen meine marmornen Statuen, die ich überall hatte errichten lassen. Sie brannten selbst meine Residenz nieder, das gigantische Schloss in der Hauptstadt, der Mittelpunkt der Welt. Ganze drei Tage brannte es lichterloh und ich musste ihm aus meinem vergitterten Fenster hilflos bei seinem Todeskampf zusehen.
Aber das war nicht der Grund, weshalb sie mich am Leben ließen. Sie waren keine herzlosen sadistischen Monster. Sie waren nicht wie ich.
Sie ließen mich am Leben, damit ich über meine Taten nachdenken konnte. Erkennen konnte, was ich getan hatte. Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken in den nächsten Jahren.
Also dachte ich nach. Was sollte ich sonst tun?
Und dann... fand ich mein Gewissen wieder.
Ich dachte, ich hätte es verloren, irgendwo zwischen den zersplitterten Fenstern und zerbombten Häusern meiner Schlachtfeldes. Aber es war noch da, nur über die Jahre stark verstaubt vom mangelnden Gebrauch.
Sobald ich es einmal wiedergefunden hatte, lief es Amok in meinem Gehirn. Es drehte jeden einzelnen meiner Gedanken durch die Mangel, riss einzelne Erinnerungen gewaltsam aus ihrer Verankerung in meinem Gedächtnis. Zeigte mir das Leid, das ich angerichtet hatte. Ließ mich all die Schmerzen meiner Opfer spüren, Tag für Tag für Tag. Gewissensbisse einmal ganz anders.
Es gab niemanden mehr, den meine Schreie noch interessierten, niemanden, der mir helfen wollte. Niemanden, den ich hätte belügen und manipulieren können, wie ich es schon mein ganzes Leben getan hatte.
In dieser Zeit verlor ich auch den letzten Rest meines Verstandes. Oder war es andersherum und ich fand ihn endlich wieder? Schwer zu sagen. Ist es wirklich besser, in der Hölle zu regieren, statt im Himmel zu dienen?
Manchmal erinnere ich mich noch an diese Zeit. Jahre des Ruhms, Jahre des Reichtums. Jahre des Schreckens, Jahre des Leids.
Manchmal.
"Hey, du da! Aus dem Weg, du blockierst die ganze Straße!"
Dann ist alles wieder da. Die Straße, die Passanten, der steife Rücken, der zerfranste Besen in meiner Hand.
Widerspruchslos fahre ich mit meiner Arbeit fort, die bunten Herbstblätter von der Straße zu fegen. Was bleibt mir auch anderes übrig? Außer dem Besen in meiner Hand habe ich nichts mehr, nicht einmal Rachegedanken oder mordlüsterne Ex-Untertanen am Hals.
Während ich wie mechanisch weiterfege, mustere ich verstohlen die vorbeieilenden Passanten. Viele sehen mich kurz aus den Augenwinkeln an, aber niemand erkennt mich. Haben sie mich vergessen, wie einen bösen Traum? Unmöglich, ich stehe in sämtlichen Geschichtsbüchern der Welt mit meiner Schreckensherrschaft, das lässt sich nicht so einfach vergessen. Aber war es das wert? Mein früheres Ich hätte ohne zu zögern Ja gerufen. Doch ich bin nicht mehr wie damals.
Vielleicht ist es das. Ich habe mich verändert.
Nicht nur äußerlich habe ich keinerlei Ähnlichkeit mehr mit der lügenden, manipulativen Tyrannin mit der immer sitzenden Frisur und dem unerschütterlichen arroganten Lächeln. Meine seidenen Gewänder sind vollkommen verdreckt und ob man das Vogelnest, das ich auf dem Kopf trage, eine Frisur nennen kann, darüber kann man sich streiten. Die Jahre in Gefangenschaft haben mich völlig verkommen lassen, mir alles genommen, was ich hatte- und mich gleichzeitig vor mir selbst gerettet.
"Hallo", sagt da plötzlich eine schüchterne Stimme neben mir und reißt mich aus meinen Gedanken. Es kommt nicht oft vor, dass mich jemand anspricht, genau genommen kommt es niemals vor. Überrascht drehe ich mich um.
Vor mir steht ein kleines Mädchen mit blondgelockten Haaren und einer Tüte Bonbons in der Hand. Es tritt verlegen von einem Fuß auf den anderen, ehe es mir kurz entschlossen eine Münze Kleingeld in die Hand drückt.
"Hier, du kannst es haben."
Sprachlos sehe ich auf die bronzene Münze in meiner Handfläche hinab. Ganz ohne mein Zutun breitet sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus, ganz ohne Häme, Sadismus oder Hinterlist. Ein ehrliches, glückliches Lächeln. Mein erstes.
"Danke", sage ich.
Und meine es auch so.