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Smallville-Expanded - 07

Foresight
von

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Prolog


 

PROLOG
 

Christian von Falkenhayn erreichte am späten Nachmittag das Haus, in dem Chloe Sullivan, zusammen mit ihrem Vater, lebte. Die Fahrt hierher hatte er wie in Trance erlebt und jetzt, nachdem er den Motor seines schwarzen Pickups abgestellt hatte, wunderte er sich etwas darüber, heil hier angekommen zu sein. Denn während der gesamten Fahrt über waren seine Gedanken weit mehr bei Chloe gewesen, als dabei, sich auf den Straßenverkehr zu konzentrieren. Was einen triftigen Grund hatte.

Gestern Abend, während ihrer Geburtstagsfete in der Scheune der Kent-Farm, hatte sich etwas zwischen ihnen beiden ereignet. Etwas, das dringend einer Aufklärung bedurfte.

Mit einem unangenehmen Ziehen in der Magengegend verließ er sein Fahrzeug und schritt langsam durch den kleinen Vorgarten zur Haustür. Dort angekommen atmete der blonde Junge tief durch, bevor er entschlossen seinen Finger auf den Knopf der Türklingel legte. Der Achtzehnjährige hörte das Läuten und trat einen halben Schritt zurück.

Jemand näherte sich, und im nächsten Moment wurde die Haustür geöffnet. Im Eingang stand Chloe und lächelte warm, als sie Christian erkannte. In die blauen Augen des Jungen sehend fragte sie, halb überrascht, halb erfreut: „Hi, Chris. Was führt dich denn her?“

Christian machte ein leicht erstauntes Gesicht. Gerechnet hatte er mit einer ganz anderen Reaktion des Mädchens. Etwas unsicher fragte er: „Darf ich, für einen Moment hereinkommen, Chloe. Ich würde gerne etwas mit dir besprechen. Wegen der Fete, gestern.“

„Ja, klar.“

Chloe trat zur Seite um den Jungen einzulassen. Hinter ihm schloss sie die Tür und deutete dann auf die Treppe, im Hintergrund der gemütlich eingerichteten Diele. „Gehen wir doch nach Oben, in mein Zimmer.“

Christian nickte und folgte dem blonden Mädchen in die obere Etage.

Trotz des ernsten Hintergrundes seines Besuches konnte der Junge ein feines Schmunzeln nicht ganz unterdrücken, als er die mindestens zehn verschiedenen Oberteile, die Chloe auf dem Bett ausgebreitet hatte, entdeckte.

Chloe, die seinem Blick folgte erklärte leidenschaftlich: „Auch wenn Jungs da etwas anderes glauben: Das Bett und der Fußboden im Zimmer eines Mädchens sind ein vollwertiger Kleiderschrank, klar?“

Christian blickte wieder zu dem Mädchen, das heute wieder seinen gewohnten Schlabberhosen-Look trug. Gestern Abend war das noch ganz anders gewesen. Er fasste sich ein Herz und sagte dann entschlossen: „Chloe, wir müssen darüber reden, was gestern, auf deiner Geburtstagsfete, mit uns passiert ist.“

Plötzlich etwas nervös wirkend nahm Chloe die Hände nach vorne und verschränkte die Finger ineinander. Erst vor wenigen Stunden war sie, zusammen mit Lana Lang und ihrer Cousine, Lois Lane, in der Kawatschen-Höhle aufgewacht. Ohne Erinnerung an das, was sich während ihrer Fete, oder unmittelbar danach, ereignet hatte. Mit unstetem Blick zu Christian sehend fragte sie gedehnt: „Was war denn los, Chris?“

Unglaube spiegelte sich im Blick des Jungen, als er nach einem langen Moment fragte: „Willst du damit sagen, du kannst dich nicht daran erinnern? Ich meine, dass wir zwei in der Scheune...“

Christian unterbrach sich. Doch nun war die angeborene Neugier des Mädchens geweckt, und so legte Chloe ihren Kopf leicht zur Seite und fragte ahnungsvoll: „Was war mit uns Beiden, während der Fete? Heraus damit, Chris!“

Christian sah Chloe eindringlich an. „Ich möchte vorausschicken, dass ich gestern Abend nicht ich selbst war. Es war, als habe Irgendjemand das Kommando über mich übernommen. Ich weiß nur noch, dass du mich, als wir in der Kent-Scheune miteinander tanzten, immer weiter zur Seite der Galerie gedrängt hast. Dann hast du mich an die Hand genommen, und bist mit mir hinter einem Haufen von Heuballen verschwunden. Nun ja, ich habe mich andererseits auch nicht dagegen gewehrt. Ich spare mir die weiteren Details und belasse es dabei zu sagen, dass wir miteinander geschlafen haben.“

Chloe Sullivan, die mit wachsendem Unglauben zugehört hatte, kam einen halben Schritt näher zu Christian. Forschend in die Augen des Jungen blickend fragte sie heiser: „Sag das nochmal, Chris.“

Sie sah, wie sich die Wangen des Jungen röteten und sein Blick verriet ihr, dass er sich keinen schlechten Scherz mit ihr erlaubte. „Nein, sag es besser nicht, Chris. Oh, mein Gott, jetzt weiß ich auch, warum ich keinen Slip anhatte, als ich vorhin nach Hause kam.“

Die Röte auf den Wangen des Jungen wurde etwas intensiver. „Tut mir leid, deinen roten String-Tanga habe ich wohl gestern...“

Christian machte eine vielsagende Handbewegung, die andeutete, wie er den Slip über die Heuballen geschnippt hatte, und Chloe kommentierte sie gereizt: „Danke für die Info.“

Für einen Moment blieb es still zwischen ihnen, bevor Christian auf den eigentlichen Grund dieses Gesprächs kam. „Chloe, wegen dem, was passiert ist, bleibt eine wichtige Frage zu klären. Denn im Eifer des Gefechts habe zumindest ich nicht an Verhütung gedacht.“

Der Blick des Mädchens wurde undeutbar. Noch etwas näher zu Christian heran tretend erklärte sie heiser: „Schön, dass wenigstens einer von uns Beiden nicht so gedankenlos unterwegs ist. Seit meinem Ersten Mal nehme ich die Pille. Was offensichtlich nicht verkehrt ist, wenn man in einem so verrückten Nest wohnt, wie Smallville eins ist.“

Christian blickte Chloe inständig an. „Bitte, versteh das jetzt nicht falsch, doch ich bedauere aufrichtig, was passiert ist. Ich liebe Alicia, und ich verstehe einfach nicht, was da in der Scheune passiert ist.“

„Da sind wir schon Zwei.“

Chloe wirkte weniger wütend, als deprimiert. „Ich weiß, dass du auf Alicia abfährst. Auch ich weiß nicht, was da gestern passiert ist. Und ich kann mich nicht einmal daran erinnern. Ich war aber eindeutig nicht ich selbst.“

Das war nicht übertrieben, denn der Geist einer Hexe, die vor vierhundert Jahren, in Frankreich, auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war, hatte ihren Körper übernommen. Doch das würde Christian nie und nimmer glauben, darum schwieg sich Chloe dazu aus. Christian fragend ansehend erkundigte sie sich leise: „Wie gehen wir damit um, Chris? Vielleicht wäre es nicht verkehrt, wenn das unter uns bleiben würde.“

Christian nickte nachdenklich. „Ja, mit einer Ausnahme. Ich kann und will das nicht vor Alicia geheim halten. Ich habe ihr versprochen, dass ich stets aufrichtig zu ihr sein will, und das hier ist eine Spur zu krass, um es unter den Tisch fallen zu lassen.“

„Wenn in den nächsten Tagen im LEDGER zu lesen ist, dass ich von einer aufgebrachten Klassenkameradin umgebracht wurde, war´s die falsche Entscheidung“, spottete Chloe mürrisch.

Christian schluckte. „Vielleicht sollte ich jetzt besser gehen.“

Chloe nickte zustimmend, trat dabei aber gleichzeitig dicht an ihn heran. „Ja, aber vorher will ich etwas wissen, Chris. Wenn es für dich Alicia nicht geben würde – was hättest du mir dann heute Nachmittag gesagt?“

Der Junge wusste darauf keine Antwort. Für einen langen Moment sah er nur bittend in die Augen des Mädchen, wobei er in sich hinein horchte. Nach einer Weile legte er sacht seine linke Hand auf Chloes Wange und küsste sie, beinahe gehaucht, auf die andere. Als er seine Hand langsam wieder zurück zog und in die blau-grünen Augen der Schulkameradin sah, glitzerten Tränen darin. Fast flüsternd sagte Christian: „Es tut mir leid, Chloe. Dich zu verletzen war nie meine Absicht, denn ich habe dich wirklich sehr gerne.“

„Autsch“, erwiderte das Mädchen ironisch und lächelte tapfer. Dann räusperte sich Chloe und meinte: „Komm, ich bring dich noch zur Tür.“

Unten angekommen sah die Blondine fragend zu dem Jungen auf. „Warum stehen die Jungs, auf die ich stehe, nicht auf mich, Chris? Kannst du mir das vielleicht verraten?“

Christian schüttelte sanft den Kopf. „Ich fürchte, nicht. Aber ich bin mir ganz sicher, dass dein strahlender Held bereits irgendwo auf dich wartet. Wie wäre es denn mit einem Typ, wie Robin Hood?“

„Ein grüner Bogenschütze?“, entgegnete Chloe spöttisch. „Nein, danke.“

Christian hob die Schultern. „War ja auch nur so ein Gedanke.“

„Dann denk mal schleunigst in eine andere Richtung.“ Etwas näher zu Christian gehend fragte sie leise: „Bekomme ich noch einen auf die andere Wange?“

Es dauerte einen Moment, bis Christian begriff, was sie meinte. Angedeutet lächelnd gab er zurück: „Das schulde ich dir wohl, zumal du dich ja nicht einmal erinnern kannst, was wir gestern in der Scheune erlebt haben.“

Einen Moment später berührten seine Hände dich Schultern des Mädchens und er küsste sie sanft auf die rechte Wange.

Als er sie wieder ansah, antwortete Chloe, halb gespielt, halb ernsthaft, verstimmt: „Ja, lass uns nie wieder darüber reden, okay?“

Christians Rechte streichelte sacht Chloes Schulter, bevor er seine Hände zurückzog. „Bleiben wir Freunde?“

Die Augenbrauen des Mädchens hoben sich. „Sind wir je Freunde gewesen?“

Christian grinste schief und seufzte: „Schon klar, Chloe. Auf blöde Fragen gibt es auch blöde Antworten, stimmt´s?“

„Aber so was von!“

Das Mädchen öffnete die Haustür und Christian verstand den Wink. „Wir sehen uns dann morgen in der Schule.“

„Viel Glück dabei, es Alicia zu erklären“, gab Chloe zurück und lächelte Christian aufmunternd zu.

„Danke, Chloe.“

Der Junge beobachtete, wie die Tür sich schloss und nachdenklich schritt er zu seinem Pickup. Dabei ahnte er, dass dieses Gespräch das einfachere von zwei Gesprächen gewesen war, die er sich vorgenommen hatte zu führen.
 

* * *
 

Die halbe Nacht über hatte Christian wach gelegen, und erst am frühen Morgen war er in einen unruhigen Schlaf gefallen. Dementsprechend gerädert fühlte er sich, als um neun Uhr, an diesem Sonntagmorgen der Wecker summte.

Nachdem er geduscht, seine Morgentoilette beendet, und sich danach angekleidet hatte, machte er sich in der Küche erst einmal einen starken Kaffee. Hunger hatte er nicht besonders, weshalb er sich nur eine Banane aus der Obstschale nahm. Nach dem bescheidenen Frühstück verschwand Christian nochmal im Bad und wartete schließlich ungeduldig im Wohnraum seines kleinen Hauses, bis es schließlich an der Tür klingelte.

„Komm rein!“, rief Christian in Richtung der Tür. Es war Punkt zehn Uhr am Vormittag, und für diese Zeit hatte er sich mit Alicia verabredet.

Die Tür öffnete sich und es war tatsächlich Alicia Sterling, die eintrat. Sie wirkte ziemlich nervös, und mindestens ebenso übernächtigt, wie der Junge. Gezwungen lächelnd schälte sie sich aus ihrer Winterjacke und sagte: „Guten Morgen, Chris.“

Christian erwiderte den Gruß mit einem Kopfnicken und deutete auf das gemütliche Ledersofa. „Setzen wir uns lieber, Alicia. Ich habe Kaffee gemacht, möchtest du welchen?“

Beinahe dankbar, denn es schob den Moment, in dem sie alle Fakten auf den Tisch legen musste, noch etwas hinaus, erwiderte Alicia: „Ja, sehr gerne.“

Sie legte ihre Jacke über die Lehne eines Sessels. Das Mädchen hätte vermutlich nicht schlecht gestaunt, hätte sie in diesem Moment bereits geahnt, dass Christian aus exakt demselben Grund erleichtert war. Er verschwand hinter den Holzbalken, die den Küchenbereich vom Wohnraum abtrennten, goss zwei Tassen mit Kaffee ein und kehrte mit ihnen zum Sofa zurück. Die Tassen auf dem Tisch abstellend setzte er sich zu Alicia auf das breite Sofa, allerdings an das entgegengesetzte Ende.

Sie nahmen beide einen Schluck von dem starken Kaffee und als Alicia auch danach keine Anstalten machte, das Gespräch zu eröffnen, atmete Christian tief durch und entschloss sich den Anfang zu machen.

„Alicia, als ich gestern sagte, dass wir reden müssen, da meinte ich nicht, dass nur du mir etwas zu sagen hast. Auch ich werde dir etwas beichten müssen, denn diese verrückte Fete, vorgestern, hat mehr angerichtet, als du vielleicht ahnst. Ich bitte dich zuvor darum, egal was du nun erfährst, nicht zu gehen, bevor wir über Alles geredet haben. So ruhig und so sachlich es uns möglich ist.“

Alicia, die heute jene Sachen trug, die sie bei ihrer ersten Verabredung angehabt hatte, sah Christian mit leicht hochgezogenen Augenbrauen an, sagte aber auch jetzt nichts.

Darum begann der Junge schließlich, und erklärte: „Auf der Fete, in der Kent-Scheune, da ist etwas mit mir passiert. Das heißt, wohl nicht nur mit mir, sondern mit jeder Person, die dort war, würde ich sagen. Ich habe dich zusammen mit Deion dort gesehen, und ich weiß noch, dass ich zu dir wollte, um mit dir zu reden. Doch dann geschah etwas. Mit dem Auftauchen von Lana, Lois und Chloe. Ich weiß nicht, wie du es empfunden hast, doch ich kam mir hinterher so vor, als hätte ich bei der Party unter einem Bann gestanden.“

Christian bemerkte die ungläubigen Blicke von Alicia. Schnell stellte er seine Tasse auf die Glasplatte des niedrigen Tisches, der zur Sitzecke gehörte. Er hob die Hände und sagte eindringlich zu dem Mädchen: „Ich weiß selbst, wie das klingt, doch es war so. Chloe und ich haben miteinander getanzt, und nach einer Weile, da...“

Christian unterbrach sich und sah bittend in Alicias Augen, in denen er aufkeimende Erkenntnis zu sehen glaubte. Dabei fiel es ihm schwer ihren forschenden Blicken, mit denen sie ihn bedachte, standzuhalten. Er atmete tief durch, bevor er zugab: „Chloe hat mich verführt, und ich habe mich von ihr verführen lassen. Darum war ich gestern Nachmittag bei ihr, um mit ihr darüber zu reden, wie das passieren konnte. Sie wusste nicht einmal, dass das geschehen ist. Und ich bin mir ganz sicher, dass ihre Unwissenheit nicht vorgetäuscht war.“

Abwartend sah der Junge zu Alicia, nicht sicher, was er erwartete. Von überkippenden, schrillen Schreien, über laut vorgetragene Vorwürfe aller Art, bis zu gesalzenen Ohrfeigen für ihn, war in seinen Gedanken alles dabei. Doch nichts davon passierte. Es herrschte nur eine beinahe unnatürliche Ruhe zwischen ihnen.

Endlich sagte Alicia leise: „Ich glaube dir, Chris. Mir selbst ist es nämlich ganz genau so ergangen, an dem Abend. Ich bin mit Deion zu ihm gefahren, und wir haben dort miteinander geschlafen. Doch jetzt kommt es mir so vor, als wäre ich das gar nicht gewesen, sondern als hätte ich einer völlig Fremden dabei zugesehen. Wie in einem schlechten Film. Darum war ich auch gestern hier, um mit dir darüber zu reden, Chris. Ich...“

Das afro-amerikanische Mädchen schluckte und brachte kein weiteres Wort heraus. Stattdessen sah sie Christian nur aus unnatürlich großen Augen an, die sich rasch mit Tränen füllten. Mit beinahe erstickter Stimme fragte sie verzweifelt: „Was machen wir jetzt, Chris?“

Das Herz des Jungen krampfte sich zusammen, als er sah, wie zwei Tränen über Alicias Wangen rannen. Am liebsten hätte er sie in den Arm genommen, doch er fühlte sich wie paralysiert. Nach seiner Tasse greifend, wobei er sie fast vom Tisch stieß, schüttelte er den Kopf und sagte rau: „Ich weiß es nicht, Alicia. Momentan dreht sich alles in meinem Kopf, und ich finde keinen Ausweg aus dieser verzwickten Situation. Ich weiß nur, dass ich nicht das für Chloe empfinde, was ich für dich empfunden habe, als wir zusammen waren.“

Abwartend sah er in Alicias Augen, auf eine Antwort wartend, die aber nicht kam. Trotzdem dauerte es eine geraume Weile, bis er begriff. Ahnungsvoll fragte er: „Aber du empfindest mehr für Deion, als ich dachte, habe ich recht?“

Die unnatürliche Ruhe, mit der Christian diese Frage vorbrachte kam Alicia fürchterlicher vor, als hätte er sie einfach angeschrien. Sich die Tränen mit dem Ärmel ihres blauen Pullovers abwischend nickte sie stumm. „Als ich mich nicht an dich erinnern konnte, Chris, da habe ich mich mit ihm so verbunden gefühlt, wie mit dir. Doch seit gestern Morgen weiß ich rein gar nicht mehr, was ich momentan fühle.“

Christian blickte Alicia an und sagte traurig: „Ich liebe dich, Alicia. Aber diese Entscheidung kann nicht ich treffen, und auch nicht Deion. Sondern ganz allein du.“

Alicia konnte nichts erwidern. Ihre Finger umkrampften die Tasse mit Kaffee, bis das Zittern ihrer Hände etwas nachließ. Gepresst erwiderte sie: „Du hast Recht, Chris, doch das kann ich nicht sofort. Ich brauche einfach nur etwas Zeit.“

Christian blickte sie stumm an.

Erneut den Tränen nah, sagte Alicia fast lautlos: „Ich wollte, du würdest dich aufregen und sauer auf mich sein. Oder mich anschreien, dann wäre es leichter zu ertragen.“

Mit einem verzweifelten Grinsen gab Chris zurück: „Denkst du denn, mir würde es im Moment nicht ganz genauso ergehen?“

Alicia trank ihre Tasse aus und stellte sie auf den Tisch. Für einen Moment lang stumm auf die Glasplatte sehend erhob sie sich abrupt und meinte: „Es wird besser sein, wenn ich dich jetzt allen lasse.

Den Jungen wieder ansehend fügte Alicia, nun entschlossen wirkend hinzu: „Ich möchte nicht, dass es wieder so wird, wie in den letzten Wochen, Chris. Ich will nicht, dass wir uns aus dem Weg gehen, bitte versprich mir das, egal, wie auch immer diese gesamte Angelegenheit ausgehen wird.“

Der beinahe flehende Blick des Mädchens ging Christian durch und durch. Er rang sich ein Lächeln ab. „Dann werden wir das auch nicht. Wir gehen einfach miteinander um, wie Freunde, denn zumindest das sind wir immer noch. Oder nicht?“

Befreit lächelnd erwiderte Alicia: „Ja, und das wird sich auch niemals ändern. Nicht von meiner Seite, Chris.“

„Dann ist zumindest das geklärt.“

„Ja“, gab Alicia leise zurück und griff nach ihrer Jacke.

Ganz automatisch half Christian ihr dabei, hinein zu schlüpfen und als sich das Mädchen wieder zu ihm umdrehte sahen sie sich an, und beide spürten in diesem Moment einen Hauch ihrer früheren Verbundenheit zueinander.

Der Junge brachte Alicia noch zur Tür. Als sie auf der Veranda standen, sagte Christian bittend: „Pass auf dich auf, Alicia, und halte mich bitte auf dem Laufenden.“

Alicia wusste, was Christian mit seinem letzten Satz meinte und sie versicherte ihm: „Das werde ich, Chris. Wir sehen uns.“

Als sie ging, blickte Christian ihr nach und ein schmerzliches Gefühl breitete sich dabei in ihm aus. Er liebte Alicia unvermindert stark, dessen war er sich sicher, und er wünschte sich in diesem Moment, in die Zukunft blicken zu können, um zu sehen, wie all das am Ende ausgehen würde...

Tempus Fugit


 

1.

TEMPUS FUGIT
 

„Gleich wirst du erleben, dass ich Recht habe, Chris. Dieser Kristall aus grünem Meteoritengestein wird die Kraft eines normalen Lasers um das Fünffache übertreffen.“

Christian von Falkenhayn, der zusammen mit Lex Luthor in dem Kontrollraum des Labors stand, das zum Trust von LuthorCorp gehörte, sah fasziniert auf den Testaufbau. Geschützt durch Panzerglassit-Scheiben, die gut und gerne einen Zoll stark waren. Diese Scheiben waren das Neueste auf dem Markt, denn sie besaßen in einer Zwischenschicht neuartige Flüssigkristalle, die auf Veränderungen von Helligkeit umgehend reagierten. Bei einem Anstieg der umgebenden Helligkeit tönten sich diese Scheiben automatisch. Auf diese Weise schützten sie die Menschen im Kontrollraum, eventuell von irgendwelchen unkalkulierbaren Effekten, bei der Aktivierung des Lasers, geblendet zu werden.

Im Grunde hätte Christian die spontane Einladung von Lex Luthor, für diesen Sonntag-Nachmittag, gar nicht angenommen, wenn er nicht gerade höchst deprimiert gewesen wäre, und es mit Alicia momentan nicht gerade Differenzen gegeben hätte. Doch so, wie die Dinge momentan lagen, hatte er sowohl die nötige Zeit, als auch die Muße, sich durch dieses Treffen etwas von seinen privaten Problemen abzulenken. Wenn er bisher im SMALLVILLE-LEDGER einen Artikel über eine von Lex Luthors Affären zu Frauen gelesen hatte, so hatte er dabei bisher stets eine missbilligende Miene aufgesetzt. Gerade im Moment verstand er ganz gut, warum sich Lex nicht wirklich ernsthaft in Herzensangelegenheiten engagierte, sondern warum er Frauen als sehr austauschbar betrachtete. Er selbst würde zwar nie dahin finden – doch er verstand es.

Mehrere Laboranten und Laborantinnen befanden sich mit den beiden jungen Männern im Raum, doch sie beachteten sie nicht. Lediglich der Leiter des Projektes, eine asiatische Frau, von Ende Dreißig, warf ihrem Chef hin und wieder einen Blick zu. Schließlich trat sie zu ihnen und wandte sich an Lex: „Wir sind soweit, Sir.“

Lex Luthor, der Sohn des Multi-Milliardärs Lionel Luthor, und seit sein Vater im Gefängnis war, der Geschäftsführer des gesamten Firmenimperiums, grinste beinahe Lausbubenhaft als er sich ihr zuwandte. „Dann fangen Sie an, Doktor Fushida.“

Die hagere Frau bestätigte und gab über die Tastatur des Hauptcomputer-Terminals den Befehl ein, das Experiment automatisch anzufahren.

Christian trat etwas näher an die Scheiben heran und betrachtete fasziniert den sich aufbauenden, grünen Laserstrahl, den er nur dank eines schwachen Dunstes, der von den Apparaturen künstlich erzeugt wurde, sehen konnte. Er war auf einen Kristall gerichtet, der nun in einem grünen Licht erstrahlte, und erst jetzt begriff der Deutsche, dass dieser Ziel-Kristall ebenfalls aus Kryptonit bestand. Zunächst glaubte Christian an eine Sinnestäuschung aber dann wurde ersichtlich, dass der Kristall zu pulsieren schien und dunkler dabei wurde.

Sich zu Lex Luthor wendend fragte der Blonde: „Ist das normal?“

Fast gleichzeitig rief die Doktorin mit heller Stimme aus: „Sir der Ziel-Kristall überhitzt! Wir müssen abbrechen!“

„Unsinn!“, wehrte der Kahlköpfige energisch ab. „Wir machen weiter, Doktor. In diesem Raum sind wir sicher, egal was passiert!“

„Auf Ihre Verantwortung, Mister Luther!“, gab die Doktorin unwillig zurück.

Der Mittzwanziger legte seinen Kopf leicht in den Nacken und entgegnete, mit sarkastischem Unterton: „Zerbrechen Sie sich nicht meinen Kopf, Doktor Fushida.“

Christian von Falkenhayn hörte dem Disput nur halb zu. Unverwandt blickte er auf den Kristall, der nun wieder im gewohnten Grün erstrahlte und in einem schnelleren Lichtwechsel pulsierte, so als würde er leben. Für einen Moment wurde das Licht so gleißend, dass selbst die Scheiben diese Helligkeit nicht vollkommen abblenden konnten, und Christian kniff seine Augenlider zusammen.

Hinter dem Rücken des Deutschen erlebte Lex Luthor diesen kurzen Moment ganz anders. Von seiner Position aus wurde der Ziel-Kristall von Christians Körper verdeckt, und für einen kurzen Augenblick schien es dem Milliardär so, als würde der Körper des vor ihm Stehenden halb transparent. Lex wischte sich über die Augen und sah Christian dann wieder an. Alles schien wie zuvor, und Lex sagte sich, dass er einer Sinnestäuschung zum Opfer gefallen war. Zumal ihm Christian in diesem Moment das Gesicht zu wandte und ihn durchdringend ansah. Alles schien in bester Ordnung zu sein.

Christian war indes vollkommen anderer Meinung. Und das zurecht, denn in dem kurzen Moment, in dem sein Körper tatsächlich halb transparent gewesen war, hatte sich weitaus mehr ereignet, als Lex Luthor und alle anderen Anwesenden in diesem Raum, auch nur im Entferntesten ahnten.

Es war wie ein plötzlich auftretender, stechender Schmerz gewesen. Gleich darauf hatte Christian das Gefühl gehabt, schwerelos durch einen düster grünen Strudel zu fallen. Ein Schwindelgefühl überkam ihn, das gleich darauf wieder verschwand. Er glaubte in dem Strudel Gesichter zu erkennen. Zuerst hielt er dies für Einbildung, doch dann erkannte er, immer deutlicher werdend, das Abbild von Alicia vor sich. Eine Alicia, die sich vor seinen Augen veränderte und älter wurde. Christian glaubte zu erkennen, dass sie ihr graues Lieblings-Big-Shirt trug, das über ihre linke Schulter gerutscht war.

Christian wollte ihr etwas zurufen, doch er hatte keine Stimme, und mit einem überwältigenden Gefühl von Panik bemerkte er, dass er auch keinen Körper mehr besaß. Doch er konnte denken, fühlen, sehen und hören – auf eine Art und Weise, die seinen Verstand überstieg. Was passierte hier nur mit ihm? Hatte der Kristall damit zu tun?

Vor ihm wurde aus dem achtzehnjährigen Mädchen eine junge Frau in den Zwanzigern, dann in den Enddreißigern. So vermutete Christian zumindest. Die dunklen Augen der Frau, der immer noch unverkennbar Alicias Züge anhafteten, die aber gleichzeitig nun auf eine unglaubliche Weise anders wirkte, sahen durch ihn hindurch. Dabei brachten sie eine Erfahrung zum Ausdruck, die jene Alicia, die er kannte, niemals hätte besitzen können.

Das Abbild der Frau verschwand und zwei weitere Gesichter, die von zwei hübschen jungen Mädchen tauchten dafür auf. Sie sahen der Frau ähnlich, doch sie wirkten auch individuell anders auf ihn. Dann verschwanden auch sie.

Ein plötzlich einsetzendes, schmerzhaftes Ziehen erfasste ihn. Hatte er wieder einen Körper der Schmerzen empfinden konnte?

Einen Augenblick später wurde alles um ihn herum schwarz, und der Junge versank in tiefe Bewusstlosigkeit. Er bekam nicht mit, wie sich Christian von Lex Luthor zu Doktor Fushida wandte und drängend verlangte: „Stellen Sie den Laser ab, Doktor!“

Christian hatte mit einer solchen Schärfe in der Stimme gesprochen, dass Ishiko Fushida umgehend den Laser deaktivierte, ohne auf die Bestätigung ihres Chefs zu warten, was ihr einen fragenden Blick von Lex Luthor einbrachte.

Er widerrief Christians Anweisung jedoch nicht. Stattdessen trat er zu dem Jungen und sah ihn auffordernd an. „Was ist passiert, Chris? Warum sollte Doktor Fushida so dringend den Laser abschalten?“

Statt seiner antwortete die Projektleiterin: „Seien Sie froh, dass Ihr Freund mich so eindringlich dazu aufforderte. Der Kristall war dabei energetisch zu überladen. Noch einige Augenblicke und er wäre mit einer so gewaltigen Sprengkraft explodiert, dass es uns bis auf den Mond verschlagen hätte. Er hat uns das Leben gerettet, mit seiner Reaktion.“

In demselben Moment dachte Christian: Aber für mich ist es trotzdem zu spät. Es ist also tatsächlich wieder Alles so passiert, wie ich es in Erinnerung hatte. Ich sitze hier nun für zwei Tage in der Vergangenheit fest. Immerhin dürfte es interessant werden, nun, nach mehr als fünfundzwanzig Jahren, endlich auch den Rest diese Abenteuers zu erleben.
 

* * *
 

Christian von Falkenhayn kam wieder zu sich, als es Draußen dämmerte. Jedoch wusste er nicht, ob es Abend, oder Morgen war. Außerdem fragte er sich, nachdem seine gewohnten Denkprozesse offensichtlich wieder funktionierten, was passiert war, und wo genau er sich im Moment befand. War er ohnmächtig geworden, und Lex hatte ihn mit zu sich nach Hause genommen? Falls es so war, musste er ihn dringend fragen, wo er das Bett gekauft hatte, denn das war ultra-bequem.

Christian horchte für einen Moment in sich hinein. Er spürte keinerlei Schmerzen, also begann er sich, auf dem Rücken liegend, umzusehen.

Er lag allein, und nur mit einer leichten Pyjama-Hose bekleidet, in einem breiten Doppelbett. Obwohl er sich sicher war, noch niemals in diesem Bett gelegen zu haben, wirkte die Umgebung seltsam vertraut. Langsam erhob sich Christian. Für einen Moment blieb er grübelnd auf der Bettkante sitzen, bevor er entschlossen aufstand und zum Fenster hinüber schritt. Als er es erreichte schob er die bodenlange Spitzengardine vor dem Fenster beiseite und blickte hinaus.

Was, zum Teufel, mache ich in Tante Annettes Haus, und in Metropolis? Noch wohne ich in Smallville. Wer ist also auf die glorreiche Idee gekommen, mich hierher zu bringen?

In Gedanken begab sich Christian zum Kleiderschrank und öffnete ihn. Für eine Weile hinein sehend dachte er: Das ist jetzt interessant.

Vor seinen Augen breitete sich eine bunte Palette von Blusen, Kleidern, Röcken und Damenhosen aus. Erst als er die andere Hälfte, oder besser gesagt, das andere Drittel des Kleiderschranks öffnete, atmete er erleichtert aus. Ich dachte schon…

Christian nahm eine der Herren-Anzughosen und hielt sie sich an. Scheint tatsächlich meine Größe zu sein. Aber seit wann trage ich denn solche Spießer-Klamotten?

Unbewusst den Schrank schließend ging er wieder hinüber zum Fenster. Es machte auf ihn den Eindruck, als würde es Draußen nicht dunkler werden, sondern heller. Prüfend blickte er zur Skyline von Downtown-Metropolis hinüber. Ihm fiel nichts Besonderes auf, Alles schien an seinem gewohnten Platz zu sein. Der Falken-Tower und ein Stück weiter das Gebäude des DAILY-PLANET, gleich neben dem höchsten Gebäude der Stadt. Dem Firmensitz auf dem, im altbekannten Stil, der Name LexCorp stand.

Christian wandte sich bereits ab, als ihm erst richtig bewusst wurde: LexCorp? Moment mal, seit wann heißt der Laden denn nicht mehr LuthorCorp?

Erneut sah Christian hinüber und kniff seine Augenlider etwas zusammen. Kein Zweifel da stand, in großen Lettern, LexCorp auf dem Dach, und nicht LuthorCorp. Grübelnd fragte sich Christian: Was bedeutet dieser seltsame Namenswechsel? Und wem, zur Hölle, gehören all diese Frauenklamotten, die ich im Schrank gesehen habe?

Der Deutsche fuhr sich über die Augen und kam zum Schluss, dass er zuerst einmal duschen wollte und danach würde er sich einen großen Kaffee machen. Danach konnte er sich an die Beantwortung dieser Fragen machen.

Er ging zum Bett zurück um die Hausschuhe anzuziehen, die dort standen. Dabei fiel sein Blick auf eine ziemlich abgefahren aussehende Herrenuhr, die 06:47 Uhr anzeigte, und auf einen goldenen Ring. Christian von Falkenhayn griff nach dem Ring, betrachtete ihn interessiert und schob ihn probehalber über den rechten Ringfinger. Er schien etwas eng zu sein, deshalb wechselte er zum linken Ringfinger, wo der Ring offensichtlich genau passte.

Verlobt? Das ging aber fix.

Christian schüttelte den Kopf, legte den Ring zurück und machte sich auf den Weg ins Badezimmer. Nicht damit rechnend, auf Jemanden um diese Uhrzeit wach in diesem Haus anzutreffen, blieb er wie angewurzelt stehen, als er ein afro-amerikanisch aussehendes Mädchen bemerkte, die, mit einem Glas Fruchtsaft in ihrer Hand, vor seinen Augen in den Wohnraum hinein schritt.

Als Christian seine Sprache wiederfand, fragte er halblaut: „Alicia?“

Das Mädchen wandte sich ihm zu. In demselben Moment bemerkte Christian, dass es sich nicht um Alicia handelte, obwohl eine deutliche Ähnlichkeit bestand. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass er dieses Mädchen irgendwie schon einmal gesehen hatte. Aber nicht real, sondern bevor er das Bewusstsein verloren hatte, während des Experimentes von Lex.

Mit einer Bewegung, die durchaus zu Alicia gepasst hätte, stemmte das schlanke, hochgewachsene Mädchen die Hände in die Hüften und meinte ironisch: „Immer noch Andrea, wenn es keine Umstände macht. Mal ernsthaft: Du willst mein Dad sein? Du kannst mich ja nicht mal von Mom unterscheiden? Schon vergessen, dass Mom erst heute Mittag aus Paris zurück kommt?“

Geistesgegenwärtig gab Christian zurück: „Ich habe schlecht geschlafen, und bin heute Morgen noch nicht richtig in der Spur.“

„Solltest du aber, denn du hast dich für heute Morgen mit Diane Bennings verabredet, und die schlägt in einer dreiviertel Stunde hier auf.“

Dieses Mädchen spricht wie ich, stellte Christian fest. Abwesend sagte er: „Deshalb war ich auf dem Weg zum Bad.“

Damit setzte er sich, völlig verwirrt, in Bewegung. Erst nach einem langen Moment tröpfelten ihre Worte wieder in sein Gedächtnis, und eine eisige Hand schien nach seinem Herzen zu greifen. Sagte sie eben, ich sei ihr Dad?

Christian öffnete die Tür zum Badezimmer, doch er blieb im Türrahmen stehen, als er das splitternackte Mädchen sah, das eben aus dem Duschbereich kam und zu dem weißen, flauschigen Badetuch griff.

„Morgen, Paps! Komm rein, ich bin gleich fertig.“

„Ich… äh, tut mir leid, ich verschwinde sofort“, erwiderte Christian verlegen, während sich das Mädchen, das etwas jünger zu sein schien, als das, welches ihm im Wohnraum begegnet war, ganz zwanglos weiter abtrocknete. Sie ähnelte dem Mädchen, das sich ihm als Andrea vorgestellt hatte.

„Du tust gerade so, als hättest du mich noch nie nackt gesehen.“

Habe ich ja auch nicht, dachte Christian verwirrt, während ihm Fragen über Fragen durch den Kopf gingen. „Ich werde das obere Badezimmer benutzen.“

Damit verließ er das Bad und schloss schnell die Tür hinter sich. Dabei grübelte er: Zuerst Dad und dann Paps, da stimmt doch was nicht.

Christian stürmte förmlich die Treppe zur oberen Etage des Hauses hinauf und warf einen vorsichtigen Blick in das Badezimmer. Gut, niemand drin.

Erleichtert darüber, für einen Moment ungestört zu sein, blickte er in den Spiegel des Badezimmerschranks, taumelte zurück, und erstarrte. Das Gesicht des Mannes, das ihn ansah, war nicht das seine. Irgendwie doch, aber das Alter stimmte auf keinen Fall, denn das Gesicht gehörte keinem Teenager, sondern einem Mann von rund vierzig Jahren.

Unerwartete Begegnungen


 

2.

UNERWARTETE BEGEGNUNGEN
 

Christian von Falkenhayn wusste nicht zu sagen, wie lang er vor dem Spiegel verharrt hatte, als er endlich zu sich fand. Ganz langsam wurde ihm bewusst, dass das Experiment mit dem verdammten Laser mehr mit ihm angestellt hatte, als er bisher gedacht hatte. Er hatte zuvor bereits einige Verrücktheiten erlebt. Das beste Beispiel dafür war der willkürliche Körpertausch mit Clark Kent, den er im Sommer eine Zeitlang erlebt hatte. Doch das hier überstieg sein Fassungsvermögen. Was war mit ihm geschehen? Hatte er eine Art Zeitreise erlebt? Das würde diese seltsamen Vorgänge erklären, doch der Gedanke schien ihm viel zu abgefahren. Trotz aller bisherigen Erlebnisse in Smallville.

Wieder vor den Spiegel tretend, tastete er sein Gesicht ab, um sich zu vergewissern, ob er nicht träumte, und fuhr er sich dann mit der Hand über die Wangen. Fühlt sich an wie „Achtziger Schmirgel“. Rasieren wäre wohl eine gute Option.

Christian stellte fest, dass es hier oben keinen Rasierapparat oder ähnliche Gerätschaften gab, und so verschob er diesen Punkt auf später.

Unter der Dusche stehend und sich das Wasser über den Körper rieseln lassend fand er wieder etwas zu sich. Dabei überlegte er: Ich befinde mich im Körper eines erwachsenen Mannes von rund Vierzig. Unten hüpfen zwei Mädels durch mein Haus, die mich als ihren Vater bezeichnen, und auch so mit mir reden. Aus LuthorCorp wurde indes LexCorp. Also entweder passiert das alles gerade wirklich, oder das ist die am aufwendigsten inszenierte Verarsche, die jemals auf dieser Erde stattgefunden hat.

Christian rief sich die Ereignisse in Erinnerung, die sich, nach seinem Kenntnisstand, zuletzt abgespielt hatten. Da war das Experiment von Lex gewesen. Dann dieses grelle Licht, trotz der Sicherheitsscheiben und zuletzt diese seltsame Schwebesequenz, bei der er genau jene Mädchen gesehen hatte, die nun in seinem Haus herumliefen. Nicht zu vergessen eine sich, vor seinen Augen, verändernde Alicia. Nun, vielleicht würde sich das Alles aufklären, sobald er mit Diane Bennings gesprochen hatte.

Nach der Dusche, vor dem geöffneten Schrank des Schlafzimmers stehend, in dem er zu sich gekommen war, gab er es nach einer Weile auf, eine Bluejeans finden zu wollen. Er wählte stattdessen eine des anthrazitfarbene Anzughose. Dazu trug er ein dunkelgraues italienisches Hemd mit einem feinen Fischgrätenmuster.

So bekleidet ging er nach unten, versicherte sich, dass die beiden Mädchen in der Küche zusammensaßen und frühstückten, und suchte das Bad auf dieser Etage auf. Hier fand er, was er oben vergeblich gesucht hatte: Rasierutensilien.

Es dauerte eine Weile, bis er mit dem elektronischen Rasierapparat alle Bartstoppeln erwischt hatte, wobei er ironisch sein Spiegelbild angrinste und dachte: Du siehst ziemlich gut aus, für dein Alter, mein Alter.

Zufrieden mit seinem Werk begab sich Christian schließlich zu den beiden Mädchen, die behaupteten, seine Töchter zu sein. Dabei versuchte er sich daran zu erinnern, wie sein Vater stets mit ihm geredet hatte. Er wollte nicht auffallen.

Zu seiner Erleichterung waren die beiden Mädchen gerade im Begriff, ihre Jacken anzuziehen und sich ihre Schulsachen zu schnappen.

Die Jüngere war es, die ihn kritisch musterte und fragte: „Heute kein helles Hemd, Paps? Ist jemand gestorben?“

„Ja, mein Sinn für Humor“, konterte Christian unbedacht, was ihre ältere Schwester zu einem hellen Lachen reizte. „Ich finde, dunkle Farben stehen dir besser, Dad.“

„Wenigsten eine.“

Die beiden Mädchen kamen zu ihm und umarmten ihn und drückten ihm Küsschen auf die Wangen, bevor sie zum Foyer gingen. „Bis nachher!“, riefen sie wie aus einem Mund, und Andrea fügte grinsend hinzu: „Jeremy wartet sicher schon ungeduldig im Wagen, um uns zur Schule zu fahren.“

Christian winkte ihnen kurz zu und sah ihnen nach, als sie das Haus verließen. Er hörte, wie die Mädchen, beim Verlassen des Hauses jemanden begrüßten, und im nächsten Moment schritt eine hagere Frau zu ihm in die Küche, die er sofort wiedererkannte. Sich einen großen Kaffee eingießend, sagte er: „Hallo, Diane, wie geht es Ihnen? Möchten Sie auch einen Kaffee?“

„Ja, bitte.“

Die Frau, die Christian als Enddreißigerin in Erinnerung hatte, jetzt aber eher nach sechzig Jahren, oder etwas darüber aussah, musterte ihn eindringlich. Als er ihr den Kaffee reichte, erkundigte sie sich: „Die Frage ist aber eher, wie es dir geht, Christian. Wenn du mich richtig informiert hast, dann bist du erst vor kurzer Zeit hier angekommen.“

Christian blickte die Frau überrascht an. „Sie wissen, was passiert ist? Und seit wann duzen wir uns denn?“

Die Frau nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. „Ja, du hast mir aufgetragen, dich genau heute, um diese Zeit, aufzusuchen, und dir zu erklären, was sich ereignet hat. Dazu gehört wohl auch die Information, dass wir uns seit über fünfzehn Jahren duzen.“

Achtlos nahm Christian einen Schluck von seinem Kaffee und gab einen unterdrückten Schmerzlaut von sich, als er sich den Mund verbrühte. „Verflixt! Davor hätten Sie mich… ich meine, hättest du mich mal lieber warnen sollen.“

„Das hast du wohl vergessen zu erwähnen“, konterte die Frau trocken. „Wo wollen wir denn in Ruhe reden? In deinem Arbeitszimmer?“

„Ja, ich bin mal gespannt, wie das eingerichtet ist.“

Diane ging voraus, und Christian folgte der, in ein elegantes Kostüm gekleideten, Frau, die nach seiner Rechnung nun fünfundsechzig Jahre sein musste. Offensichtlich wohnte sie nicht mehr in der Villa. Als sie den großen, modern eingerichteten Arbeitsraum erreichten, deutete Diane auf den breiten Arbeitstisch, der vor drei hohen Fenstern stand, und erklärte: „Das ist der Platz, an dem du arbeitest, wenn du nicht in deinem Büro, im Falkenhorst, bist.“ Dabei blickte sie vielsagend zur Seite, wo einige gerahmte Urkunden, an der Wand hingen.

Christian trat langsam zu der Wand hinüber und las, was auf den Urkunden stand. Nach einer Weile blickte er über die Schulter, in das schmunzelnde Gesicht der Frau. „Ich habe das also wirklich durchgezogen? Ich habe Jura studiert, an der Uni von Metropolis?“

„Mit Schwerpunkt auf Wirtschaftsrecht“, bestätigte Diane Bennings. „Du bist von der Anwaltskammer zugelassener Rechtsanwalt, doch praktiziert hast du nie. Nach deinem Abschluss hast du beschlossen, lieber in die Firma einzusteigen, und dir von Fynn Everett Specter alle Tricks und Kniffe beibringen zu lassen, die er in Hinsicht auf die Firmenführung drauf hat. Als Specter in Pension ging, da gab er sich zuversichtlich, dir alles Wichtige beigebracht zu haben.“

Christian wandte sich um und schritt zu dem breiten Ledersessel, der hinter dem Arbeitstisch, aus dunklem Edelholz stand. Eine Art Sonnenbrille lag auf der Platte, auf der außerdem einige Bilderrahmen standen. Auf der linken Seite gab es einen breiten Schlitz. Ansonsten war der Arbeitstisch leer und Christian erkundigte sich bei Diane: „Wenn das mein Arbeitstisch ist, wie arbeite ich daran. Kein Computer, kein Drucker, kein Telefon, kein gar Nichts. Das scheint mir seltsam.“

Ein amüsiertes Lachen war die Antwort. „Christian, wir schreiben September 2030. Die technische Entwicklung ist nicht stehengeblieben. Mehr, als die Multi-Funktions-Brille benötigst du nicht mehr. Den Befehl, etwas auszudrucken gibst du über die Sprachsteuerung der Brille. Wenn du dich gefragt haben solltest, wofür der Schlitz, oben links, in der Tischplatte sein sollte; nun ahnst du es vermutlich. Ich zeige dir später, wie die Brille funktioniert, jetzt habe ich zuerst noch einige weitere Informationen für dich.“

„Wow!“, machte Christian und setzte sich nachdenklich in den Sessel. „Also, dann erzähl mir mal, was ich wissen sollte. Fang mit dem heutigen Wochentag an.“

Diane Bennings machte übergangslos ein ernstes Gesicht. „Heute ist Freitag, und wenn es nach mir ginge, dann würde ich dich, für die nächsten zwei Tage, in einen dunklen Raum sperren, bis du wieder zurückgekehrt bist. Denn ich bin der Meinung, dass du gar nichts über deine Zukunft wissen solltest. Doch die Tatsache, dass du, innerhalb der letzten fünfundzwanzig Jahre, nicht pausenlos irgendwelche Gewinne durch Wetten auf Sportergebnisse kassiert hast, hat mich davon überzeugt, dass du nicht so unvernünftig bist, wie dieser Marty McFly aus dem Film: Zurück in die Zukunft.“

Christian nickte: „Ich verstehe, was du meinst.“

„Gut.“ Diane Bennings setzte sich, ihm gegenüber, in einen der beiden Sessel, auf der anderen Seite des Arbeitstisches. „In den vergangenen fünfundzwanzig Jahren hast du dir mein Vertrauen verdient, und nur deshalb habe ich dir – deinem älteren Du – versprochen, deiner Bitte nachzukommen, und dir ein paar Dinge zu erklären. Damit es nicht auffällt, dass du nicht der bist, der du sein solltest. Also okay: Wie du gemerkt haben dürftest, bist du mittlerweile der Vater von zwei reizenden Töchtern. Andrea und Eireen. Dass Alicia die Mutter ist muss ich wohl nicht erwähnen, denn die Ähnlichkeit der Beiden mit ihr spricht für sich, denke ich.“

Christian warf fragend ein: „Ich habe mich beim Namen unseres ersten Kindes durchgesetzt? Das hätte ich nicht erwartet.“

Sie hat sich durchgesetzt“, grinste Diane und sah belustigt in die Miene des Mannes, der ihr gegenüber saß. „Du hast den Vorschlag gemacht, sie nach ihrer verstorbenen Mutter auf Eireen zu taufen. Alicia bestand darauf, sie Andrea zu nennen. Nun, wer sich am Ende durchgesetzt hat, das hast du vorhin bemerkt.“

Christian nickte in Gedanken. „So war das also. Bitte erzähl mir, wie die Beiden so sind. Was haben sie von wem?“

„Dazu werde ich später etwas sagen“, versprach die grauhaarige Frau. „Vorerst nur so viel: Sie anders herum zu nennen wäre vielleicht gescheiter gewesen. Denn Eireen ist eindeutig ein Papa-Kind. Als sie klein war, ist sie dir überall hin nachgelaufen. Papa hinten, Papa vorne, Papa, Papa, überall Papa. Sie interessiert sich auch, im Gegensatz zu Andrea, sehr für europäischen Fußball. Bei der diesjährigen Weltmeisterschaft hat sie die Spiele mindestens genauso begeistert verfolgt, wie du.“

„Ha, endlich muss ich meine Mannschaft nicht mehr allein anfeuern“, lachte Christian, doch Diane brachte ihn schnell wieder auf den Boden zurück.

„Oh, doch, denn Eireen feuert natürlich ihre Mannschaft an. Das bedeutet, die Amerikanische Nationalmannschaft.“

„Diese Gurkentruppe? Sie ist offensichtlich sehr leidensfähig.“

Wieder grinste Diane amüsiert. „Du wirst dich wundern, Chris. Amerika wurde, vor vier Jahren, das erste Mal Fußball-Weltmeister, und in diesem Jahr hat unsere Mannschaft nur knapp gegen die Deutschen, im Finale, verloren.“

Das verblüffte Gesicht des Mannes hätte nicht besser zum Ausdruck bringen können, dass wirklich der jüngere Christian in ihm steckte. Bisher hatte Diane immer noch gewisse Vorbehalte gehabt, ob es wirklich so war, doch sie kannte Christian gut genug um zu wissen, dass er diese Überraschung nicht spielte.

Lachend erklärte Diane: „Es hat sich so Einiges getan, in den letzten fünfundzwanzig Jahren. Für deine Mannschaft war es der fünfte WM-Titel.“

Christian hob fragend die Augenbrauen. „Wann haben die denn den Vierten geholt?“

„Im Jahr 2014, in Brasilien. Nachdem sie den Gastgeber, im Halbfinale, mit 1:7 abgefertigt hatten.“

„Das ist doch ein Scherz?“

Wieder lachte die Frau. „Nein, das ist eine Tatsache. Aber zurück zum Thema: Was Andrea betrifft, die versteht sich eher mit Alicia. Besonders in ihrem jetzigen Alter. Obwohl sie viel mehr deine Ruhe und Gelassenheit besitzt, als die aufbrausende Art ihrer Mutter. Was das betrifft, da kommt wiederum Eireen mehr nach ihr.“

„Das klingt nach einer geradezu famosen Mischung.“ Christian machte eine kleine Pause, bevor er fragte: „Warum sind Alicia und ich nur verlobt?“

Diane blickte verständnislos, bis sie erkannte, warum Christian ihr diese Frage gestellt hatte. Erklärend antwortete sie: „Ihr seid miteinander verheiratet. Seit nunmehr achtzehn Jahren. Du hast lediglich beschlossen, so wie Alicia, den Ring nach amerikanischer Sitte, am linken Finger zu tragen, statt am rechten Finger. Schon weil du mit deiner Familie hier in Amerika wohnst, und die Leute sonst sicherlich Fragen stellen würden.“

Christian verzog das Gesicht. „Wann bin ich ein solcher Konformist geworden?“

„Seit du an der Spitze eines gewaltigen Unternehmens stehst, würde ich sagen“, gab Diane ungerührt zurück. „Da spielen so kleine Details, im Umgang mit Geschäftspartnern, eine immense Rolle. Das hast du gelernt, und darum handelst du danach.“

Christian atmete hörbar ein. „Ich wollte, ich wüsste etwas davon. Zum Beispiel, wer diese Datenbrille herstellt.“

Diane Bennings deutete vielsagend mit ihrem rechten Zeigefinger darauf. „Schau doch einfach mal auf die Innenseite des rechten Bügels.“

Christian nahm die Brille mit fragendem Gesichtsausdruck vom Tisch. Neugierig klappte er die Bügel auf und las den Schriftzug. Doch im Grunde war das unnötig, denn das Firmenlogo hatte ihm genug verraten.

Als Christian zu Diane blickte, erklärte die Frau vielsagend: „Was die Produktion dieser MF-Brillen betrifft: Da ist Falken-Industries weltweit Marktführer. Genau genommen haben Sie und Specter die Entwicklung solcher Brillen eingeleitet. Damals hat LexCorp versucht, auf diesen Zug aufzuspringen, doch diese Qualität hat LexCorp nie ganz erreicht.“

Christian hatte eine ganze Menge Fragen, zum Thema LexCorp, doch er stellte sie zurück und fragte stattdessen: „Wie geht es meiner Familie, Diane? Was machen mein Vater, Tante Christina, Tante Mary und Onkel Jason? Leitet mein Vater noch immer sein Unternehmen, oder führe ich das nun auch?“

Diane verschränkte die Finger ineinander. Sie hatte gehofft, dass Christian die letzte Frage nicht stellen würde. Zögerlich antwortete sie: „Deiner Familie geht es gut, Chris. Alle sind gesund, und wohlauf. Um deine letzte Frage zu beantworten: Weder, noch.“

Überrascht starrte Christian die Frau an. „Was heißt denn das? Wenn mein Vater das Unternehmen nicht leitet, und auch ich nicht, wer denn dann? Tante Christina etwa?“

„Nein. Im Übrigen seid ihr zwei vor langer Zeit übereingekommen, dass du schlicht Christina zu ihr sagst.“

Christians Gesicht nahm einen ungeduldigen Zug an. „Warum weichst du der Frage aus, Diane?“

Die Frau presste kurz die Lippen zusammen, bevor sie meinte: „Also schön. Du selbst hast auf die Führung des Unternehmens verzichtet. Zu Gunsten deiner kleinen Schwester.“

Das Gesicht des Mannes nahm, innerhalb weniger Augenblicke, eine Reihe verschiedener Ausdrücke an. Verwirrt erwiderte er: „Aber ich habe keine Schwester.“

„Du hast noch keine Schwester“, verbesserte Diane nachsichtig und wartete ab, bis sich Verstehen auf dem Gesicht des Mannes abzeichnete. „Genauer gesagt, sie ist deine Halbschwester, Chris. Ihr Name ist Thora.“

Christian, der mit wachsendem Erstaunen zugehört hatte, sagte nach einer Weile: „Wow, da haben sich Paps und Christina aber einen wirklich für einen ganz tollen und sehr ausgefallenen Namen entschieden.“

„Der geht auf dein Konto, denn du hast ihn vorgeschlagen.“

Christian fuhr sich mit der Rechten, innerlich zutiefst aufgewühlt, durch das Haar. Nach einem Moment sinnierte er: „Mein Gott, ich habe eine kleine Schwester. Oder ich werde eine haben... Mann, bei dem Versuch, darüber nachzudenken, kann man ja überschnappen. Ich träume das vielleicht doch alles nur.“

Nachsichtig beruhigte Diane ihn: „Vielleicht machen wir eine Pause und frühstücken erst einmal. Falls du an einen Traum glaubst, dann sieh dir die beiden Bilder ganz rechts an.“

Erst jetzt würdigte Christian den gerahmten Bildern einen Blick. Einige zeigten sein Familie, bis auf die beiden Äußeren. Auf dem einen Bild erkannte er einen blondes Mädchen, von vielleicht sechs Jahren, auf dem anderen eine erwachsene Frau, von vielleicht Anfang Zwanzig. Sie besaß strahlend blaue Augen, so wie seine verstorbene Mutter und ihre Schwester Christina. Christian ahnte nun, um wen es sich handelte.

Wieder aufblickend fragte der Mann leise: „Ist das Thora? Wie verstehen wir uns?“

Diane Bennings sah Christian todernst an, bis sein erschrockenes Gesicht sie zum Lachen reizte. „Deine kleine Schwester vergöttert dich, seit sie ganz klein war. Während ihrer Schulzeit hat sie alle Sommerferien über bei dir und Alicia gewohnt. Du hast ihr das Schwimmen beigebracht, am Kratersee von Smallville. Außerdem brachtest du ihr bei, wie man sich aufdringliche Kerle vom Hals hält, und rate doch mal, warum Degenfechten ein weiteres ihrer Hobbys ist?“

Christian atmete erleichtert auf. Dann sagte er bestimmt: „Das waren nun tatsächlich so viel Informationen, wie ich ohne Frühstück vertragen kann. Komm mit in die Küche, ich mache uns Rührei mit Speck, a la Von Falkenhayn.“

Reise in die Vergangenheit


 

3.

REISE IN DIE VERGANGENHEIT
 

Christian von Falkenhayn erwiderte den fragenden Blick von Lex Luthor, wobei er die Erklärung der Wissenschaftlerin nur am Rande mitbekam. Als sie endete sagte er: „Du hast es gehört, Lex. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass sich da eine Katastrophe anbahnt. Wenn ich dir einen guten Rat geben darf: Gib diese Forschung an dem verdammten Meteoritengestein auf, und verzichte bitte darauf, Smallville in die Luft zu sprengen.“

Im ersten Moment sprachlos, setzte Lex Luthor nach einer Weile ein süffisantes Grinsen auf und fragte: „Sagst du das, als Spezialist für Lasertechnik?“

Das Gesicht des Blonden nahm einen leicht gereizten Zug an. „Nein, das sage ich, weil die Eigenstrahlung des grünen Meteoriten-Kristalls zu einer disharmonischen Phasenlage der Photonen führt, und deshalb eine Kohärenz nicht möglich ist. Was hingegen bei einem Energiebeschuss passiert, ist, dass sich die Schwingung der Kristallatome aufschaukelt und einen massiven Energieausbruch hervorruft.“

Überrascht sah Lex Luthor von Christian zu Doktor Fushida, die eine zustimmende Geste machte und zugab: „Ich kann das zwar erst nach einer genauen Auswertung aller aufgezeichneten Daten sagen, doch was ihr Freund eben erläutert hat, scheint mir eine sehr glaubhafte Theorie zu sein.“

Sich zu Christian wendend fragte die Asiatin: „Woher wissen Sie so viel von Lasertechnik, junger Mann?“

Christian von Falkenhayn räusperte sich. „Nun ja, offen gestanden ist Lasertechnik ein leidenschaftliches Hobby von mir.“

Lex kam zu Christian. „Komm, lass uns gehen.“

Erst, nachdem sie gemeinsam das Labor, am Rande von Smallville, verlassen hatten, fragte Lex seinen Begleiter sarkastisch: „Was gehört noch zu deinen leidenschaftlichen Hobbys? Atom- und Teilchenphysik für Fortgeschrittene? Und erzähl mir nicht, dass man das in Deutschland an jeder Schule gelehrt bekommt. Ich selbst kenne mich etwas in der Materie aus, doch ich weiß nicht einmal ansatzweise, was ich mir unter einer disharmonischen Phasenlage von Photonen vorzustellen habe.“

„Das genaue Gegenteil einer harmonischen Phasenlage von Photonen“, gab Christian trocken zurück und grinste schief. „Wie ich bereits sagte, es ist ein Hobby.“

Lex Luthor war mit dieser Antwort sichtlich unzufrieden, doch er drängte nicht weiter, sondern meinte lediglich: „Mein Chauffeur bringt dich zurück zu deinem Haus. Warum hast du dir kein größeres gekauft?“

„Für mich reicht es voll und ganz, Lex.“

Luthor grinste wissend. „Ich glaube viel eher, dass du deine Freundin nicht verschrecken willst, indem du dir einen standesgemäßen Wohnsitz zulegst. Ich will nicht neugierig sein, doch wie ich hörte, hängt momentan bei euch der Haussegen schief.“

Christian nickte in Gedanken. „Mach dir deswegen mal keine Gedanken, der pendelt sich auch wieder ein. Alicia und ich gehören zusammen, und wir werden einen Weg finden, unsere momentanen Differenzen beizulegen.“

Lex Luthor seufzte schwach. „Manchmal wünschte ich, dass Clark Kent ein ebenso unverbrüchliches Vertrauen in diesen Dingen hätte, wie du.“

„Weil bei euch beiden momentan auch der Haussegen schief hängt?“

Zunächst eine spöttische Miene aufsetzend, bemerkte Lex die Ernsthaftigkeit im Blick des Blonden und gab schließlich zu: „Vielleicht. Clark denkt, dass ich sein Vertrauen als Freund verraten habe, und leider ist sein Eindruck nicht ganz unbegründet. Doch manche Dinge an ihm sind mir rätselhaft, seit wir uns kennengelernt haben, und seine Verschwiegenheit in diesen Dingen, trägt nicht dazu bei, dass Leute, wie ich, Vertrauen zeigen, wo sie viel eher dazu neigen, Zweifel zu haben.“

„Na ja, wir haben alle unsere kleinen Geheimnisse“, wiegelte Christian ab. „Da bildet Clark wohl keine Ausnahme. Und keiner von uns möchte, dass ein Anderer sie ans Licht zerrt. Da würde wohl Jeder von uns etwas sauer werden. Das ist eben menschlich.“

Lex nickte in Gedanken. „Vielleicht hast du Recht, Chris. Zumindest weiß ich jetzt, dass du eine Menge von Lasertechnik verstehst.“

Christian grinste schief. „Es geht so.“

Sie verabschiedeten sich, als sie die schwarze Limousine erreichten, mit der Lex Luthor Christian hatte abholen lassen.

Als der Deutsche eingestiegen war, und der Wagen losfuhr sah Lex ihm sinnend nach, wobei er dachte: Von wegen: Es geht so.

Dann wandte er sich kopfschüttelnd ab und ging zum Gebäudekomplex zurück. Er musste ein intensives Gespräch mit Doktor Ishiko Fushida führen.
 

* * *
 

Als Christian, am späten Nachmittag, vor seinem Haus, oder, zumindest aus seiner Warte, besser, vor seinem ehemaligen Haus, ausstieg, blickte er sich sinnend um. Aus seiner Sicht – der Sicht des Christian von Falkenhayn des Jahres 2030 - war er schon sehr lange nicht mehr hier gewesen.

Alte Erinnerungen wurden wach, als er zu den beiden, im Wind flatternden, Fahnen hinauf sah, und ein seltsames Gefühl von Nostalgie stieg in ihm auf. Den SMALLVILLE-LEDGER, den er unterwegs gekauft hatte, unter den linken Arm geklemmt, schritt er zu seinem Haus. Unterwegs hatte er sich vergewissert, dass er seinen Schlüsselbund, wie gewohnt, in der linken Hosentasche trug.

Alte Angewohnheiten gibt man nur ungern auf, dachte der Blonde ironisch. Beim Herausziehen des Bundes fiel sein Blick auf den Schlüssel des Pickups und in der Erinnerung lächelnd überlegte er: Richtig, damals bin ich noch selbst gefahren.

Spontan entschied Christian sich dazu, sich nicht in seinem Haus einzuigeln, sondern sich mehr an diese Zeit zu erinnern, und wo würde das besser gehen, als im TALON? Dort würde er sicherlich ein paar alte Bekannte treffen.

Guter Dinge stieg Christian in seinen Wagen, legte den LEDGER auf die Seite und startete den Motor. Als er den Gang rein würgte, und es ein, in den Ohren schmerzendes, Kreischen erzeugte, verzog Christian das Gesicht und dachte ironisch: Schönen Gruß vom Getriebe, der Gang ist drin.

Er fuhr los, wobei es eine Weile dauerte, bis er wieder mit dem Pickup zurecht kam. Kaum zu glauben, dass ich damals ein solchen Ungetüm gefahren habe.

Immer sicherer werdend lenkte der Mann, in dem Körper seines früheren Ich, den Wagen in Richtung Zentrum von Smallville. Dabei gingen ihm ein Dutzend Dinge gleichzeitig durch den Kopf. Er fragte sich ernsthaft, wie es ihm gelingen würde, hier nicht dermaßen aufzufallen, dass die Dinge aus dem Ruder liefen. Als er nach seiner damaligen, zweitägigen Abwesenheit, wieder in seinen angestammten Körper zurückgekehrt war, da hatte zumindest nichts darauf hin gedeutet, dass dies der Fall gewesen war. Aber etwas zu wissen, und es dann selbst durchmachen zu müssen, das waren zwei vollkommen verschiedene Dinge.

Er wäre fast weit am TALON vorbei gerast, inmitten dieser Überlegungen. Schon mehr als hundert Meter am Ziel vorbei, wendete er den Pickup, fuhr zurück und parkte in einer kleinen Seitengasse, in der Nähe des Cafés.

Mit einem seltsamen Gefühl von Deja vú näherte er sich schließlich dem Eingang des TALON, das heute wieder gut besucht zu sein schien. Christian erinnerte sich daran, dass zu dieser Zeit noch die spätere Senatorin von Kansas, Martha Kent, dort den Kaffee ausschenkte.

Die Rote Königin.

Bei diesem Gedanken überflog ein Lächeln sein Gesicht. Er freute sich darauf, Martha Kent, der Martha Kent zu dieser Zeit, wieder zu begegnen.

Der Trubel, den er von damals gewohnt war, umfing Christian, als er das TALON betrat. Eilig schritt er zum Tresen, hinter dem, wie erwartet, Clarks Mom stand.

Die rothaarige Frau lächelte dem Jungen vergnügt zu, als sie ihn erkannte und noch bevor er den Tresen wirklich erreicht hatte, fragte sie: „Ein Riesenkaffee, wie immer, Chris?“

Christian lachte, in der Erinnerung. „Ja, das wäre jetzt genau das Richtige, Misses Kent. Ich freue mich, Sie zu sehen. Wie geht es Ihnen?“

„Danke, ganz gut. Wie läuft es zwischen dir und Alicia?“

Christian setzte sich auf einen freien Barhocker vor dem Tresen und machte eine wiegende Handbewegung. „Momentan eher finster, aber wir werden es hin bekommen.“

Für einen Moment lang verwirrte ihn der bedauernde Gesichtsausdruck der rothaarigen Frau. Dann beschlich Christian eine dumpfe Ahnung, und er sah hinauf auf die Galerie des TALON. Er entdeckte dort Alicia – zusammen mit Deion. Gleichzeitig erkannte er, welchen Grund der Blick von Martha Kent gehabt hatte. Denn Deion Grafton gefiel sich darin, Alicia zu küssen. Die seltsame Ruhe, die er, trotz dieses Anblicks, spürte, hatte dabei etwas Verwirrendes, denn er konnte sich gut vorstellen, dass er vor 25 Jahren sofort dort hinauf gestürmt wäre. Doch mittlerweile wusste Christian von Falkenhayn eines nur zu gut: Keine Frau stand auf diese emotionalen Auftritte junger Männer.

Als Christian sich schon wieder an Martha wenden wollte, bekam er mit, wie Alicia sich unwillig von Deion löste und ihn von sich stieß. Mit einem unverschämt zufriedenen Grinsen meinte er zu Martha Kent: „Sieht so aus, als würde da oben auch nicht alles so rund laufen, wie es sich ein gewisser Deion Grafton gedacht hat. Ich werde mal hin gehen und Alicia Guten Abend sagen.“

Martha Kent bedachte Christian mit einem bittenden Blick und darum meinte er beruhigend, als er sich erhob. „Keine Sorge, Misses Kent, ich bleibe ganz ruhig.“

Die leicht erstaunte Miene der Frau ignorierend, trank Christian seinen Kaffee aus und schritt zur Wendeltreppe hinüber, die hinauf auf die Galerie führte. Als er sich dem Tisch näherte, an dem Alicia und Deion saßen, bekam er mit, wie seine Ex-Freundin heftig auf ihren Begleiter einredete. Oder besser, wie seine Frau auf ihn einredete. Seine zukünftige Frau, aus dieser Warte betrachtet. Zumindest was Alicia betraf. Diese Alicia.

Der Deutsche beschloss, diese philosophischen Überlegungen zukünftig nicht mehr anzustellen und konzentrierte sich ganz auf das Hier und Jetzt.

Sie ist noch so jung, doch sie besitzt bereits dieses gewisse Etwas, das ich auch in meiner Gegenwart so sehr an ihr liebe. Noch nicht in jener Intensität, wie als zweifache Mutter, doch es ist zweifellos spürbar. Kein Wunder, dass ich mich, vor so vielen Jahren, in Alicia verliebt habe, und sie immer noch genauso uneingeschränkt liebe, wie damals. Oder müsste es heißen, wie heute? Oh, nein. Vergiss endlich mal diese dämlichen Grundsatz-Überlegungen, denn die erzeugen nur Eins: Und zwar Konfusion.

Alicia und Deion hatten ihn noch nicht bemerkt, und nun zu den beiden an den Tisch tretend bekam Christian mit, dass das Mädchen dabei war klarzustellen, dass sie noch keine Entscheidung getroffen hatte, ob sie mit ihm zusammen sein wollte, oder nicht.

Christian von Falkenhayn räusperte sich und fragte, als Alicia zu ihm aufsah: „Störe ich, oder kann ich dich für einen Moment sprechen?“

Bevor das Mädchen antworten konnte, erhob sich Deion und sah Christian wütend an. „Ja, du störst. Alicia ist mit mir hier. Also verzieh dich, klar?“

Alicia sprang bei den Worten Deions fast von ihrem Stuhl auf. Ihn wütend ansehend fuhr sie ihn an: „Na, erlaube mal! Das ist ja wohl nicht deine Entscheidung, sondern meine! Außerdem bin ich nicht dein Eigentum, über das du befinden kannst!“

Sich zu Christian wendend sagte sie, noch immer aufgebracht: „Ich war im Begriff zu gehen. Wenn du willst, können wir uns unterwegs unterhalten.“

Christian nickte, zufrieden lächelnd. Als er sich mit Alicia auf den Weg zur Treppe der Galerie machen wollte, stellte sich ihm jedoch Deion in den Weg, und fauchte: „Vielleicht sollten wir das Draußen klären? Nur wir Zwei.“

Alicia beobachtete, wie Christian ihr einen beinahe amüsierten Blick zu warf, bevor sich der Blonde wieder zu Deion wandte und ruhig erklärte: „Auf ein so primitives Niveau werde ich mich sicherlich nicht herab begeben. Du entschuldigst uns nun bitte.“

Deion machte keinerlei Anstalten den Weg freizugeben. „Du hast wohl Angst? Dachte ich mir doch, dass du ein verdammter Feigling bist.“

Jungs im High-School-Alter, auf Testosteron, dachte Christian wütend werdend. Das ist ein verdammter Albtraum.

Langsam ungeduldig werdend erwiderte Christian einen Moment später: „Ja, das hast du gut erkannt, Deion. Aber jetzt würde ich gerne...“

Deion machte einen halben Schritt auf Christian zu, und dieser verlor nun die Geduld mit dem Jungen. Ihn schnell und fest am linken Oberarm packend zog er ihn einfach aus dem Weg und ging an ihm vorbei.

Alicia folgte Christian und warf Deion, der überrascht da stand, im Vorbeigehen einen finsteren Blick zu. Dann waren sie auf der Treppe verschwunden, und Deion Grafton sah ihnen konsterniert nach, wobei er seinen Oberarm rieb, dort wo Christian zugepackt hatte.

Als Christian mit Alicia das TALON verlassen hatte, sah er das Mädchen entschuldigend an und meinte: „Tut mir leid, Alicia. Aber wenn ich Deion nicht zur Seite gezogen hätte, dann hätten wir vermutlich noch in einer Stunde auf der Galerie gestanden.“

Alicia nickte lächelnd. „Ja, vermutlich. Weißt du was? Ich bin froh, dass du aufgetaucht bist, denn Deion ging mir, mit seiner ungestümen, besitzergreifenden Art und seiner Ungeduld, eben wirklich mächtig auf die Nerven. Ich bin doch nicht sein Eigentum.“

Christian, der Alicia in den letzten 25 Jahren vielleicht besser kennengelernt hatte, als Irgendjemand sonst, hütete sich davor, in dieselbe Kerbe zu schlagen. Stattdessen wechselte er das Thema und meinte: „Lass uns nicht über Deion reden, sondern über uns, Alicia. Ich habe dir versprochen, dich nicht zu drängen, und dazu stehe ich auch. Doch ich habe das Gefühl, dass ich dir, bei unserem letzten Treffen, hätte sagen sollen, dass ich dir an dem, was in der letzten Zeit passiert ist, keinerlei Schuld gebe. Ich glaube, dass sich niemand gegen das hätte wehren können, was auf dieser verrückten Geburtstagsfete passiert ist. Und dass du zwischenzeitlich dein Gedächtnis verloren hast, dafür kannst du ebenfalls nichts. Beides waren Ereignisse, auf die wir keinen Einfluss hatten.“

Alicia nickte stumm, während sie nebeneinander die Straße hinunter schritten. Nach einer Weile spürte Christian, wie sich Alicia bei ihm unterhakte. Christian lächelte in Gedanken, denn genau so hakte sich Eireen stets bei ihm unter, wenn sie gemeinsam in Metropolis unterwegs waren, oder wenn sie einen gemütlichen Abend gemeinsam auf der Couch verbrachten, und sie sich an ihn kuschelte.

Erst nach einer geraumen Weile bemerkte Christian den fragenden Blick von Alicia, als er zu ihr sah.

Mit leichter Verwunderung in der Stimme erkundigte sich Alicia bei ihm: „Du wirkst so zufrieden, Chris. Was ist denn los?“

Christian erwiderte ihren Blick. „Na ja, ich dachte eben daran, was wir bereits alles gemeinsam durchgestanden haben, und ich bin mir sicher, dass sich am Ende alles genau so entwickeln wird, wie es soll. Ich weiß, dass du die Richtige für mich bist, Alicia. Das wirst du immer sein, ohne Wenn und Aber. Ich bin mir absolut sicher, dass auch du das weißt, wenn du ganz tief in dich hinein horchst.“

Alicia blieb stehen. Mit Tränen in den Augen sah sie zu Christian auf. Unfähig etwas zu sagen drängte sie sich eng an ihn, legte ihren Kopf an seine Schulter und umarmte ihn fest.

Beinahe übervorsichtig legte Christian väterlich seinen linken Arm um ihre Schultern, während er seine Rechte, fast beschützend, auf ihren Kopf legte. Er spürte das leichte Zucken ihrer Schultern, und er ließ sie eine Zeitlang gewähren, bevor er ganz leise, in beruhigendem Tonfall, sagte: „Das wird alles wieder, Alicia.“

Als sich das Mädchen langsam wieder beruhigte, streichelte Christian sacht über Alicias Haar und meinte sanft: „Komm, ich fahre dich heim.“

Alicia nickte schwach, und es dauerte noch eine Weile, bis sie sich gemeinsam auf den Weg zu dem Pickup des Jungen machten.

Die Fahrt zur Sterling-Farm, die neben Christians eigenem, kleinen Grundstück lag, verlief schweigend. Erst nachdem sie die Farm erreicht hatten, und sie ausgestiegen waren, wandte sich Alicia an Christian und sagte leise: „Du hast Recht. Ich weiß, dass ich dich aufrichtig liebe, Chris. Aber ich weiß nicht, was ich tun soll, um dich nicht zu verlieren.“

Christian trat zu ihr. „Das wird nicht passieren, Alicia. Niemals.“

Sie sahen sich für einen langen Moment in die Augen, bis Alicia schließlich über ihren Schatten sprang, ihre Hände auf die Wangen des Jungen legte und sein Gesicht etwas heran zog. Einen Augenblick später lagen ihre Lippen auf seinen und sie küsste ihn liebevoll.

Christian brauchte einen Moment, um die Gedanken an seine beiden Töchter aus dem Kopf zu bekommen, als er Alicia in die Arme nahm. Alicia war nicht seine Tochter, auch wenn sie gegenwärtig kaum älter war, als diese, und es ging hier um seine Zukunft. Seine Zukunft mit Alicia, und letztlich wiederum auch um die, ihrer beiden Kinder. Also überwand er seine Bedenken und erwiderte den Kuss des Mädchens, dass einmal seine Frau werden würde, und die Mutter ihrer gemeinsamen Kinder.

Alicia versank förmlich in seinem Kuss und wie eine Ertrinkende klammerte sie sich an Christian. In diesem Moment wurde ihr klar, wen sie wirklich liebte, und mit wem sie zusammen sein wollte.

Als sie Christian endlich widerstrebend freigab, sah sie ihn fragend an. „Hast du das eben wirklich ernst gemeint, Chris?“

Christian nickte. „Ja, das habe ich.

Alicia schmiegte sich wieder eng an ihn, und sagte, ohne ihn dabei anzusehen, weil sie dazu den Mut nicht aufbrachte: „Ich will mit dir zusammen sein, Christian.“

Der Deutsche lachte leise. „Ist dir schon einmal aufgefallen, dass du meinen Namen immer dann vollständig aussprichst, wenn du etwas sehr ernst meinst?“

Alicia drückte ihn, und antwortete unsicher. „Nein, aber dir, wie es scheint.“

„Ja, und es sagt mir, dass du meinst, was du sagst.“

Christian machte eine kleine Pause bevor er ernst hinzufügte: „Ich will auch mit dir zusammen sein, Alicia.“

Alicias Antwort bestand darin, ihn ganz fest an sich zu drücken, so, als würde sie ihn nie wieder loslassen wollen. Sie wusste nicht zu sagen, wie lange sie so beieinander gestanden hatten, als sie ihre Umklammerung löste und Christian ins Gesicht sah. Für einen langen Moment sah sie nur in seine blauen Augen. Dann endlich fragte sie, mit vibrierender Stimme: „Dann sind wir wieder zusammen, Chris?“

„Ja, allerdings solltest du so fair sein, und Deion davon in Kenntnis setzen. Ich fürchte nur, dass ihm deine Entscheidung nicht gefallen wird.“

Alicia nickte deprimiert. „Es wird mir bestimmt auch nicht leicht fallen. Ich wollte ihn bestimmt nicht verletzen, denn...“

Christian lächelte nachsichtig. „Denn er ist dir nicht egal. Das verstehe ich sehr gut, Alicia. Mir ging es doch, in Bezug auf Chloe, nicht anders. Nicht weil ich Chloe lieben würde, sondern weil ich sie gerne habe. Als eine gute Freundin.“

Alicia gab Christian einen schnellen Kuss auf die Wange. „Genau deswegen liebe ich dich so sehr. Du bist so verständnisvoll und du findest die richtigen Worte, wenn es darauf ankommt. Das war irgendwie schon immer so, seit wir uns kennen.“

Sie küssten sich erneut, bevor Alicia glücklich zu Christian auf sah und ihm versicherte: „Ich habe deine Nähe so sehr vermisst, in der letzten Zeit.“

Christian nickte zustimmend. „Und ich die Deine.“

Ein glückliches Lächeln lag auf dem Gesicht des Mädchens. „Holst du mich morgen ab? Dann könnten wir gemeinsam zur Schule fahren, so wie früher.“

Christian nickte, zufrieden mit der Entwicklung des Abends. „Das ist eine gute Idee. Ich bin dann um Punkt 07:30 Uhr hier.“

Christian noch einmal küssend lief Alicia schließlich schnell zum Eingang des Hauses und winkte ihm noch einmal, strahlend lächelnd, zu, bevor sie im Haus verschwand.

Auf dem Weg zu seinem Wagen dachte Christian missgestimmt: Die verdammte Schule hatte ich total vergessen. Doch dann überflog ein amüsiertes Grinsen sein Gesicht. Vielleicht würde es ja auch ganz lustig werden, mit seinem gegenwärtigen Wissen, für einen Tag nochmal die Schulbank zu drücken.

Familienbande


 

4.

FAMILIENBANDE
 

Christian von Falkenhayn sah lange zu Diane Bennings, nachdem sie den gesamten Vormittag gebraucht hatte, um den Jungen im Manne auf einen einigermaßen aktuellen Stand zu bringen, um zwei Tage unbeschadet in dieser Zeit verbringen zu können. Dann kam er auf etwas zurück, das Diane ziemlich zum Ende hin gesagt hatte. „Wie hast du das eben gemeint, als du sagtest, Alicia wäre nicht erfreut über mein Abendessen mit der Geschäftsführerin dieses komischen Elektronik-Zulieferers. Alicia ist doch nicht etwa eifersüchtig?“

„Mit der Geschäftsführerin von Spectrum-Holobyte“, verbesserte Diane schmunzelnd und wurde danach wieder ernst. „Du vergisst offensichtlich, dass du, mittlerweile seit achtzehn Jahren, mit ihr verheiratet bist. Oder besser gesagt: Dein älteres Ich ist seit dieser Zeitspanne mit ihr verheiratet.“

„Na und?“

Diane Bennings lachte amüsiert. „So kann wirklich nur ein Teenager fragen. Alicia ist mittlerweile über Vierzig. In dem Alter fragen sich Frauen, hin und wieder, ob sie für ihren Partner noch attraktiv sind.“

Etwas erschrocken sah Christian zu Diane. „Habe ich Alicia etwa vernachlässigt?“

Die Frau machte eine beruhigende Geste. „Nein, das hast du nicht. Du warst zwar kein perfekter Ehemann, aber ganz bestimmt ein vorbildlicher Ehemann. Und, nur um dich auch dahingehend zu beruhigen, ebenfalls ein guter Vater.“

Erleichtert aufatmend blickte Christian auf seine Armbanduhr und meinte ironisch: „Aber vielleicht kein guter Geschäftsmann, denn es ist bereits nach elf Uhr, und ich war noch nicht im Büro.“

„Für heute hast du dir frei genommen. Ansonsten: Der Laden läuft ja auch dann, wenn du auf Geschäftsreisen bist, nicht wahr?“

„Woher soll ich das denn wissen?“

Bei der Gegenfrage nickte Diane zustimmend. „Richtig, woher solltest du. Aber ich kann dir versichern, dass dein Unternehmen bei Leah van Cleef in den besten Händen ist.“

Christian lachte trocken. „Wenn man bedenkt, dass sie mich, bei unserem ersten Zusammentreffen, in die Postabteilung geschickt hat.“

„Das hast du ihr auch noch mehrmals auf´s Butterbrot geschmiert“, erwiderte Diane. „Mittlerweile versteht ihr euch geschäftlich blind, und du kannst froh darüber sein, dass du so eine Mitarbeiterin an deiner Seite hast.“

Christian lächelte schwach. „Ich vermute, das werde ich sein. In etwa fünfundzwanzig Jahren zumindest.“

Diane Bennings machte eine zustimmende Geste. Dann erhob sie sich von ihrem Sessel und meinte, mit einem Blick zur Uhr: „Es wird Zeit, mich zu verabschieden, und du selbst solltest dich langsam fertig machen, um dich von Jeremy zum Flughafen fahren zu lassen. Es wäre unpassend, wenn du Alicia nicht bei ihrer Rückkehr aus Paris empfangen würdest. In dem Fall hättest du überdies ein Problem, würde ich vermuten.“

Christian grinste breit. „Das vermute ich auch. Du wirst vielleicht darüber den Kopf schütteln, doch ich spüre, bei dem Gedanken daran, ihr in einer Stunde zu begegnen, Hummeln im Bauch. Ich frage mich, trotz allem, was du mir über die Chefin des Labor- und Entwicklungs-Segments von Falken-Industries erzählt hast, wie sie sich entwickelt hat.

Die Augenbrauen der Frau hoben sich. „Hast du etwa Angst vor ihr? Das wäre aber so gar nicht der Christian von Falkenhayn, den ich kenne. Hör zu, von Christian – dem älteren jetzt – weiß ich, dass du die Situation meistern wirst. Also Schluss mit den Bedenken.“

Etwas beruhigt lächelnd gab Christian zurück: „Ich danke dir, Diane. Erinnere den älteren Christian, wenn er wieder zurück ist, daran, dass er dir was schuldet.“

Diane Bennings schmunzelte nur und trat zu dem Blonden. Ihn zum Abschied flüchtig umarmend meinte sie: „Vielleicht mache ich das wirklich. Wir sehen uns.“

Damit ging sie, und Christian sah ihr sinnend nach, bevor er sich wieder daran erinnerte, was Diane sagte, in Bezug auf das Abholen seiner Frau.
 

* * *
 

Am Flughafen angekommen stellte Christian fest, dass es wirklich höchste Zeit gewesen war, hierher aufzubrechen. Denn kaum, dass er aus dem Font der Limousine ausgestiegen war, rollte bereits der gelandete Firmenjet von Falken-Industries heran. Mit einer Mischung aus Vorfreude und Anspannung beobachtete er, wie der Jet zum Stehen kam. Während er sich der Maschine näherte, öffnete der Steward die Seitenluke, stieg aus der Maschine und half dann einer Frau, im eleganten, anthrazitfarbenen Kostüm beim Verlassen der Maschine, indem er ihr seine Hand reichte.

Die Frau dankte dem Mann mit verbindlichem Lächeln und sah dann zu Christian, der sie fast erreicht hatte. Mit einem leicht missbilligendem Blick umarmte sie ihn sacht, gab ihm einen Kuss auf die Wange und flüsterte ihm dabei ironisch ins Ohr: „Wie immer bist du so verdammt pünktlich, dass man die Uhr danach stellen kann.“

Christian, der drauf und dran war, sich darüber zu beschweren, dass nicht mehr drin war, als dieser Wangenkuss, erinnerte sich gerade noch rechtzeitig an die Worte von Diane Bennings, in Bezug darauf, dass Personen wie sie, nicht in der Öffentlichkeit herumknutschten, wie Teenager. Darum erwiderte er lediglich: „Ich freue mich, dass du wieder da bist. Wie war Paris?“

„Anstrengend und verregnet“, seufzte die Frau, die unter den Umständen, die Christian normalerweise gewohnt war, seine Mutter hätte sein können. Als sie sich ganz selbstverständlich bei ihm einhakte, während sie zur Limousine schritten, musterte Christian sie interessiert von der Seite. Die dunkelhäutige Frau an seinem Arm strahlte etwas aus, dass ihm unbewusst Respekt abnötigte. Sie trug das Haar etwas länger, als zu seiner Gegenwart, was ihr, nach seiner Ansicht, wirklich sehr gut stand. Dabei, so fand Christian, sah sie noch nicht aus, wie über Vierzig. Ohne Vorkenntnisse hätte er diese Alicia allenfalls auf Mitte Dreißig geschätzt. Nur in ihren Augen ließ sich ihr wahres Alter ablesen, denn in ihnen spiegelte sich die Erfahrung einer gestandenen Ehefrau und zweifachen Mutter. Für einen kurzen Augenblick beneidete er sein älteres ich um sie. Doch dann sagte er sich, dass er ja irgendwann tatsächlich in diesem Alter sein würde, und dann würde er mit exakt dieser Frau zusammen sein. Dieser Gedanke zauberte einen glücklichen Ausdruck auf sein Gesicht.

Als sie beide die Limousine erreicht hatten, und der Chauffeur den Schlag für sie öffnete, sah Alicia ihren Mann mit fragender Miene an. „Du scheinst ja in geradezu prächtiger Laune zu sein? Ist es wegen deinem geschäftlichen Abendessen?“

Christian stieg nach Alicia in den Font des Wagens ein. Nachdem Jeremy den Schlag geschlossen hatte, sah er zu Alicia und echte Verwirrung wegen dieser Frage lag in seinem Blick. „Nein, es ist, weil du wieder bei mir bist, Alicia.“

Etwas leiser, damit nur sie ihn verstehen konnte, fragte er dann: „Was soll denn die unbegründete Eifersucht? Du müsstest doch inzwischen wissen, dass ich nur dich liebe. Lange genug verheiratet sind wir ja.“

Alicia bedachte ihn mit dem Blick, den sie immer dann aufsetzte, wenn sie sich einer Sache nicht ganz sicher war. Dann wurde aus dem Blick das Lächeln, dass von Beginn an stets ein besonderes Gefühl von aufrichtiger Zuneigung in Christian hervorgerufen hatte.

Seine Hand auf ihre legend und sie sanft drückend versicherte Christian: „Das Essen ist etwas rein Geschäftliches, Alicia. So, wie dein Essen heute Abend, mit diesem… na, wie heißt er noch gleich?“

„Jefferson Kendrick. Seine Firma liefert die Additive für den von unserem Labor neu entwickelten Kunststoff.“

Christian erinnerte sich an das Briefing von Diane und so fragte er: „Dann hat in Paris also alles geklappt?“

Alicia nickte zufrieden lächelnd. „Hattest du etwa Zweifel daran? Der Firmenchef von Du-Pont hat mir außerdem zugesichert, dass wir einen besonders günstigen Preis bekommen werden, wenn wir den neuen Kunststoff bei ihnen in Lohngranulierung produzieren lassen.“

Die Nachricht an sich ließ Christian eher kalt. Was ihn hingegen begeisterte, in diesem Augenblick, das war die Ausstrahlung von Alicia. Energisch, sicher, und erfolgreich. Nichts erinnerte ihn in diesem Moment an jene manchmal deutlich spürbare Unsicherheit der Alicia, die er aus seiner Zeit kannte. Diese Alicia hatte sich toll entwickelt. Beinahe überwältigt von seinen Gefühlen sah er Alicia nur an und misstrauisch fragte sie schließlich: „Was denn, kein ironischer Kommentar von Rechts?“

Nachdenklich erwiderte Christian: „Warum denn? Du würdest bestimmt auch Eskimos dazu bringen, Kühlschränke zu produzieren.“

Das Lächeln wurde erneut zu dem Blick. „Irgendetwas stimmt heute nicht, mit dir. Du bist schon lange nicht mehr so zuckersüß gewesen. Bist du etwa eifersüchtig darauf, dass ich heute Abend mit Kendrick essen gehe?“

„Ach was“, erwiderte Christian prompt, und bemerkte in demselben Augenblick, dass das nicht wirklich eine zufriedenstellende Reaktion für Alicia gewesen war. Sie ging jedoch nicht weiter darauf ein, sondern verschränkte nur ihre Arme vor der Brust.

Tolle Entwicklung hin oder her, aber diese Frau ist auch ziemlich kompliziert. Damit klarzukommen wird vermutlich fünfundzwanzig Jahre dauern. Mit diesen Gedanken beobachtete er Alicia und er ahnte in diesem Moment, warum Diane ihn am liebsten für zwei Tage weggesperrt hätte. Nur allzu leicht konnte er etwas auslösen, was sein älteres Ich später auszubaden hatte. Er nahm sich vor, ab jetzt noch umsichtiger vorzugehen, was Alicia, aber auch, was seine beiden Töchter betraf, um seinem älteren Ich kein Ei zu legen.
 

* * *
 

Zu Christians Erleichterung normalisierte sich das Verhalten von Alicia, ihm gegenüber, nachdem sie Zuhause waren, und gemeinsam zu Mittag gegessen hatten.

Die Köchin, Maria Gonzales, wie er von Diane wusste, die während seiner Abwesenheit ihre Arbeit im Haus aufgenommen haben musste, hatte eine geradezu köstliche Pilzsuppe, und als Hauptgericht ein scharfes Gulasch, gekocht.

Als sie beim Nachtisch waren, deutete Alicia mit ihrem Löffel auf Christian und erkundigte sich: „Hast du dir den gesamten Tag frei genommen?“

Christian sah die Frau an und meinte zustimmend: „Ja, Leah van Cleef hat den Laden fest im Griff. Ich dachte mir, ein langes Wochenende kann nicht schaden.“

„Die Kinder werden sich freuen, dass sie mal etwas mehr von dir haben“, stimmte Alicia zu und löffelte den Rest ihres Puddings aus der Schale.

Etwas misstrauisch gab Christian zurück: „Was ist mit dir? Freust du dich auch, dass ich da bin, oder...?“

Mit entschuldigendem Blick erhob sich Alicia, schritt schnell zu ihm und umarmte ihn von Hinten, wobei sie ihm einen gehauchten Kuss auf den Hals gab. „Hey, komm schon, du alter Grummelbär. Du bist doch sonst nicht so nachtragend. Ich war, vorhin im Wagen, vielleicht wirklich etwas eifersüchtig, das ist Alles.“

Christian legte den Löffel zur Seite, erhob sich und drehte sich in den Armen seiner Frau um. Verlegen lächelnd erwiderte er: „Dazu besteht wirklich kein Grund, denn ich liebe dich, das solltest du wissen, mein Engel.“

Alicias Gesichtsausdruck wurde fraulich weich, als sie Christian in die Augen sah. Er hatte seine Worte so gemeint, wie er sie gesagt hatte, und Alicia kannte ihren Mann lange genug, um diese Tatsache zu erkennen.

„Und ich liebe dich“, flüsterte Alicia, bevor sie ihre Augen schloss und den Mann in ihren Armen sanft küsste.

Christian warf seine anfänglichen Bedenken über Bord und erwiderte den Kuss. Alicia war seine Frau, auch wenn er selbst nicht in diesen Körper gehörte. Doch es war etwas Anderes, als seinerzeit, als Clark mit ihm den Körper getauscht hatte, genau in dem Moment, als er mit Alicia intim gewesen war. Diesmal blieb es quasi in der Familie.

Sie bekamen nicht mit, wie die Tür sich öffnete, und Jemand herein kam.

„Mom, Dad! Müsst ihr zwei ausgerechnet hier unten herummachen?“

Die beiden Erwachsenen fuhren überrascht auseinander und sahen ihre beiden Töchter an. Es war Andrea gewesen, die sie angesprochen hatte, und nun legte Eireen nach. „Habt ihr keine Angst, dass euer Verhalten für uns ein Schock für´s Leben sein könnte?“

Alicia zog ironisch die Augenbrauen zusammen und konterte gelassen: „Ja klar, genau so seht ihr Zwei aus. Seht lieber zu, dass ihr etwas zu Mittag esst und danach um eure Hausaufgaben kümmert, statt hier faule Witze zu reißen.“

Die beiden Mädchen grinsten beide gleichermaßen und Alicia nahm Christian an die Hand. Ihn mit sich ziehend flüsterte sie ihm zu: „Und wir Zwei verschwinden jetzt mal kurz in den Garten, denn ich war eben noch nicht fertig mit dir.“

Die beiden Erwachsenen durchquerten den Wohnraum, betraten die Bibliothek, und schritten zur großen Glasfront. Christian öffnete die Tür, die hinausführte in den Garten, und Alicia folgte ihm, kaum dass er nach draußen getreten war. Auf der Terrassen schmiegte sich Alicia wieder eng an Christian und gurrte scheinheilig: „Also, wo waren wir, bevor uns die Mädchen so rüde unterbrochen haben?“

Mit einem breiten Grinsen zog Christian Alicia enger zu sich heran und sagte leise: „Ich habe da so eine Ahnung.“

Im nächsten Moment küssten sie sich erneut, und Christian vergaß in diesem Moment, dass diese Alicia mehr als doppelt so alt war, wie er selbst. Er beruhigte sich mit dem Gedanken daran, dass das im Grunde nicht vollkommen stimmte, denn grundsätzlich war es nur die Seele dieses Mannes, die jünger war. Was zum Glück niemand sehen konnte. Sanft streichelte er der Frau, in seinen Armen über den Rücken und über die Wange.

Erst nach einer ganzen Weile lösten sie sich voneinander und sie sahen sich für eine Zeitlang nur schweigend in die Augen, bevor Alicia leise sagte: „Dieses spontane Herumknutschen haben wir schon viel zu lange nicht mehr getan. Das sollten wir vielleicht in Zukunft wieder öfter wieder aufnehmen.“

„Da widerspreche ich dir nicht“, stimmte Christian zu.

Alicia wand sich geschmeidig aus den Armen ihres Mannes und nahm in an die Hand. Langsam mit ihm über die weite Wiese gehend fragte sie, mit veränderter Stimmlage: „Ich habe mich noch nicht entschieden, in welchem Restaurant ich mich heute Abend mit Kendrick treffen werde. Was hältst du vom La Grenouille?“

Christian kannte dieses bereits sehr alte Restaurant. Das gab es auch zu seiner Zeit schon. „Da wirst du kurzfristig keinen Tisch bekommen. Es sei denn, du kennst Jemanden der Beziehungen hat.“

Christian zwinkerte Alicia belustigt zu, und sie schnitt ihm eine Grimasse. „Du denkst also, ich hätte keine Beziehungen?“

Der Deutsche hob seine Augenbrauen. „Möchtest du mir vielleicht davon erzählen?“

Ausweichend meinte Alicia: „Na, mir wird schon ein passender Laden einfallen. Wann triffst du dich mit Amanda Ingram?“

Christian erinnerte sich an das Gespräch mit Diane Bennings. „Wir treffen uns um zwanzig Uhr im Restaurant. Ich denke, dass das Essen mit ihr nicht länger als zwei bis drei Stunden dauern wird. Was ist mit dir und Kendrick?“

„Kendrick will mich gegen Halb-Acht hier abholen. Ich denke, dass ich ebenfalls spätestens um elf Uhr wieder hier bin.“

Christian blickte seine Frau überlegend an und meinte spontan: „Danach könnten wir zwei ja noch etwas gemeinsam unternehmen. Wenn wir uns ohnehin schon mal in Schale werfen. Findest du nicht?“

„Warten wir ab, wie lange unsere Verabredungen uns wirklich aufhalten“, bremste Alicia den Enthusiasmus ihres Mannes. „Außerdem hatte ich Andrea versprochen, dass ich mit ihr morgen shoppen gehe. Aber was hältst du davon, wenn wir morgen Abend Metropolis unsicher machen?“

„Ernsthaft? Ich bin begeistert von der Idee.“

Alicia lachte leise und gab Christian einen leichten Nasenstüber. „Dann haben wir also ein Date, morgen Abend?“

Christian küsste sie schnell auf den Mund und erwiderte zufrieden. „Das haben wir.“

„Dann entschuldige mich jetzt bitte, ich muss noch einen Tisch bestellen, für heute Abend. Und du kümmerst dich um den Tisch, für morgen Abend.“

Mit wiegenden Hüften schritt Alicia zur Terrasse zurück und verschwand in der Villa. Dafür tauchte Eireen auf der Terrasse auf. Im Dress der Amerikanischen Fußball-Nationalelf. Lachend sah sie zu ihrem Vater und rief: „Zieh dich um, Paps! Wir haben schon ewig keine Zeit mehr gehabt, um im Garten etwas Fußball zu spielen!“

Christian überlegte kurz und grinste dann. „Alles klar, gib mir zehn Minuten!“
 

* * *
 

Eine Viertelstunde später tollte Christian mit Eireen über den Rasen des weitläufigen Gartens, der zur Villa gehörte, und im Grunde den Begriff Park eher verdient gehabt hätte.

Zu seiner gelinden Überraschung hatte er entsprechende Shorts und Shirts, in den Farben der Deutschen National-Elf in seinem Kleiderschrank gefunden.

Lachend dribbelte er seiner Tochter den Ball ab und lief, ihn eng am Fuß führend, zum Haus hin. Verfolgt von Eireen, die ihm den Ball wieder abjagen wollte. Im Moment machte ihm das Familienleben eine Menge Spaß. Zum Glück lagen die Tricks, die er fußballerisch drauf hatte, momentan noch nicht allzu lange in seiner Erinnerung zurück, so dass Eireen ihre liebe Mühe hatte, an den Ball zu kommen. Obwohl sie ausgezeichnet spielte, wie Christian neidlos zugeben musste. Diane hatte ihm verraten, dass sie seit zwei Jahren in einem Verein, hier in Metropolis, spielte. Bei den Metropolis-Eagles. Dabei gab es diesen Fußball-Verein selbst kaum länger.

Lachend täuschte er nach Links an und drehte sich dann nach Rechts herum von dem Mädchen weg. Sich den Ball vorlegend wollte er los sprinten, doch im nächsten Moment traf ihn ihr Fuß schmerzhaft am rechten Knöchel. Er stürzte zu Boden und hörte Eireen lachen, während sie an ihm vorbei stürmen, hinter dem Ball her.

Wütend rief Christian ihr nach: „Hey, du Nieselpriem! Hat dir eigentlich niemand beigebracht, deinen Gegenspieler sauber vom Ball zu trennen?! Das war garantiert das letzte Mal, dass ich mit dir Fußball gespielt habe!“

Er setzte sich auf und rieb sich mit beiden Händen den schmerzenden Knöchel. Erst als ein Schatten auf sein Gesicht fiel, sah er auf und bemerkte, dass das Mädchen völlig aufgelöst zu sein schien. Erst jetzt wurde ihm wieder bewusst, dass er für Eireen kein gleichaltriger Teenie war, sondern ihr Vater, dessen Worte eine ganz andere Wirkung hatten, als die eines Mitschülers, oder eines Vereinskameraden.

Christian schluckte seinen Ärger hinunter, als er Tränen in den Augen des Mädchens glitzern sah. Innerlich immer noch erschrocken, über die Wirkung seiner Worte, bei Eireen, erhob er sich langsam und sagte beruhigend: „He, das habe ich nicht so gemeint. Ich war im Moment nur sauer, weil der Tritt verdammt weh getan hat.“

„Ich… Das wollte ich nicht, Paps.“

Eireen umarmte ihren Vater und schmiegte sich an ihn.

Fast übertrieben vorsichtig nahm Christian Eireen in seine Arme, wobei er sanft sagte: „Das weiß ich. Ist schon gut. Natürlich spielen wir weiter, aber auf die Blutgrätsche verzichtest du bitte in Zukunft, sonst werde ich ganz sauer.“

Das Mädchen gab ein leises Schniefen von sich und versprach dann: „Das werde ich ganz bestimmt nicht wieder tun, Paps.“

Christian streichelte sacht ihre Schulter. Dabei dachte er: Au Mann, das muss wirklich Papas Kind sein. Ein ernstes Wort und das Mädchen ist todunglücklich. So ein Familienleben ist also mindestens ebenso verantwortungsvoll, wie spaßig. Wenn Alicia und ich wirklich gelernt haben, das jeden Tag aufs Neue zu bewältigen, dann haben wir schon etwas erreicht.

Als Christian Eireen schließlich ganz sanft an den Schultern von sich schob, schenkte er ihr ein warmes Lächeln. „Ich habe dich lieb, Eireen. Und jetzt vergessen wir das blöde Foul und spielen weiter, okay?“

Über das ganze Gesicht strahlend nickte Eireen. „Ich habe den Ball!“

Damit rannte sie zum Ball, und Christian setzte ihr nach. „Na, warte, das Ding habe ich bestimmt schnell wieder in meinem Besitz.“

Lachend, verbissen, aber fair, um den Ball kämpfend, rannten sie in Richtung Villa. Als Eireen sich den Ball etwas zu weit vorlegte, stürmte Christian an ihr vorbei und trat gegen den Ball, um ihm eine andere Richtung zu geben, bevor Eireen ihn erreichen konnte. Doch er erwischte den Ball nicht richtig, so dass er nicht, wie gewünscht, nach links rollte, sondern mit Schwung durch eins der geöffneten Fenster, im ersten Stock der Villa, flog. Gleich gefolgt von einem unheilverkündenden Krachen und Klirren.

Im nächsten Moment drang ein spitzer Wutschrei aus dem Fenster und gleich darauf tauchte Alicias Gesicht dort auf und blickte anklagend zu Christian und Eireen hinunter. „Wer von euch beiden Rabauken hat meine Lieblings-Kristallgläser auf dem Gewissen!“

Schuldbewusst blickte Christian nach oben und hob umgehend seine Hand.

Mit finsterer Miene sah Alicia von ihm zu Eireen und wieder zu ihrem Mann. Dabei rief sie zweifelnd nach Unten: „Komm schon, du nimmst die Kleine wieder einmal in Schutz, wie ich dich kenne. Wie du meinst, aber du wirst gleich nächste Woche für Ersatz sorgen.“

Damit verschwand Alicia vom Fenster.

Unten sahen sich Christian und Eireen gleichermaßen verdutzt an, und nach einer Weile fragte Christian unsicher: „Ob deine Mom uns die Ohren abschraubt, wenn wir sie fragen, ob sie uns den Ball runter wirft?“

Eireen schmollte leicht. „Mindestens das, Paps. Obwohl ich ja gar nichts gemacht habe. Immer gleich mich zu verdächtigen ist echt gemein. Dabei habe ich bisher nur eine einzige Scheibe eingeschossen. Aber das vergisst Mom wohl nie.“

Christian legte beschützend seinen Arm um ihre Schulter. „Ich werde deiner Mom nachher nochmal versichern, dass du diesmal wirklich unschuldig warst.“

Zur Antwort legte Eireen beide Arme um ihn und erneut durchströmte Christian ein tiefes Glücksgefühl, weil er dieses Leben, in 25 Jahren wirklich führen würde.

Rendezvous mal Drei


 

5.

RENDEZVOUS MAL DREI
 

Alicia hatte bereits vor ein paar Minuten das Haus verlassen, als Christian sich im Salon von seinen beiden Töchtern verabschiedete. „Also, der Sicherheitsdienst weiß Bescheid, wo er eure Mom und mich erreichen kann. Ach ja, und falls ich diese Villa in einem signifikant anderen Zustand vorfinde, als jetzt, dann bedeutet das Ärger, ihr Beiden.“

Eireen lächelte nur zustimmend, während Andrea meinte: „Du kannst uns vertrauen, Dad. Wir feiern keine wilde Party, während ihr weg seid.“

Christian grinste jungenhaft. „Bis zu einem gewissen Grad enttäuscht mich das.“ Er zwinkerte den Mädchen belustigt zu und schritt dann zum Foyer der Villa. Bevor er die Tür erreicht hatte, holte ihn Eireen ein, die ihm schnell gefolgt war, und drückte ihm ein daumengroßes Gerät in die Hand.

„Das solltest du nicht hier lassen, Paps.“

Christian schenkte ihr ein Lächeln. „Danke, mein Spatz.“

Fast hätte er das, was man in diesem Jahr noch am ehesten mit dem Begriff Mini-Handy hätte bezeichnen können, vergessen. Im Gegensatz zu der Datenbrille handelte es sich hier wirklich nur um ein reines Kommunikationsgerät, das unauffällig am Jackenkragen getragen werden konnte. Die Funktionsweise hatte ihm Diane ebenso am Morgen erklärt, wie die der Datenbrille. Er gab Eireen einen flüchtigen Kuss auf die Wange, steckte das Gerät in die Innentasche seines Jacketts, und verließ die Villa.

Draußen wurde er bereits von Jeremy erwartet, der die Wagentür für ihn öffnete. Sich bedankend stieg er in den Font des Wagens ein und wies den Chauffeur an, nachdem sich hinter das Steuer der Limousine gesetzt hatte: „Zum La Grenouille, Jeremy.“

„Sehr wohl, Sir.“

Während der Fahrt nach Down-Town Metropolis hing Christian seinen Gedanken nach. Von Diane Bennings hatte er erfahren, dass Amanda Ingram seit längerer Zeit versucht hatte, sich zu einem persönlichen Gespräch mit ihm zu treffen. Für einen eher nachrangigen Zulieferer war das eher ungewöhnlich, doch Diane hatte ihm erklärt, dass sein älteres Ich stets auch gute Verbindungen zu den kleinen Firmen unterhielt. Diane hatte ihm ebenfalls einen Überblick darüber gegeben, worüber Amanda Ingram sich mit ihm zu unterhalten gedachte, wobei er ahnte, von wem sie diese Information hatte. Diane hatte ihm dazu geraten, ihr keinerlei verbindliche Zusagen zu geben, sondern sie zu einer Fortsetzung des Gesprächs, für die nächste Woche, in den Falken-Tower zu bitten.

Sich gut vorbereitet fühlend kam er um kurz vor 20:00 Uhr relativ entspannt vor dem La Grenouille an. Er wartete, bis Jeremy den Wagenschlag für ihn öffnete, bevor er aus dem Wagen stieg und zum Foyer des Lokals sah. Dort erkannte er eine Frau, deren Aussehen zu dem Bild passte, das ihm Diane von Amanda Ingram gezeigt hatte. Von seiner ehemaligen Sicherheits-Chefin hatte er ebenfalls erfahren, dass Amanda Ingram Mitte Dreißig und unverheiratet war. Bei dieser Information hatte Diane ihm einen warnenden Blick zugeworfen und Christian verstand nun auch, warum sie das getan hatte. Schlank, lange Beine und langes, goldblondes Haar, das war sein erster Eindruck von dieser Frau. Einen Moment später wandte sie sich in seine Richtung, und Christian fügte hinzu: Verdammt hübsch, für ihr Alter.

Die Geschäftsführerin von Spectrum-Holobyte hatte offensichtlich ebenfalls Erkundigungen zu ihrem abendlichen Begleiter eingezogen, denn als sie direkt in seine Richtung sah überflog ein Hauch von Erkennen ihre Gesichtszüge. Als er auf sie zu ging, kam sie ihm ein paar Schritte entgegen und streckte ihre Hand aus. „Guten Abend, Mister Von Falkenhayn. Wie ich sehe, sind sie pünktlich.“

Christian nahm die Hand der Frau und drückte sie, fest aber nicht zu fest. Dabei stellte er mit leichter Verwunderung fest, dass ihr Griff eher an einen gestandenen Mann, als an den Griff einer Frau erinnerte. Sich räuspernd erwiderte er: „Mein Vater hat mir sehr früh beigebracht, dass Pünktlichkeit die Höflichkeit der Könige ist. Ich finde, das stimmt und dass man die Zusage, zu einer bestimmten Zeit vor Ort zu sein, ebenso einhalten sollte, wie jede anderweitige, verbindliche Zusage.“

Die Frau schenkte ihm ein gewinnendes Lächeln, dass sich auch in ihren grünen Augen wiederfand. „Das macht Sie mir sympathisch, denn ich hasse es, wenn Leute ihre Zusagen nicht einhalten.“

Sie deutete auf den Eingang des Restaurants. „Wollen wir?“

Christian lächelte unwillkürlich, bei dieser forschen Art. „Unbedingt, Miss Ingram.“

Amanda Ingram hakte sich, wie selbstverständlich bei Christian unter. Dabei meinte sie: „Bitte nennen Sie mich Amanda, sonst komme ich mir genauso alt vor, wie Sie es sind.“

Christian konnte sich ein Schmunzeln nicht ganz verbeißen, bei den Worten der Frau an seiner Seite. „Sie sind sehr direkt, Amanda. Das gefällt mir. Aber dann sagen Sie bitte auch Christian zu mir.“

Im Foyer des Restaurants erspähte Christian den Restaurantleiter und hielt direkt auf ihn zu. Offensichtlich schien dieser ihn zu kennen, denn ein strahlendes Lächeln aufsetzend empfing ihn der hagere Mann mit den Worten: „Es freut mich, dass Sie uns heute Abend wieder einmal beehren, Sir.“

Einen fragenden Blick zu Amanda Ingram werfend erkundigte sich der Restaurantleiter verbindlich. „Wie geht es ihrer Frau, und Ihren Kindern?“

„Danke, sehr gut. Dies ist Miss Ingram, eine Geschäftspartnerin.“

Der Blick des Mannes klärte sich. „Natürlich, Sir. Ihr Tisch wird jeden Moment frei, Sir. Ich werde Sie dann persönlich dorthin begleiten.“

Christian nickte ihm zu, und wandte sich zu seiner Begleiterin, als sie fragte: „Darf ich Sie fragen, wie lange Sie schon verheiratet sind?“

„Achtzehn Jahre, und das sehr glücklich.“

„Das ist schade“, meinte Amanda Ingram und zwinkerte Christian dabei zu. „Falls Sie sich doch einmal anders besinnen sollten, dann rufen Sie mich an. Wozu ein altes Auto fahren, wenn man auch ein Neues haben kann?“

Bevor Christian etwas darauf erwidern konnte, stieß ihn ein hochgewachsener, breitschultriger Mann an, als dieser einen unbedachten Schritt nach hinten machte. Er fuhr unwillig herum und sah in das markant männliche Gesicht eines dunkelhaarigen Mannes, den er auf etwas älter schätzte, als sich selbst. Trotz der bereits leicht ergrauten Schläfen wirkte sein Auftreten ganz bestimmt auch noch auf jüngere Frauen, wie der Deutsche befand.

Der Unbekannte setzte zu einer Entschuldigung an und trat einen Schritt zur Seite. Dabei fiel Christians Blick auf die Begleiterin des Mannes, und er verharrte überrascht. Denn er sah direkt in das Gesicht von Alicia, die kaum weniger Überrascht wirkte.

„Christian?“

„Alicia!“

Es war Kendrick, der feststellend meinte: „So, wie es aussieht, scheinen Sie beide sich zu kennen.“

„Ja“, bestätigte Alicia. „Das ist mein Mann, Christian von Falkenhayn.“

Christian besann sich auf seine guten Manieren und wandte sich zu seiner Begleiterin. „Amanda, das ist meine Frau, Alicia von Falkenhayn.“

„Oder einfach: Das alte Auto“, warf Alicia giftig ein.

Unangenehm berührt zwang sich Amanda Ingram ein Lächeln ab und erwiderte zuckersüß: „Schön Sie kennenzulernen.“

Ohne besonders darauf zu achten zog Alicia Christian am Oberarm ein Stück zur Seite und zischte scharf: „Was machst du denn hier? Du wusstest doch, dass ich mit Kendrick hierher kommen würde.“

„Falsch, ich wusste, dass du hierher kommen wolltest“, gab Christian ungerührt zurück. „Was ich nicht wusste ist, dass du so kurzfristig einen Tisch bekommst.“

„Du hast doch auch kurzfristig einen gekriegt.“

Christian grinste schief. „Ja, ich habe auch Beziehungen.“

Gereizt konterte Alicia: „Die habe ich auch, wie du siehst. Eine Freundin von mir ist nämlich Kontrolleurin beim Gesundheitsamt.“

Es dauerte einen Augenblick, bis Christian aus den Worten seiner Frau die richtigen Schlüsse gezogen hatte. Dann weiteten sich seine Augen etwas und er meinte anerkennend: „Wow, raffinierter Amtsmissbrauch.“

Jefferson Kendrick, der sich in der Zwischenzeit etwas mit Amanda Ingram bekannt gemacht hatte, wandte sich zu Christian: „Jetzt verstehe ich, warum Sie heute Abend nicht Ihre Frau begleiten konnten.“

„Oh, üblicherweise bleibt es nicht nur beim Begleiten“, erwiderte Christian ironisch und weidete sich an Alicias Blicken.

Sie wurden abgelenkt, als der Restaurantleiter zu Christian trat und beflissen bekanntgab: „Ihr Tisch ist jetzt frei, Mister Von Falkenhayn.“

Er brachte Christian und seine Begleiterin zu ihrem Tisch, wobei Alicia besonders der Frau im nachtblauen Röhrenkleid interessiert hinterher sah. Gleich darauf konzentrierte sie sich wieder auf Jefferson Kendrick. Auch ihr Tisch schien nun frei zu sein, und zu Alicias gelinden Unmut befand dieser sich in unmittelbarer Nähe zu dem ihres Mannes und seiner Begleitung. Dieser Abend entwickelte sich, wie es ihr Mann gerne bezeichnete, wenn eine Situation drohte ins Surreale abzugleiten.
 

* * *
 

Während der nächsten zweieinhalb Stunden fanden weder Alicia, noch Christian, zunächst dazu Gelegenheit, über die momentane Situation nachzudenken, denn beide führten, während des Essens angeregte, geschäftliche Gespräche. Erst während der letzten zwanzig Minuten waren beide Gespräche mehr und mehr in den privaten Bereich abgeglitten.

Dabei bemerkten beide nicht, dass sie ausnahmslos über ihre Kinder sprachen. Ein Thema, bei dem weder Jefferson Kendrick, noch Amanda Ingram, etwas beisteuern konnten. So waren beide dazu verdammt zuzuhören, während Alicia und Christian dies in ihrer Begeisterung kaum realisierten.

Christian war ganz in seinem Element, als er Amanda Ingram davon erzählte, was sich am Nachmittag zugetragen hatte. „Da hat meine jüngste Tochter doch tatsächlich die Blutgrätsche ausgepackt und mich dermaßen gelegt, dass ich fast kolossal wütend geworden wäre. Dabei hat ihr das, am Ende, fast mehr weh getan, als mir.“

In demselben Moment führte Alicia am anderen Tisch aus: „Und nachdem sich mein Mann wieder aufgerappelt hat, schießt er den Fußball, mit Karacho, durch das offene Fenster, direkt in meinen Schrank, in dem meine Lieblings-Kristallgläser stehen. Ein direkter Volltreffer. Obwohl ich immer noch glaube, dass er unsere Tochter in Schutz genommen hat, und sie es war, die diesen Treffer gelandet hat.“

Christian schüttelte, ein paar Meter weiter, schmunzelnd den Kopf. „Und meine Frau glaubt vermutlich auch jetzt noch, dass unsere Jüngste ihre Gläser auf dem Gewissen hat. Die wird nicht eher Ruhe geben, bis ich neue Gläser besorgt habe. Na ja, kein Wunder, es waren ja auch ihre Lieblingsgläser, die ich zertrümmert habe. Aber dass der Ball dermaßen genau getroffen hat war schon auch ziemlich mysteriös.“

Gelangweilt versuchte Amanda Ingram das Thema zu wechseln und meinte: „Apropos mysteriös. Ich habe letzte Woche, im Theater, ein unglaubliches Stück gesehen.“

Ohne darauf einzugehen redete Christian gedankenverloren weiter. „Wir sollten das Fußballspielen in der Nähe der Villa wirklich sein lassen. Vielleicht wäre es eine gute Idee, weiter unten im Garten ein umzäuntes Fußballfeld einzurichten. Dann kann so etwas, wie heute Nachmittag, gar nicht mehr passieren.“

Die rotblonde Frau nickte nur und wandte sich an den vorbei kommenden Weinkellner, um Nachschub zu ordern.

In demselben Moment meinte Alicia zu Kendrick: „Was ich seltsam finde ist, wie sich Andrea vorhin verhalten hat. Sonst interessiert sie sich nie für den Code unserer Alarmanlage, und vorhin war sie ganz erpicht darauf, mir bei der Eingabe über die Schulter zu sehen.“

Sie lehnte sich grübelnd im Stuhl zurück. Doch bevor Jefferson Kendrick die Gelegenheit nutzen konnte, selbst etwas zu sagen, erhob sich Alicia und fragte entschuldigend: „Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mal schnell unseren Sicherheitsdienst kontaktiere? Ich brauche eine Auskunft.“

„Nein!“, gab Kendrick langgezogen zurück und seufzte unterdrückt.

Alicia bedankte sich lächelnd für sein Verständnis und verließ den Speisesaal in Richtung des Foyers.

Zwei Tische weiter beobachtete Christian sie dabei. Sich schnell Amanda zu wendend, fragte er unvermittelt: „Die Toiletten waren vorn, am Eingang, richtig?“ Bevor die Amanda Ingram etwas erwidern konnte, erhob er sich, murmelte ein Verzeihung, und folgte seiner Frau. Im Foyer entdeckte er seine Frau und schritt schnell zu ihr. „Was ist denn los?“

Alicia, die bereits den Sicherheitsdienst erreicht hatte und nur noch auf eine Antwort wartete, winkte hektisch ab. Dafür schaltete sie ihr Gerät, das dem glich, was Eireen ihrem Vater mitgegeben hatte, auf Laut. Gerade rechtzeitig, dass Christian mithören konnte, wie eine weibliche Stimme sagte: „Die Alarmanlage ist offensichtlich gegen Zwanzig Uhr Dreißig, für etwa eine halbe Minute, mit dem entsprechenden Code, ausgeschaltet worden, funktioniert aber seitdem wieder in vollem Umfang.“

Alicia nickte in Gedanken und erwiderte: „Danke. Auf Wiederhören.“

„So viel zum Thema: Keine Party“, schmunzelte Christian und wurde bei Alicias Miene schnell wieder ernst. „Was schlägst du vor?“

„Ich will wissen, was da gespielt wird“, gab Alicia bestimmt zurück.

Christian nickte und begab sich zum Leiter des Restaurants. Nachdem er einige Worte mit ihm gewechselt hatte, holte er seine Brieftasche hervor, und ein paar Geldscheine wechselten ihren Besitzer. Danach kehrte er zu Alicia zurück. Beide warfen, um eine große Pflanze herum, einen Blick ins Restaurant, wo sich Jefferson Kendrick soeben an den Tisch von Amanda Ingram setzte.

„Was sollen wir denen sagen?“, fragte Alicia und sah ihren Mann forschend an.

Christian machte eine wiegende Geste mit der Hand. „Das könnte etwas unangenehm werden, findest du nicht?“

Alicia grinste zustimmend und meinte: „Die kommen schon klar.“ Damit ergriff sie nachdrücklich die rechte Hand ihres Mannes.

Einen schnellen Blick mit Alicia wechselnd, drückte Christian sie dreimal kurz, so, wie er es früher bereits einmal getan hatte. Er war sich sicher, dass Alicia noch nicht vergessen hatte, was er damals damit gemeint hatte.

Alicias Lächeln sprach Bände, als sie das Restaurant verließen. Sie wusste es noch…

Erwischt


 

6.

ERWISCHT
 

Unterwegs machte Alicia, im Font der Limousine, ihrem Unmut Luft, indem sie zu Christian sagte: „Na warte, ich kann mir denken, was da los ist.“

Christian blickte fragend zu Alicia, und frustriert wegen seiner langen Leitung erkundigte sie sich gereizt bei ihm: „Du etwa nicht? Dann mach dich mal auf einen Schock gefasst, denn ich vermute, dass da gar keine Party im Gange ist, sondern dass Andrea die Gelegenheit für ein ganz eigenes Rendezvous nutzt.“

„Sie ist bereits Sechzehn“, gab Christian zu bedenken.

„Sie ist erst Sechzehn“, verbesserte Alicia ihren Mann grimmig.

Christian amüsierte sich darüber, wie sehr Alicia in Fahrt war. Hatte sie wirklich vergessen, wie das bei ihr gewesen war? Er spürte eine gewisse Verpflichtung in sich aufsteigen, Andrea in Schutz nehmen zu müssen, darum erkundigte er sich gedehnt bei Alicia: „Und wie alt genau warst du, als wir uns in Smallville begegneten?“

„Komm mir jetzt nicht so“, begehrte Alicia auf. „Es geht hier nicht darum, dass Andrea zu jung dazu wäre, sich mit einem Jungen zu treffen, sondern dass sie das hinter unserem Rücken macht, und gegen die Regeln verstößt.“

„Oh ja, was das Einhalten von Hausregeln angeht, war Miss Alicia Sterling, zu ihren besten Zeiten, die ungeschlagene Meisterin aller Klassen“, spottete Christian und verdrehte seine Augen. „Ich sage dir was: Mir klingeln heute noch die Ohren von der Standpauke deines Vaters, nachdem sie uns bei dir Zuhause erwischten. Am dem Morgen, nachdem wir zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten. Du erinnerst dich bestimmt noch daran, denn deine Mom hat dir damals auch so Einiges erzählt, wenn ich mich nicht irre.“

Mit einem Anflug von Verwunderung sah Alicia zu Christian. Nach einer Weile rückte sie zu ihm heran und schmiegte sich an ihn, wobei sie leise meinte: „Das ist doch verrückt. Ich dachte immer, dass du es sein würdest der leidet, wenn eine unserer Töchter zum ersten Mal mit einem Jungen unterwegs ist. Aber jetzt bin ich es, die sich aufregt, und du bist es, der nicht wie ein Zwölfjähriger reagiert, sondern bewundernswert vernünftig ist.“

Christian legte seinen linken Arm um Alicia und grinste verschmitzt. „Ich bin ein verdammt cooler Dad, nicht wahr?“

„Und da ist auch schon der Zwölfjährige“, seufzte Alicia entsagungsvoll.

Sie wurden abgelenkt, als die Limousine vor dem Tor der Villa anhielt und Jeremy den Code zum Öffnen des Gartentores über ein Smart-Display an der Mittelkonsole eingab.

Nachdem sie ausgestiegen waren, Jeremy die Limousine in die Garage gefahren, und mit seinem eigenen Wagen das Gelände verlasen hatte, sahen Christian und Alicia zum sich schließenden Tor hinüber, und Christian meinte: „Eine wilde Party findet jedenfalls schon mal nicht statt. Alles ist dunkel und ruhig.“

Alicia gab ein zustimmendes Grummeln von sich und wollte bereits ihre Handtasche öffnen, um den Schlüssel hervorzuholen, doch Christian legte schnell seine Hand auf Ihre.

„Apropos ruhig und dunkel“, lachte er leise und legte den rechten Arm um Alicias Hüften. „Vielleicht sollten wir die Gunst des Augenblicks nutzen. Ich finde, du siehst zum anbeißen aus, in deinem roten Kleid.“

„Und ich dachte, du würdest gerne dieses rotblonde Gift, namens Amanda Ingram, anknabbern“, konterte Alicia ironisch.

Christian zog seine Frau näher zu sich heran. Sacht in der Dunkelheit ihre Wange streichelnd, widersprach er: „So ein Unsinn.“

Im nächsten Moment lagen seine Lippen auf ihren, und sie küssten sich ganz sanft und liebevoll.

Sie trennten sich erst, als sie hörten, wie ein Wagen vor dem Tor des Grundstücks anhielt. Unwillkürlich blickten sie beide zum Tor und sahen einen dunklen Kleinwagen.

Alicia blickte überrascht zu Christian, als er sie in die Sichtdeckung der rechten Säule, vor dem Hauseingang, zog. Leise lachend flüsterte er, während vom Tor Stimmen zu ihnen herüber klangen: „Das will ich jetzt schon noch bis zum Ende mit ansehen.“

Immer noch von Christian in seinen Armen gehalten, legte Alicia ihre Arme um seinen Nacken und flüsterte zurück: „Okay, warten wir ab, was passiert.“

Die beiden Erwachsenen beobachteten, wie eine der Gestalten, die ihnen ziemlich bekannt vorkam, den Handabdruckscanner am Eingang durch den entsprechenden Code aktivierte und dann die rechte Hand darauf legte. Im nächsten Moment öffnete sich das Tor und die Person betrat, die zweite Person an die Hand nehmend, das Grundstück. Hand in Hand, sich dabei leise, unterhaltend schritten die beiden dunklen Schemen zum Hauseingang, wo sie stehenblieben. Eine helle Mädchenstimme flüsterte: „Der Abend war sehr schön, Garrett. Danke, für´s Heimbringen.“

Christian hielt den Atem an und legte, in der Finsternis, geräuschlos einen Finger auf die Lippen von Alicia. Die Stimme hatte eindeutig Andrea gehört.

Eine etwas tiefere Stimme antwortete dem Mädchen: „Ja, für mich war der Abend auch toll. Aber ich finde, du solltest bald deinen Eltern von mir erzählen. Wir sind jetzt immerhin seit fast einer Woche zusammen, und ich fühle mich unwohl dabei, dass wir uns heute Abend heimlich getroffen haben.“

„He, wir machen ja nichts Verbotenes“, zischte Andrea. „Außerdem ist, außer Küssen, nichts passiert, und zu mehr bin ich momentan ohnehin nicht bereit.“

„Und das finde ich völlig okay“, antwortete die Jungenstimme. „Du weißt, dass ich nicht so einer bin. Hoffe ich jedenfalls.“

Nach einem leisen Ja wurde es still, als sie sich erneut küssten.

Christian, der schon ein gewisses Grummeln im Magen dabei spürte, wobei er sich grinsend vorstellte, was sein älteres Ich an seiner Stelle nun getan hätte, wartete ab, bis sie sich nach einer ganzen Weile wieder voneinander lösten, bevor er seine Arme von Alicia nahm und, kaum hörbar, beinahe andächtig, in die Hände klatschte. Dabei sagte er leise: „Bravo, junger Mann. Letzteres hoffe ich übrigens ebenfalls.“

Die beiden jungen Leute fuhren erschrocken auseinander, während Alicia zwei Schritte zum Hauseingang machte, und das Licht einschaltete. Dann trat sie zu Christian und sah mit strenger Miene in das Gesicht ihrer Tochter, und das, eines gutaussehenden Jungen, der vielleicht zwei Jahre älter war, als Andrea.

Christian bemerkte, dass Alicia drauf und dran war, den Jungen des Grundstücks zu verweisen, darum sagte er schnell: „Wir unterhalten uns Drinnen weiter, und Sie, junger Mann, werden für einen Moment mit reinkommen. Wenn es keine Umstände macht.“

Der Junge nickte sprachlos, während ihn Alicia und Andrea gleichermaßen verwundert ansahen.

Christian öffnete die Haustür und lächelte beim Eintreten. Er konnte sich gut vorstellen, was nun in Andrea und dem Jungen, den sie Garrett genannt hatte, vorging. Und auch, was in Alicia vorging. Dabei erinnerte er sich gut daran, wie er sich gefühlt hatte, als er und Alicia von ihren Eltern erwischt worden waren. Er wusste zwar, dass er in seiner Rolle ein ernstes Wort mit Andrea reden musste, doch er wollte ihr auch irgendwie helfen. Da schlug momentan einfach zu sehr das Herz eines Achtzehnjährigen in seiner Brust.

Er wartete, bis auch Garrett zögernd eingetreten war, bevor er die Tür hinter sich schloss. Dabei sagte er freundlich zu dem verwirrten jungen Mann: „Bitte legen Sie ab.“

Sich zu Andrea wendend meinte er: „Du führst diesen jungen Mann zum Wohnraum, deine Mom und ich folgen gleich nach.“

Christian half seiner Frau aus dem Mantel. Nachdem Andrea und Garrett bereits auf dem Weg zum Wohnraum waren, blickte er inständig in Alicias Gesicht und sagte schmunzelnd: „Ich weiß, was in dir vorgeht, und wir werden schon ein ernstes Wort mit Andrea reden. Und auch mit diesem völlig eingeschüchterten Jungen. Aber wir reißen den beiden nicht den Kopf ab, das haben deine Eltern mit uns damals auch nicht getan, richtig?“

Alicia nickte beherrscht.

Christian gab ihr einen schnellen Kuss auf die Lippen. „Bitte, lass mich mit den Beiden reden. Aber greif bitte auch ein, falls ich an irgendeinem Punkt zu lasch sein sollte.“

„Darauf kannst du dich verlassen“, zischte Alicia mit funkelnden Augen und sah vielsagend in Richtung Wohnraum.

Christian lachte lautlos, nahm seine Frau an die Hand und folgte mit ihr den beiden jungen Leuten. Beide hatten, mit zwei Handbreit Abstand, nebeneinander auf einem der Sofas Platz genommen. Die beiden Erwachsenen setzten sich ihnen gegenüber.

Christian ließ Garrett und seine Tochter für einen Moment schmoren, bevor er sich räusperte und, zunächst zu Andrea gewandt, ernst meinte: „Wann hast du normalerweise Zuhause zu sein, Andrea?“

Das Mädchen schluckte, und antwortete leise: „Um 23:00 Uhr, Dad.“

Christian sah auf seine Uhr, die 23:21 anzeigte. „Und warum, dachtest du, hättest du unser Einverständnis, diese Zeit um zwanzig Minuten nach hinten zu verlegen? Wenn wir 23:00 Uhr sagen, dann meinen wir schon, in dieser Zeitzone. Und 23:00 Uhr heißt, dass du zu diesem Zeitpunkt nicht vor dem Tor, oder vor der Haustür stehst, sondern im Innern dieser Villa, Andrea. Das ist nicht verhandelbar. Verbindliche Zusagen werden in dieser Familie grundsätzlich eingehalten.“

Der Blick des Mannes ruhte auf dem beschämt dreinschauenden Gesicht des Mädchens, und fragend hob er seine Augenbrauen.

„Es tut mir leid Dad“, sagte Andrea schließlich zerknirscht. „Wir haben total die Zeit vergessen. Es wird nicht wieder vorkommen.“

Bei einem kurzen Blick zur Seite bemerkte er einen leicht anerkennenden Zug auf Alicias Gesicht. Er hatte ruhig gesprochen, aber mit einer spürbaren Schärfe. Christian hätte fast gelacht, denn er war sich sicher, dass er, als sein älteres Ich, weitaus weniger beherrscht gesprochen hätte. Seine Tochter hatte Glück, sich für den Fehltritt genau dieses Wochenende ausgesucht zu haben.

Alicia nickte ihrem Mann unmerklich zu, und Christian wandte sich nun zu dem Jungen: „Nun wird es Zeit, dass Sie sich auch uns vorstellen, junger Mann.“

Reichlich nervös wirkend, verkrampfte der dunkelblonde Junge die Finger seiner Hände ineinander, während er Mühe hatte dem Blick von Andreas Vater standzuhalten. „Ich, äh… mein Name ist Garrett MacPherson, Sir. Es tut mir leid, dass ich Ihre Tochter zu spät nach Hause gebracht habe.“

Alicia legte ihre Hand auf Christians Unterarm und ergriff nun das Wort: „Das hoffe ich, junger Mann. Um Ihretwillen. Zukünftig werden Sie Andrea pünktlich hier absetzen, und damit meine ich, fünf Minuten vor der Zeit. Spätestens fünf Minuten.“

„Das verspreche ich Ihnen, Ma´am.“

Alicias Augenlider verengten sich leicht. „Wir werden Sie beim Wort nehmen, Mister. Sollten Sie es brechen, dann werden Sie ein Problem haben, und zwar ein Großes.“

Alicia wechselte ein paar vielsagende Blicke mit Christian, und ihr Mann übernahm wieder. „Ach, Mister MacPherson. Kennen Sie die Star-Wars-Filmreihe?“

„Alle neun Filme, warum?“

Sieh an, die sind doch alle neun gedreht worden, dachte Christian bevor er schnell erklärte: „Nun, dann kennen Sie die Szene, in der Darth Vader den Imperator den Schacht hinunter wirft. Das Problem, das meine Frau erwähnte, hätte weitaus schlimmere Folgen.“

Unsicher, ob diese Worte ernst gemeint waren, nickte der Junge und sagte mit kratziger Stimme: „Ich verstehe, Sir.“

Erneut einen schnellen Blick mit Alicia wechselnd, meinte Christian: „Okay, dann haben wir uns also verstanden.“

Dann reichte er Alicia seine Hand und sie erhob sich. Seine Frau intensiv ansehend, wandte er sich zu den beiden jungen Leuten, die beide, gleichermaßen betreten drein schauten. Kurz lächelnd sagte er zu Andrea: „In spätestens fünf Minuten lässt du diesen jungen Mann zum Tor hinaus. Ich denke, das reicht, damit ihr Zwei euch angemessen voneinander verabschieden könnt. Gute Nacht, Mister MacPherson.“

Er zog Alicia mit sanfter Gewalt aus dem Raum, und schritt mit ihr in seinen Arbeitsraum, wo er Licht machte, und bei dem fragenden Blick der Frau erklärte: „Ich denke, dass beide kapiert haben, was wir von ihnen erwarten. Und ich wollte sie nicht so auseinandergehen lassen, wie wir Beide uns damals, nach dem ersten Mal, getrennt haben. Andrea würde es uns außerdem vermutlich nie verzeihen, wenn wir ihren Garrett so sehr verschrecken, das er sie nie wiedersehen will.“

Alicia sah in die Augen ihres Mannes, bevor sich ihre Gesichtszüge entspannten. Ihm einen zärtlichen Kuss gebend flüsterte sie: „In solchen Momenten weiß ich ganz genau, warum ich dich geheiratet habe.“

Sie küssten sich erneut.

Als Christian im Unterbewusstsein die Tür auf- und zugehen hörte, warf er einen Blick zur Uhr und lachte: „Knapp vier Minuten. Da will uns Jemand versöhnlich stimmen.“

Eine halbe Minute später hörten sie die Tür erneut, und wie Jemand, auf leisen Sohlen, die Treppe nach oben huschte.

Alicia hauchte leise in Christians Ohr: „Wir sollten uns vielleicht auch zu Bett begeben. Aber müde bin ich noch nicht, wenn du verstehst.“

Christian schmunzelte wissend, obwohl er innerlich auch eine gewisse Anspannung spürte, denn mit dieser Alicia zusammen zu sein, das war irgendwie schräg. „Ich denke schon, aber lass uns vorher noch Andrea Gute Nacht sagen.“

Ein verstehender Zug lag auf dem Gesicht der Frau. „Na, dann komm mit.“

Sie löschten das Licht und schritten, Hand in Hand, zur Treppe. Auf dem Weg nach oben hielten sie immer wieder an, um sich kurze, heftige Küsse zu geben, und so dauerte es eine geraume Weile, bis sie schließlich in der ersten Etage ankamen. Vor der Tür zu Andreas Zimmer hielten sie an, und Christian klopfte leise an.

Aus dem Innern kam ein leises Ja?

Christian öffnete die Tür und gemeinsam mit Alicia sah er zu Andrea, die bereits im Bett lag. Sie hatte das Licht noch nicht gelöscht. Die Arme unter dem Kopf verschränkt sah sie verträumt zu ihnen hinüber.

„Wir wollten nur kurz Gute Nacht sagen, mein Schatz“, sagte Alicia leise. „Dir zu wünschen, etwas Schönes zu träumen, scheint heute Abend wohl überflüssig zu sein.“

Christian ins Ohr flüsternd, dass sie sich schon einmal ins Bad begeben würde, zwickte sie ihn ins Ohr und bat darum, sie nicht zu lange warten zu lassen.

Christian zwinkerte ihr zu, bevor er ins Zimmer trat und sich auf die Bettkante, zu seiner Tochter setzte. Er zögerte einen Moment lang, bevor er leise fragte: „Du magst diesen Garrett MacPherson sehr, oder täusche ich mich?“

Andrea wirkte verlegen, als sie nickte und leise sagte: „Ja, Dad. Wenn ich an ihn denke, dann spüre ich ein seltsames Kribbeln im Magen. So, als würden da ganze Legionen von Ameisen herumkrabbeln. Das habe ich noch nie gefühlt, Dad.“

Der Mann grinste breit. „So ging es mir, als ich deine Mom kennengelernt habe. Obwohl sie mir damals erst einmal eine volle Breitseite vor den Latz geknallt hat.“

Ein überraschter Zug lag auf dem Gesicht des Mädchens. „Wirklich?“

Christian lächelte in der Erinnerung. „Oh, ja, und das nicht zu knapp. Am Ende stellte sich das Alles jedoch als ein Missverständnis heraus.“

Seine Gedanken kehrten zurück in die Gegenwart. „Zum Glück, denn sonst hätten wir nicht zwei so bezaubernde Kinder.“

Spontan richtete sich Andrea im Bett auf und sie umarmte ihren Vater. Dabei flüsterte sie, beinahe unhörbar: „Ich habe dich lieb, Dad.“

Christian drückte das Mädchen sanft. „Ich dich auch. Und jetzt: Träum etwas Schönes, und komm zukünftig bitte pünktlich heim, damit deine Mom nicht doch irgendwann deinetwegen Amok läuft.“

„Ganz bestimmt, Dad.“

Christian erhob sich und verließ das Zimmer, wobei er sich an der Tür nochmal umwandte und Andrea verschwörerisch zu zwinkerte.

Als er das Bad betrat, stand Alicia bereits splitternackt unter der laufenden Dusche. Bei seinem Eintreten blickte sie um die durchbrochene Glaswand herum und forderte ihn auf: „Beeil dich gefälligst und komm zu mir unter die Dusche. Das haben wir schon eine ganze Weile nicht mehr gemacht.“

„Was für eine Schande“, murmelte Christian. Er zögerte kurz bei dem Gedanken daran, was er zu tun beabsichtigte. Doch dann sagte er sich, dass Alicia und er niemanden betrogen, denn er war Christian von Falkenhayn. Völlig egal ob nun achtzehn Jahre alt, oder dreiundvierzig Jahre alt.

Schnell schälte er sich aus seinen Sachen, legte sie ordentlich über die Marmorbank, die an der Wand des Bades stand und begab sich zu Alicia, die ihn gleich eng umarmte. Nach einem langen, verlangenden Kuss gurrte die Frau: „Das wird dir Andrea bestimmt nie vergessen, Schatz. Hey, Moment mal, du bist ja wirklich ein cooler Dad.“

Christian lachte, wobei er gleichzeitig seine Hände über die nasse Haut seiner Frau gleiten ließ. „Sagte ich doch. Aber du bist auch eine ganz tolle Mom, das ist sicher. Ich bin glücklich, dass du meine Frau geworden bist.“

„Also kein altes Auto?“

Christian küsste Alicia liebevoll, bevor er ernsthaft versicherte: „Ich bin versucht, Amanda Ingram zu sagen, dass ich niemals Geschäfte mit ihr machen werde.“

Alicia ließ ihre Hände zum Po ihres Mannes wandern und zog ihn enger zu sich heran. „Bisher hast du Geschäftliches und Privates immer getrennt. Das solltest du auch weiterhin tun. Meinst du nicht auch?“

Christian nickte. „Du hast Recht. Und sie könnte dir niemals das Wasser reichen.“

Mit einem leisen Seufzer schmiegte sich Alicia noch enger an ihren Mann. Dabei hauchte sie in sein Ohr: „Apropos Wasser. Nimm mich, oder ich zerfließe.“

Ohne darüber nachzudenken kam Christian ihrer Aufforderung nach, und beide begannen mit ihrem feucht-fröhlichen Liebesspiel.

Einiges wird klargestellt


 

7.

EINIGES WIRD KLARGESTELLT
 

Als Christian von Falkenhayn am Montagnachmittag von der Schule nach Hause kam, nachdem er Alicia Zuhause abgesetzt hatte, entdeckte er einen Jungen auf der Verandatreppe seines Hauses. Als er seinen Pickup abgeschlossen hatte und langsam zum Haus schritt, erkannte er, dass es Deion Grafton war, der dort, mit grimmiger Miene, auf ihn wartete.

Alicia hatte gestern nochmal mit ihm telefoniert und ihm versichert, dass sie mit Deion gesprochen, und ihn, bezüglich ihrer Entscheidung, informiert hatte. Doch es schien so, als würde Deion in dieser Hinsicht noch Gesprächsbedarf haben.

Christian konnte das gut nachvollziehen, denn auch er wäre nicht ohne Weiteres bereit gewesen, auf ein Mädchen wie Alicia zu verzichten. Sie war seine große Liebe. Jene, der man nur ein einziges Mal im Leben begegnete.

Er seufzte schwach. Mit drei Schritt abstand zur Treppe blieb er stehen und sagte freundlich: „Guten Tag, Deion. Ich schätze, du weißt mittlerweile, was Sache ist, in Bezug auf Alicia und mich. Es tut mir sehr leid. Nicht, dass sich Alicia für mich entschieden hat, sondern dass es überhaupt zu dieser Situation kam, in der sich Alicia nicht mehr an uns erinnern konnte, und sich deshalb dir zugewandt hat. Unter normalen Umständen wäre das nie passiert, das muss dir klar sein.“

Deion Grafton, der mit wachsendem Zorn zugehört hatte, erhob sich nun langsam von der Treppenstufe und grollte: „Ach, das muss mir klar sein? Es muss?“

Christian versuchte es erneut. „Hör zu, Deion. Für wen sich Alicia entschieden hat lag weder in deiner noch in meiner Macht. Sie hat sich dafür entschieden, dass sie ihre Beziehung mit mir nicht aufgeben will. Sei vernünftig, und akzeptiere das. Ich weiß, das ist leichter gesagt, als getan. Doch du hast keine andere Wahl.“

Wilder Hass loderte in den dunklen Augen von Deion Grafton, als er nach hinten an seinen Gürtel griff. „Das werden wir ja sehen!“

Christian bemerkte in demselben Moment die zwanzig Zentimeter lange Klinge in der rechten Hand des Jungen, die er bedrohlich gegen ihn richtete. In diesem Moment war Christian froh darum, dass er hier stand, und nicht sein jüngeres Ich. Denn er konnte sich gut vorstellen, dass Deion, in dem Fall, mit einigen gebrochenen Rippen im Krankenhaus landen würde. Doch er hatte seine Emotionen wesentlich besser im Griff.

Während Deion langsam auf ihn zu schritt, wich Christian in demselben Tempo zurück, wobei er eindringlich aber nun auch sehr ernst meinte: „Das hat doch gar keinen Sinn, Deion. Glaubst du wirklich, dass Alicia einen Mörder lieben könnte? Da kenne ich sie besser - das wird sie niemals tun. Mach dich also nicht unglücklich. Noch können wir das als einen dummen Scherz abtun, und es einfach vergessen.“

„Nein, das werden wir nicht!“, schrie der dunkelhäutige Junge aufgebracht. Im nächsten Moment stürmte er auf Christian zu.

Mit einer so schnellen Reaktion, dass Deion sie kaum mitbekam, wich Christian der Messerattacke aus und ließ Deion ins Leere laufen. Jetzt ruhig stehen bleibend, und dem bewaffneten Jungen seine linke Seite zu wendend, um ein kleineres Ziel zu bieten, sah er ihn warnend an. „Ich fordere dich jetzt letztmalig dazu auf, den Unfug sein zu lassen. Danach werde ich anfangen, aktiv Widerstand zu leisten.“

„Wenn du kein elender Feigling wärst, dann hättest du das bereits im TALON getan, als ich mit dir vor die Tür gehen wollte.“

„Sei froh, dass ich es nicht getan habe.“

Damit bewegte sich Christian wieder langsam in Richtung der Veranda. Gefolgt von Deion, der ihn zornig anfunkelte. Endlich blieb Christian stehen, was Deion zu einer erneuten Attacke verleitete.

Wieder ließ Christian den Jungen ins Leere laufen, allerdings nicht, ohne ihm diesmal einen Hieb, mit der flachen Hand, auf sein linkes Ohr zu verpassen.

Wild aufstöhnend, und mit überraschter Miene fuhr Deion zu ihm herum und griff sich an das schmerzende Ohr.

„Wenn du darauf bestehst, dann bekommst du auch einen Schlag auf das andere Ohr“, warnte Christian ruhig „Danach auf beide Augen und auf deine Nase, und solltest du danach immer noch Aggressionen verspüren, Eins auf die Kinnspitze, das dich ins Reich der Träume schicken wird. Also hör besser jetzt auf.“

„Ich werde dich schon erwischen!“, schrie Deion zurück, und Christian realisierte in diesem Moment, dass er zu drastischeren Maßnahmen würde greifen müssen.

Beinahe betrübt meinte Christian: „Na, dann komm schon her.“

Im nächsten Moment schoss Deion wieder nach Vorne.

Christian verzichtete auf das, was er Deion zuvor angekündigt hatte. Stattdessen packte er diesmal, mit der Linken, das rechte Handgelenk des Angreifers, als dieser das Messer in weitem Bogen nach ihm schwang. Sich dabei gleichzeitig zur Seite drehend, bog er das Handgelenk so schnell zurück, dass Deion aufschrie vor Schmerzen. Doch nur für einen Herzschlag, denn kaum ließ Deion das Messer fallen, traf ihn Christians Faust hart an der Schläfe, und beinahe ohne es bewusst zu erleben krachte er auf die Verandatreppe, wobei er sich den Kopf am Holzpfeiler anschlug.

Für einige Augenblicke lag Deion halb besinnungslos da, während Christian seufzend das Messer vom Rasen aufhob und sich zu Deion wandte.

Aufstöhnend kam Deion Grafton wieder zu sich und hielt sich sein schmerzendes, rechtes Handgelenk. Mühsam richtete er sich im Sitzen auf und lehnte seinen Kopf an den Pfeiler, der ihm eben erst höllische Kopfschmerzen bereitet hatte.

Wieder blieb Christian ein paar Schritte von ihm entfernt stehen, wobei er interessiert das Messer in seiner Hand betrachtete. Dann sah er zu Deion, deutete mit dem linken Zeigefinger auf ihn und erkundigte sich, mit hochgezogenen Augenbrauen: „Reicht das, oder willst du noch einen Nachschlag? Hey, der Wortwitz gefällt mir.“

Unterdrückt ächzend erwiderte Deion, noch immer verstockt: „Warte, bis ich wieder auf den Beinen stehe.“

Tief durchatmend sah Christian auf das Messer in seiner Hand. Einen Herzschlag später warf er es halb in der Luft herum, packte es an der Klinge und schleuderte es, mit einer raschen Handbewegung in Richtung von Deions Kopf.

Der gesamte Vorgang passierte so schnell, dass Deion erst reagieren konnte, als die Klinge des Messers sich, mit einem sirrenden Ton, dicht neben seinem Kopf, in das Holz des Pfeilers bohrte. Geradezu panisch blickte Deion auf die noch immer vibrierende Klinge, und dann auf Christian, der langsam näher schritt. Im Moment war er nicht in der Lage irgendwie zu reagieren, so sehr war ihm der Schreck in die Glieder gefahren.

Dicht vor Deion kniete sich Christian zu ihm ab und sagte leise, aber mit besonderer Betonung: „Jetzt hör mir zu, du Spaßvogel. Ich wollte mich im TALON nur deshalb nicht mit dir prügeln, weil ich seit einer halben Ewigkeit Kampfsport betreibe. Mit und ohne Waffen. Du hast vollkommen Recht gehabt, als du sagtest, dass ich Angst habe. Ich hatte tatsächlich Angst. Aber nicht Angst um mich, sondern Angst davor, dass ich dich verletzen könnte. Also sperr jetzt deine Ohren auf, denn ich sage es dir ganz gewiss nicht zweimal. Du lässt mich ab sofort in Ruhe. Du wirst ebenfalls Alicia in Ruhe lassen, und alle meine Freunde. Denn solltest du das nicht tun, dann werde ich nicht mehr freundlich zu dir sein. Ich werde dann auch sonst nicht mehr lange fackeln, sondern das Ganze wird vollkommen unbürokratisch ablaufen, falls du nicht Ruhe gibst. Ich werde dich dann einfach wegräumen, verstanden?“

Deion fröstelte bei dem Blick des Blonden, und noch stärker als zuvor spürte er ein Kribbeln am gesamten Körper, von dem er ahnte, dass es purer Angst entsprang. Mit krächzender Stimme erwiderte er: „Ich hab´s verstanden.“

Christian erhob sich und trat einen halben Schritt zurück. „Vielleicht solltest du mal langsam deinen Kartoffelschäler wegstecken, bevor die Polizei vorbeikommt, und das Ding kassiert. Und noch eins: Wir werden nie wieder über diesen leidigen Vorfall reden.“

Deion nickte stumm. Mit der Linken zog er die Klinge aus dem Pfeiler und steckte das Messer dann zurück ins Futteral. Danach versuchte er aufzustehen, doch er sank ächzend wieder zurück. Zu seiner Überraschung reichte ihm Christian die Hand.

„Ich bin kein Ungeheuer, Deion. Du warst es, der zu weit gegangen ist. Ich hatte dich von Vornherein gewarnt.“

Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend reichte Deion Christian schließlich seine linke Hand, und dieser zog ihn fast spielerisch nach oben. Unsicher zu Christian sehend meinte er dann: „Mann, du scheinst echt gut im Training zu sein.“

Wenn du wüsstest, dass ich da eben mit Telekinese etwas nachgeholfen habe, dachte Christian amüsiert. Dann meinte er: „Wie geht es dem Handgelenk? Ich sollte ich dich besser zum Krankenhaus fahren.“

Vollkommen verwirrt sah Deion sein gegenüber an und murmelte: „So einen seltsamen Typ, wie dich, habe ich noch nie getroffen.“

Christian grinste schief. „Schon okay, Deion. Du bist ausgeflippt, und das kann ich verstehen. Ich weiß nicht, was ich an deiner Stelle getan hätte. Natürlich können wir uns deswegen nun lebenslange Feindschaft schwören, aber wer braucht den ganzen Stress? Was ich eben gesagt habe, das habe ich auch so gemeint. Wir vergessen, was da eben passiert ist und reden nie wieder darüber, oder aber...“

„Schon klar“, unterbrach Deion ihn. „Oder aber, du lässt den Bär raus, wie eben.“

„Nein, schlimmer als eben.“

Deion verzog das Gesicht und betastete dabei sein rechtes Handgelenk. „Das scheint zumindest verstaucht zu sein.“

„Also los, wir fahren zum SMALLVILLE-MEMORIAL-CENTER.
 

* * *
 

Als Christian eine Stunde später Alicia von Zuhause abholte, da kam sie ihm strahlend entgegen und umarmte ihn liebevoll. Nach einem verlangenden Kuss sah Alicia ihm in die Augen und sagte, glücklich lächelnd: „Ich bin wirklich froh, so einen tollen Typen, wie dich, getroffen zu haben. Und dann mache ich dir so viel Kummer.“

Christian nickte nachdenklich. „Seltsam, aber gerade muss ich daran denken, was mir Lois Lane einmal gesagt hat. Nach der Aktion von den Cheerleadern und dir. Als ihr dieses Meteoritengesöff zusammengerührt habt. Da war ich total sauer, aber Lois hat mich geerdet und mir erklärt, dass ich dir vergeben soll und dass auch ich noch eine Menge Unsinn anstellen werde. Sie meinte, dass ich in dem Fall nur hoffen könne, dass du mir dann ebenfalls verzeihst. Sie hat Recht behalten.“

Sich an Christian kuschelnd gab Alicia zurück: „Irgendwann werde ich mich dafür bei Lois bedanken. Momentan studiert sie ja an der Met-U, wie ich hörte.“

Christian gab ein zustimmendes Brummen von sich. Dann meinte er: „Komm, lass uns jetzt zu Samantha ins Krankenhaus fahren. Und ja, ich weiß, wie gerne du dich in Krankenhäuser begibst, aber sie ist deine beste Freundin, also den Hintern hoch.“

„He, warum plötzlich so erwachsen“, beschwerte sich Alicia gespielt schmollend und ergriff seine Rechte.

Das sage ich dir besser nicht.

Sie stiegen in Christians Pickup, und fuhren in Richtung der Innenstadt von Smallville. Dabei erkundigte sich Alicia bei Christian: „Was denkst du, ob Deion wirklich verstanden hat, dass es aus ist, zwischen uns?“

Christian lächelte hintergründig. „Oh, ich halte ihn für erwachsen genug dafür.“

Nach einem Moment wechselte er das Thema. „Bei meinem letzten Besuch, bei Samantha, da hat sie übrigens Alles raus gelassen, was ihr seit dem Bauchschuss auf der Seele lag. Sie hat in meinen Armen Rotz und Wasser geheult. Ich hoffe, dass es etwas genützt hat und dass es ihr heute wieder besser geht.“

Spontan legte Alicia ihre Linke auf seinen Arm. „Ich bin dir sehr dankbar, dass du für sie da warst, als ich es nicht war.“

„Aber ich hätte nicht fast eine Woche warten sollen“, gab Christian zu bedenken. „Zum Glück hat sie es mir nicht krumm genommen. Weißt du, zum ersten Mal hatte ich dabei den Eindruck, dass wir wirklich gute Freunde sind.“

„Sie mag dich wirklich, auch wenn es zu Beginn gar nicht danach aussah“, stimmte Alicia ihm zu. „Besonders, seit du zwischen ihr und Neil vermittelt hast.“

Christian erinnerte sich vage. „Ja, die Unterhaltung mit Neil war schon sehr speziell.“

Kurz darauf parkte Christian vor dem Krankenhaus, und Hand in Hand standen sie schließlich vor der Tür zu Samanthas Zimmer. Als Alicia eintreten wollte, hielt Christian sie zurück und fragte: „Weiß Samantha von den neuesten Entwicklungen, was uns betrifft?“

Alicia lächelte verstehend. „Sie wird keinen Schock kriegen, uns zusammen zu sehen. Ich habe vorhin mit ihr telefoniert und ihr davon erzählt, dass wir wieder zusammen sind.“

Christian gab Alicia einen schnellen Kuss auf die Wange und öffnete die Zimmertür.

Echte Freude spiegelte sich auf Samanthas Gesicht, als ihre beste Freundin, Hand in Hand, mit Christian zu ihr ans Bett kam. Sie legte das Buch zur Seite, in dem sie gelesen hatte, und empfing sie mit den Worten: „Ihr seid also endlich wieder vernünftig geworden.“

Alicia presste die Lippen aufeinander, bevor sie erwiderte: „Ja, und es war schade, dass du nicht da gewesen bist, um mich in den Hintern zu treten.“

„Oh, das werde ich noch, Baby“, gab Samantha trocken zurück. „Sobald die mich hier entlassen haben, verlass dich drauf.“

Alicia setzte sich zu ihrer Freundin auf die Bettkante und schloss sie in die Arme, während sich Christian dezent im Hintergrund hielt. Als der Blonde kurz durch die Scheibe nach draußen blickte, erkannte er Clark Kent, der offenbar ebenfalls zu Samantha wollte. Schnell wandte er sich an die beiden Mädchen und meinte: „Ich brauche dringend einen Kaffee, Mädels. Bin gleich wieder da.“

Damit schlüpfte er schnell zur Tür hinaus und fing Clark vor dem Zimmer ab. Bevor der Schwarzhaarige etwas sagen konnte, forderte Christian eindringlich, mit abgesenkter Stimme: „Bitte komm mit, Clark, ich muss mit dir reden, bevor wir zu Samantha reingehen. Ich war auf dem Weg zum Kaffeeautomat.“

„Oder aber, das ist nur ein Vorwand, um mich unauffällig vor dem Krankenzimmer abfangen zu können“, erwiderte Clark mit spöttischer Miene. „Was ist denn los?“

„Ja, so könnte das auch gewesen sein“, gab Christian zu. Vor dem Automat hielten sie an und er steckte umständlich einige Münzen in den Automat. Dabei raunte er Clark verschwörerisch zu: „Okay, das klingt jetzt selbst für die hiesigen Verhältnisse schräg, aber ich müsste normalerweise im Jahr 2030 sein. Dafür ist der Christian, der hier sein sollte, nun in meiner Zeit. Ich bitte dich darum, mir etwas zu sagen, und damit meine ich, mir, um Mitternacht, am Samstag den 14. September 2030. Auf dem Balkon meiner Villa in Metropolis. Und zwar sollst du mir zu diesem Zeitpunkt sagen, dass zwischen mir und Alicia wieder alles in Ordnung ist, und dass ich mich mit Deion ausgesprochen habe.“

Clark hob neugierig seine Augenbrauen. „Mehr nicht?

Eindringlich antwortete Christian: „Das ist wichtig, Clark. Flieg am besten einfach von hinten an die Villa heran, dann werde ich dich sehen, wenn du kommst. Vollmond ist dann ja gerade erst vorbei.“

„Was meinst du mit: fliegen?“

Verdammt, was habe ich mir denn dabei gedacht? Christian zögerte kurz und meinte dann leichthin: „Vergiss das einfach. Aber vergiss bitte nicht, worum ich dich eben gebeten habe, denn das ist wirklich wichtig.“

„Ich werde es nicht vergessen“, versprach Clark, ohne weiter darauf einzugehen, was Christian eben vage angedeutet hatte. Als er im letzten Spätsommer mit seiner kryptonischen Seite verbunden gewesen war, da war er geflogen. Also lag das, was Christian eben so ganz selbstverständlich dahin gesagt hatte, durchaus im Bereich des Wahrscheinlichen.

Christian atmete erleichtert auf. „Jetzt sollten wir Samantha und Alicia nicht länger warten lassen, sonst denken die noch, ich hätte den Kaffee in Kolumbien besorgt.“

Erinnerungen an die Zukunft


 

8.

ERINNERUNGEN AN DIE ZUKUNFT
 

Als sich Christian aus den Armen seiner friedlich schlafenden Frau löste und aus dem Bett stieg, war es kurz vor Mitternacht. Er zog zufrieden seinen Morgenmantel an, schlüpfte in die Hausschuhe und erhob sich geschmeidig. Annähernd lautlos schritt er zu der verglasten Tür, die hinaus auf den weitläufigen Balkon führte. Die Säulen, die den Balkon trugen, umliefen unten die Terrasse. Er sog die klare Nachtluft ein und blickte hinauf zum Mond, der sich seit zwei Tagen erst in seiner abnehmenden Phase befand. Dabei fröstelte er leicht. Die Nächte wurden bereits wieder empfindlich kühl.

Eigentlich hatten Alicia und er heute Abend essen gehen wollen, doch dann hatte seine Frau ihn dazu überredet, lieber einen zärtlichen Abend mit ihr hier zu verbringen. Nach der gestrigen Nacht hatte sie mehr gewollt, das war offensichtlich, und er hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt, denn diese Alicia wusste, was sie wollte, und das in wirklich jeder Beziehung, wie er in den vergangenen Stunden festgestellt hatte. Dabei hatten sie die Villa für sich gehabt, denn die Kinder verbrachten das Wochenende bei Alicias Eltern.

Tief durchatmend wollte sich Christian schon abwenden und sich wieder zu Alicia begeben, als er, aus den Augenwinkeln heraus etwas am Himmel bemerkte. Als er hinsah stellte er fest, dass er sich nicht geirrt hatte. Im fahlen Licht des fast noch vollen Mondes sah er eine dunkle Gestalt auf die Villa zu fliegen. Atemlos beobachtete er, wie die fliegende Gestalt heran schwebte, abbremste und dann, sacht wie eine Feder auf dem Balkon landete.

Keine drei Schritte von ihm entfernt stand ein hochgewachsener, breitschultriger Mann in einem körperbetonten, blauen Anzug. Undeutlich erkannte Christian ein fünfeckiges Symbol auf der Brust des Anzuges. Mit einem S darauf. Als sein Blick auf das Gesicht des Mannes fiel, glaubte er zunächst an eine Täuschung. Doch dann kam der Mann zu ihm, und Christian sah im Mondlicht die vertrauten Züge von Clark Kent. Auch wenn er nun sein schwarzes Haar etwas anders trug, es war unverkennbar Clark. Doch sein ganzes Auftreten wirkte härter – entschlossener - männlicher.

„Verdammt, du hast es also endlich gelernt“, entfuhr es Christian und sein Gegenüber lächelte, beinahe etwas verlegen.

„Ja. Dabei war ich selbst nach deinem unbedachten Ausspruch, oder besser dem, deines älteren Ich, gar nicht so sicher, dass ich es wirklich eines Tages können würde.“

„Schön, aber was machst du hier? Und was soll überhaupt der Mummenschanz.“

Clark lachte lautlos. „Was den Mummenschanz betrifft: Das erfährst du noch früh genug. Zu meinem Hiersein: Du hast mich darum gebeten, genau zu diesem Zeitpunkt hier zu erscheinen, damit ich dir etwas sagen kann. Dein älteres Ich, heißt das.“

Christian sah fragend in die blauen Augen seines Gegenübers. „Okay, was also will mir mein älteres Ich mitteilen?“

„Im Grunde war seine Nachricht eher kurz“, gab Clark Auskunft. „Ich soll dir sagen, dass zwischen dir und Alicia alles in Ordnung sein wird, wenn du wieder bei ihr bist. Ich meine damit, wenn du in deiner Zeit wieder bei ihr bist.“

„Was ist mit diesem Deion Grafton? Hat er auch dazu etwas gesagt.“

„Ja“, bestätigte der Mann in Rot und Blau. „Er sagte mir, dass du dich mit Deion Grafton ausgesprochen hast. Und nachdem ich ihn damals, in der Schule, mit einem Verband um seinem Handgelenk gesehen habe, würde ich vermuten, dass das eine ziemlich intensive Unterhaltung gewesen sein muss. Er hat damals Alicias Entscheidung, dass sie mit dir zusammen sein will, akzeptiert. Das solltest du wissen, bevor du zurückkehrst.“

Clark Kent war bereits im Begriff sich abzuwenden, als Christian einen Schritt nach vorne machte, und ihn am Oberarm zurück hielt. „Einen Moment, Clark. Vielleicht irre ich mich ja, aber irgendwie machst du einen so distanzierten Eindruck. Mir liegt sehr viel an unserer Freundschaft. Falls es da, irgendwann in den letzten fünfundzwanzig Jahren, Differenzen zwischen uns gegeben haben sollte, dann komm bald wieder um das zu klären. Ich habe, gerade in der letzten Zeit, erfahren, dass ich alles Andere, als perfekt, bin. Und ich bin oft ein ziemlicher Dickkopf. Darum bitte ich dich um Eins: Mach du bitte den ersten Schritt, falls ich zu blöd bin, das zu tun.“

Clark sah auf die ausgestreckte Hand des Deutschen und zögerte sichtlich, bevor er sie ergriff. „Dann sehen wir uns in den nächsten Tagen. Ach ja, nur Eins noch. Wenn ich diesen Anzug trage, dann nenn mich bitte Superman, und nicht Clark.“

Christian hob fragend seine Augenbrauen. „Wozu das denn? Du trägst keine Maske. Sieht doch jeder, dass du es bist.“

Der Schwarzhaarige schmunzelte vergnügt. „Die Leute sehen nur das, was sie sehen wollen. Darum stellt niemand eine Verbindung zwischen Clark Kent und mir her. Außer er oder sie kennt mein Geheimnis. Außerdem trage ich, als Clark Kent, eine Brille.“

Christian schüttelte den Kopf. „Das klingt nach der schlechtesten Verkleidung, seit ich mir, im Alter von fünf Jahren, den Hut meines Vaters aufgesetzt habe, und dachte, dass mich dann Niemand mehr erkennen würde.“

Sie maßen sich für einen Moment lang. Dann sagte Clark leise: „In Down-Town spielen sie gerade mein Lied. Ein Einbruch. Bis dann, Chris.“

Im nächsten Moment hob der Dunkelhaarige bereits vom Balkon ab.

Christian sah ihm nach und flüsterte leise, wobei er sicher war, dass Clark ihn trotzdem hören konnte: „Schnapp dir die Ganoven, mein Freund.“ Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht, als er sich abwandte und wieder zu Alicia zurückkehrte.
 

* * *
 

Rund fünfundzwanzig Jahre früher löste sich ein älterer Christian aus den Armen einer Alicia, die zu seinem jüngeren Ich gehörte. Dabei dachte er: Es gibt Falsch, absolut Falsch, und es gibt das hier. Doch was wäre die Alternative gewesen? Alicia zurückweisen, und möglicherweise seine Zukunft, und die seiner gesamten Familie, damit aufs Spiel setzen? Nein, dieses Risiko wäre zu groß gewesen.

Auf leisen Sohlen schlich Christian die Treppe hinunter schritt, nackt wie er war, durch den Korridor zu seinem Schreibtisch, den er in einem kleinen Nebenraum aufgestellt hatte. Er setzte sich an den Schreibtisch, nahm einen Briefbogen und griff zu einem der beiden kostbaren Füller, die er viel lieber benutzte, als andere Schreibutensilien. Kurz nachdenkend schrieb er das Blatt rasch voll. Danach nahm er sich einen der Umschläge, die er in einer kleinen Truhe aufbewahrte, faltete den Briefbogen zweimal und schob ihn dann in den Umschlag. Er war im Begriff gewesen ihn unsigniert zu lassen, doch dann blickte er sinnend aus dem Fenster, hinaus in die Finsternis. Flüchtig lächelnd blickte er schließlich auf den Umschlag und setzte Alicias Namen darauf. Dann nahm er den Brief nachdenklich wieder aus dem Umschlag heraus, zerriss ihn in kleine Stücke, und schrieb ihn noch einmal, in einer anderen Formulierung, als zuvor.

Nachdem Christian den zweiten Brief überflogen hatte zerriss er auch den in kleine Fetzen und warf sie zu den anderen in eine kleine Schale. Aus der Küche holte er Streichhölzer, die er normalerweise nur für den Gasherd benötigte. Er verbrannte die Fetzen der ersten beiden Briefe und sah zufrieden auf die Asche, die übrig blieb. Danach schrieb er einige Zeilen auf einen dritten Briefbogen, setzte seine Initialen darunter und lächelte zufrieden. Wobei er dachte: Viel besser. Es hat durchaus seine Vorteile in dieser Zeit, dass ich weiß, was in der nächsten Zeit hier passieren wird.

Nachdem er diesen Briefbogen in den Umschlag gesteckt hatte, verschloss er ihn sorgfältig und legte ihn zunächst auf die Platte des Schreibtisches. Er kramte kurz in der Erinnerung und öffnete dann die zweite Schublade von Oben, auf der rechten Seite des Schreibtisches. Er, sein jüngeres Ich, bewahrte hier seit geraumer Zeit bereits etwas auf, das er sich vor Monaten von seinem Vater erbeten hatte. Das kleine, weinrote Kästchen aus der Schublade holend, löschte er das Licht, und ging mit dem Brief und dem Kästchen in der Hand rüber zum Wohnbereich. Dort legte er beides, gut sichtbar, auf den Tisch der Sitzecke und begab sich danach wieder hinauf zum Schlafzimmer. Als er sich wieder zu Alicia unter die Decke kuschelte, schmiegte sich das Mädchen im Schlaf eng an ihn. Für einen Moment fragte sich Christian, ob er das Richtige getan hatte. Nach einem Moment überflog ein zufriedenes Lächeln sein Gesicht und er schloss, mit einem guten Gefühl, seine Augen.

Als er sie wieder öffnete, war ihm, als habe er sie nur für eine Sekunde geschlossen. Doch etwas hatte sich signifikant verändert. Er befand sich nicht mehr in Smallville. Dazu, das festzustellen, brauchte es nur eines Blickes in das Gesicht seiner Frau, die ihn liebevoll anlächelte und leise hauchte: „Guten Morgen, Geliebter.“

Glücklich darüber, wieder Zuhause zu sein, raunte Christian ebenso leise: „Guten Morgen, Geliebte. Das ist der schönste Sonntag meines Lebens.“

Christians Hand reichte zu ihrer Wange und streichelte sie, mit dem Handrücken. Etwas, das er sich nach der Geburt von Andrea angewöhnt hatte.“

Das Lächeln von Alicia vertiefte sich, wobei sich gleichzeitig eine steile Falte auf ihrer Stirn bildete. Ganz ruhig aber dennoch mit einer gewissen Schärfe in der Stimme stellte sie leise fest: „Du bist also wieder zurück. Dann wüsste ich nun gerne, wo du in den letzten beiden Tagen gesteckt hast, und wer der Andere war, der in dir gesteckt hat. Wenn du dachtest, du könntest mich, nach all den Jahren, hinters Licht führen, dann liegst du falsch. Ich habe da ja eine gewisse Ahnung. Damals, in der Nacht, als du mir den Brief geschrieben hast, nachdem wir wieder zusammengekommen waren, nach unserer kurzzeitigen Trennung, da hast du mich auch so an der Wange gestreichelt. Doch das hast du dir erst nach der Geburt deiner ältesten Tochter angewöhnt, nicht wahr, Herr von Falkenhayn?“

Christian wich dem Blick seiner Frau nicht aus, als er erklärte: „Der Andere war ich. Allerdings mein jüngeres Ich, aus dem Jahr 2005. Ein Experiment in Lex Luthors Labor, in demselben Jahr, hat das ausgelöst.“

Kurz die Bettdecke anhebend und auf den nackten Körper seiner Frau blickend meinte er dann anzüglich: „Diese Tatsache hat dich aber nicht davon abgehalten deinen Spaß mit mir zu haben, wie es scheint.“

„Ich bin auch erst eben dahinter gekommen“, grinste Alicia verführerisch. „Aber da du davon nichts mehr weißt, werden wir das wohl nochmal wiederholen müssen.“

Damit schmiegte sich die Frau eng an Christian der ihr nicht widersprach. Glücklich darüber, sie wieder in seinen Armen zu haben, flüsterte er: „Du vergisst anscheinend, dass ich dieser junge Bursche war, der sich vor Kurzem noch mit dir vergnügt hat.“
 

* * *
 

Als Christian erwachte und seine Augen öffnete lag er allein im Bett. Dabei glaubte er, Alicias Lieblingsparfüm zu riechen, doch das musste eine Täuschung sein. Ein Blick auf den Wecker belehrte ihn darüber, dass es gerade einmal 06:23 Uhr war. Dann erinnerte er sich an das Treffen mit Clark, in der Zukunft, und ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Die Tatsache, zu wissen, dass zwischen ihm und Alicia wieder alles so war, wie es sein sollte, stimmte ihn sehr glücklich. Sein älteres Ich musste ein Frauenflüsterer sein, oder zumindest etwas in dieser Richtung.

Gutgelaunt schwang er sich aus dem Bett, und stutzte, als er die Mädchensachen auf dem Fußboden verstreut entdeckte. Zusammen mit seinen eigenen Klamotten. Wenigstens trage ich jetzt wieder Jeans. Im nächsten Moment wusste er, was das zu bedeuten hatte und eine heiße Welle von Eifersucht erfasste ihn. Gleich im nächsten Augenblick schalt er sich einen Narren. Denn er hatte sich ja nicht anders verhalten, in der Zukunft. In der Zukunft werde ich mich in diesem Moment vermutlich auch verteufeln, das gleicht sich dann aus.

Mit diesem Gedanken schritt er zum Kleiderschrank, holte seinen weißen Morgenmantel daraus hervor und zog ihn über. Dabei fragte er sich in Gedanken, was mit seinem schwarzen Morgenmantel passiert sein mochte.

Der Junge erfuhr es, als er die Treppe hinunter schritt, und Alicia, auf der Couch sitzend und einen Brief in ihren Händen haltend, sah. Doch noch etwas hielt sie in ihrer rechten Hand. Eine kleine, weinrote Schachtel. Woher hat sie denn die?

Als er sich Alicia langsam näherte, sah sie, mit Tränen in den Augen, zu ihm auf. Doch dabei machte sie keinen unglücklichen Eindruck, sondern sie lächelte ihn an. Unendlich glücklich, wie es schien.

Mit einem kurzen Blick auf den Brief stellte Christian fest, dass er ihn geschrieben haben musste, denn er erkannte seine eigene Handschrift.

Alicia legte den Brief schnell zur Seite und erhob sich von der Couch. Auf nackten Füßen, nur seinen schwarzen Morgenmantel tragend, blieb sie dicht vor ihm stehen und blickte ihn überglücklich an. Dabei flüsterte sie: „Ich werde Ja sagen.“

Im nächsten Moment flog Alicia ihrem Freund um den Hals. Dabei fragte sie leise: „Aber wie kommst du auf diese sieben Jahre?“

Die Gedanken des Jungen überschlugen sich. Er rechnete fieberhaft herum, zählte schließlich Zwei und Zwei zusammen, und ahnte dann, worauf Alicia anspielte. Trotzdem etwas unsicher erwiderte er: „Ich dachte mir, dass wir Zwei dann in dem richtigen Alter dafür sein werden. Aber das ist nicht in Stein gemeißelt.“

Ist es doch, verbesserte er sich in Gedanken. Das weiß ich ganz genau.

Nach einer Weile löste sich Alicia von Christian und öffnete die kleine Schachtel, in der ein weißgoldener Ring, mit Diamanten und Saphiren funkelte. Er hatte seiner Mutter gehört, und gehörte, was das Design betraf, zu der Kette, die er Alicia zu ihrem siebzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Mit leuchtenden Augen zu ihm auf blickend forderte Alicia Christian auf: „Steck ihn mir an den Finger, Christian.“

Der Junge griff mit zittrigen Fingern in die Schachtel und beinahe hätte er den Ring fallen gelassen. Nach einer hektischen Jonglieraktion, bei der der Ring einige Male durch die Luft hüpfte, bekam er ihn endlich in den Griff und schob ihn, mit entschuldigendem Grinsen, über Alicias, ebenfalls zitternden, Ringfinger. Er passte, wie für sie gemacht.

Erneut rannen Freudentränen über die Wangen des Mädchens. Mit vibrierender Stimme sagte sie: „Der Ring ist wunderschön.“

Achtlos warf Alicia die kleine Schachtel in ihrer Hand auf die Couch und umarmte Christian erneut. Dabei fragte sie leise: „Bedeutet das, dass wir jetzt verlobt sind?“

Christian, der Alicia fest in seinen Armen hielt, schluckte, bevor er ebenso leise antwortete: „Der Gedanke gefällt mir. Mit der offiziellen Verlobung warten wir aber vielleicht noch. Die soll dann schon in einem ordentlichen Rahmen gefeiert werden. Was mich angeht, Alicia: Ja, ich sehe mich, ab diesem Moment, als mit dir verlobt an. Wenn du das willst. Auch wenn dieser Ring nie ein Verlobungsring gewesen ist.“

„Glaubst du, deine Mom hätte etwas dagegen, dass du ihn mir irgendwann als Verlobungsring ansteckst?“

Ihren Rücken streichelnd, flüsterte Christian zu Alicia: „Nein, ich glaube eher, dass sie sich, im Himmel, darüber freuen wird, wenn der Tag kommt.“

Christian noch enger umarmend, als bisher schon, entgegnete Alicia noch einigen Herzschlägen: „Dann werde ich den Ring wieder in die Schachtel zurück geben, bis du ihn mir, zur offiziellen Verlobung, an den Finger steckst. Wenn das für dich okay ist.“

Christian streichelte die Wange seiner Freundin und küsste sie liebevoll. „Natürlich ist das okay für mich, mein Engel. Ich liebe dich.“

„Und ich liebe dich, Christian Geronimo von Falkenhayn.“

Der Junge kniff die Augen zusammen und sagte, fast leidend: „Mein Zweitname ist aber nicht Geronimo, sondern Gerrit.“

„Das tut mir wahnsinnig leid, Chris.“

Sie lachten und küssten sich erneut, bevor sich Alicia von Christian löste und meinte: „Wir sollten vielleicht langsam daran denken, zu duschen und uns anzuziehen. Und danach mache ich uns Pfannkuchen a la Alicia. Ich hoffe, du hast Alles dafür im Haus.“

„Habe ich“, nickte Christian zufrieden. Nach einem schnellen Kuss auf den Hals des Mädchens gab er Alicia frei und meinte: „Dann aber hopp, unter die Dusche.“

Alicia nahm den kostbaren Ring vom Finger und reichte ihn Christian. „Komm mit!“

„Gleich!“, erwiderte Christian. „Ich will nur schnell den Ring zurück legen.“

Fast unhörbar gab Alicia zurück: „Beeil dich.“

Christian wartete, bis Alicia die Treppe zum Bad hinauf gelaufen war, bevor er schnell den Brief vom Tisch nahm und ihn las.
 

Geliebte Alicia
 

Ich liebe dich, in der Gegenwart, in der Vergangenheit, und auch in der Zukunft.

Ein Leben ohne dich, kann ich mir nicht mehr vorstellen. Darum habe ich Angst

vor der Frage, ob du Ja, oder Nein, sagst, wenn ich dich frage, ob du mich wohl

in sieben Jahren heiraten würdest.

Du bist die einzig Richtige für mich. Du wirst es immer sein.
 

Ch. G. v. F.
 

„Wow – das habe ich dann wohl wirklich ernst gemeint“, flüsterte Christian lautlos, beim Blick auf das Monogramm. In Gedanken versunken legte er den Brief zurück, bevor er den Ring wieder ordentlich in die kleine, weinrote Schachtel legte und sie an ihren bisherigen Platz zurückbrachte. Dann überflog ein glückliches Lächeln sein Gesicht und er folgte dem Mädchen, das definitiv die Zukunft für ihn war, hinauf ins Badezimmer.
 


 

ENDE
 



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