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Vergiss mein nicht

Willkommen im düstersten Kapitel des 19. Jahrhunderts /Otayuri /Victuuri
von

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Stille Nacht, Heilige Nacht

Kapitel 12 Stille Nacht, Heilige Nacht

 

//We three kings of Orient are;

bearing gifts we traverse afar,

field and fountain, moor and mountain,

following yonder star.

 

O star of wonder, star of night,

star with royal beauty bright,

westward leading, still proceeding,

guide us to thy perfect light.//

 

Yura sang leise vor dem Spiegel sein liebstes Weihnachtslied und kämmte das glänzende Haar. Jean hatte ihm ein teures Öl geschenkt, das die engelsgleichen Wellen aus fließendem Gold noch mehr zum Strahlen brachte. Immer wieder durchbrachen die Drahtzacken den schimmernden Fluss und gedankenverloren starrte sein Spiegelbild ihn an.

 

// Born a King on Bethlehem’s plain

gold I bring to crown him again,

King forever, ceasing never,

over us all to reign.//

 

Erst spät bemerkte er, wie eine Hand sich vorsichtig auf seine Schulter legte. Zuerst rechnete er mit Jean, der in letzter Zeit bedrohlich oft seine Nähe suchte, doch er konnte erleichtert aufatmen. Mila stand hinter ihm und strich mit den langen Fingernägeln durch seine Haare. „Du siehst schön aus!“, flüsterte sie und lächelte sanft. In den letzten Tagen waren beide wieder besser aufeinander zu sprechen gewesen, nicht zuletzt, da Yura sich ihr gegenüber fortan mit mehr Respekt verhalten hatte. Seit dem Wiedersehen mit Otabek war das Herz des Jungen erfüllt von tiefer Zufriedenheit und einer Ruhe, die er noch die verspürt hatte. „Weißt du, was noch fehlt?“, holte ihn die Rothaarige aus seinen Gedanken. Verwirrt schüttelte er den Kopf. „Ich flechte dir die Strähnen hier hoch und dann würde dir ein schöner Ohrring sehr stehen.“ Etwas irritiert legte Yura den Kopf schief. Er hatte Mila immer bewundert für die schönen Stücke, die sie stets trug. Allerdings war er nie auf die Idee gekommen, dass ihm so etwas auch stehen würde. „Wie willst du das denn machen?“, fragte er, schwankend zwischen Neugierde und Sorge. Lachend flocht ihm seine schöne Gesprächspartnerin ein paar Strähnen auf der linken Seite über das Ohr und befestigte alles sorgsam mit einer kleinen Spange. „Ach, das tut nicht weh! Versprochen! Lass mich mal machen!“ Geschickt griff sie in eine der Schreibtischschubladen, holte ein kleines Nähkästchen heraus und suchte nach der passenden Nadel. Ängstlich weiteten sich die Augen des Jungen und er sprang auf. „Damit kommst du mir nicht zu nahe! Ich meine es ernst, Finger weg!“, fauchte er und stolperte noch ein paar Schritte zurück. „Komm schon, du willst doch schön aussehen! Morgen ist Heilig Abend und am ersten Weihnachtstag haben wir viel einflussreichen Besuch. Nun zier dich nicht! Hinsetzen!“, lachte Mila zuerst, wurde dann aber ernster und zeigte mit dem Finger auf den Platz am Spiegel. Noch immer blieb Yura ein ganzes Stück von ihr entfernt. „Vergiss es! Niemals!“, kam von ihm nur genauso ernst zurück. Mila lachte wieder und spielte dann ihren Trumpf. „Ich bin mir sicher, dein Otabek wird dich noch schöner finden.“, schnurrte sie und hielt die Nadel vorsorglich schon einmal in die Kerzenflamme. Die Worte hallten immer wieder in Yuras Kopf. Ob sie Recht hatte? Sie wusste, wie man jeden Mann verführt und war es nicht das, was er auch wollte? Otabek sollte nur Augen für ihn haben. Langsam und tief atmend schlich er zurück zu dem Platz. Wie schlimm konnte es schon werden?

Viktor goss vorsichtig das Wasser in die Ginflaschen zum Strecken und musste dabei sehr genau aufpassen, um nichts zu verschütten. Ein markerschütternder Schrei gellte durch die Halle, die Wasserflasche rutschte ab, der Gin lief über und zu allem Unglück war die ganze, frischgeputzte Bar wieder bekleckert. Völlig perplex starrte der Barkeeper zu Yuri, der beinahe vor Schreck alle Karten fallen ließ, die er kunstvoll in den Händen mischte. Alarmiert stürmten beide nach oben, denn sie befürchteten das Schlimmste. Nun standen sie dort, in Jean Gemach, mit einem Gesichtsausdruck, als wäre ein Schwein am Fenster vorbeigeflogen. Yura hockte in einer Ecke, quietsche noch immer und weinte bittere Tränen, während er sein Ohr hielt. Mila verdrehte die Augen und zog entschuldigend beide Schultern hoch. „Soooo schlimm tut es nun auch nicht weh!“, erklärte sie und hielt die blutige Nadel hoch. Yuri musste erst nur schlucken, doch der Anblick von Blut ließ ihn kreidebleich anlaufen. Viktor jedoch brach in schallendes Gelächter aus. Er kannte Mila und ihre Methoden zu gut.

 

Es brauchte eine gute halbe Stunde, bis Yura sich soweit beruhigt hatte, dass er nicht jeden sofort anfiel. Noch immer mit schmerzerfülltem Gesicht, ließ er sich einen schimmernden Perlenohrring von Mila einsetzen. „Nun komm schon, schau nicht so verbittert! Du bist wunderschön!“ Mila hob das Kinn des Jungen an, sodass er sich direkt im Spiegel anschauen musste. Zu seiner Verwunderung hatte sie Recht. Das geflochtene Haar wirkte wie ein Rahmen für den zierlichen Schmuck. Mit einem erfreuten Blick wandte sich die Rothaarige an Viktor. „Ich glaube, du kannst es ihm jetzt sagen.“ Perplex wandte Yura sich um und brachte nur ein atemloses „Was!?“ hervor. Viktor kam aus dem Grinsen gar nicht mehr heraus. „Nun… Jean besucht jedes Jahr an Heilig Abend seine große Familie. Allerdings musst du dir keine Hoffnung machen, dass er dich mitnehmen möchte.“ Sein Gegenüber schien nicht zu begreifen. „Wir haben auch alle unseren freien Abend. Jean hatte Sorge, dass du hier alleine bist. Wir konnten ihm aber versichern, dass wir dennoch eine geeignete Betreuung für dich haben.“ Lachend zeigte der Barkeeper auf sich und Yuri. Noch immer verstand der Junge nicht, was genau man von ihm wollte. „Dummerchen!“, seufzte Mila. „Du wirst uns zum Essen begleiten. Wir alle haben keine Familie, aber wir haben uns. Darum treffen wir alle Freunde zum großen Essen in der Kirche. Der Reverend lädt ein.“, erläuterte Yuri freundlicherweise. Mila verdrehte die Augen, denn sie teilte die Sympathie für den Geistlichen nicht. Sie würde wie immer mit den anderen Mädchen zusammen im Pub feiern. Yura erhob sich rasch und packte Yuri mit geweiteten Augen am Kragen. „Ich darf mit?“, keuchte er und konnte sein Glück kaum fassen. Vorsichtig löste Viktor den Griff der zarten Hände an seinem Liebsten. „Nun mal langsam. Jean ist nicht dumm! Georgi wird dich nicht unbeobachtet lassen. Allerdings darf er dir auch nicht in die Kammer folgen. Du wirst ihm glaubhaft machen müssen, dass du dich mit Kopfschmerzen zurückziehen möchtest und dann sorgsam abschließen. Den Weg aus dem Fenster kennst du. Georgi trinkt sehr gerne mal einen über den Durst und ich werde mich persönlich um einen schönen Trunk für ihn kümmern. Das sollte uns einen ruhigen Abend verschaffen.“ Der Silberhaarige grinste verschmitzt. „Mann, so eine Nummer hätte ich dir gar nicht zugetraut.“, gab Yura kleinlaut zu. Doch in seinem Inneren brannte schon die irre Freude des Wiedersehens. Was sollte er anziehen? Würde er Otabek gefallen? Würde er ihn wieder küssen? Mila schien seine Gedanken zu lesen. „Keine Sorge, ich nehme mir morgen viel Zeit für dich. Aber nun ist es spät und Jean wird bald nach Hause kommen. Sei brav und lass dir nichts anmerken.“ Damit schob sie ihn Richtung Bett. Schnell verabschiedeten sich seine Verbündeten und er ließ sich auf die weichen Samtlaken sinken. Jean würde sicher bald hier sein und er wollte sich lieber schlafend stellen. So konnte er sich zumindest einen Moment vor den Avancen des stürmischen Geschäftsmannes schützen. Aller Hoffnung zum Trotz wusste er jedoch, dass er irgendwann nicht mehr ausweichen konnte. Doch dieser Tag sollte ihn jetzt nicht ängstigen. Er konnte nur an den morgigen Abend denken und an seinen Otabek. Schlaftrunken kuschelte er sich in die vielen Kissen und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

 

Zu Yuras Überraschung wachte er am Morgen alleine auf. Jeans Mantel lag auf dem Sofa und seine gepackte Tasche stand neben dem Schreibtisch, doch er selber schien bereits in der Halle zu sein. Müde rieb der Blonde sich die Augen und streckte sich ausgiebig. Die Freude in ihm flammte erneut auf, als ihm bewusst wurde, dass es nur wenige Stunden bis zu dem Wiedersehen waren.  Beflügelt sprang er aus dem Bett und suchte ein paar Sachen zusammen. Mila würde ihm später ohnehin helfen. Achtlos band er die Haare zurück, schlüpfte in eine schlichte Hose und warf sich ein einfaches Hemd über. Nichts sollte Jeans Misstrauen wecken. Eilig und mit nackten Füßen rannte er aus der Kammer und die Treppe hinunter. Wie er es geahnt hatte, stand Jean unten und gab seinen Angestellten letzte Anweisungen. „Ich bin morgen in aller Frühe wieder zurück. Bis zum großen Abendessen haben wir dann ausreichend Zeit. Geschmückt ist alles, die Gänse sind bestellt und das Haus geputzt.“ Sein Blick fiel auf Yura, der sich ihm langsam näherte. Ein erstes Lächeln wich einer hochgezogenen Augenbraue. „Wie siehst du heute Morgen schon wieder aus?“ Jean schüttelte den Kopf. Dann bemerkte er den neuen Schmuck an seinem Eigentum. „Mila!? Das ist doch dein Werk!“, fauchte er die rothaarige Schönheit an. Yura wollte gerade protestieren, doch er wurde grob von Jean an der Schulter gepackt. „Leg das ab! Du siehst ordinär und billig aus! Geh hoch und mach dich fertig!“ Mit einem groben Stoß schubste er Yura zur Treppe hin. Mila warf ihm noch einen entschuldigenden Blick nach, ehe er in der Kammer verschwand. Was genau wollte Jean denn jetzt noch von ihm? Wütend trat er die Reisetasche des Geschäftsmannes zur Seite. Doch noch ehe er sich weitere Gedanken machen konnte, war sein Herr ihm in das Zimmer gefolgt. „Was bildest du dir eigentlich ein?“, schrie er ihn an und ließ kein Ausweichen zu. Yura begann zu zittern und hielt  vorsorglich die Arme schützend vor sich. Doch Jean schlug ihn nicht, er stand einfach vor ihm und verschränkte die Arme vor der Brust. Langsam entspannte der Junge sich und fasste etwas Mut. „Sie hat es gut gemeint. Es… es sollte dir nur gefallen. Bitte entschuldige!“, log er mit unschuldiger Miene. Jeans Grinsen kehrte zurück und Yura atmete erleichtert ein. „Nun gut, wenn es dir gefällt, dann will ich mal nicht so sein! Aber morgen erwarte ich eine ordentliche Erscheinung, denn meine Kunden sind hochrangige Richter, Geschäftsleute und Fabrikbesitzer. Da möchte ich nicht, dass du aussiehst, wie eine dahergelaufene Hure, verstanden?“ Jeans Worte verletzten den Jungen zutiefst, doch er nickte ergeben. Es würde der Tag kommen, an dem er ihn für all das zur Rechenschaft zog. Darauf würde er warten. „Möchtest du dann meine Kleidung wählen? Nicht, dass ich dich wieder verärgere. Ich werde morgen früh hier auf dich warten.“, flüsterte er leise und senkte den Kopf. „So ist es brav! Sei lieb und benimm dich heute Abend, ich möchte keine Klagen von Georgi hören. Bis morgen, meine Blüte!“ Gewaltsam drückte er dem Blonden einen Kuss auf die Lippen, nahm seine Tasche sowie den Mantel und verschwand eilig. Nur wenige Sekunden nachdem Yura alleine war, verzog er angeekelt das Gesicht. „Du wirst sehen, wie brav ich sein kann.“, sprach er zu sich selber und schob noch ein verächtliches „Bei einem anderen Mann!“ hinterher. Nun wollte er sich aber nicht die Vorfreude nehmen lassen und zog hoffnungsvoll diverse Kleidungsstücke aus dem Schrank. Dabei fiel sein Blick auf die neuen Stücke, die er extra beim Schneider in Auftrag gegeben hatte. Sie waren sorgsam mit einem Leinenbeutel umspannt. Jean hatte sie ihm für den morgigen Abend gekauft. Eigentlich wäre es doch zu schade, wenn sie nur dafür dienen würden?

 

Über den Tag hinweg ließ sich Georgi immer mal bei Yura blicken, klopfte fest gegen die Tür und erwartete, dass der Junge öffnete. Pflichtbewusst tat er es, versuchte jedoch mit jedem Mal wehleidiger zu schauen und immer mal eine Bemerkung über seine beginnenden Kopfschmerzen zu machen. Dem Wächter erschien das wohl plausibel genug, um ihm etwas mehr Ruhe zu gönnen. Mila jedenfalls kam wie versprochen gegen Abend und begann beherzt, das goldene Haar zu entwirren und in feine Strähnen zu legen. „Möchtest du es offen tragen? Oder soll ich dir das Oberhaar flechten?“, fragte sie neugierig und hielt probeweise ein paar Strähnen nach hinten. Yura überlegte angestrengt. „Ein paar Strähnen sind ok, der Rest soll so bleiben.“, entschied er nach einer halben Ewigkeit. „Zeigst du mir, was du anziehen möchtest?“, wollte die Rothaarige wissen, als sie mit ihrem Werk zufrieden war. Etwas verlegen zeigte Yura auf den Leinensack. Ganz vorsichtig öffnete Mila die Bänder daran und bekam den Mund vor Staunen nicht mehr zu. Unter dem groben Stoff verbarg sich eine dunkelrot schimmernde Samtjacke mit zwei goldenen Knopfreihen und verschiedenen Ornamenten. „Das ist ja unglaublich schön!“, hauchte sie verliebt und strich über das weiche Material. Etwas verlegen rieb sich Yura den Nacken und seufzte. „Soll ich es anziehen?“, fragte er unentschlossen und erntete nur ein heftiges Nicken. Nachdem Mila noch eine passende schwarze Hose und ein ebenso dunkles Hemd aus dem Schrank gesucht und er alles angezogen hatte, zupfte sie an dem Jungen herum, wie an einer Puppe. „Du siehst umwerfend aus, prächtig, wunderschön!“, zählte sie verträumt auf und konnte sich eine hastige Umarmung nicht verkneifen. „Du wirst ihm so gut gefallen, das verspreche ich dir!“ Yuras Blick erhellte sich noch mehr und er wollte ihr antworten, doch vor der Tür gab es einen dumpfen Aufprall. Irritiert sahen beide sich an und beschlossen nachzusehen. Vorsichtig öffnete Mila die Tür und musste sich ein Lachen verkneifen. Georgi lag laut schnarchend auf dem Flur und schien ziemlich weggetreten zu sein. Viktor hatte also sein Wort gehalten. „Nun aber husch, husch! Schließ die Tür von innen zu und dann klettere hinaus. Sonst kommst du noch zu spät.“ Mit einem Arm wurde Yura von ihr zurück in die Kammer geschoben und konnte gerade noch ein schnelles „Ich danke dir!“ zurückwerfen, da wurde die Tür schon zugezogen. Mit klopfendem Herzen schloss er zweimal ab und warf einen letzten Blick in den Spiegel. Heute Abend würde er einmal frei sein können, auch wenn es nur für den Moment war.

 

Flink kletterte er hinab und freute sich, dass Viktor und Yuri bereits auf ihn warteten. Jedoch standen sie neben nur einem Pferd. Selbst Yura war klar, dass dies nicht funktionieren würde. Bevor er noch fragen konnte, hörte er das Klappern von Hufen auf den unebenen Pflastersteinen. Viktor konnte sich mal wieder das Grinsen nicht verkneifen, half Yuri auf das Pferd und sprang selber hinter ihm auf. In der Dunkelheit der Gasse konnte Yura kaum etwas erkennen, spürte jedoch, wie er an der Taille hochgezogen wurde. Das schwarze Pferd schnaubte laut und stieg etwas, doch eine feste Umarmung hielt den Jungen. Er kannte dieses Gefühl genau und lehnte sich sachte nach hinten. „Otabek…“, hauchte er glücklich und schmiegte die Wange an die Brust. Während des Rittes verloren die Männer kein Wort, denn jeder war froh, dass er bei den eiskalten Temperaturen schnell ins Warme konnte. Der Schnee fiel noch immer unaufhaltsam und peitschte wie Nadelstiche in die Gesichter. Rasch brachten sie die Tiere in einen Unterstand, damit auch sie nicht unter dem Wetter leiden mussten. Yura war überrascht, wie gut Otabek mittlerweile zurechtkam, dennoch sah er ihm die große Anstrengung an. Vorsichtig stützte er ihn beim Gehen, damit er etwas entlastet wurde. „Ich danke dir!“, hauchte der Arbeiter ihm einen Kuss auf die Stirn.

In der Kirche duftete es herrlich nach Lorbeeren und Orangen, während die vielen Kerzen ein festliches Licht ausstrahlten. So etwas Schönes hatte Yura noch nie gesehen. Die große Halle wirkte wie ein Festsaal angesichts des langen Tisches mit dem herrlichen Naturschmuck. Tannenzweige und Zapfen waren als Tischschmuck gebunden und wie ein Läufer in der Mitte der Tafel angeordnet. Dazwischen lagen feine Äpfel in Goldpapier gewickelt und waren mit Strohsternen vollendet. Otabek hatte Yuras staunendes Gesicht bemerkt und lächelte gütig. „Es gefällt dir also?“, fragte er vorsichtig und stützte sich auf einer der Bänke ab. Noch ehe der Junge antworten konnte, wurden sie stürmisch begrüßt. „Meine Kinder!“, rief der Reverend erfreut. „Kommt herein, kommt herein! Setzt euch! Ach, was für eine Weihnachtsfreude!“ Hastig umarmte er Viktor und Yuri gleichzeitig. Dabei schnürte er ihnen fast die Luft ab. Dann erst wandte er sich an Yura. „Hast du nun doch den Weg zurück auf die tugendhaften Pfade gefunden?“, wollte er mehr scherzhaft wissen und ignorierte Otabeks warnenden Blick. „Nun gut, Gott vergibt den Sündern!“ Yura musste sich zusammenreißen, um nicht ein würgendes Geräusch von sich zu geben, aber er wollte sich für Otabek Mühe geben. Dieser würdigte es mit einem Lächeln, kannte er doch die Allüren des Priesters zu gut. „Hey, fangt nicht ohne uns an!“, schimpfte Michele, der gerade mit zwei weiteren Männern den Kirchenraum betrat. Chris quietsche vor Freude und stürmte zu ihnen. „Leo, was habe ich dich lange nicht gesehen!? Wie laufen die Geschäfte in Übersee? Hast du uns neue Geschichten zu erzählen? Ach und Emil! Emil, sag schon, wie lange warst du nicht mehr hier?“, plapperte der Priester vor sich hin. Yura trat einen Schritt näher an Otabek heran, hatte er doch noch etwas Angst vor Michele. Schließlich hatte er nie die Gelegenheit oder gar Lust gehabt, sich für seinen Diebstahl zu entschuldigen. Es war also vorerst besser, in Otabeks Nähe zu bleiben.

Yuri schien sich ebenfalls sehr zu freuen, denn er sprach angeregt mit dem Fruchthändler vom Markt. Diesen hatte Yura vor kurzem erst bei Jean gesehen, als der für das Weihnachtsfestmahl besondere Orangen haben wollte. Seine Aufmerksamkeit wurde wieder auf die Festtafel gezogen und er sah dort kleine Karten liegen, die scheinbar beschriftet waren. Ehrfürchtig nahm er eine davon hoch und kniff angestrengt die Augen zusammen. Warum nur hatte er nie lesen gelernt? Die Schrift sah so schön verschnörkelt aus und war mit feinster Tinte auf dickes Papier geschrieben. „Gefällt dir das?“, fragte Otabek sanft als er sich zu ihm gesellte. Verschreckt und verschämt nickte Yura. „Ähm… ja… Ich finde es wundervoll!“ Er zwang sich zu einem Lächeln. Otabek schien also wirklich lesen zu können und nun wollte er auf gar keinen Fall auffliegen. „Reverend Chris lässt es sich nie entgehen, die Menükarte zu schreiben, auch wenn es wie jedes Jahr nur Gänsereste gibt.  Aber wir sind eben keine feinen Leute, entschuldige!“, erklärte der Ältere weiter. „Was sagst du zur Beilage?“ Yura schluckte. Beilage? Stand das auf dem Zettel? Hastig suchten seine Augen nach Buchstaben, die er kannte und vielleicht zu einem Wort zusammensetzen konnte. Ein vielsagendes Lächeln legte sich auf Otabeks Lippen. „Nun…“ begann der Blonde zögerlich. Er konnte keinen einzigen der furchtbar verworrenen Buchstaben enträtseln. „Das!“ Er zeigt einfach auf ein Wort in der Hoffnung dieses würde Sinn ergeben. „Ah!“, entfuhr es Otabek und er sah sogar für einen Moment so aus, als hätte Yura genau das Richtige getroffen. Dann jedoch musste er lachen, wobei der Junge den Grund dafür überhaupt nicht verstand. „So, du würdest also Licht als Beilage bevorzugen?“ Yura verstand noch immer nicht, doch Otabek nahm ihm den Zettel aus der Hand, drehte ihn einmal um 180 Grad und drückte ihn ihm wieder in die feinen Finger. „Erstens, du hältst es falsch herum und zweitens, da steht der diesjährige Segenswunsch des Reverends geschrieben: In der Heiligen Nacht möge Frieden dein Gast sein und das Licht der Weihnachtskerzen weise dem Glück den Weg zu deinem Haus.“ Der Junge lief knallrot an und schämte sich dafür, dass er glaubte, dass Otabek nichts merken würde. Traurig senkte er den Blick und wünschte sich wieder in seine einsame Kammer zurück. „Yura, nun sei nicht traurig! Du musst dich für mich nicht verstellen. Es ist nicht schlimm, dass du nicht lesen kannst.“, versuchte der Arbeiter ihn zu ermuntern. „Ich kann es dir beibringen, wenn du magst!“ Sofort fiel ihm der Jüngere in den Arm und schmiegte sich fest an ihn. Diese Antwort genügte dem Dunkelhaarigen und er gab ihm einen sanften Kuss auf das seidige Haar.

„Kinder, setzt euch! Viktor, hilf mir mit den Schüsseln und Yuri, gieß allen einen kräftigen Schluck Gin ein!“ Der Priester rieb sich kurz die Hände und erhob dann beide Arme zum Gebet. Vorsichtig hielten sie alle sich an den Händen und lauschten den Worten des Geistlichen. „…und schlussendlich hat uns der Herr zusammengeführt. Wir danken für das reiche Mahl und das Geschenk des Miteinanders. Amen.“ Yura konnte dem ganzen Geschwafel wenig abgewinnen, doch Otabek schien es sehr wichtig zu sein und so wollte er ihn nicht enttäuschen. Dem Festmahl stand nun nichts mehr im Wege und jeder bediente sich am reichlichen Ausmaß. Neben den Gänseresten, die mit Lorbeeren und Orangensaft gebraten wurden, gab es den traditionellen Christmas Pudding, eine Art Serviettenkloß mit Trockenfrüchten und Tierfett. Zudem standen verschiedene Beilagen mit frischem Gemüse und Wurzeln auf der Tafel. Yura wusste gar nicht, wie ein richtiges Weihnachtsfest gefeiert wurde und war völlig perplex von all diesem Glanz. Alle plauderten ausgelassen miteinander und schienen so befreit wie sonst nie. Erst Otabeks Stimme riss ihn aus den Gedanken: „Du siehst wunderschön aus! Welch ein Glück, dass es dir an nichts mangelt.“ Irgendetwas an der Tonlage gefiel Yura gar nicht. „Was meinst du damit?“, fragte er gereizt. Otabek hob entschuldigend die Hände. „Nichts, wirklich! Ich habe nur das Gefühl, dass du diesem Leben nicht gerade abgeneigt bist.“ War der Arbeiter etwa eifersüchtig? Wieso sagte er dies gerade jetzt zu ihm. Yura legte den Kopf etwas schief. „Wenn du etwas zu sagen hast, dann sag es direkt!“, fauchte er leise, damit die anderen die Situation nicht mitbekamen. Sein Liebster seufzte. „Nun sei mir nicht böse. Ich kann mich damit einfach nicht arrangieren. Du gehörst nicht ihm, du gehörst zu mir.“ Ruckartig erhob sich der Junge und es wurde still in der Runde. Sorgenvoll blickte Chris zu dem jungen Gespann. „Ich brauche kurz frische Luft.“, verabschiedete sich der Blonde nur knapp und lief zum Portal heraus. Otabek rieb sich mit einem Seufzen die Stirn. „Ist schon in Ordnung!“, entschuldigte er sich ebenfalls und versuchte mühevoll, dem Jungen zu folgen. Zu seinem Glück stand dieser tatsächlich nur vor den Türen in der Winterkälte. „Merk dir eines: Ich gehöre niemandem. Ich bin kein Spielzeug, das einfach den Besitzer wechselt. Wenn du und Jean eure Egokämpfe austragen wollt, bitte! Aber ich bin nicht der Preis, den der Gewinner bekommt!“, keifte Yura enttäuscht. Otabek sah ihn verzweifelt an, hielt jedoch Abstand. „Yura, das meinte ich damit nicht. Ich... ich bin nur so verzweifelt. Wenn ich nur daran denke, dass er ständig in deiner Nähe ist. Ich möchte nichts mehr, als dich bei mir haben, in meinen Armen.“ Er ging einen Schritt näher auf den Blonden zu. „Wenn ich nur könnte, wie ich wollte, dann würde ich dir ein anderes Leben bieten.“ Langsam dämmerte Yura, was genau seinen Liebsten quälte. „Du meinst also, ich würde das alles nicht sofort hinter mir lassen? Denkst du wirklich, dass Schmuck, Kleidung, Bedienung und gesellschaftliche Konversationen das sind, was ich will?“ Er war völlig schockiert, dass Otabek ihn so einschätzte. „Nein, das ist es nicht. Aber ich möchte, dass du sicher bist.“, erwiderte dieser leise. Sie standen sich eine ganze Weile gegenüber, bevor Otabek das Schweigen wieder brach. „Ich weiß selber nicht, was ich denken soll. Aber bitte, lass uns nur einmal, nur für diesen Abend vor der Realität fliehen. Ich möchte nichts mehr als deine Nähe, deine Liebe. Auch wenn es nur für diesen Moment ist.“ Er hatte Recht und das wusste Yura. Jetzt war kein Zeitpunkt für verletzende Worte oder falsche Schlüsse. Mit einem leichten Lächeln nickte der Blonde, ergriff Otabeks Arm und half ihm zurück zum Tisch. Während ihrer Abwesenheit hatte Yuri seine Geige gestimmt und stand auf einer der Bänke. Freudig legte er den Bogen an und spielte ein irisches Weihnachtslied nach dem anderen. Viktor, der schon mehr als genug Gin getrunken hatte, tanzte mit Chris wild zu den Klängen, während Phichit und Leo im Takt klatschten. Yura fand das alles so seltsam, dass er fast vor Lachen weinen musste. Otabek genoss es, wie frei und fröhlich der Junge sein konnte. Für seine ernsten Worte hätte er sich im Nachhinein doch lieber geohrfeigt. Der Tag würde kommen, an dem sie sprechen mussten, doch heute, heute sollten sie frei sein. Der Rest des Abends verging in Tanz, Gesang und Freude. Hin und wieder tauschte das junge Paar verstohlene Küsse aus, die Körper eng aneinander geschmiegt. Doch auch die zauberhafteste Nacht musste einmal enden…



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Ookami-no-Tenshi
2017-10-14T11:30:59+00:00 14.10.2017 13:30
Ach wie niedlich! *.*
Ich habe die Story erst gerade entdeckt und in einem Stück durchgelesen. Erst dachte ich mir, Yuri on ice, naja...

Aber du hast die Charaktere in eine geniale Geschichte hineingeworfen und ich werde sie auf jeden Fall weiter verfolgen! ^-^

Lg. Ookami-chan
Antwort von:  reuab_art
17.10.2017 17:54
Ich danke dir herzlich! <3
Es freut mich sehr! Eigentlich hatte ich schon vor, sie nur noch bei fanfiktion.de zu aktualisieren, aber dann lade ich sie gerne weiter hier hoch! <3
Gerade ist das neue Kapitel in Arbeit und hoffentlich bis zum Wochenende fertig.

Herzliche Grüße
Antwort von:  Ookami-no-Tenshi
17.10.2017 18:25
Hurra! Dann freue ich mich schon jetzt darauf :D


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