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Nightfall - Körperlos

von

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Kapitel eins

»Sie muss gehen«. Verdutzt bleibe ich auf dem Weg zu meinem Zimmer stehen. Wer hat da gerade gesprochen? Ich schleiche mich näher an die angelehnte Arbeitszimmertür. »Nein, niemand geht!«. Diese Stimme kann ich eindeutig zuordnen, sie gehört meiner Mutter. Dann höre ich ganz leise ein Zähneknirschen.

»Denk doch mal nach, verdammt! Willst du uns alle in Gefahr bringen?!« Jetzt werde ich richtig hellhörig. Und jetzt weiß ich auch, wer da spricht. Es ist Gabriela, meine Schwester. Offensichtlich ist sie früher von ihrem Internatsaufenthalt zurückgekehrt als geplant. Normalerweise bleibt Gabby drei Monate am Stück dort, ehe sie uns für eine Woche besuchen kommt.

»Wir werden schon eine Lösung finden.«

»Ach ja?«

Wutschnaubend kommt Gabby aus dem Zimmer gestürmt, für sie hat die Unterhaltung wohl keinen Sinn mehr. Als sie mich sieht, hält sie abrupt an und bedenkt mich mit einem bitterbösen Blick. Anstatt einer Umarmung zur Begrüßung, faucht sie mich an. »Wie lange lauschst du schon?« Bevor ich ihr eine giftige Antwort geben kann, taucht meine Mutter im Türrahmen auf. »Beruhige dich, Gabriela!«. Ich spüre, dass sie irgendetwas aufwühlt. Gedankenverloren runzelt sie die Stirn.

Ohne weiteren Kommentar rauscht meine Schwester wieder davon. So ist das immer. Sie kommt, wir sehen uns an und dann geht es los. Wir streiten uns am laufenden Band.

Ich beschließe, mich darum erst einmal nicht weiter zu kümmern. Fragend sehe ich meine Mutter an.

»Was ist hier los?« Der Gesichtsausdruck meiner Mutter ist so entrückt, als hätte gerade ein Geist gesprochen. Dann scheint sie sich wieder zu fangen. »Also...nicht viel«, antwortet sie ausweichend.

»Jetzt im Ernst? Ich bin doch nicht blöd. Gabby und du, ihr habt euch doch wegen irgendwas gestritten. Und was meinte Gabby mit Gefahr?«

»Hör zu, Venni, ich kann jetzt nicht darüber sprechen. Ich...muss erst mit John reden.« Sie seufzt resigniert. Definitiv ist etwas nicht in Ordnung. Normalerweise ist meine Mutter nicht so abwesend und schweigsam. Bevor ich noch etwas sagen kann, dreht sie sich um und geht leise murmelnd davon. Verwirrt blicke ich ihr hinterher.

Mir fällt ein, dass ich ja eigentlich zu meinem Zimmer wollte, und setze meinen Weg über den langen Flur fort.

Dort falle ich auf mein Bett und ziehe die Knie an. Was ist bloß los? Offensichtlich stimmt etwas nicht. Und es macht mich wütend, nicht darüber aufgeklärt zu werden. Dummerweise hält es ja keiner für nötig, den Mund auf zu machen. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als mit zum Zerreißen gespannten Nerven auf meinem Bett zu verharren und zu warten. Okay, ich muss nicht unbedingt auf meinem Bett sitzen bleiben. Mein Zimmer sieht aus, als wäre eine Bombe eingeschlagen, ich kann es also genauso gut auch aufräumen. Ich hebe sämtliche Klamotten vom Boden auf und stopfe sie in einen bereits vollen Wäschekorb. Dann stelle ich wahllos meine Schulbücher auf und bringe den Rest in Ordnung.

Wirklich funktionieren tut das alles nicht, immer wieder schweifen meine Gedanken ab. Betrübt wandere ich mit den Augen durch den Raum. Vor zwei Jahren habe ich ihn dunkelblau gestrichen, weil man mich kaum von der vorher weißen Wand unterscheiden konnte. Jedes Jahr werde ich etwas blasser, meine Haare werden etwas heller und meine Augen etwas durchsichtiger. Jedes Mal, wenn ich in einen Spiegel sehe, steht mir ein Gespenst gegenüber.

Langsam lege ich mich hin und starre an die Decke. Ich werde noch verrückt.

Plötzlich klopft es an der Tür. Es ist wohl doch mehr Zeit vergangen, als ich dachte.

Ohne auf eine Antwort zu warten streckt mein Vater den Kopf ins Zimmer. »Komm.«

Ich folge der knappen Anweisung. Mein Vater führt mich stillschweigend in sein Arbeitszimmer, wo meine Mutter und Gabriela bereits in den großen Ledersesseln sitzen. Der Raum ist generell sehr groß, und auch irgendwie beeindruckend. An den Wänden stehen reihenweise Regale mit hunderten von Büchern und Ordnern. Trotzdem ist genügend Platz für einen massiven Mahagonitisch, einen antiken Schreibtischstuhl, vier braune Ledersessel und einen kleineren Wohnzimmertisch. Oh, und natürlich ist da noch der riesige, dicke Perserteppich, der dem Raum ein besonderes Flair verleiht.

»Setz dich.«

Ich setze mich auf den Sessel gegenüber meiner Mutter. »Sagt ihr mir jetzt endlich, was los ist?«, frage ich ungehalten. Meine Eltern tauschen vielsagende Blicke. Skeptisch schaue ich vom einen zum anderen. »Also?«

Die Schultern meiner Mutter sacken nach vorne. Noch nie scheint sie so verzweifelt gewesen zu sein. Ich mache mich auf das Schlimmste gefasst und atme tief durch. Es bringt mich aus dem Gleichgewicht, meine sonst starke Mutter so zu sehen. Als hätte sie aufgegeben.

Weil meine Mutter kein Wort heraus bringt, beginnt mein Vater zu reden. »Haven, Schatz, es ist kompliziert.« Shit. Wenn er meinen vollen Namen benutzt, kann es nur um etwas Ernstes gehen.

Ich werde nervöser, als ich es sowieso schon bin und beginne, an meinen Haaren zu spielen.

»Du...Wir sind nicht...«, bringt meine Mutter unsicher hervor. Es scheint ihr körperliche Schmerzen zu bereiten, zu sagen, was sie sagen will.

»Du gehörst nicht zu dieser Familie.« Ruckartig drehen alle ihren Kopf zu Gabby, die etwas abseits sitzt. Sie hat ein verbittertes Lächeln aufgesetzt und verschränkt die Arme vor der Brust.

»Wie bitte?«, ist meine schwache Antwort. »Das sagt sie jetzt nur so, oder?« Meine Stimme klingt leicht panisch.

Mir ist bewusst, dass Gabby und ich kein gutes Verhältnis haben, seit sie auf dieses Internat geht, aber das kann sie doch unmöglich ernst meinen. Von meinem Vater erntet sie einen bösen Blick, von meiner Mutter einen schockierten.

»Hör zu, sie hat es falsch ausgedrückt. Natürlich gehörst du zu dieser Familie. Aber wir sind nicht deine leiblichen Eltern.«

Das ist es. Die Bombe ist geplatzt, und ich falle aus allen Wolken. Es ist, als hätte man mir den Teppich unter den Füßen weggezogen. Ich kann es nicht glauben. Ich will es nicht.

»Das kann nicht euer Ernst sein! Habt ihr mich achtzehn Jahre lang angelogen?« Anklagend zeige ich auf Gabby. »Hat sie es die ganze Zeit gewusst?«

»Venni, es tut mir so leid. Wir wollten dich nur schützen.«, versucht meine Mutter zu erklären. Natürlich, das muss ja kommen. Erzähl dem Kind, das du großgezogen hast einfach, dass du es nur zu seinem Schutz angelogen hast, und alles ist gut.

»Meinst du, das macht es besser?« Ich spüre Tränen hochkommen und versuche, diese nicht loszulassen.

Meine Mutter startet einen weiteren Versuch. »Wir wollten dich wirklich nicht anlügen. Aber es ging nicht anders. Gabby weiß es erst seit drei Jahren.«

»Erst?! Warum weiß sie es und ich nicht? Habe ich nicht eher das Recht, es zu erfahren?«, schreie ich sie an. Ich verliere langsam aber sicher die Fassung. Als ich im Begriff bin, aufzustehen, schaltet sich mein Vater wieder ein. »Bleib hier! Wir sind noch nicht fertig.« Was wollen sie denn noch? Ist das nicht schon schlimm genug?

Ich bin wirklich sauer. Es fühle sich beinahe so an, als würde ich platzen, wenn ich mich nicht beruhige.

»Es fängt an«, flüstert meine Mutter besorgt. Das ist nicht für mich bestimmt, aber es verwirrt mich. Mein Vater reißt die Augen auf, und Gabby sieht mich hasserfüllt an. Plötzlich ist alle Aufmerksamkeit auf mich gerichtet. »Was ist?«, schnauze ich sie an.

»Schau, deine Hände.« Ich hebe meine Hände vors Gesicht und erschrecke. Sie verschwimmen vor meinen Augen! Fast kann man durch sie hindurchsehen. Panisch schiebe ich die Ärmel meines Pullovers hoch und sehe, dass auch meine Arme seltsam flackern. Mal scheinen sie fest zu sein, mal durchsichtig, als könnte ich hindurchgreifen. Und je aufgeregter ich werde, desto stärker wechseln meine Arme und Hände von fest zu durchsichtig. Was zum Teufel?!

»Was geht hier vor?«

Kaltherzig zuckt Gabby mit den Schultern. »Du bist kein Mensch.« Was soll ich denn bitte sonst sein?

Mein Vater unterbricht Gabby, bevor sie noch etwas sagen kann. »Ich weiß, dass das alles sehr viel für dich ist, Haven. Aber wir hätten nicht gedacht, dass es so früh sein würde.«

Und schon wieder werde ich sauer. »So früh? Was denn bitte? Hattet ihr vor, erst mit der Sprache rauszurücken, wenn ich alt und grau bin?« Ich wünschte, sie würden endlich mal auf den Punkt kommen.

»Die Welt ist nicht so, wie du glaubst. Und auch nicht so, wie wir dir beigebracht haben. Aber es ist zu gefährlich, jetzt mit dir darüber zu reden. Hier sind wir nicht länger sicher.« Diese Antwort will ich definitiv nicht haben. Gabby scheinbar auch nicht, denn sie schnappt nach Luft.

»Wir? Du meintest sie. Wegen ihr ist es hier nicht mehr sicher. Schick sie weg und wir können wieder ein normales Leben führen.« Ich frage mich, was ich meiner Schwester getan habe.

»Gabriela! Wir sind immer noch eine Familie, vergiss das nicht. Es spielt keine Rolle, dass du nicht unser leibliches Kind bist, Venni, wir lieben dich genauso sehr wie Gabby. Und es ist auch nicht wichtig, dass du nicht so bist wie wir.« Es beruhigt mich, dass ich nicht ausgesetzt werde, aber ich bin aufgewühlter als je zuvor.

»Könnt ihr jetzt nicht mal sagen was hier vor sich geht?«, frage ich ungeduldig.

»Es tut mir leid, ich kann mir vorstellen, wie belastend das für dich sein muss. Aber wir können dir jetzt wirklich nicht weiterhelfen. Wir hatten beschlossen, dich nach Auldmound zu bringen, wenn es so weit ist. Da es früher notwendig ist als gedacht, müssen wir auch früher fahren.« Beinahe hätte ich mir auf die Zunge gebissen. Also soll ich doch weg. Ich weiß, dass Auldmound in Schottland liegt, und dass es das Internat meiner Schwester ist.

»Wann?« hauche ich entsetzt.

»In drei Tagen.« Das darf nicht wahr sein. In drei Tagen soll ich alles hinter mir lassen. Mein Zuhause, meine Freunde. Aaron. Es läuft gerade so gut zwischen uns. Schon wieder bin ich kurz davor, zu weinen. »Nein! Ich will nicht weg! Ich werde nicht gehen. Und ihr könnt mich auch nicht dazu zwingen, ich bin volljährig!«

Jetzt scheint meinem Vater der Geduldsfaden zu reißen. Dieses Gespräch belastet ihn sichtlich.

»Du wirst dorthin gehen, und wenn wir dich fesseln müssen. Es geht hier nicht nur um dich!«

Gabby grinst hinterhältig, sagt aber nichts. Stattdessen spricht meine Mutter weiter.

»Es ist ungeheuer wichtig, dass du dorthin gehst. Dort wirst du alles erfahren, die ganze Wahrheit. Dann kannst du entscheiden, ob du dableiben möchtest oder nicht.« Tränen glitzern in ihren Augen. Kurze Strähnen ihres braunen Haares fallen ihr in die Stirn und lassen sie noch aufgelöster wirken.

Ich fühle mich taub. Keine Sekunde länger kann ich hier sitzenbleiben. Tranceartig stehe ich auf und gehe auf die Tür zu. Keiner hält mich zurück.

Automatisch tragen mich meine Füße zu meinem Zimmer. Das Gespräch hat keine halbe Stunde gedauert, und trotzdem ist mein Leben aus den Fugen gerissen worden.

Wie aus dem Nichts taucht plötzlich Gabriela vor mir auf und hindert mich am Weitergehen.

Ich starre sie nur an, darauf wartend, dass sie Platz macht.

»Geh freiwillig, kleine Schwester.« Sie speit das Wort aus, als wäre es giftig.

»Was habe ich dir eigentlich getan, Gab?«, erwidere ich resigniert.

Wutschnaubend stößt sie mir mit dem Finger auf die Brust. »Wegen dir musste ich vor drei Jahren nach Auldmound. Wegen dir hat sich mein ganzer Lebensrhythmus verändert. Wegen dir habe ich meine Freunde verloren. Du siehst meine Eltern öfter und länger als ich, dabei bist du nicht einmal ihr Kind!« Während dieser Tirade ist sie immer lauter geworden. Ich bin wie vor den Kopf gestoßen. »Was kann ich denn dafür?«, schreie ich zurück.

»Du existierst! Ich bin sowohl sauer auf dich als auch auf Mum und Dad. Ich will dich nicht in Auldmound haben. Also geh. Verschwinde von hier und komm nie wieder!« Sie verschwindet so schnell, wie sie gekommen ist und lässt mich verzweifelt und fassungslos stehen. Wie sehr sie mich wohl hassen muss, um so heftig zu reagieren?

Im Prinzip ist unser Streit kindisch, denn wir sind beide erwachsen und eigentlich nicht auf unsere Eltern angewiesen. Dennoch hängen wir sehr an ihnen.

Als ich meinen Weg fortsetze, sehe ich aus dem Augenwinkel einen Schatten am Flurfenster vorbeihuschen. Langsam gehe ich darauf zu und spähe nach draußen in die Nacht. Unser im Vergleich zum Haus mickriger Garten liegt verlassen da, aber ich bemerke einen Schemen an der Grenze zum Nachbargrundstück. Er steht still, doch ich meine, einen Menschen ausmachen zu können. Ich erschrecke heftig, als der Schemen mir den Kopf zudreht und ein paar unmenschlich rot glühende Augen zum Vorschein kommen. Der Schemen setzt sich wieder in Bewegung, zurück zum Fenster. Blitzschnell lasse ich den Rollladen runter und renne in mein Zimmer, wo ich auch sofort das Fenster abdunkele. Schon vorher hatte ich kurze Begegnungen mit solchen Wesen, und immer enden sie damit, dass ich mich irgendwo verkrieche.

Auch jetzt setze ich mich auf mein Bett und ziehe die Decke über den Kopf. Am liebsten würde ich im Boden versinken und nicht mehr auftauchen. Wenigstens habe ich aufgehört zu flackern, aber Gabrielas Vorwürfe stecken mir noch in den Knochen, genauso wie das aufwühlende Gespräch mit meinen Eltern. Ich bin furchtbar sauer und traurig zugleich, aber ich beschließe, dass meine Eltern meine Eltern bleiben werden, egal ob leiblich oder nicht. Immerhin haben sie mich achtzehn Jahre lang großgezogen und mir hat es nie an irgendetwas gefehlt. Trotzdem werde ich ihnen nicht so schnell verzeihen können.

So viel Aufregung an einem Tag kann kein Mensch verkraften, also rufe ich meine beste Freundin June an.

»Hey June. Ich hab dir einiges zu erzählen.«

Kapitel zwei

Zwei Tage später treffe ich mich mit meinen Freunden. Unsere fünfköpfige Clique ist für jeden von uns eine Art zweite Familie, jeder kann jedem zu hundert Prozent vertrauen. Ich hatte June am Telefon nicht alles erzählt, und ich freue mich nicht gerade darauf, ihnen meine Abreise zu beichten. Gestern hatte ich die ganze Zeit überlegt, wie ich das am besten über die Bühne bringen konnte, war aber zu keinem annehmbaren Schluss gekommen.

Also trotte ich unter der warmen Junisonne mit hängendem Kopf zum Hyde Park.

Auf den Straßen ist viel los und ich begegne einer Menge Leute. Keiner bemerkt mich. So ist das immer, wenn ich durch Londons Gassen laufe. Mir ist das nur Recht.

Von meinem Zuhause bis zum Park brauche ich eine Viertelstunde. Wie zu erwarten, ist der Park zum Bersten voll. Jeder verbringt seine Ferien gerne hier.

Ich schlängele mich durch die Spaziergänger, Mütter mit Kinderwagen, Radfahrer und Rentner mit Rollator zu unserem Treffpunkt am Serpentine Lake. Auch dort ist es voll, aber ich sehe meine Freunde etwas abseits von der ganzen Menge unter einem Baum sitzen.

June winkt mir, als sie mich erkennt. Beim Näherkommen fällt mir ihr angespanntes Gesicht auf, und der Rest strahlt auch eine gewisse Nervosität aus.

»Da bist du ja!« ruft Blaire. Sie ist ebenfalls eine gute Freundin von mir. Liam, ihr Freund, steht zusammen mit Aaron auf, um mich zu begrüßen.

Während Aaron mich umarmt, streicht er mir mit der Hand übers Haar. »Du siehst gequält aus, Süße«, flüstert er mir ins Ohr. Als sein Atem meinen Hals berührt, läuft mir ein wohliger Schauer über den Rücken. Ich schöpfe neuen Mut. In seinen muskulösen Armen fühle ich mich sicher und geborgen, als ob nichts und niemand mir etwas anhaben könnte.

Er lässt von mir ab, und etwas enttäuscht setze ich mich hin. Die anderen folgen meinem Beispiel.

»So, warum hast du uns herbestellt?«, fragt Liam. Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.

»Komm, Avy, wir beißen nicht«, versucht Blaire mit einem Zwinkern die Stimmung zu lockern.

Also beginne ich zu erzählen. Davon, dass ich nicht wirklich die Tochter meiner Eltern bin, und von

Gabby´s rücksichtslosen Vorwürfen. Dass ich zeitweise durchsichtig werde, erwähne ich gar nicht erst. Wer weiß schon, wie sie darauf reagieren würden, wenn ich es ja selbst noch nicht verarbeitet habe.

Ehe ich ihnen erzählen kann, was mir am nächsten Tag noch bevorstand, werde ich von June unterbrochen. Sie fällt mir ungestüm um den Hals. »Oh mein Gott, Süße, das tut mir so leid.«

Ich sehe in die Gesichter meiner Freunde und finde in jedem Mitleid und Anteilnahme. Dadurch fühle ich mich etwas besser. Geteiltes Leid ist eben halbes Leid.

Ich schiebe June sanft von mir weg.

»Ich bin noch nicht fertig«, erwidere ich seufzend. Aaron zieht eine Augenbraue nach oben.

»Sag bloß, du willst dich jetzt auf die Suche nach deinen richtigen Eltern machen.« Es soll wohl eine Art Scherz sein, aber er kommt der Sache näher als er ahnen mag.

»Nicht ganz.« Ich verziehe mein Gesicht. »Ich hab euch doch mal von Auldmound erzählt, dem Internat in Schottland, das Gabriela besucht.« Vier entsetzte Gesichter blicken mir entgegen. Sie sind alle erstarrt und rühren sich nicht. Die bedrückende Stille zwischen uns wird von fröhlichem Kreischen und Lachen ausgefüllt, über unseren Köpfen fliegen singende Vögel, und von irgendwo hört man heitere Musik, die uns zu verhöhnen scheint.

June findet als erste ihre Sprache wieder. »Nein. Nein! Du darfst nicht gehen!« Atemlos springt meine kleine Freundin auf und tigert hin und her. Ähnlich außer sich rauft Liam sich die Haare.

»Wann? Und für wie lange?«

»Morgen.«

Wenn es irgendwie möglich ist, steigert sich das Entsetzen noch. Aber dann wird Aarons Miene undurchdringlich und er sieht mich forsch, fast wütend, an.

»Mensch, Mädchen, du bist achtzehn! Sag ihnen einfach, dass du hier bleibst und die Sache ist gegessen.« Er sagt es, als wäre ich so dumm, nicht selbst darauf zu kommen.

Ich versuche, ihn zu beruhigen. »Meinst du nicht, das hätte ich versucht? Aber ich werde so oder so dorthin gehen müssen. Mir wurde selbst noch nicht gesagt, warum genau. Wenigstens kann ich entscheiden, ob ich dort bleiben möchte oder nicht, wenn mir alles erzählt wurde.« Hoffnung schimmert in Blaires Augen, und June hört auf, hin und her zu laufen.

»Dann kommst du also wieder? Versprich es uns, ja?« Ich würde ihnen jedes Versprechen geben. »Natürlich komme ich zurück. Ich weiß nur nicht, wie lange es dauern wird.«

Erleichtert stößt June Luft aus. »Das macht nichts, solange du zu uns zurück kommst.« Damit ist die größte Aufregung vorbei. Meine Freunde sehen einigermaßen zufrieden aus, sofern sie es eben sein können. Abgesehen von Aaron. Er ist immer noch abwesend und stiert vor sich hin.

Ich nehme mir vor, später noch einmal mit ihm allein zu reden.

Eine Weile beobachte ich ihn aus den Augenwinkeln, während Liam, Blaire und June herumalbern.

Der leichte Wind bläst ihm seine dunkelblonden Haare in die Augen und lässt ihn verwegen aussehen. Seine braunen Augen werden von der Sonne angestrahlt, sodass sie einen goldenen Ton bekommen. Er gefällt mir. Für mich ist er der bestaussehende Junge Londons.

Als er seinen Kopf zu mir dreht, lächele ich ihn schüchtern an.
 

Der Tag nimmt also seinen Lauf. Wir haben noch über einige belanglosere Dinge geredet. Schule zum Beispiel. Nicht mehr lange, dann sind wir alle fertig mit unserem Abitur. Ich weiß noch nicht, was ich dann tun werde. Studieren will ich nicht unbedingt, aber direkt eine Ausbildung zu starten erscheint mir auch nicht besonders erstrebenswert. Am liebsten wäre mir ein Auslandsjahr. Vielleicht in den Staaten, vielleicht auch in Australien.

Im Gegensatz zu mir wissen Blaire und June schon ganz genau, was sie machen wollen. Blaire wird Medizin studieren, und June will Lehrerin werden. Für mich ist weder das eine noch das andere geeignet. Den Jungs geht es ähnlich wie mir. Keiner von beiden hat sich schon festgelegt.
 

Nach und nach wird der Park leerer. Ich halte es für eine gute Idee, ebenfalls zu gehen, denn ich will vor Einbruch der Dunkelheit zuhause sein.

Die anderen stimmen mir zu. Schweigend laufen wir den Weg entlang. Ich bleibe etwas zurück, mit Aaron an meiner Seite. »Wir müssen reden«, sagt er. Ich nicke nur. In diesem Moment dreht June sich um. »Wo bleibt ihr beiden?«, will sie wissen.

»Komm June, lass die zwei. Wir gehen schon mal«, antwortet Liam an meiner statt und packt sie am Arm. Er scheint zu wissen, was Aaron mit mir zu bereden hat. Ich werde nervös, spiele an meinen Haaren. June dreht sich noch ein letztes Mal um. In ihrem Blick liegt Skepsis, aber auch etwas anderes. Ich kann es nicht zuordnen.

Langsam verschwinden Liam, Blaire und June aus meinem Sichtfeld. Abwesend starre ich auf die Stelle, an der wir vorhin noch gesessen haben. Unterschwellig spüre ich, dass es das letzte Mal gewesen sein könnte.

Plötzlich greift mich etwas am Arm. Es ist nur Aaron, aber ich erschrecke trotzdem. »Was ist nur los mit dir?« Alle Härte ist aus seinem Gesicht gewichen. Er zieht mich in seine Arme und drückt mich an seine Brust. Ich glaube, keine Luft mehr zu bekommen.

Dann schiebt er mich auf Armeslänge von sich und sieht mir tief in die Augen. Immer noch kriege ich keinen Ton aus meinem Mund.

»Avy, oh Avy. Du...Ich möchte nicht, dass du gehst.«

»Aber...ich muss. Ich will doch auch nicht weg. Ich habe keine Wahl«, flüstere ich niedergeschlagen. Jetzt nimmt er mein Gesicht zwischen seine Hände. Seine warmen Handflächen glühen an meinen Wangen, und ich bin unfähig, mich zu rühren. »Man hat immer eine Wahl, Haven.« Er küsst mich. Der Strudel aus Unglauben, Freude und Hoffnung lässt mein Innerstes bersten. Ich verliere mich in diesem Kuss. So lange habe ich darauf gewartet. Mein Herz hämmert in unablässigem Stakkato gegen meine Brust, und ich spüre das Seine ebenfalls. Es ist, als würden wir miteinander verschmelzen. Wo sein Kuss erst zögernd und zärtlich war, wird er jetzt tiefer, fordernd.

Zu schnell ist alles vorbei. Außer Atem sehe ich ihm in die Augen.

»Kommst du mich besuchen? Ich kann nicht so lang ohne dich sein, egal, wie lange ich dort sein muss.« Seine Antwort kommt langsam, aber bestimmt. »Ich würde dich überall besuchen kommen.«

Dann, als würde er für und wider abwägen, fügt er noch etwas hinzu. »Ich liebe dich. Sei meine Freundin.«

Ich bin überwältigt. Obwohl das Wort nicht annähernd mein Befinden in diesem Moment beschreibt. Ich schwebe auf Wolke sieben und weiß nicht mehr, wie man wieder herunterkommt. Will ich auch gar nicht. Das muss ein Traum sein. Ich spüre ein Grinsen, dass sich von Ohr zu Ohr auf meinem Gesicht breit macht. Mir schmerzen schon fast die Wangen, solange stehe ich einfach nur grinsend da. Aaron zieht die Augenbrauen zusammen. Ich Idiot. Er erwartet eine Reaktion, und ich habe nichts Besseres zu tun als ihn anzustarren wie ein Honigkuchenpferd.

»Aaron...entschuldige bitte. Ich bin glücklich. Und...ich liebe dich auch.« Die letzten Worte sind nicht mehr als ein sanftes Flüstern. Jetzt sieht er genauso aus, wie ich mich fühle. Lachend hebt er mich hoch und dreht sich mit mir im Kreis, bevor er mich wieder absetzt. Dieser Moment könnte schöner nicht sein.

Ein lautes Knacken lässt mich zusammenzucken und macht unsere Zweisamkeit zunichte. Plötzlich wird mir bewusst, wie dunkel es schon geworden ist. Ängstlich sehe ich mich um, kann aber nichts entdecken.

»Was ist denn los?« fragt Aaron vorsichtig. »Ich dachte, da wäre etwas. Und es ist schon ziemlich dunkel. Ich sollte nach Hause gehen.« Enttäuschung flackert in seinem Blick, aber schnell wirkt er wieder fröhlich. »Na schön. Ich bringe dich heim.« Es klingt verlockend, nicht allein gehen zu müssen. Allerdings wohnt Aaron in die entgegengesetzte Richtung, und er müsste einen langen Umweg machen. Mir ist unwohl bei dem Gedanken, ihn so lange im Dunkeln zu wissen.

Ich schüttele den Kopf. »Nein, ist schon in Ordnung.« Als er zu widersprechen ansetzt, werfe ich ihm einen bösen Blick zu. Diese Diskussion hatten wir schon häufig. Er seufzt und gibt sich damit geschlagen. Seltsam. Müsste er nicht eigentlich darauf beharren, jetzt wo wir ein Paar sind? Immerhin habe ich meinen Willen bekommen, obwohl ich mich schon auf einen kleinen Streit eingestellt hatte.

Aaron zieht mich noch einmal in seine Arme und küsst mich auf die Stirn. »Sagst du mir, wann du fährst?« bittet er mich. »Ich möchte dich gerne verabschieden.«

Traurig nicke ich, für kurze Zeit habe ich meine Abfahrt verdrängen können. Aber nun ist sie mir nur allzu präsent.

Sacht lege ich Aaron die Hände auf die Wangen und küsse ihn. Der Kuss ist kurz, dennoch laufen die Schmetterlinge in meinem Bauch wieder Amok. Seufzend lasse ich von ihm ab und trete einen Schritt zurück. »Bis morgen dann.«

»Ja. Pass auf dich auf, Haven.«

Ich wende mich von ihm ab. Als ich ein paar Schritte gegangen bin, drehe ich mich um. Mein Freund hat sich nicht von der Stelle bewegt und starrt mich an. Seine Mundwinkel heben sich zu einem schiefen Lächeln, und er winkt kurz. Bevor ich meinen Weg fortsetze, winke ich zurück.
 

Ich fühle mich beobachtet. Schnell husche ich um die nächste Ecke, wo ich mit Schrecken feststellen muss, dass die Laternen ausgefallen sind. Eine Einzige flackert hin und wieder. Eilend versuche ich fort zu kommen. Plötzlich sehe ich jemanden unter der flackernden Laterne stehen. Mein Herz rast. Bestimmt nur ein Fußgänger, versuche ich mich zu beruhigen. Vergebens. Denn in diesem Moment glotzen mich jene rotglühenden Augen wieder an. Alles in mir schreit nach Flucht. So schnell ich kann renne ich wieder zurück, doch am Ende der Gasse steht eine weitere Kreatur mit grässlich roten Augen. Ich bin eingeschlossen. Gefangen. Vor Angst schnürt sich meine Kehle zu, und fieberhaft suche ich nach einer Möglichkeit zu fliehen. Während ich mich umsehe, kommen

beide Gestalten näher auf mich zu. Ich beginne zu zittern. Und nicht nur das. Ich löse mich auf. Blitzschnell ändert sich mein Körper von fest zu durchsichtig und bleibt schließlich durchsichtig. Panisch versuche ich mich zu bewegen, aber meine Arme und Beine gehorchen mir nicht. Was passiert mit mir?! Beide Kreaturen sind schon so nah, dass ich ihren rasselnden Atem hören kann. Immer noch bin ich bewegungsunfähig. Ein erstickter Schrei dringt aus meiner Kehle. Meine Augen wollen sich mit Tränen füllen, bleiben jedoch staubtrocken. Scheiße, verdammt! Fassungslos starre ich die eine Schreckgestalt an, während ich die Blicke der anderen in meinem Rücken spüre. Mein Gegenüber grinst hämisch und entblößt dabei zwei Reihen spitzer Zähne.

»Jetzt haben wir dich.« Ich bin völlig entsetzt. Würde mein Körper mir noch gehorchen, wäre ich jetzt nur noch ein Häufchen Elend auf dem Boden. So lange verfolgen sie mich nun schon, und durch meine eigene Dummheit haben sie mich doch noch erwischt. Zu meiner Angst mischt sich Wut über mich selbst. Da beginnt mein Körper erneut zu flackern. Ich hoffe inständig er möge jetzt fest bleiben. Aber bevor ich das testen kann, sehe ich an der Ecke der Gasse die Umrisse eines Mannes stehen. Dieser scheint eindeutig menschlich zu sein, jedenfalls leuchten seine Augen nicht rot. Schon im Begriff, nach Hilfe zu rufen, zischt etwas langes, dünnes knapp an meinem Kopf vorbei.

Ein schwarzer Pfeil bohrt sich mit einem dumpfen Geräusch in die Stirn der sprechenden Kreatur, begleitet von seinem schmerzvollen Aufschrei. Ich traue meinen Augen nicht, als die Gestalt zu Staub verfällt und vom Wind davongetragen wird. Die andere Kreatur reagiert mit einem wütenden Knurren, das sofort von einem weiteren dumpfen Geräusch unterbunden wird.

Mehr als verwirrt und verängstigt suche ich die Quelle des Geschosses und finde eine zweite Person hinter der flackernden Laterne. Sie steht breitbeinig da, einen Bogen in den Händen haltend.

Ich merke, dass ich mich wieder bewegen kann, aber trotzdem rühre ich mich nicht vom Fleck,

denn weitere Kreaturen tauchen hinter dem Mann auf.

»Na los, lauf!«

Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Ich sprinte los, vorbei an dem Bogenschützen. Im Dunkeln kann ich nichts erkennen, allerdings ist mir im Moment egal, wer mir das Leben gerettet hat.
 

Außer Atem öffne ich die Haustür und sinke von innen dagegen. Mein Kopf erscheint mir viel zu schwer, also lege ich ihn auf meinen Knien ab.

»Haven, da bist du ja!« Ich hebe den Kopf wieder und sehe meine Mutter vor mir stehen. Sie zieht mich hoch. »Ich hab mir solche Sorgen gemacht.« Woher soll sie denn wissen, dass etwas passiert ist? Es kommt vor, dass ich nicht immer pünktlich bin, und sonst macht sie auch kein Drama daraus. Zu schwach zum Antworten nicke ich nur. Da kommt auch mein Vater in den Flur.

»Geh packen.«

»John!« Wie erstarrt sehe ich zwischen Mutter und Vater hin und her.

»Wie, packen?« Erwartet er ernsthaft von mir, jetzt noch meine Sachen zusammen zu räumen? Auch meine Mutter scheint nicht begeistert.

»Sie ist eben erst die Tür rein gestürzt. Ich bin froh, dass nichts schlimmeres passiert ist. Lass ihr doch noch etwas Zeit.«

»Zeit? Wir haben keine Zeit, Addison. Sollen sie jetzt auch noch ins Haus kommen?! Wir brechen heute Nacht noch auf«, gibt mein Vater wütend zurück.

Oh mein Gott. Heute Nacht! Ich will meinem Vater etwas gemeines entgegenschleudern, aber er hat uns bereits den Rücken zugekehrt und geht. Meine Kinnlade muss irgendwo auf Bodenhöhe sein, als meine Mutter mich an den Schultern packt.

»Es tut mir Leid, Süße. Aber er hat recht.« Damit geht auch sie und ich bin wieder alleine im Flur.

Das ist unglaublich. Ich fühle mich wie eine richtige Waise. Scheinbar können sie mich nicht schnell genug wieder loswerden, jetzt, da ja alles aufgeklärt ist. Jedenfalls in dieser Hinsicht. Was das alles zum Teufel soll weiß ich immer noch nicht.

Ich bekomme das Gefühl nicht los, einfach abgeschoben zu werden wie ein schwererziehbarer Teenager. Zwar werden Addison und John immer meine Eltern sein, dennoch kann ich ihnen wahrscheinlich nicht verzeihen, dass sie mich all die Jahre belogen haben.

Vielleicht hat sich Gabby genauso gefühlt, als sie die Wahrheit über mich erfuhr und aufs Internat musste.

Mechanisch gehe ich zu meinem Zimmer. Dort steht bereits ein großer brauner Koffer. Ich weiß nicht, wie lange ich fortbleibe, daher fällt es mir schwer, den Koffer zu füllen.

Schneller als mir lieb ist, ist er voll. Es tut weh, all meine Bücher hier zu lassen, obwohl ich ja versprochen habe, bald zurück zu kommen. Für drei ist aber noch Platz und behutsam lege ich sie in den Koffer. Schweren Herzens schließe ich das Gepäckstück.

Ich lasse den Blick durch mein Zimmer schweifen und frage mich, wann ich es wieder sehen werde. Dann nehme ich meine rote Sweatshirt Jacke vom Stuhl, ziehe den Koffer in den Flur und schließe leise die Tür.

Mein Vater wartet bereits an der Haustür. Stumm nimmt er mir den Koffer ab, um ihn ans Auto zu bringen.

Draußen hat es zu regnen begonnen. Ein Blitz zuckt über den Himmel, und in der Ferne hört man Donnergrollen. Ironischerweise scheint diese Nacht keine gute Nacht für eine überstürzte Abreise zu sein. Ganz meiner Meinung entsprechend.

»Komm schon, willst du Wurzeln schlagen?« fragt meine Mutter und scheucht mich aus dem Haus.



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