Ein Gerücht
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Als Madara den Aufzug betrat, richteten sich sämtliche Blicke kurz auf ihn, bevor jeder den Kopf zur Seite drehte oder zur Seite wandte. Es war auffällig, dass sie einen unauffälligen Eindruck erwecken wollten; es fehlte nur noch, dass sie anfingen zu pfeifen.
Bereits heute Morgen, als er in den Aufzug getreten war, um in die obere Etage zu fahren, hatte er das Gefühl gehabt, dass etwas nicht stimmte: Alle um ihn herum hatten geschwiegen und ihm ab und an verstohlen geglaubte Blicke zugeworfen. Er hatte das dumpfe Gefühl gehabt, dass es um ihn ging; dass sie etwas über ihn wussten, das er selbst noch nicht wusste. Und das füllte ihn nicht gerade mit positiven Empfindungen.
Madara wollte zu Izuna. Mit eiligen Schritten bewegte er sich durch den Gang, gelegentlich nach links und rechts schauend. Er glaubte, nicht richtig sehen zu können, als er merkte, wie zwei Weibsbilder zu ihm sahen und offensichtlich tuschelten. Aber Madara hielt nicht an, sondern beschleunigte seine Schritte und platzte beinahe schon voller Wut in Izunas Zimmer herein.
Während Sakura, die brav die Buchführung gemacht hatte, erschrocken zusammenzuckte, schielte Izuna seelenruhig zu Madara und fragte: „Stimmt etwas nicht, Madara?“
„Dort draußen wird getuschelt“, antwortete Madara ohne Umschweife wie ein kleiner Junge seiner Mutter und setzte sich auf die Kante von Izunas Tisch. „Über mich. Etwas ist im Umlauf, das rieche ich.“
Izuna schmunzelte und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Du hast eine ausgezeichnete Nase, also muss da was dran sein. Bist du dir sicher, dass es etwas mit dir zu tun?“
„Ja doch. Du musst für mich rausfinden, was da im Gange ist.“ Er sah zu Sakura hinüber, die ihn mit ihren grünen Kuhäuglein ansah. „Wissen Sie irgendetwas, Frau Haruno?“, wandte er sich an sie, und als sie den Kopf schüttelte, fuhr er sich durch das Haar.
Kurz vor der Pause kam Izuna zu ihm hoch, und obwohl Madara ihn darum bat, die Tür beim Betreten nicht zuzumachen, schloss Izuna die Tür hinter sich. Sein Gesicht war ausdruckslos, als er zu Madaras Tisch trat. „Du hattest recht, es ist etwas im Umlauf. Und es hat tatsächlich was mit dir zu tun.“
„… Und?“, fragte Madara gedehnt und voller Ungeduld. Er lehnte sich über den Tisch. „Was sagt man über mich? Spuck's aus, Izuna.“
Izuna rieb sich den Nacken. „Dass du mit Sakura Haruno ein Verhältnis am Arbeitsplatz hast.“
Madara blinzelte. Einmal, zweimal. Dass du mit Sakura Haruno ein Verhältnis am Arbeitsplatz hast. Dann quollen ihm die Augen beinahe aus den Höhlen. „Bitte was?“, fragte er ungläubig nach. „Was hast du da gerade gesagt? Ist das dein Ernst? Wieso ich? Wieso Sakura Haruno?“
„Na ja“, murmelte Izuna und wedelte mit den Händen. Madaras Reaktion, die nur so vor Zerstreuung zeugte, konnte er nur zu gut verstehen. „Weißt du noch, der Vorfall mit dem Lippenstiftabdruck? Jemand hat das mitbekommen und dieser jemand hat auch zufällig mitbekommen, wie ihr alleine im Aufzug stecken geblieben seid. Und dann hat dieser jemand offenbar auch noch mitbekommen, wie du dich mehr in ihrer Gegenwart aufhältst als in der Gegenwart anderer Auszubildender.“
Madara holte tief Luft, atmete ebenso tief aus und rieb sich dann die Augen. „Wer hat das Gerücht, dass ich etwas mit dem Mädchen am Laufen habe, in die Welt gesetzt? Wir müssen die Situation klären.“ Es war ihm mehr als unangenehm, als so jemand gesehen zu werden.
Madara Uchiha trennte seit jeher strikt Berufliches von Privatem, und wenn er eine Beziehung zu einer Ausbildenden hätte, würde er das nicht auf der Arbeit zum Besten geben, zumal es verboten war, Beziehungen am Arbeitsplatz zuschauzustellen. Das galt für den Geschäftsführer und für jeden Angestellten. Es störte das kollegiale Miteinander und lenkte nur ab.
„Das weiß ich nicht“, erwiderte Izuna. „Wenn wir denjenigen, der das Gerücht anhand von falschen Indizien in die Welt setzte, finden wollen, müssen wir schon jeden in diesem Haus prüfen. Ich erledige die eine oder andere Extraaufgabe für dich, aber das ist mir“, Izuna zog seine drei Finger ein und ließ den Zeigefinger über seinen Daumen schweben, „ein wenig zu viel Arbeit. Deshalb schlage ich dir diesen Wunsch vorab aus.“
Madara starrte ihn mit einem finsteren Blick an.
„Ist ja gut, ist ja gut“, wehrte Izuna ab. „Ich werde es ja machen.“
„Weiß Haruno davon?“
„Ich glaube nicht, nein. Ich habe sie nicht gefragt, aber sie benimmt sich nicht so, als würde sie etwas von der ganzen Sache wissen.“
Madara kratzte sich gestresst am Kopf. Er fragte sich, ob er Sakura davon unterrichten oder ob er ihr nichts erzählen sollte. Letztendlich entschied er sich dazu, sie von dem grassierenden Gerücht in Kenntnis zu setzen. Sie war betroffen und musste es wissen. Sollte er es ihr erzählen? Oder sollte er Izuna damit beauftragen?
„Die Pause hat begonnen. Du solltest Sakura davon in Kenntnis setzen“, richtete er das Wort an Izuna. Als Geschäftsführer wollte er nicht solche Botschaften überbringen.
„Gut“, antwortete Izuna und ging.
Madara lehnte sich zurück und dachte mit gerunzelter Stirn nach. Hielt er sich wirklich so oft in Sakuras Gegenwart auf, dass es schon verdächtig wirkte? Sakura war eine gute Auszubildende und er hatte sie einige Male dafür gelobt und ihr häufiger über die Schulter geschaut als den anderen. Alles andere waren zufällige Begegnungen gewesen, und kein einziges Mal hatten explizit private Angelegenheiten ihre Gespräche gefüllt.
Sakura war nicht mehr im Büro, als Izuna seinen Kopf durch den Türspalte steckte. Er ging davon aus, dass sie in die Küche gegangen war, weshalb er seine Füße sogleich in Bewegung setzte. Eigenartigerweise machte er sich Sorgen um sie. Aber war es wirklich eigenartig, sich Sorgen um seine Auszubildende zu machen? Vor allem, wenn sie das Ziel irgendwelcher Gerüchte wurde?
Uchiha&Co. beherbergte so einige weibliche Mitarbeiter, die Madara fanatisch aus der Entfernung anhimmelten, und Izuna traute auch einem Erwachsenen zu, sich wie ein verliebter Teenager aufzuführen und vermeintliche Konkurrenz auszuschalten. Sakura war als Neuankömmling eine gute Zielscheibe für den einen oder anderen.
Glaubte man, dass es einfach war, etwas zu beweisen und jemanden zu feuern, irrte man sich. Denn erstens waren besagte Angestellten sehr raffiniert in ihrem Vorgehen, und zweitens waren sie ausgesprochen gute Mitarbeiter.
Gerade als Izuna um die Ecke bog, um die Küche zu betreten, hörte er jemanden aufschreien. Zweifelsohne eine Frau. Zweifelsohne Sakura.
Als er in die Küche lief, hatte sich eine Traube aus Angestellten um Sakura und eine andere Mitarbeiterin versammelt, und Izuna musste sich seinen Weg durch die kleine Menge kämpfen wie auf einem überfüllten Marktplatz.
Auf Sakuras rosafarbener Bluse prangten dunkle Flecke. Es handelte sich zweifelsohne um Kaffee. Kaffee, den die andere Mitarbeiterin ausgeschüttet hatte.
„Es tut mir wahnsinnig leid, Frau Haruno“, plapperte die Angestellte, deren Ohren mit langem und funkelndem Schmuck behangen waren. „Das war ein Versehen. Ein Glück war der Kaffee nicht heiß!“ Sie stellte die leere Tasse auf eine Theke ab, und Izuna beobachtete, wie sie halbherzig nach Papiertüchern griff und sie Sakura reichte.
Izuna machte eine unzufriedene Miene und trat nach vorne. „Was ist hier passiert? Ist alles in Ordnung, Frau Haruno?“
Sakura lächelte gezwungen. „Es ist alles in Ordnung, Herr Uchiha. Es war ein Versehen“, erwiderte sie und tupfte mit den Tüchern über die großen Kaffeeflecken, die sich mittlerweile zu einem einzelnen großen zusammengetan hatten.
Izuna glaubte nicht an ein Versehen, aber er sprach es nicht aus. Er wusste nicht, ob Sakura selbst an ein Versehen glaubte oder sich das einredete.
„Kommen Sie kurz mit“, forderte er Sakura auf.
„Aber ich habe noch nicht gegessen“, erwiderte Sakura verwundert.
„Es wird nicht lange dauern, versprochen.“
Izuna führte sie in ein leeres Büro und schloss Tür und Fenster ab, was Sakura ein mulmiges Gefühl bescherte. Izuna bat sie, sich hinzusetzen, dem sie zögernd nachging.
„Das wird ein komisches Gespräch, Frau Haruno“, setzte Izuna sie vorab in Kenntnis. „Aber leider muss das sein. Wissen Sie, es kursiert das Gerücht, das Sie und meinen Bruder, Madara Uchiha, betrifft.“
Sakuras Augen weiteten sich und sie öffnete den Mund. „Bitte?“, gurgelte sie. „G-Gerücht? Welches Gerücht denn, Herr Uchiha?“
Izuna kam sofort auf den Punkt und gab erst dann die Gründe wieder, weshalb man vermutete, dass Sakura und Madara ein Verhältnis am Arbeitsplatz hatte.
Schließlich endete er mit Folgendem: „Und ich denke, ehrlich gesagt, dass man Ihnen den Kaffee mit hinterhältigster Absicht auf die Bluse geschüttet hat. Ich kenne diese Angestellte, sie hat eine Zeitlang für Madara geschwärmt, bis herauskam, dass er in einer Beziehung war. Jetzt ist er wieder solo und das ist irgendwie nach draußen gedrungen, weshalb einige Damen den Verstand verlieren drohen. Leider haben wir keinerlei Beweis dafür, dass es Absicht gewesen ist.“
Izuna nahm eine nachdenkliche Pose ein und sah zu Sakura hinüber. „Aber ich denke nicht, dass sie es war, die das Gerücht in die Welt gesetzt hat. Sie hat sich vor dem Gerücht nur provozieren lassen. Seien Sie bitte vorsichtig.“
Sakura fuhr sich gestresst durch das Haar. Sie würde definitiv ein Weilchen brauchen, um das Gesagte zu verarbeiten. Nicht nur, dass jemand es auf sie abgesehen zu haben schien, nein: Sie wusste nun, dass Madara Uchiha jetzt Single war. Wie informativ! Sie war auch Single. Dann konnten sie ja zusammen single sein, wenn schon solche bescheuerten Gerüchte verbreitet wurden, ohne etwas über die Person an sich zu wissen.
„Ich kann es nicht fassen“, murmelte sie und blickte auf den dunklen Fleck auf ihrer Bluse. „Sie hat sich nicht einmal vergewissert, dass das Gerücht wahr ist…“ Sakura brach ab und sah mit einem Lächeln zu Izuna. „Vielleicht war es wirklich nur ein Versehen.“
„Momentan können wir nur spekulieren und uns auf vergangene Begebenheiten stützen. Es mag sein, dass es keine Absicht gewesen ist, aber selbst dann würde ich bezweifeln, ob es ihr leid getan hat. Wie ich es bereits sagte: Seien Sie bitte vorsichtig. Ich werde investigieren und wir können die Sache dann klären.“
Sakura fühlte sich eigenartig. Ihre Brust fühlte sich schwer und warm. Sie nickte langsam.
Izuna öffnete die Tür des Büros und prüfte, ob jemand zu sehen war. Glücklicherweise war der Gang leer, weswegen er sogleich Sakura heranwinkte.
„Wir wollen ja nicht, dass die Gerüchteküche brodelt. Übrigens haben wir morgen kurz vor Schluss eine Versammlung. Aber wir gehen zusammen hin.“
Sakura nickte.
Izuna begleitete Sakura in die Küche und verbrachte die gesamte Pause mit ihr, die anderen Angestellten immer im Auge habend. Es verhielt sich keiner sonderlich verdächtig und die Kaffee-Übeltäterin war nirgendwo zu sehen. Vielleicht war sie hinausgegangen, um zu rauche und eine Runde zu drehen.
Die beiden gingen zusammen wieder ins Büro, wo sie auf Madara trafen, der mit vor der Brust verschränkten Armen an Sakuras Tisch lehnte.
Sakura errötete, da es ihr unangenehm war, Madara nach all dem, was ihr von Izuna erzählt worden war, hier anzutreffen. Sie. Ein Verhältnis oder Beziehung. Mit Madara. Mit einem Mann, den sie gerade erst kennen gelernt hatte und das nicht einmal auf persönlicher Ebene, sondern auf kollegialer. Gut, Izuna hatte ihr einige Dinge über sein Privatleben verraten, aber das machte sie nicht einmal zu Bekannten.
Sie redeten nicht über das Gerücht, und Sakura hatte Izuna gebeten, Madara von dem Kaffeevorfall vorerst nichts zu erzählen, was er beim kurzen Austausch mit Madara auch beherzigte.
Doch sobald Sakura und die anderen Auszubildenden gegangen waren, suchte Izuna Madara auf, um ihm von der Sache Bericht zu erstatten. Er bat Madara allerdings darum, Sakura gegenüber nichts zu erwähnen.
„Ich verstehe“, meinte Madara grimmig. „Hast du dich ein wenig umgehört?“
„Ja, natürlich. Du weißt doch, dass ich ein verlässlicher Informant bin.“
„Und?“
„Wie es aussieht, wissen über das Gerücht noch nicht alle Bescheid, aber man verbreitet sie fleißig weiter, hinter vorgehaltener Hand.“ Izuna lächelte. „Wie gut, dass ich meine Augen und Ohren überall habe. Freiwillig rausrücken würde damit keiner, nicht wenn sie wissen, dass der Bruder des Geschäftsführers vor einem steht.“
Madara trat ans Fenster und erblickte Sakura und eine andere Auszubildende. Sie gingen zusammen zur Haltestelle, da sie aber verschiedene Bahnen nehmen mussten, trennten sie sich dort.
Sakura setzte sich auf eine Bank und streckte die Füße aus. Sie dachte daran, dass der Kaffee entgegen der Worte der Angestellten heiß gewesen war.