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Forever Dream

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Entschuldigung, Entschuldigung...
Das vierte Quartal ist der Horror!
Das hat jetzt ewig gedauert und die Qualität hat trotzdem darunter gelitten... ich gelobe Besserung. (x____x) Komplett anzeigen

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In a Town Without a Name

Ein kühler Wind, der leicht nach Benzin schmeckte, fuhr Toshi durch die Haare, als er auf dem Balkon stand und alles auf sich wirken ließ. Unten auf der Straße brauste der Verkehr vorbei, doch hier im zehnten Stock hörte es sich fast an wie Meeresrauschen. Irgendwann. Wenn man es sich nur lange genug einredete. Toshi schaute noch einmal über das Meer aus Beton, das sich vor ihm in alle Richtungen erstreckte. Dann trat er zurück nach drinnen, lächelte flüchtig der Maklerin zu und ging hinüber zu der kleinen Einbauküche, wo Yoshiki und seine Mutter standen.

„Ach Yoshiki“, sagte letztere gerade und klappte den Küchenschrank zu, „ich weiß nicht. Bist du dir sicher, dass du hier glücklich wirst?“

Toshi verstand ihre Zweifel gut. Er war sich auch nicht ganz sicher, ob er hier glücklich sein würde.

Die Maklerin kam mit einer älteren Frau herüber, um ihr irgendetwas an der Spüle zu demonstrieren und sie verschoben die Unterhaltung ein paar Schritte weiter, auf die freie Fläche, die ein Wohnzimmer werden konnte. Yoshiki seufzte und nahm seine Mutter beiseite. „Mama… Wohnungen fallen nicht vom Himmel in Tokio. Die hier taugt fürs Erste. Ich bitte dich: Unterschreib einfach.“ Er hatte den Anstand, Toshi zumindest noch einen Blick zuzuwerfen. Dieser hob die Schultern und nickte. Sie hatten in den letzten drei Tagen über zehn Wohnungen angeschaut und es wurde nicht viel besser. Außerdem war weder ihm noch Yoshiki entgangen, dass die meisten Vermieter bei ihrem Anblick erstmal ein wenig irritiert geschaut hatten – das Konzept einer Wohngemeinschaft war unüblich, vor allem wenn es sich bei den zukünftigen Mietern anscheinend um junge Wilde handelte. Einige Male war Toshi nahe dran gewesen, den Vorschlag zu machen, dass sie Yoshiki ein Kleid anziehen und ihn als seine Verlobte ausgeben sollten. Das hätte die Chancen vermutlich erhöht. Doch obwohl er Frau Hayashi mochte und sich eigentlich gut mit ihr verstand – so gut, wie man sich mit einer zwanzig Jahre älteren Frau eben verstehen konnte – fürchtete er ein wenig ihre Reaktion auf diesen Vorschlag. Also behielt er seine grandiose Idee für sich.

Gerade folgte der Blick besagter Frau einem jungen Pärchen, die aus dem Badezimmer kamen und jetzt zum Fenster hinübergingen. „Sie sehen sehr nett aus“, sagte sie leise. Toshi verstand, was sie sagen wollte: Yoshiki und er waren auch hier nicht die beste Option.

„Und wir etwa nicht?“, fragte Yoshiki dennoch und verschränkte die Arme mit einem trotzigen Stirnrunzeln. „Sag nichts“, hängte er an, als er den Blick seiner Mutter eingeordnet hatte. „Mama, du hast jetzt dein Leben lang Dinge an Leute verkauft. Zeig was du kannst und verkauf uns beide."

Frau Hayashi seufzte tief.

„Versuch es zumindest, ok?“

Frau Hayashi seufzte noch einmal, tastete nach ihren Haarspangen und machte sich, derart bestärkt, auf den Weg in den Flur, wo sie die Maklerin zum letzten Mal gesehen hatte.

„Hast du dir das hier mal angeschaut?“, murmelte Toshi, als sie verschwunden war und hielt Yoshiki das Datenblatt der Wohnung unter die Nase. „Hundertzehntausend Yen, Yoshiki. Das ist eine stolze Summe. Ich bin mal ehrlich mit dir: Ich weiß nicht, wie ich das machen soll.“

„Darüber denken wir nach, wenn es so weit ist“, murmelte Yoshiki zurück.

„Es könnte in ein paar Tagen so weit sein.“

„Toshi! Würdest du bitte aufhören, dir Sorgen zu machen?“ Das Pärchen in der Küche drehte sich verwundert zu ihnen um und entfernte sich das flüsternd in Richtung Badezimmer. Yoshiki seufzte, rieb sich die Nasenwurzel und sagte dann, leiser und ruhiger: „Sorry. Hör zu, meine Mutter hat das Geld und kann uns ein bisschen unter die Arme greifen, bis bei uns alles in geregelten Bahnen läuft, ok? Denk dir nichts dabei.“

Toshi atmete durch und trat von einem Bein aufs andere. Sein Blick wanderte zum Flur, wo Yoshikis Mutter noch immer verschollen war. „Das kann ich nicht annehmen“, beschied er schließlich.

Yoshiki schnaubte und schüttelte leicht den Kopf. „Du und deine Prinzipien… Dann sieh es als Kredit bei mir und zahl es irgendwann zurück.“ Seine Hand fand den Weg auf Toshis Schulter.

Gerade hatte dieser den Mund aufgeklappt, um ihm zu sagen, was ihm daran alles nicht gefiel und warum, als Frau Hayashi zurück in den Raum kam, sich dabei angeregt mit der Maklerin unterhaltend. Sie kicherten wie zwei Schulmädchen.

„Jemand hat eine neue Freundin“, bemerkte Toshi also stattdessen. Er war milde beeindruckt.

Yoshiki sagte nichts.

„Was?“, fragte Toshi.

„Nichts.“ Yoshiki ließ Toshis Schulter los und wandte sich noch einmal dem Wohn-Essbereich zu. Sah ganz danach aus, als könne er anfangen zu überlegen, wie sie die Möbel stellen wollten. „Ich hab nur gerade begriffen, warum meine Mutter im Leben erfolgreich ist.“
 

-X-
 

Und dann ging plötzlich alles sehr schnell. So schnell um genau zu sein, dass Toshi sich am Abend des ersten Dezembers, als er unschlüssig die Kartons im Wohnzimmer anschaute, fragte, wie genau er hierher gekommen war. Vom Flur konnte er Yoshikis Stimme hören. Er war gerade dabei, seine Mutter nach draußen zu komplimentieren. Den ganzen Tag waren ihre Eltern herumgewuselt und hatten ihnen beim Tragen und beim Einkauf der wichtigsten Grundbausteine für ein eigenes Leben geholfen, doch irgendwann war es dann auch mal gut. Toshi hatte wesentlich weniger Energie in die Verabschiedung investieren müssen – seine Eltern hatten ja noch zwei andere Monster, um die sie sich kümmern durften und waren irgendwann im Lauf des Nachmittags von selbst aufgebrochen.

An diesem Moment seiner Überlegungen hörte er die Tür ins Schloss fallen und ein ziemlich fertig aussehender Yoshiki erschien in der Tür. „Oj… Hast du die Gläser gefunden?“

„Nein“, sagte Toshi, riss sich zusammen und öffnete wahllos einen der Kartons. „Noch nicht. Warte.“

„Schon gut…“ Yoshiki bückte sich nach einer der Tüten mit den Einkäufen, die noch vor der Küchenzeile standen und zog eine Flasche Saft heraus. „Ich trink aus der Flasche.“ Gesagt, getan. Er lehnte sich an die Spüle und schraubte die Flasche wieder zu. Nach einigen Sekunden sagte er laut: „Mama, ich weiß, dass du noch draußen stehst. Geh!“

Ein etwas ertapptes „Wiedersehen!“ erklang von irgendwo jenseits ihrer Wohnungstür und dann entfernten sich Schritte. Yoshiki zählte bis zwanzig, öffnete die Tür noch einmal und schaute hinaus. Das Treppenhaus war leer. Dann ging er auf den Balkon, blickte hinunter und wartete. Er sah die kleine Gestalt seiner Mutter in ihrem blauen Mäntelchen aus dem Haus treten, die Straße ein Stück zu ihrem Auto hinuntertingeln und dann stieg sie ein und war verschwunden.

Auf einmal fühlte er sich ein bisschen komisch.

Ein paar Sekunden lang blieb er noch stehen und betrachtete die Lichter in der winterlichen Dunkelheit, dann wurde ihm zu kalt. Er ging zurück nach drinnen, wo Toshi begonnen hatte, das Geschirr abzuwaschen, das sie neu gekauft hatten.

„Eigene Wohnung“, sagte Yoshiki und grinste. Es schien das Beste gegen das seltsame Gefühl zu sein.

„Sieht so aus“, sagte Toshi über das Gluckern in der Spüle hinweg.

Einen kurzen Moment sahen sie einander unschlüssig an. Dann deutete der Sänger mit feuchter Hand hinter sich. „Magst du ein bisschen auspacken? Ich hab die Gläser gefunden, aber wir können uns nicht mal Fertignudeln machen. Der Wasserkocher ist irgendwo… Nein, ich weiß nicht mal, in welcher Kiste. Er ist irgendwo, Punkt.“

Yoshiki seufzte. Am liebsten wollte er heute gar nichts mehr tun. Da es ihm aber nichts brachte, sich zu beschweren, öffnete einen der Kartons und begann, mehr oder weniger motiviert, darin herumzukramen. „Nicht hier“, sagte er schließlich und klappte die Kiste wieder zu. Nächster Karton. „Bad…“ Erst im vierten Karton schließlich wurde er fündig. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits einige seiner Platten, den Reiskocher und Bettwäsche ausgepackt und hatte wirklich keine Lust mehr. Müde ließ er sich auf einen der Küchenstühle fallen, die um ihren wenig ansprechenden Plastiktisch standen. Toshi kochte Wasser und goss ihnen beiden Suppen auf. Drei Minuten lang schauten sie schweigend abwechselnd in die Brühe und auf die halbausgepackten Kartons in der sonst noch sehr leeren Wohnung.

„Itadakimasu“, sagte Toshi schließlich.

„Itadakimasu…“, murmelte Yoshiki. Ohne echten Appetit schlürfte er etwa die Hälfte seiner Nudeln, dann stand er auf und tauchte noch einmal in den dritten Karton ab, von wo er einen Block herauskramte. „Ok“, sagte er, während er sich zurück an den Tisch setzte. Er packte den Block auf den Tisch. „Liste an Dingen, die wir nicht haben.“ Es ging ihm immer besser, wenn er Dinge hatte, die er planen konnte. Zum Glück kam sein natürlicher Instinkt hier Toshis Liebe für organisierte Listen entgegen und dieser sprang sofort darauf an.

„Sofa“, begann er aufzuzählen. „Gästegeschirr. Garderobe. … Lampenschirm.“ Er deutete auf die kahle Glühbirne über ihnen, welche ihr edles Mahl beleuchtete.

„Kaffeemaschine“, fügte Yoshiki nach einem kurzen Blick nach oben an.

„Das ist nicht überlebenswichtig.“

„Vielleicht für dich nicht. Als bräuchten wir Gäste.“

„Ok, ok… ich brauch noch ein Regal.“ Zuhause hatten Hiroki und er sich eines geteilt und Toshi hatte beschlossen, es ihm zu überlassen. Das ließ ihn jetzt leider mit einem Stapel an Dingen, für die er keinen Platz hatte.

„Ich brauch Töpfe…“, murmelte Yoshiki, während er weiterschrieb.

„Wir haben Töpfe.“

„Wir haben einen Topf.“

„Hast du einen Wäschekorb?“

„Nein. Du?“

„Nein.“

Yoshiki schrieb.

„Ok…“, sagte Toshi, als Yoshiki den Stift absetzte. „Aber ich hab noch eine Frage, die ich mir heute während dem Einkaufen schon die ganze Zeit gestellt habe.“

„Ah ja?“ Yoshiki sah ihn fragend an.

Toshi schaute ernst zurück. „Wer behält was, wenn wir uns trennen?“

Yoshiki musste lachen. „Du Dödel!“ Er schlug seinem Gegenüber mit seinem Block gegen die Schulter.

Toshi grinste zurück und wurde sich bewusst, dass Yoshiki fröstelte. Er erhob sich und ging zur Wand hinüber, um die Heizfunktion der Klimaanlage einzuschalten. Nichts passierte. Probeweiser drehte Toshi den Schalter noch ein paar Mal hin und her, doch außer einem leisen Klackern rührte sich nichts. „… wir hätten das testen sollen, bevor wir eingezogen sind“, stellte er dumpf fest.

Hinter ihm seufzte Yoshiki leise. „Ja, ich lern viel dazu hier… für die Zukunft… naja, egal. Das kriegen wir heute nicht mehr gelöst. Du bist müde, ich hab Kopfweh… gehen wir ins Bett. Morgen ruf ich den Hausverwalter an.“
 

Wenig später stand Toshi in seinem Zimmer vor ebenfalls nur teilweise ausgepackten Kartons und suchte die Dinge zusammen, die er für die erste Nacht brauchte. Dann schaltete er den Heizstrahler an und verschwand ins Bad, wo er sich wirklich überwinden musste, zumindest eine Katzenwäsche durchzuziehen. Als er zurück in sein Zimmer kam, hatte sich der Raum immerhin der annehmbaren Temperaturspanne angenähert. Toshi schlüpfte in seinen Pyjama, zog einen Pullover darüber und schaltete Licht und Ofen aus. Als er schließlich auf seinem Futon lag, starrte er an die Decke und konnte nicht schlafen. Alles war anders. Der Geruch, die Geräusche, die fahlen Umrisse seines Zimmers. Und er war ganz allein. Jahrelang hatte er sich ein eigenes Zimmer gewünscht. Jetzt fühlte er sich einsam. Wenn das hier der Start in ein eigenes Leben war, dachte er, dann verstand er nicht ganz, warum andere junge Menschen in seinem Alter so wild darauf waren. Er wollte nach Hause.

Mit einem Seufzen drehte er sich auf die linke Seite, zog sich die Decke über den Kopf und versuchte, Schlaf zu finden. Nach einigen Minuten drehte er sich auf den Bauch und schließlich, eine gefühlte Ewigkeit später, zurück auf den Rücken. Wieder starrte er an die Decke. Er schloss die Augen, um damit aufzuhören und stellte sich vor, dass hide vor einigen Wochen genau dasselbe gemacht hatte und wie seine neue Wohnung wohl aussah und was er so den ganzen Tag erlebte und wie er sich abends bestimmt manchmal Schokopudding mit Käse machte. Ein näherliegender Gedanke wäre gewesen, dass auch Taiji heute umgezogen war und jetzt vielleicht ebenfalls ein wenig allein an die Decke starrte, aber dieser Gedanke löste überhaupt nichts aus. Nein, hide half wesentlich mehr. Wie sein Leben wohl aussehen würde, wenn er mit hide zusammengezogen wäre? Ein paar Minuten lang versuchte er, es sich vorzustellen, doch kam nie über den kleinen Kaktus am Wohnzimmerfenster hinaus. Vielleicht lag es daran, dass die reale Aufgabe, sich hier in das Zusammenleben mit Yoshiki einfinden zu müssen, noch viel zu präsent war, um sich Gehirnfürzen hinzugeben. Toshi drehte sich auf die rechte Seite. Nein, rechte Seite ging gar nicht. Er drehte sich zurück, starrte weiter an die Decke und versuchte, an gar nichts zu denken.

Nach weiteren zwanzig Minuten schließlich knipste er das Licht wieder an und stand auf, um in einem seiner Umzugskartons nach seinen Büchern zu suchen. Er fand sein aktuellstes – einen Krimi mit Liebesgeschichte an der Seite - schlug es bei dem Papierschnipsel auf Seite zweiundsiebzig auf und begann zu lesen.

Es war bereits gegen halb zwei und er hatte gerade überlegt, einen erneuten Versuch des Schlafens zu starten – das Buch war ihm bereits zweimal aus der Hand gefallen – als die Tür vorsichtig geöffnet wurde und sich ein Kopf ins Zimmer schob.

„Ich hab das Licht gesehen… Bist du noch wach?“, fragte Yoshiki leise.

„Ja“, sagte Toshi unnötigerweise und fragte zurück: „Du?“

Ein leichtes Stirnrunzeln der Irritation zog über den oberen Teil von Yoshikis Gesicht hinweg, doch es verschwand schnell wieder. „Äh… ja.“ In einigen Sekunden der Stille schaute der Schlagzeuger einmal etwas verlegen zur Seite und dann wieder zurück zu Toshi. „Ist ein bisschen komisch, hu?“

„Mmh.“ Toshi setzte sich auf und legte sein Buch zur Seite. „Willst du… noch ein bisschen reden?“

„Eigentlich bin ich ziemlich müde.“ Yoshiki verschränkte die Arme gegen die Kälte auf dem Flur und trat unsicher von einem Fuß auf den anderen, wie jemand, der nicht genau wusste, was er eigentlich hiervon erwartete.

Toshi nahm ihm die Entscheidung ab. „Willst du… hier übernachten?“

„Is‘ das nicht… komisch?“, fragte Yoshiki zögerlich zurück.

„Wir haben vorher beieinander übernachtet. Das einzige, was sich geändert hat, ist die Entfernung.“

Sie schauten einander an.

„Man kann sich alles rechtfertigen, oder?“, fragte Yoshiki schließlich und grinste.

„Wenn man schlau genug ist“, stimmte Toshi zu. Und er wusste inzwischen, dass er ziemlich schlau war.

Yoshiki wandte sich ab und verschwand aus Toshis Sichtfeld. „Ich hol mein Zeug“, hörte dieser seine sich entfernende Stimme. Und das tat er.

Als Yoshiki sich einige Minuten später neben Toshi auf seinen Gästefuton legte, zitterte er bereits wieder. „Warum ist es so kalt?“, fragte er mit klappernden Zähnen und zog sich die Decke bis über die Ohren.

„Dezember“, antwortete Toshi. Kein großes Mysterium an dieser Stelle. „Schläfst du oft mit Wärmflasche?“

„Im Winter manchmal.“ Yoshiki drehte sich auf die rechte Seite und drückte das gluckernde Ding an sich. Das Zittern wurde dadurch ein wenig besser, wenn auch nicht viel. „Und zu deiner Information ist sie schon gar nicht mehr so warm.“

Toshi betrachtete ihn wenig überzeugt. „Ist das wirklich zu meiner Information oder soll ich dir eine neue machen?“

„Nein…“, lehnte Yoshiki ab, klang aber unzufrieden mit dieser Antwort.

„In Ordnung.“

Kurz passierte nichts. Dann setzte Yoshiki sich auf, lehnte sich zu seinem Freund hinüber und sagte: „Wenn du das tust, bist du mein Held für immer und hast einen Wunsch bei mir frei.“

Toshi seufzte belustigt, stand auf und ging in die Küche, um eine neue Ladung Wasser aufzuwärmen. Bis er zurück kam waren seine Füße kalt, aber Yoshikis überschwängliche Lobpreisungen und Dankeshymnen wogen es fast wieder auf. Dann knipste er das Licht aus. Neben ihm gluckste leise die Wärmflasche. Es war immer noch fremd und dort draußen war eine riesige, unbekannte Stadt, in der er niemanden kannte. Aber er hatte Yoshiki.

Das war schon mal ein Anfang.
 

-X-
 

Knappe zwei Wochen später stieß Yoshiki am frühen Abend die Tür zu einem Diner im amerikanischen Stil auf. Es waren keine guten zwei Wochen gewesen. Besonders stresste ihn, dass er kein Schlagzeug hatte und mit Toshi zusammenwohnte. Dieses Arrangement ließ ihm keine halbe Stunde, um mal ordentlich mit den Enttäuschungen der Zeit umzugehen und mit sich ins Reine zu kommen. Dass Toshi ebenfalls schon einmal bessere Laune gehabt hatte, machte es nicht besser.

In der vagen Hoffnung, hide zu sehen, blickte Yoshiki sich suchend einmal in dem L-förmigen Raum um. hide hatte die letzten paar Mal am Telefon ausgelassen geklungen. Er würde ihn sicher aufmuntern.

Doch er fand hide nicht. Nur Taiji saß bereits an einem der mit rot-weiß-karierten Überzügen bedeckten Tische in einer der Sitzecken auf der linken Seite und fischte Nüsschen aus einer Schale. Einen Moment lang wollte Yoshiki sich umdrehen und zurück nach draußen gehen, um dort auf die anderen zu warten. Doch just in diesem Augenblick hob Taiji den Blick, sah ihn und stellte Augenkontakt her.

Scheiße.

Langsam setzte Yoshiki sich in Bewegung. Doch selbst in seiner gemächlichsten Gangart dauerte es zu seinem Leidwesen keine halbe Ewigkeit, bis er den Bassisten erreicht hatte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er ihn begrüßte. „Ähm… Hallo.“ Er musste sich räuspern.

„Abend“, sagte Taiji.

Eine unangenehme Stille trat ein.

„Hast… du schon was bestellt?“, fragte Yoshiki. Langsam ließ er sich auf die Bank Taiji gegenüber sinken.

„Nur was zu trinken.“

„Ah.“ Yoshiki nahm eine Karte vom Tisch und verschwand dahinter. Leider war die Getränkeauswahl überschaubar und nach ein paar Minuten wurde ihm klar, dass er sich nicht länger hinter der Entscheidung verstecken konnte. Er seufzte innerlich und legte die Karte wieder zur Seite.

„Also…“, begann er schließlich, „wie… läuft’s so?“

„Ok nehm ich an“, schlurrte Taiji mit der Andeutung eines Schulterzuckens. „Bei euch?“

Yoshiki riss sich zusammen und berichtete ein wenig von seinen erfolglosen Aktivitäten der letzten Woche und Taiji erzählte ihm von seinem Umzug und seinen Plänen, was die Jobsuche anging – sie klangen nicht sonderlich ambitioniert. Es war keine schlechte Unterhaltung, doch sie hatte den leisen Ping einer Höflichkeit, die zu viel für ihren normalen Umgang miteinander war. Außerdem starrte Taiji Yoshiki unaufhörlich an und dieser begann allmählich, das sehr unangenehm zu finden. Es steckte sicher Taktik hinter diesem Verhalten.

Alles in allem war Yoshiki mehr als erleichtert, als schließlich Pata auftauchte und sich neben Taiji setzte.

„Guten Abend“, sagte er.

„Hallo!“, erwiderte Yoshiki betont fröhlich.

Er musste etwas zu enthusiastisch gewesen sein, denn sein neues Gegenüber zog die Augenbrauen ein Stück zusammen und sagte mit einem milde irritierten Lächeln: „Kein Grund zur Aufregung, ich bin’s nur.“

Außerhalb seines Sichtfelds verdrehte Taiji mit einem kaum merklichen Kopfschütteln die Augen. Es war faszinierend, wie er es sogar durch Yoshikis leise Schuldgefühle hindurch schaffte, in ihm den Wunsch auszulösen, ihn zu treten. Um sich von Taijis verlockend nahen Schienbeinen abzulenken, wandte er sich wieder an Pata. „Und? Schon was gefunden?“

„Ja. Diese Wohnung in Sugamo… Ich denke, die wird es. Masami war heute Vormittag hier, um sie sich anzusehen. Ihr gefällt es auch ganz gut.“

Taiji nahm einen Schluck von seinem Saft. „Sie zieht wirklich mit dir um?“

„Ja. Im Januar kommt sie her, macht noch ein Praktikum im Krankenhaus und fängt dann im April an der Universität an.“ Der Gitarrist zog die Jacke aus und legte sie neben sich auf die Bank. „Hat jetzt zeitlich gut gepasst… Was ist los?“ Er warf Taiji und seinem seltsamen Gesichtsausdruck einen Seitenblick zu.

Der Angesprochene riss sich zusammen und grinste schief. „Ich denk gerade über die Vorteile einer privaten Ärztin nach.“ Seine wackelnden Augenbrauen sagten deutlich, dass er nicht davon sprach, jemanden zu kennen, der einem mal einen Stützverband anlegen konnte.

Pata blickte ihn die vorgeschriebenen fünf Sekunden lang vorwurfsvoll an, bevor er sehr deutlich sagte: „… du redest da von meiner Freundin.“

Irritiert hob Taiji den Blick zu seinem Nachbarn, hörte auf zu grinsen und sagte ausweichend: „Ne. Gerade rede ich nur vom Outfit.“ Wie zur Anblenkung nahm er noch einen Schluck von seinem Saft. „Ich kenn sie ja nicht mal“, schob er dann hinterher.

„Und das ist das Einzige, das dich gerade rettet. Gib mir die Karte.“ Pata nickte zu dem laminierten Stück Pappe hinüber. Taiji reichte sie ihm und der Gitarrist hob sie abschließend vor sein Gesicht.
 

Als Toshi zwanzig Minuten später erschien, hatte Pata die Karte wieder weggelegt und Taiji die Nüsschen geleert. Yoshiki hatte gerade den Kopf auf den Arm gestützt, rührte frustriert in seinem Eistee herum und beschwerte sich. „Ich glaub das einfach nicht! Entweder sie sind total runtergekommen oder sie sind teuer oder sie liegen am Arsch der Welt…“

„Ich nehm an, du hast keinen Proberaum gefunden?“, fragte Toshi. Zur Begrüßung klopfte er zweimal auf den Tisch.

„Ja. Nein.“ Yoshiki stieß mit dem Strohhalm nach einem Eiswürfel, um ihn grausam im Tee zu ertränken. Das Ergebnis war vorübergehend zufriedenstellend - nach einigen Sekunden erschien er allerdings wieder an die Oberfläche.

Toshi schob sich neben ihn auf die Bank. „Bekommt ihr schon?“

„Ja“, sagte Pata.

„Ich hab dir auch was bestellt“, klärte Yoshiki seinen Freund düster auf. Er schob seinen Eistee zur Seite. Der Lebenswille des Eiswürfels war ungebrochen und das störte ihn.

„Du wusstest doch gar nicht, was ich will.“

„Burger mit Salat statt Pommes.“

Einige Sekunden lang betrachtete Toshi unschlüssig die Karte. Dann zog er eine Schnute. „… du hast Recht. Das ist, was ich will.“

Yoshiki warf ihm ein Viertel Lächeln zu, auch wenn seine Augen Probleme damit hatten, mitzulächeln. „Wie lief’s?“

„Ganz gut.“ Toshi zog die Jacke aus während er weitersprach und reichte sie Yoshiki, damit dieser sie am anderen Ende der Bank auf seine legte. „Ich denke, sie waren interessiert.“

„Was machst du?“, fragte Taiji.

„Ich hab mich bei so einer Nachhilfeschule beworben und die haben mich eingeladen…“

„Im Ernst? Du willst noch mehr pauken?“, fragte Taiji ungläubig.

„Wenn ich schon was arbeiten muss, dann kann es zumindest was sein, das mich nicht total ankotzt, oder?“ Toshi überflog die Getränkekarte und winkte die Bedienung zu sich, um noch eine Cola zu ordern.

„Jaja, schon… nur das letzte Mal, als du zu fremden Leuten sprechen musstest, hast du über das weiße Porzellantelefon mit Gott gesprochen.“

Ein wenig begeisterter Blick traf Taiji, der deutlich sagte, dass er dieses Thema besser nie wieder ansprach. „Das vorletzte Mal.“

„Warst du so gut in der High School?“ Interessiert legte Pata den Kopf schief.

Toshi zuckte mit den Schultern. Anscheinend wollte er das Gespräch an dieser Stelle beenden.

Yoshiki tat ihm den Gefallen und winkte ab. „Toshi ist schlau, er hat Optionen…“ Leider lenkte das die Aufmerksamkeit zurück auf ihn selbst.

„Und was machst du?“, fragte Pata.

„Mu… sik?“, fragte Yoshiki und zog die Stirn kraus, als wisse er nicht ganz, was diese Frage sollte.

„Und was machst du, von dem man leben kann?“, wurde der Gitarrist also etwas deutlicher.

Yoshiki verzog eine Hälfte seines Gesichts - eines der wenigen Talente, um das Toshi ihn manchmal beneidete. Offensichtlich suchte er nach einer Möglichkeit, Pata mitzuteilen, dass er die Frage nicht mochte, ohne ihm ins Gesicht zu sagen, dass ihn das einen Scheiß anging. Aus irgendeinem Grund, dachte Toshi, vermied Yoshiki die offene Konfrontation mit Pata. Nicht, dass dieser einem viele Anlässe dazu gab. Meist war seine größte Kritik Schweigen – in unterschiedlichen Ausprägungen.

Und auch diesmal gab Yoshiki schließlich nach. Er wirkte etwas unzufrieden dabei, als müsse er sich überwinden. Wenig überzeugend meinte er: „Weiß noch nicht. Vielleicht geb ich Klavierunterricht.“

Überrascht sah Toshi ihn an. „Unterrichten? Du?“

Taiji fing an zu lachen, versuchte, es in seinem Saft zu ertränken, verschluckte sich und musste husten. Pata klopfte ihm auf den Rücken, während Yoshiki erst ihm und dann Toshi einen finsteren Blick zuwarf. „Danke.“

Dieser hob beschwichtigend die Hände. „Nein, so war das nicht… Keine Ahnung. Du magst keine Kinder.“

„Aber Klavier. Was soll ich machen. Ich kann nichts anderes." Er wandte sich wieder an Pata. „Bis sich da was ergibt, greift uns meine Mutter noch ein wenig unter die Arme.“

„Das kann sie?“, fragte Pata. „Sie ist doch ganz allein, oder?“

Yoshiki zuckte mit den Schultern und betastete eine Delle in der Plastiktischdecke. „Ja. Aber sie hat vor längerer Zeit ein paar Investitionen getätigt, die sich langsam auszahlen. Sie meinte immer, das war ihre Vorsorge, um irgendwann frei zu sein, das zu tun, was sie will.“ Er musste sich zurücklehnen, als eine Portion Pommes vor ihm abgesetzt wurde. Gerade hatte er die erste davon in die Hand genommen und Toshi ihm eines der kleinen Ketchuppäckchen geöffnet („Warum geben die mir nicht einfach die Flasche?!“), als eine ihnen wohlbekannte Person in den Laden hastete. Sie musste eine halbe Pirouette drehen, um der Bedienung auszuweichen und steuerte dann zielstrebig ihren Tisch an. Im Vorbeigehen zog sie sich einen Stuhl vom Nebentisch und platzierte ihn schließlich schwungvoll an der Kopfseite ihrer kleinen Versammlung.

„Wow“, sagte hide, während er sich den Riemen seiner Umhängetasche über den Kopf zog und sich auf den Stuhl fallen ließ. „Ich hab mal wieder krass unterschätzt, wie groß diese Stadt ist. Und scheiße, hab ich einen Hunger. Mahlzeit.“

Pata reichte ihm seine Karte. Dann betrachtete er hide genauer. „Ist das Pink?“ Er deutete auf eine Strähne in hides Pony, die deutlich aus dem darunterliegenden Blond hervorstach.

„Nein“, erwiderte hide und begutachtete die Burger. „Es ist hot Pink.“

Toshi musste ihm in Gedanken zustimmen, doch Taiji runzelte die Stirn. „Ok? Und was ist das da? Neu?“ Er nickte zu hides Handgelenk hin, um das einige glitzernde Armbänder gewickelt waren.

„Geburtstagsgeschenk von den Mädels“, sagte hide. „Du bist aber heute aufmerksam…“

„Ich hatte vorhin Kaffee. Welche Mädels?“, fragte Taiji weiter, auf einmal wesentlich interessierter.

„Geburtstag?“, fragte Pata.

„Äh…“ Überfordert schaute hide von einem zum anderen und zurück zu dem Cheeseburger, den er auserkoren hatte. Drei Dinge auf einmal waren offensichtlich zwei zu viel. „Ja“, antwortete er schließlich.

„Ja was?“, fragte Taiji.

„Ja, ich hatte Geburtstag und ja, ich hab die geschenkt bekommen. Von ein paar von meinen Mitschülerinnen. Es freut sie, wenn ich’s trage… Keine große Sache.“

„Hast du nicht gesagt, dein Geburtstag wäre im Frühjahr?“ Pata biss in einen Chicken Wing.

„Ja“, gab hide zu und fuhr fort: „Aber er war gestern.“ Er machte nicht einmal den Versuch, sich zu erklären – oder es zu leugnen.

„Was soll das?“ Yoshiki blickte ihn entgeistert an. „Warum hast du nichts gesagt?“

„Is‘ mir nicht so wichtig. Aber du kannst mich gerne nachträglich zum Essen einladen, wenn du willst.“ Der Gitarrist drehte sich um und winkte der Kellnerin, nur um noch während er dabei war Yoshiki zu erklären: „Weil ich hab echt Hunger!“

„Halt mal“, sagte Yoshiki. Er hatte immer noch seine Fritte in der Hand, aß aber nicht. „Wenn du jetzt Geburtstag hattest, dann macht dich das… zwanzig.“

„Jupp“, sagte hide. Er schlug ein Bein über das andere und grinste ihn freudig an. „Ich kann jetzt machen, was ich will.“

„Es macht dich zwanzig“, wiederholte Yoshiki langsam, als habe er ihn nicht gehört, „und du hast uns das nicht gesagt und wir haben nicht gefeiert.“

„Jupp“, wiederholte hide. Kurz musste er das Gespräch unterbrechen, um seinen Essenswunsch kundzutun. „Ich mag Geburtstagsfeiern echt nicht gerne“, sagte er, als die Bedienung wieder weg war. „Ich mag das nicht, wenn ich so…“ Unsicher wie er sich ausdrücken wollte, bewegte er seine Hände einmal auf sich zu und wieder von sich weg. „Wir feiern was anderes richtig fett, in Ordnung?“

Yoshiki verzog das Gesicht und wandte sich dann endlich seinem Essen zu.

„Und?“, erkundigte sich Pata derzeit bei hide, „wie lässt sich’s an? Immer noch gut?“

„Oh, es ist fantastisch!“ Der Leadgitarrist lehnte sich ein Stück nach vorne, um seine Erfahrungen zu schildern. „Es gefällt mir total, ich hab viel Spaß und alle sind mega nett. Heute hab ich gelernt, wie man für jeden Typ die passende Feuchtigkeitscreme findet und anwendet.“

Taiji musste lachen. Eine einsame Gurkenscheibe rutschte ihm dabei von seinem Burger. „Ernsthaft? Meine Fresse…“

Wortlos aber weiterhin fröhlich streckte hide die Hand nach vorne.

Nach kurzem Zögern ergriff Taiji sie. „Weich wie ein Babypopo“, bekundete er nach einigen Sekunden des Fühlens und ließ wieder los. „Ok, du gewinnst.“

hide kicherte, ein befreites, glückliches, echtes Kichern.

Toshi senkte den Blick auf seinen Teller. hide war immer attraktiv gewesen, aber jetzt war er überwältigend. Vielleicht war es nur die optimale Hautcreme, doch es kam ihm fast so vor, als leuchte er ein wenig von innen heraus. Es bestand kein Zweifel: hide glücklich schlug ein wie ein Komet. Um sich von dieser Feststellung abzulenken nahm er einen großen Bissen Burger und schob etwas Salat hinterher. Dann nahm er ein paar Schluck Cola, um sein in Flammen stehendes Gesicht abzukühlen. Und dann erst wandte er sich wieder dem Gespräch zu, welches immer noch von hide bestritten wurde.

„...und im neuen Jahr lern ich Maniküre“, berichtete dieser gerade. „Nur falls jemand von euch neue Fingernägel braucht.“

„Ich muss dir ehrlich sagen, das ist irgendwie dein Baby…“, murmelte Taiji kauend. Er brauchte einen Moment, bis er weitersprechen konnte. „Und was ist mit dem Typen, der dich so gemobbt hat?“

„Was, Fujimori?“ fragte hide zurück. Sich die Frage selbst beantwortend zuckte er unschlüssig mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich hab über fünf Ecken gehört, dass er sogar derjenige war, der mich dabei haben wollte. Vielleicht ist das eines dieser 'Wenn ich ihn schlecht behandle, wird er groß werden'-Dinger und ich sollte es ihm nicht böse nehmen, aber: Immer, wenn ich ihm irgendwo begegne, ist er ein totales Arschloch.“

Er hatte das letzte Wort gerade ausgesprochen, als sein Essen auftauchte. Das Lächeln der Bedienung wirkte etwas steif, als sie den Cheeseburger vor hide abstellte. Pata und Toshi schoben ihre Teller ein wenig zur Seite.

„Ah, geil, geil, geil!“ hide sog den Burgerduft ein und streckte die Hand in Richtung Taiji aus. „Reich mal die Mayo rüber. Oder brauchst du die?“ Ein Päckchen kam über die Tischplatte zu ihm hinüber geschliddert. hide nahm die obere Brötchenhälfte ab und quetschte eine großzügige Menge Mayonnaise auf die Bulette, bevor er sie wieder aufsetzte. „Mmmmmmmh! Boah, ich freu mich schon den ganzen Tag hierauf!“

„Bwah, hide…“, seufzte Yoshiki.

„Ich bin ein Gourmet!“, verkündete hide und biss mit etwas, das die großen Literaten wohl mit geräuschvollem Gusto umschrieben hätten in sein Brötchen. Die Mayonnaise quoll zusammen mit dem geschmolzenen Käse an den Rändern hervor. „Un‘ du musch‘ wa‘ sa’en mit deinen traurihen Pommesch!“ Er kaute zweimal und schluckte runter. „War Fleisch aus, oder was?“

Yoshiki blinzelte und sagte dann abschließend: „Ok, zurück zum Thema.“ Er schob seine halbgegessenen Pommes zur Seite und konnte sich damit wieder auf seine Band diskutieren – im Sinne des abstrakten Plans genauso wie auf die Personen, die mit ihm hier am Tisch saßen. „Ich weiß nicht, wie es bei euch aussieht, aber ich denke, wir stimmen überein, dass die finanzielle Situation etwas… schwierig ist. Und ich finde partout nichts, von dem ich sehe, dass wir das bezahlen können. ...mal wieder.“

Pata zog die Augenbrauen genau so lange hoch, wie es dauerte, einen neuen Wing in Honig-Senf-Sauce zu tunken.

„Was?“, fragte Yoshiki etwas aggressiver als geplant. Irgendwie machte Pata ihn heute wahnsinnig!

„Nichts. Erscheint mir nur wie etwas, das uns vorher hätte klar sein können“, antwortete Pata ruhig und ließ die Eiswürfel in seinem Glas leise klirren.

„Ok! Also hab ich ein wenig unterschätzt, wie schwierig das sein könnte!“

Ein Ellenbogen bohrte sich in Yoshikis Seite. Toshis Weg ihm zu sagen, dass er schon wieder laut wurde. Yoshiki atmete durch und begann, nach seinen Zigaretten zu suchen.

Der Gitarrist blinzelte zweimal, bevor er sich wieder seinem frittierten Hühnchen zuwandte. „Ich verstehe.“

Yoshiki unterbrach sein Tasten in allen Taschen gerade lange genug, um ihn abschätzend anzusehen. Er war sich nicht ganz sicher, was genau Pata verstanden hatte, doch er war sicher, dass es ihm nicht gefiel. Ganz offensichtlich wusste er aber nicht, wie er damit umgehen wollte. Schließlich lehnte er sich ein wenig vor und sagte eindringlich: „Wir sind hergekommen, um es zu schaffen und schaffen werden wir es. Ich brauch nur… Zeit.“

„Isch daschte, ihr wär‘ wehen mi‘ he‘gechommen“, nuschelte hide an einem Mund voll Burger vorbei und schlürfte einen Zwiebelring ein, der drohte, sich über sein Kinn zu verabschieden.

Yoshiki wedelte mit der Hand, als wolle er eine Fliege vertreiben. Er hatte seine Zigaretten gefunden. „Jaja, das auch.“

„Also, was jetzt?“, fragte Taiji. „Wir können uns nicht vermarkten, wenn wir keinen Ort haben, um besser zu werden.“

Es war eine Feststellung, kein Vorwurf. Yoshiki wusste das. Taijis Vorwürfe klangen anders. Und trotzdem spürte er den Drang in sich hochsteigen, etwas darauf zu erwidern, irgendetwas, um ein bisschen von seiner schlechten Laune abzuladen. Er atmete dreimal durch und versuchte angestrengt, sich davon abzuhalten. Es half nicht. „Ich weiß!“, zischte er also zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. Taiji zog eine Augenbraue hoch, ließ sich aber nicht zu einer Antwort hinreißen. Yoshiki schaute einmal in die Runde. hide war mit sich selbst beschäftigt, doch Pata und Toshi hatten beide ihr Essen unterbrochen und sahen ihn auffordernd an. Nach etwa fünf Sekunden knickte Yoshiki unter dem sozialen Druck ein. „‘tschuldigung“, grummelte er in Richtung seines Tellers. „Ich hab seit Wochen kein Instrument berührt und ich werde wahnsinnig, wenn das so weitergeht.“

Eine kurze Weile, in der Yoshiki sich zurücklehnte und sich frustriert eine Zigarette anzündete, sagte niemand etwas.

Dann leckte hide sich die Fingerspitzen ab und griff nach einer Serviette. „Boah, habt ihr Glück, dass ihr mich kennt.“ Er streckte seine leidlich saubere Hand nach seinem Glas aus. „Ich hab da vielleicht was. Onkel von ‘nem Mitschüler von mir hat einen geeigneten Raum in Ota. Anscheinend hatte er so einen... keine Ahnung, Trompeten-Verein? Was weiß ich. Auf jeden Fall werden die Herren älter und mit Gebiss tutet es sich nicht mehr so gut." hide stockte und musste grinsen. Taiji tat es ihm gleich. Zwei Blöde, ein Gedanke, dachte Yoshiki. „Das klingt irgendwie...", fuhr hide fort, „Naja, egal. Auf jeden Fall will er ihn jetzt loswerden und Nao meinte, er hätte da wen. Mich. Besagter Nao hat auch einen Freund, der einen kennt, der mit einem so ist, der einen Club irgendwo in Shibuya hat." Bei dem Wort so verschränkte hide Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand. Dann löste er seine Finger wieder und griff noch einmal nach der Serviette - anscheinend hatte er inzwischen selbst gemerkt, dass er noch Soße am Kinn hatte.

„Im Ernst?“, fragte Yoshiki verdattert.

„Ja“ sagte hide und wischte sich das Gesicht ab.

„Warum hast du mir das nicht vor zehn Minuten gesagt?!“

hide sah ihn so verständnislos an, dass Toshi sich fragte, ob es gespielt war, und erwiderte dann, als sei es das simpelste auf der Welt: „Weil mein Essen dann kalt geworden wäre.“ Der Hauch eines Grinsens schlich sich um seine Mundwinkel und bestätigte Toshis Verdacht. „Außerdem bist du irgendwie süß, wenn du nicht weiter weißt.“

„…süß?“, fragte Yoshiki. Er blickte hide über seine Zigarette hinweg mit einem Gesichtsausdruck an, den man wohl so oder so ähnlich auch haben musste, wenn man einem Kätzchen dabei zusah, wie es ein Fellknäuel hochwürgte: Es war immer noch plüschig, aber gleichzeitig fand man alles daran irgendwie befremdlich.

hide hingegen grinste lieblich. „Das ist meine neue Geschäftsidee: erst darfst du dich reinsteigern, dann helf ich dir. Weißt du, die 200 000 Yen, die ich dir inzwischen so ungefähr schulde? Ich zahl sie jetzt statt in Raten in Ratschlägen zurück.“ Er schob Yoshiki seine inzwischen kalten Pommes wieder hin. „Zum Beispiel: Essen ist wichtig. Zweihundert Yen.“ Er hielt die Hand auf und grinste.

Yoshiki grinste schief zurück, tauchte einen Kartoffelspaten in den Ketchup auf seinem Teller und drückte ihn hide mit Nachdruck auf die Handfläche. Nicht im Geringsten aus der Fassung gebracht und ohne die Augen von Yoshiki zu nehmen, hob dieser die Hand und schleckte die Pommes mitsamt des Schnodders ab. Während er kaute, wanderten seine Augenbrauen langsam immer weiter nach oben. Yoshiki schaffte es genau zehn Sekunden lang, nicht zu lachen. Dann gab er dem Drang nach. Sofort fühlte er sich besser.

„Seid ihr zwei nicht niedlich“, bemerkte Taiji trocken und nippte an seinem inzwischen etwas wässrigem Saft.

hide kicherte. Yoshiki war zwar zu stolz, um den Kommentar mit einer Antwort oder auch nur einem Blick zu würdigen, doch Toshi konnte an seinen Fingern sehen, dass es ihn nervte – sie spannten sich ein wenig an, als wolle er eine Faust bilden und hielte sich nur mit Mühe davon ab. Außerdem hörte er sofort wieder auf zu lachen.

„Nah, im Ernst jetzt“, sagte hide. Vielleicht hatte er die Zeichen auch bemerkt. Er lehnte sich vor undgriff an Toshi vorbei, um Yoshiki seine fast aufgerauchte Zigarette aus den Fingern zu pflücken und nahm den letzten Zug, bevor er sie ihm Aschenbecher ausdrückte. „Ich hab mich ein bisschen umgesehen, ich hab ein paar Leute getroffen… Tokio rockt so richtig. Wir schaffen das.“

Yoshiki legte den Kopf schief und sah ihn nachdenklich an. „Du hast dich ganz schön verändert", stellte er schließlich fest.

Doch hide erwiderte: „Nein. Ich veränder mich zum ersten Mal gar nicht."

Ein paar Sekunden dachten sie vielleicht alle darüber nach.

Dann deutete hide auf Yoshikis Pommes. „Also: Isst du die noch?"
 

-X-
 

„Aaah, mein Rücken!“ Mit schmerzerfülltem Gesicht ließ hide sich rückwärts über die Sofalehne auf die rissigen Polster fallen und stöhnte. „Auaaa…“

„Ach komm…“ Taiji, der dabei war, seinen Amp zu verkabeln, warf ihm über die Schulter einen Blick zu. „Sei nicht so wehleidig. Hier gibt es zumindest einen Aufzug.“

Sie hatten den ganzen Nachmittag damit zugebracht, ihren neuen Raum einzurichten, nachdem Yoshikis Mutter sich erbarmt hatte, ihnen alles einmal über die Bucht zu fahren. Toshi vermutete allerdings stark, dass es weniger mit ihrer Liebe für Musik als mit dem mütterlichem Drang, nach ihrem Baby zu sehen zu tun hatte: er war vorhin nämlich zu einem übervollen Kühlschrank, einem neuen Stapel warmer Socken und einem ziemlich genervten Yoshiki nach Hause gekommen.

„Ah ja? Das is‘ mir scheißegal“, murrte hide und boxte lustlos im Liegen die Sofalehne. „Wir bleiben jetzt hier. Ich zieh das Teil nicht nochmal irgendwohin um!“ Er bezog sich auf den Kühlschrank. Und zu seiner Verteidigung musste man sagen, dass selbst Pata auf halbem Weg lauthals geflucht hatte, als ihm das Ding fast auf den Fuß gefallen war. hide stöhnte noch einmal leidend vor sich hin, während er versuchte, seine eigene Schulter zu massieren. Dann gab er es auf und dehnte stattdessen lieber winselnd seinen Rücken.

Taiji verdrehte die Augen und wandte sich kopfschüttelnd wieder seinem Amp zu.

„Oh Nein…“, erklang eine Stimme aus der Ecke, in der Yoshiki seine Notenblätter aus einer Kiste sortierte. „Das ist alles durcheinander… und ich glaube, es fehlen Seiten…“

Toshi trat zu ihm hinüber, um zu sehen, ob er etwas helfen konnte, doch er hatte wirklich keine Ahnung, nach welcher Logik Yoshiki das einmal sortiert hatte – wenn überhaupt. „Ich hab dir gesagt, hefte das Zeug ab. Das kommt davon.“

Betont langsam drehte der Schlagzeuger den Kopf in seine Richtung, um ihm einen zutiefst vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen. Dann hob er eine weitere Handvoll Blättern aus den Untiefen der Kiste und hielt Toshi den Stapel mit Nachdruck unter die Nase. „Es ist Musik, keine Steuererklärung!“

Toshi runzelte die Stirn.

„Sonst noch jemand Hunger?“, fragte hide vom Sofa.

„Ja, bitte“, antwortete Toshi. Aus irgendeinem Grund links von ihm hatte er gerade sowieso keine Lust mehr.

„Ich könnte was essen“, stimmte Pata zu.

hide schaute abwartend zwischen Taiji und Yoshiki hin und her.

„Danke, Nein“, murmelte Yoshiki, während er sich langsam auf seinen Hocker sinken ließ und versuchte, sein eigenes Gekrakel zu entziffern und entsprechend zu ordnen. „Ich mach das noch… fertig…“

„Mmhkay“, sagte hide. „Also dann, gehen wir. An der Ecke hab ich Pizza gesehen.“

„Ich wäre mehr für irgendwas… nudeliges“, meinte Pata, griff nach seiner Jacke und öffnete die Tür zum Gang.

„Vielleicht hat er Pasghetti“, sagte hide. „Und Haaalt, jemand muss mir hochhelfen. Ich glaube, meine Wirbelsäule ist gebrochen.“ Er streckte die Arme aus und Toshi zog ihn auf die Füße. „Ouh, Gott!“ Der Gitarrist machte ein Hohlkreuz und streckte sich. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er seinen Mantel ergriff, den Toshi ihm hinhielt. „Ok, ok, wartet auf mich… ich… schaff es durch den Schmerz...“

„Schon mal über Physiotherapie nachgedacht?“, fragte Toshi im Rausgehen.

„Ach, das ist so teuer…“

„Du könntest es dir sicher irgendwo verschreiben lassen.“

„… hast du Pasghetti gesagt?“, erklang noch Patas Stimme milde belustigte Stimme, dicht gefolgt von hides: „Was, wie heißt das sonst?“

Dann fiel die Tür zu.

Ein paar Minuten herrschte Stille.

Yoshiki blätterte weiter durch den Stapel auf seinen Knien und konnte sich ums Verrecken nicht erklären, ob er das Zeug wirklich selbst so unordentlich eingepackt hatte, oder ob es im Karton von allein durcheinander gewürfelt war. Er seufzte. Das war ein Job für Kaffee. In Ermangelung von Kaffee tat es Cola. War da nicht noch eine im Kühlschrank? Vermutlich war es hides, aber er würde damit durchkommen. Doch als er hochsah, um dem Gedanken visuelle Unterstützung zu verleihen, machte Yoshiki eine Entdeckung: Taiji saß noch auf dem Sofa und beobachtete ihn von dort aus. Es fehlte nicht viel und er wäre zusammengezuckt.

„Ich… ich dachte, ihr wärt alle gegangen“, sagte er, nicht sicher, ob sein Tonfall entschuldigend oder anklagend war.

„Nicht hungrig“, meinte Taiji gleichgültig. Er stand auf, holte seine Wasserflasche vom Amp und nahm dann seinen Bass wieder mit zu sich aufs Sofa.

Yoshiki vertiefte sich noch ein wenig mehr in seine Partituren und bemühte sich, ganz besonders konzentriert auszusehen. Die Cola hatte er längst vergessen. Er war nicht mehr mit Taiji allein gewesen seit ihrem merkwürdigen Gespräch im Restaurant vorletzte Woche und davor war er nicht mit ihm allein gewesen, seit… der Nacht.

Unauffällig versuchte er, unbemerkt einen Blick in seine Richtung zu riskieren, doch Taiji fing ihn sofort auf. Dann sah er wieder weg. Halblaut drang eine Melodie zu ihm hinüber. Nach einer halben Minute etwas erkannte Yoshiki Jukebox Hero. Er starrte noch eine kleine Weile vor sich hin. Dann musste er sich eingestehen, dass er den Druck nicht aushielt. Er setzte sich aufrechter hin und sagte schließlich mit einem Hauch von Resignation in der Stimme: „Tut mir leid, ok?“

„Es ist alles in Ordnung“, antwortete Taiji neutral, ohne dass sein Spiel auch nur stockte.

Yoshiki senkte die Augen zurück auf seine Arbeit, doch er konnte sich nicht mehr auf das konzentrieren, was er sah. Seine Aufmerksamkeit und sein Blick wollten ständig in Taijis Richtung zurückwandern. Jetzt, wo er wusste, dass der Bassist noch hier war, war es fast unmöglich zu ignorieren. Er zog die Augenbrauen zusammen und versuchte sein Bestes.

Nach einer gefühlten Ewigkeit schließlich seufzte Taiji tief. „Ja, ok, weißt du was? Es ist nicht in Ordnung.“ Er legte den Bass zur Seite – Yoshiki hörte das gedämpfte Geräusch der Saiten ohne aufzusehen. „Warum gibst du mir nicht einfach ein Ja oder ein Nein?“

Yoshiki knautschte das Papier zwischen seinen Fingern unwillkürlich ein wenig zusammen und musste sich zwingen, seine Finger wieder zu entspannen. Er hatte immer gewusst, dass er aus der Nummer irgendwann nicht mehr rauskam. Anscheinend war irgendwann jetzt. Also durchatmen, es akzeptieren, Augen zu und durch. „Es… es ist komplizierter als das.“

Verständnislos hob Taiji die Hände. „Was ist daran so kompliziert? Wir haben keine Zauberwürfel da untenrum! Willst du’s tun oder nicht?“

Mit einer seichten Grimasse legte Yoshiki die Seiten schließlich neben sich auf die Floor Tom und gab es damit auf, Beschäftigung vortäuschen zu wollen. „Wir… sollten das nicht machen. Es hätte nicht mal passieren sollen, was passiert ist.“ Er knetete seine Finger und wich Taijis Blick aus.

Dennoch sah er seinen wenig begeisterten Gesichtsausdruck klar vor sich, als Taiji nachhakte: „Und warum nicht?“

„Weil… wir uns nicht mögen. Es ist falsch, mit jemandem zu schlafen, den man nicht mag. Unter anderem.“ Yoshiki beschloss, nicht ins Detail zu gehen, was gesellschaftliche Konventionen, Familienplanung und die Frage nach zukünftiger Rollenverteilung anging. Er wollte über nichts davon nachdenken. Weil ihm alle Antworten nicht gefallen würden. Egal welche.

Taiji zuckte mit den Schultern. „Funktioniert für meine Eltern.“

„Witzig.“ Yoshiki verdrehte die Augen und beobachtete dann, wie Taiji aufstand und zum Schlagzeug hinüberkam. Jenseits des Crash blieb er stehen und verschränkte die Arme.

„Ok. Gut. Du magst mich nicht? Dann sag Nein. Komm. Hab zumindest die Eier und sag es mir ins Gesicht. Ich bin nicht sauer.“

Selbst wenn Yoshiki ihm geglaubt hätte, hätte er nicht gewusst, wie er die vier Buchstaben, gefolgt von einem ‘ich will nicht‘ über die Lippen bringen sollte. Es war einfach, mit Taiji zu streiten. Vielleicht wäre es leichter gewesen, es ihm in einem Satz mit ‘Du verspielst dich immer bei den Sechzehnteln und bist ein arroganter Wichser!‘ ins Gesicht zu klatschen. Doch sie stritten gerade nicht. Also blickte Yoshiki den Bassisten nur an wie ein Kaninchen vor der Schlange und sagte nichts.

Er hasste es, das Kaninchen zu sein.

„Ok. Hast du einfach nicht die Eier, oder…?“ Taiji runzelte die Stirn.

„Ich sagte doch, es ist komplizierter als das“, murmelte Yoshiki und drehte sich minimal auf seinem Hocker hin und her.

„Dann erklär’s mir. Du sagst ständig, dass du mich nicht leiden kannst, aber du sagst auch nicht Nein zum Ficken. Was passiert in deinem Kopf, Mann?“

Yoshiki blickte gerade lange genug auf, um ihm einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen. Dann aber seufzte er schicksalsergeben. „Es ist… wenn ich ja sage, dann bin da in irgendwas drin, wo ich nicht weiß, ob ich rein will. Und wenn ich nein sage, dann… keine Ahnung. Bin ich erst mal raus aus allem.“

Taiji hob verständnislos die Hände. „Ja“, stimmte er sarkastisch zu, „das ist so das Ding mit Entscheidungen, sie haben Folgen. Gut erkannt.“

„Du merkst, dass das nicht hilft, ja?“

Der Bassist seufzte und bemühte sich, den Sarkasmus in Grenzen zu halten. Ernsthafte Diskussion. In Ordnung. War einen Versuch wert. „Gut. Warum wäre es schlimm, raus zu sein?“

Eine halbe Minute lang druckste Yoshiki ein wenig herum, biss sich auf die Unterlippe und betrachtete nacheinander alle seine Trommeln, die Partituren und die Tür. Dazwischen huschte sein blick immer wieder zu Taiji zurück. Schließlich murmelte er schnell und leise: „Eswaut.“

„Bitte?“

„Es war gut, ok? Da, ich hab’s gesagt. Scheiße.“ Yoshiki lehnte sich auf dem Hocker zurück und verschränkte abweisend die Arme. Dass er wegschaute verdeckte das Rot auf seinen Wangen nicht im Geringsten. „Ich seh dich aus den Augenwinkeln grinsen. Hör auf damit.“

Taiji reduzierte sein Grinsen zu einem zufriedenen Schmunzeln. Als er weitersprach, war seine Stimme fast sanft. „Ok, Mann. Schau. Ich akzeptiere, dass du da ein paar emotionale Turbulenzen hast oder was auch immer. Aber ich bin keine Option, die man sich warmhält. Du musst da jetzt eine Entscheidung treffen.“

„Ich weiß, ich weiß…“ Yoshiki seufzte und starrte noch einmal auf das oberste Notenblatt. Es war ein Song, den er Orgasm getauft hatte. Wie passend… „Ok, also in deiner Welt, dieses…“, er suchte nach der Bezeichnung, die Taiji gebraucht hatte, vor einigen Wochen am Auto. „… Kollegen mit Vorzügen. Was bedeutet das?“

„Du… weißt nicht, was Freunde mit Vorzügen sind?“

Yoshiki hakte die Finger in die Umrandung der Snare, weil er etwas zum Festhalten brauchte, bevor er Taiji ansah und seinem Blick zum ersten Mal standhielt. „Nein. Also, doch. Aber ich denke, wir sollten vollständig auf dem gleichen Stand sein, bevor ich Ja zu irgendwas sage. Oder Nein.“

„In Ordnung.“ Nachdenklich verschränkte Taiji die Arme. „Ich denke es bedeutet: ich mach mein Ding, du machst dein Ding und wenn wir beide Bock haben, machen wir Dinge miteinander. Ja. Wie jetzt. Nur mit… Blowjobs.“

Yoshiki verzog das Gesicht. „Ok – hör auf, diese Wörter zu sagen.“

„Welche Wörter?“

„Alle Wörter unterhalb der Hüfte.“

„Ähm…“ Ein paar Sekunden lang tat Taiji so, als würde er angestrengt über die Aufforderung nachdenken. Dann sagte er: „Nein?“

„Fein...“ Einen Versuch war es wert gewesen… Vollarsch. Yoshiki atmete durch und zwang sich durch seine Irritation zurück zum Thema. „Und was ist mit… keine Ahnung, echten Beziehungen? Was ist, wenn… ich jemanden kennenlerne? Was passiert dann?“

„Deine Entscheidung.“

„Im Ernst jetzt? Du sagst also, du würdest auch weitermachen, wenn ich wen kennenlerne und sage, dass das ok ist? Und was ist mit dir? Würdest du das machen?“

„Wir sind keine fünf Jahre mehr alt, Yoshiki. Wir wissen, dass Liebe und Sex nicht zwingend zusammengehören und das man von letzterem auch … ohne das erste ein bisschen mehr haben kann.“

Nachdenklich tappte der Schlagzeuger mit seinen Fingern gegen die Snare und sagte schließlich: „Ich dachte trotzdem immer, das sollte so sein. Eine Person, die man mag. Mit der. Allein. So.“ Er hatte versucht, äußerst entschieden zu klingen, doch irgendwie war ihm die Überzeugung auf dem Weg verloren gegangen.

„Ah ja?“ Taiji zog eine Augenbraue hoch und lehnte sich neben dem Schlagzeug gegen die Wand. „Und was ist mit dieser… wie hieß sie, Rumi?

„Emi.“

„Was auch immer. Hast du die genommen, weil es die einzig wahre Liebe war?“

„Ich möchte glauben, dass ich das damals dachte.“

Taiji schnaubte.

„Ja!“ Yoshiki stand auf. „Gut, was willst du hören? Dass die Realität hinter meinen Vorstellungen zurück bleibt? Bitte, das kannst du haben!“

Taiji stieß sich von der Wand ab. „Nein, das will ich nicht hören! Ich will wissen, warum du –“ Er brach ab und atmete tief durch. „Ok. Schau“, versuchte er es dann noch einmal, ruhiger. „Wir schießen jetzt grade ein bisschen übers Ziel hinaus und sind schon wieder an diesem Punkt, wo ich dich erwürgen will. Das bringt und nicht weiter. Also, ich frag dich noch einmal. Und ich will eine Antwort auf diese Frage und nur auf diese Frage.“

Eine halbe Minute lang kämpfte er mit Yoshiki einen stillen Kampf nur über Blicke. Dann sagte sein Gegenüber „Ok“ und ließ sich zurück auf den Hocker fallen. „Ich beantworte deine Frage, du beantwortest meine Frage.“

„In dieser Reihenfolge?“

„Nein.“

„Schön. Was auch immer. Was willst du wissen?“

Die Frage kam sofort. „Warum sollten wir? Das hier machen?“

Taiji zuckte mit den Schultern, auf seine lässige ‘Ach ja? Dann fick dich doch‘-Art, die Yoshiki sich abzuschauen versuchte und niemals ganz hinbekommen würde. „Wir machen schon Drugs und Rock ‘n‘ Roll“, sagte er. „Nehmen wir den Sex dazu. Ich seh nicht, was es schadet. Es macht Spaß, wir kennen uns schon und wir streiten nicht mehr so oft.“ Er schien selbst überzeugt von diesen Argumenten.

Doch Yoshiki schüttelte den Kopf. „Das war nicht meine Frage… meine Frage war: Warum willst du das? Ich meine… ich hab dich gesehen. Wie du… mit Mädchen… bist. Warum… das hier?“

Diesmal dachte Taiji wirklich darüber nach. Eine ganze Weile lang starrte er erst in die Luft und dann auf die Lichtreflexe im Ride. „Weiß nicht“, sagte er schließlich und blinzelte, um seinem Starren ein Ende zu setzen. „Aber weißt du, mit den Mädchen, die ich bisher so hatte, da… also, das war… gut und so, keine Frage. Aber dann unterhält man sich so mit ihnen und man merkt: Boah, sie raffen es halt einfach gar nicht. Was ich will. Nicht beim Sex jetzt, sondern insgesamt. Die haben ihre ganz eigene Vorstellung von… allem. Und das ist in Ordnung, aber das ist immer irgendwie da, auch wenn sie sagen ‘Klar, nur für heute!‘ – fall da nie drauf rein Mann, das ist eine Falle. Ich… Also, da war noch nie jemand dabei, wo ich wusste: das hat Zukunft hier. Und dann hab ich auch gar keine Lust, mich da groß… rein zu investieren. Ich meine: wozu? Naja, auf jeden Fall… Bei dir hab ich zumindest manchmal die… also, das Gefühl, dass du checkst, worum es geht. Mir. Oder im Leben. Keine Ahnung. Du willst einfach Musik machen, ich will einfach Musik machen… Und das… das reicht. Es ist… einfach. “

Yoshiki musste gegen seinen Willen lachen, versuchte aber, es zurückzuhalten. Es brach sich als halbes Schnauben Bahn. „Seit wann ist unsere Beziehung einfach?“

Taiji aber lachte nicht und sein Gesichtsausdruck ernüchterte Yoshiki fast sofort. „Wir wollen da raus gehen und das Einzige tun, von dem wir uns vorstellen können, dass wir damit leben können. Wenn es vorangeht, sind wir froh. Und wenn wir das Gefühl haben, dass der andere alles aufhält, weil er immer im falschen Moment das Ride an-“

„Taiji!“

„-spielt, schreien wir uns an!“ Taiji hob fragend die Hände. „Wie viel einfacher kann es sein?“

Yoshiki atmete leise durch und sah weg. Taiji aber ließ nicht locker. Er verschränkte die Arme und sah ihn an, sein Blick jetzt unnachgiebig. „Ich hab deine Frage beantwortet. Also. Was sagst du?“

„Ich weiß nicht. Das… klang mir alles ein bisschen zu emotional grade.“

„Das ist nicht emotional. Es ist ein Fakt. Es ist schön, wenn man sich mal nicht erklären muss. Unabhängig davon, dass du mir wirklich auf den Arsch gehst. Meistens. Manchmal.“ Taiji blickte kurz auf seine Füße und warf ihm dann einen ungewohnt scheuen Blick zu. „Und ich… hatte eine gute Zeit mit dir. Irgendwie.“

Jetzt starrte Yoshiki ihn an. Alles könnte so einfach sein, wenn er keine Ahnung hätte, was Taiji da von sich gab. Doch die Wahrheit war, dass er verstand, was Taiji sagen wollte – weil es ihm ähnlich ging. Manchmal wollte er in einer Beziehung sein, aber er wollte nicht in einer Beziehung sein. Das war es, was der Wunsch nach Unabhängigkeit mit einem machte. Der seltsame Zwiespalt, wenn man nicht wirklich bereit war, das eigene Leben für einen anderen Menschen und seine Vorstellungen einer gemeinsamen Zukunft zu öffnen, aber sich gleichzeitig jemanden an der Seite wünschte, der in die gleiche Richtung schaute und einem manchmal den Rücken kraulte.

Schweigend sahen sich über die Toms hinweg an.

„Niemand darf das erfahren“, sagte Yoshiki schließlich und war überrascht von seinem eigenen Tonfall. Er konnte sich nicht erinnern, schon jemals so ruhig und bestimmt und erwachsen geklungen zu haben.

Taiji gestikulierte hinter sich und warf einen flüchtigen Blick auf das Equipment ihrer Kollegen. „Auch nicht in der Band?“

Die Antwort kam so schnell, dass Yoshiki nicht darüber nachgedacht haben konnte. „Besonders nicht in der Band.“

Und Taiji nickte.
 

-X-
 

Ende Dezember wurde der winterliche Nieselregen für zwei Tage von wässrigem Schneefall abgelöst und langsam begann Toshi, sich in Tokio wohl zu fühlen. Die Bandproben machten ihm Spaß, auf der Arbeit hatte er keine Probleme und auch das Zusammenleben mit Yoshiki hörte allmählich auf, sich wie ein Provisorium anzufühlen. Sie lebten jetzt seit einigen Wochen zusammen und als die letzten Weihnachtsmänner aus den Schaufenstern der Kaufhäuser verschwunden waren, hatten sie eine angenehme Routine entwickelt. Toshi putzte abends das Bad. Yoshiki machte morgens Kaffee. Der Nachbar von gegenüber beschwerte sich alle zwei Wochen, dass sie zu solch unnormalen Zeiten das Haus verließen und zurückkamen. Toshi versuchte, zu vermitteln. Yoshiki begann, die Tür nachts extra laut zuzuwerfen.

Sie feierten Neujahr bei hide. Danach brauchte Toshi drei volle Tage, um seinen Kater loszuwerden. Er konnte sich nicht erinnern, wie das neue Jahr begonnen hatte. Yoshiki nahm sich vor, mit dem Rauchen aufzuhören. Er schaffte knapp zwei Wochen.

Der achtundzwanzigste Januar schließlich war ein besonderer Tag. Denn an diesem Tag trat Toshi zum ersten Mal abends aus der Nachhilfeschule, ging auf dem Weg zur U-Bahn am Supermarkt einige Straßenzüge entfernt vorbei, ohne sich zu verlaufen, stieg dann in die richtige Linie und nahm sie bis zur richtigen Station. Auf Anhieb fand er den richtigen Treppenaufgang, wusste beim Wiedereintritt in die Oberwelt sofort, wo er war und dann trugen ihn seine Füße bis vor die richtige Wohnungstür, ohne dass er noch einmal groß darüber hätte nachdenken müssen.

Er war angekommen.

Drinnen zog er seine Schuhe aus und schälte sich nacheinander aus Handschuhen, Schal und Winterjacke. Er hängte alles neben Yoshikis Mantel an die Garderobe und schnüffelte. Es duftete bereits äußerst appetitlich. Routine. Mittwoch. Abendessen Yoshiki.

Toshi nahm die Einkäufe hoch und ging weiter in die Wohnküche. Yoshiki saß in der anderen Sofaecke, in die Decke eingewickelt und seine Wärmflasche auf der Brust, und lernte Englisch. Oder versuchte es zumindest.

„Guten Abend“, sagte Toshi und winkte ihm, während er schon halb in die Pfanne auf dem Herd schielte. Zwei Filets, vermutlich Dorade. Toshi hielt die Hand über das Fleisch. Noch heiß. Gutes Timing.

„Hallo“, sagte Yoshiki. Es klang etwas kratzig.

Toshi öffnete den Kühlschrank, um die Einkäufe einzuräumen. „Wie war dein Tag?“

„Gut, gut… Deiner?“

„Auch.“ Toshi nahm als letztes ein neues Duschgel aus der Tüte und ging hinüber ins Bad, um es wegzustellen und sich die Hände zu waschen.

Als er zurückkam, hatte Yoshiki sich keinen Deut bewegt. „Isst du nichts?“, fragte er ihn, während er Reis aus dem Kocher in eine Schale schaufelte.

Yoshiki runzelte die Stirn und nahm die Augen nicht von seinem Buch. „Vielleicht später“, antwortete er mit einiger Verzögerung.

„Ok.“ Toshi setzte die Zusammenstellung seines Abendessens fort und ließ sich schließlich an dem kleinen Küchentisch nieder. Die angemachten Gurken ließen ihn ein wenig das Gesicht verziehen. Er wusste nicht, was Yoshiki da heute für ein Experiment gestartet hatte, aber es war… naja. Schnell griff er zu seiner Suppenschale, um nachzuspülen. Es half sofort. „Deine Suppe wird langsam richtig gut“, lobte er und nahm einen weiteren Schluck. Das Geheimnis eines jeden Zusammenlebens war, dass man wusste, was man sagte und was nicht.

„Mmh“, machte Yoshiki. Offensichtlich hatte er schon wieder nicht zugehört. Auch das war wohl ein Geheimnis guten Zusammenlebens.

Toshi schmunzelte, schüttelte leicht den Kopf und wandte sich seinem Fisch zu. Während er aß, betrachtete er die Lichter Tokios jenseits ihres Balkons. Obwohl er sie fast jeden Abend sah, wurden sie nicht langweilig. Es war einfach irgendwie faszinierend, darüber nachzudenken: Jedes dieser kleinen Lichter versteckte einen Menschen, der Dinge machte und Dinge dachte, genau wie Yoshiki und er. Manchmal betrachtete Toshi nur die Fenster der Häuser gegenüber und fragte sich, wer sie wohl waren.

Nachdem er gegessen hatte, stellte er das Geschirr in die Spüle und ging in sein Zimmer, um sich was zu lesen zu holen. Da sie beschlossen hatten, die Heizkosten möglichst niedrig zu halten, war es eigentlich nur im Wohnzimmer angenehm warm. „Jetzt was essen?“, fragte er, als er das nächste Mal an der Küchenzeile vorbeikam. Yoshiki machte ein undefinierbares Geräusch und murmelte dann „In Ordnung, in Or… Bring mir ein paar von den Gurken.“

Toshi zog die Augenbrauen hoch. Wäre jetzt nicht seine erste Wahl gewesen.
 

Fünf Minuten später ließ er sich in die Sofaecke fallen, die er inzwischen als ‘seine‘ betrachtete und nippte an seinem Tee. Dann stellte er die Tasse auf dem Tisch ab, schlug sein Buch auf, las aber nicht. Vielleicht war es, dass er heute schon genug in Bücher geschaut hatte. Vielleicht aber war es auch, dass es bald Februar sein würde und Yoshiki nach wie vor keine Anstalten machte, Unterricht geben zu wollen - oder sonst irgendein Interesse an Arbeit zeigte. Dabei war es nicht so, dass Yoshiki nichts tat. Ganz im Gegenteil. Nach allem, was Toshi so einzuschätzen vermochte, war Yoshiki sogar etwas häufiger unterwegs als er selbst und wesentlich häufiger mit Bandangelegenheiten beschäftigt. Sogar jetzt lagen mehrere wüste Papierstapel auf dem Tisch. Auf dem obersten erkannte Toshi eine Schrift, die er als hides identifizierte. Dass Yoshiki ihn auch nur in die Nähe seiner Partituren ließ, sprach schon für sich. Sie waren einen weiten Weg gekommen.

Aber trotzdem… trotzdem…

Toshi löste seine Augen von den Notenblättern und betrachtete seinen Freund einige Minuten lang unschlüssig über sein Buch hinweg.

„Kann ich dich was fragen?“, meinte er schließlich.

Yoshiki schwieg noch ein paar Sekunden, dann drehte er die vorderste Karte um, schüttelte den Kopf, schob sie nach hinten in den Stapel und wandte sich an Toshi. „Mmh?“

„Du meintest mal, dass diese Aktien, die deine Mutter da gekauft hat… dass die sie befreien sollten. Von… Dingen.“

„Kann sein. Warum?“ Yoshiki hatte die Gurken auf dem Tisch entdeckt und lehnte sich ein Stück zur Seite, um die Schale zu seinen Vokabelkarten auf seinen Schoß zu heben.

Toshi rang noch einen kurzen Moment mit sich. Doch Yoshiki war sein bester Freund – wenn er ihm solche Fragen nicht stellen konnte, wem dann? „Wie… wie frei genau ist deine Mutter inzwischen?“

Yoshiki stocherte mit den Stäbchen in seinen Gurken herum, um noch einmal ein wenig die Soß zu verteilen und sagte schließlich in einem genaustens bemessenen Tonfall: „… wie die Schwalben überm Fujiyama.“ Er steckte sich ein paar Gurkenscheiben in den Mund, kaute einmal und zog eine Grimasse. Irgendwo aus den Untiefen seiner Decke produzierte er eine Packung Taschentücher, entfaltete eines davon und ließ die Überreste der Gurken unauffällig darin verschwinden. Abschließend knüllte er das Taschentuch zu einer festen kleinen Kugel zusammen, während sein Gesichtsausdruck sagte, dass er noch mit sich haderte, wie er den Geschmack in seinem Mund loswerden sollte. „Haben dir die geschmeckt?“, fragte er ungläubig in Toshis Richtung. Dieser machte ein entschuldigendes Gesicht und schüttelte den Kopf.

„Mmh“, machte Yoshiki.
 

-X-
 

Eine Stimme erklang auf der anderen Seite ihrer Tür. „Teru-chan! Post für dich!"

„Wenn es von der Schule ist, wirf es einfach weg", antwortete Terumi, ohne von ihrer Collage hochzusehen. Im letzten Jahr hatte sie unzählige Briefe bekommen, in denen verschiedene Lehrer betont hatten, wie sehr sie alle vermissten. Interessant, dass nie jemand der so ihrer Präsenz beraubten kam, um sie zu besuchen. „Und Nein, ich will es nicht wissen und Nein, du sollst es nicht vorlesen."

„Es ist kein Absender drauf."

Terumi seufzte, gerade laut genug, damit es auf der anderen Seite noch zu hören sein würde. „In Ordnung, in Ordnung... ich mach es auf..." Sie erhob sich und schlurfte zur Tür hinüber. Der ganze Aufwand für irgendwelche Werbung... Brauchen Sie einen neuen Kühlschrank? Verschwinden Ihre Socken immer im Trockner? Kaufen Sie unseren Allzweck-Mixer!

Wortlos nahm sie ihrer Tante den Brief ab und schob die Tür wieder zu.

Tatsächlich stand auf dem etwas mitgenommenen Umschlag nur ihre Adresse. Nachlässig öffnete sie den Brief mit der stumpfen Seite der Schere, mit der sie gerade sowieso gearbeitet hatte und zog den Inhalt des Umschlags heraus. Es war eine Fahrkarte nach Minato und so wie es aussah das untere Ende eines Plakats, auf dem eine halbe Band und eine andere Band namens X über einem Datum und einer Adresse standen. Nachdem sie es ein paar Sekunden lang unschlüssig angestarrt hatte, drehte sie den Fetzen um. Komm! stand auf der Rückseite. Sonst nichts. Trotzdem wendete sie das Blatt noch einige Male, um sicher zugehen, dass sie nichts übersehen hatte. Dann erst versuchte sie es mit Logik. Es gab nur vier Personen, die ihr theoretisch schreiben würden und die nicht bereits hier lebten. Es war keine weibliche Schrift und es war nicht das gleichmäßige Schriftbild Tomoakis. Das ließ letztendlich nur einen Schluss zu.

Langsam schob sie beides, Fahrkarte und Plakat, in den Umschlag zurück und legte diesen so vorsichtig als könne er explodieren jenseits der Müslischale vom gestrigen Frühstück in ihrem Bücherregal ab. Die Schale schob sie noch ein wenig mehr in die Mitte, um den Umschlag völlig zu verdecken. Dann wandte sie sich wieder ihrer Collage zu. Aus der Mitte blickten sie große Rehaugen an und sie wurde das Gefühl nicht los, dass ein Teil von ihr einem anderen Teil irgendetwas damit sagen wollte. Sie wusste nur nicht was.
 

In dieser Nacht wachte sie um zwei Uhr zweiundzwanzig auf. Es war immer gruselig, wenn so etwas passierte. Sie hatte von Hühnern geträumt und von einem Einkaufszentrum, in dem es keinen Orangensaft mehr gab. Und noch während sie über Saft nachdachte, wusste sie es plötzlich. „Son of a Mother", sagte sie, und dann: „Ich geh trotzem nicht."

Abwartend betrachtete die verschiedenen Abbildern von Paul Stanley an den Wänden, die vom Licht der Straßenlaternen draußen gerade so weit erleuchtet wurden, dass sie im Halbdunkel erkennbar waren.

Es war irgendwie beruhigend, dass keiner von ihnen antwortete.


Nachwort zu diesem Kapitel:
... und ab dem nächsten Kapitel gibt es dann endlich wieder mehr Band und weniger Geschnulze. Und weniger Gespräche...

The Police - Jukebox Hero

In a town without a name in a heavy downpour
Thought he passed his own shadow by the backstage door

Like a trip through the past to that day in the rain
And that one guitar made his whole life change

Now he needs to keep a-rockin', he just can't stop
Gotta keep on rockin', someday he's gonna make it to the top Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  SamAngel
2017-12-15T13:00:06+00:00 15.12.2017 14:00
*Tief verbeug* Gomen fuer das spaete Posten.

Komm! stand auf der Rückseite. Sonst nichts. Trotzdem wendete sie das Blatt noch einige Male, um sicher zugehen, dass sie nichts übersehen hatte. Dann erst versuchte sie es mit Logik. Es gab nur vier Personen, die ihr theoretisch schreiben würden und die nicht bereits hier lebten. Es war keine weibliche Schrift und es war nicht das gleichmäßige Schriftbild Tomoakis. Das ließ letztendlich nur einen Schluss zu. <----- Ich tippe mal auf Hide.

hide hingegen grinste lieblich. „Das ist meine neue Geschäftsidee: erst darfst du dich reinsteigern, dann helf ich dir. Weißt du, die 200 000 Yen, die ich dir inzwischen so ungefähr schulde? Ich zahl sie jetzt statt in Raten in Ratschlägen zurück.“ Er schob Yoshiki seine inzwischen kalten Pommes wieder hin. „Zum Beispiel: Essen ist wichtig. Zweihundert Yen.“ Er hielt die Hand auf und grinste.
Yoshiki grinste schief zurück, tauchte einen Kartoffelspaten in den Ketchup auf seinem Teller und drückte ihn hide mit Nachdruck auf die Handfläche. Nicht im Geringsten aus der Fassung gebracht und ohne die Augen von Yoshiki zu nehmen, hob dieser die Hand und schleckte die Pommes mitsamt des Schnodders ab. Während er kaute, wanderten seine Augenbrauen langsam immer weiter nach oben. Yoshiki schaffte es genau zehn Sekunden lang, nicht zu lachen. Dann gab er dem Drang nach. Sofort fühlte er sich besser. <----Ich liebe diese positive Entwicklung bei Hide.


Ich klebe am Bildschirm fuer das naechste Kapitel. *Rock..ehmmmm..Write on*

LG,

Sam




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