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the world outside

Magister Magicae 9
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Kameraden, die Story ist jetzt schon viel umfangreicher, als ich es ursprünglich geplant hatte. :D
In diesem Kapitel wollte ich eigentlich eine Theorie in den Raum stellen, mit der ich aber doch erstmal noch hinter dem Berg halte, weil mir die nötigen Infos dafür noch fehlen. Vielleicht bring ich die später noch an, wenn ich das Okay dafür habe. ^_^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ihr Lieben, jetzt hänge ich doch ein wenig zurück. ToT
Anlässlich der LBM wird es hier über´s Wochenende vielleicht ein wenig ruhiger. Aber danach geht´s wieder schneller voran, versprochen. :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich gebe zu, ich bin etwas ungeduldig. Daher lade ich das Kapitel schonmal hoch. Fertig ist es schon länger. Ich war mir nur nicht sicher, ob ich Victors Theorie hier schon einflechten soll. Aber ich denke, das wird gehen. Es ist ja nur Victors Ansicht zum Thema.
Das hier ist mein Lieblingskapitel. Victor plaudert endlich mal ein bisschen aus dem Nähkästchen. ^_^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Okay, jetzt wird es knifflig. Urnue kennt unseren gefeierten Magister als 'Victor' (bzw. Dragomir, weil Freund und so), daher hab ich ihn in seiner Gegenwart auch immer als 'Victor' betitelt. Hedda und Safall als Studenten kennen ihn eher als 'Professor Akomowarov', also hab ich ihn in den Kapiteln, wo die beiden mit ihm zu tun hatten, auch eher als 'Akomowarov' ausgewiesen. Jetzt kommen wir in Gefilde, wo die alle auf einem Haufen hocken. Ich hab ein Problem. XD Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ach, ziehen wir das Warten nicht unnötig in die Länge. Hier habt ihr! ^^
Kameraden, die Story ist viel viel umfangreicher geworden als ich dachte. Liegt daran, daß ich diesmal ne gute Ladung Konzept Art mit reingepackt habe, um euch die Welt drumrum und die Kulisse etwas bildlicher vor Augen zu führen - im Gegensatz zu 'Magister Magicae', was auf die reine, nackte Handlung beschränkt war. Dort hatte ich mich damals nicht mit der Beschreibung des Settings und der Gegebenheiten aufgehalten.
Ich bedanke mich ganz herzlich bei allen, die so fließig bis zum Ende mitgelesen haben (ich hab genau gesehen, daß ihr da wart! ^_~ ) und hoffe, es hat euch ein bisschen gefallen.

Mal noch eine Anmerkung am Rande: Ich habe zum Verschriftlichen meiner russischen Dialoge nicht die wissenschaftliche Transliteration verwendet, sondern die phonetische. Ich habe es also so festgehalten, wie man es aussprechen und nicht wie man es schreiben würde, um denen, die kein Russisch können, eine bessere Vorstellung davon zu ermöglichen. (Die, die wirklich Russisch können, werden mich sowieso erwürgen. :D ) Komplett anzeigen

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Zutoro

Hedda zerrte ihren riesigen Rollkoffer durch das Tor, betrat das Grundstück der Universität und blieb kurz stehen, um durchzuatmen und den Anblick auf sich wirken zu lassen. Sie war so ziemlich alleine hier am Tor. Kein Wunder, das Semester hatte schon vor Tagen begonnen. Die anderen Studenten waren alle schon drin und hatten ihre Buden im Wohnheim bezogen. Mit Blick auf die Uhr liefen die Vorlesungen auch längst, so daß sich kaum jemand auf dem Kampus herumtrieb. Familiäre Gründe hatten es Hedda unmöglich gemacht, pünktlich anzureisen. Aber sie hoffte einfach mal darauf, in den ersten anderthalb Wochen nicht allzuviel verpasst zu haben. Die Vormittagsvorlesungen würde sie heute auch knicken können. Sie hatte erstmal genug damit zu tun in der Verwaltungsetage alle Formalitäten zu regeln und in ihrem Zimmer im Wohnheim anzukommen. Aber vielleicht bekam sie wenigstens von den Nachmittagskursen noch was mit. Sie verglich das, was sie sah, mit dem Lageplan in ihrem Gedächtnis. Die Zutoro sei eine sehr kleine Universität, hatte man ihr gesagt. Nur wenige hundert Studenten. Dafür wirkten die gepflegten, gelben Backsteingebäude vor ihr allerdings ziemlich gewaltig. Ein hübscher, sauberer Park trennte das Eingangstor vom vorderen Backsteingebäude. Das war die naturwissenschaftliche Fakultät, da würde sie lernen. Im Gebäude dahinter waren andere Studiengänge und die Verwaltung untergebracht, dort musste sie sich dann anmelden gehen. Der kleinere Betonbau zur Linken war das Wohnheim mit der Mensa, das sich direkt mit auf dem Kampus befand. Hatte also was von einem Internat.

Hedda warf ihre langen, blonden Haare nach hinten, holte Luft, griff den Transportkorb ihres Katers und ihren Koffer fester und marschierte los. Sie fand es cool, daß man hier Haustiere halten durfte. Ein Grund, warum sie unbedingt hier hatte studieren wollen. Keine andere Uni erlaubte das in ihren Wohnheimen.
 

„So, da wären wir.“, grinste der Hausmeister sie schief an und klimperte mit dem Schlüssel. Es war eine halbe Stunde später. So lange hatte Hedda gebraucht, um den alten, schmierigen Sack mit den verlotterten, langen Haaren und den schiefen Zähnen zu finden. Er verwaltete die Schlüssel und Ersatzschlüssel für alle Häuser. Er hatte darauf bestanden, ihr den Weg zu ihrem Zimmer zu zeigen und persönlich aufzuschließen. Hedda hätte sich durchaus zugetraut, die ordentlich nummerierte Wohnung auch alleine zu finden, aber sei´s drum. Der Hausmeister schenkte ihr also ein schlecht gepflegtes, gelbzähniges Grinsen und stieß die Tür dann weit auf. Danach händigte er ihr den Schlüssel endlich aus.

Drinnen erschien ein Mädchen mit verpenntem Gesicht, zerwuschelten Haaren und im Nachthemd, um zu sehen, was das Spektakel in ihrer Wohnung sollte. Als sie den dreist feixenden Hausmeister sah, war sie schlagartig hellwach und stinksauer. „Perverser, alter Wichser! Kannst du nicht anklopfen? Verzieh dich, du Sau!“, schimpfte sie lautstark los und warf irgendeinen Dekorationsgegenstand nach ihm. „Lass dich nie wieder ungebeten in einer Mädchenunterkunft blicken! Notgeiler Bock, du! Zieh Leine!“ Ein Buch kam geflogen, dem Hedda erschrocken auswich, um es nicht abzukriegen. Sie zielte schlecht. Das Buch verfehlte den Alten genauso wie der Deko-Artikel zuvor.

„Was musst du um diese Zeit auch noch im Nachthemd rumlaufen, Süße?“, griente er hämisch und leckte sich anzüglich über die Lippen.

„Raus!!!“

Der Hausmeister ließ ein äußerst unpassendes Kichern hören. „Ich empfehle mich. Einen angenehmen Aufenthalt.“, wünschte er Hedda noch und zog dann ohne Eile seiner Wege. Nicht ohne nochmal lüstern zurückzuschauen.

Einen Moment herrschte ratloses Schweigen, als er endlich weg war. Hedda wusste nicht recht, was sie dazu sagen sollte. Und das andere Mädchen war noch zu aufgebracht. Sie musste erst ein paarmal nach Luft schnappen, um sich wieder einzukriegen. So starrten sie sich gegenseitig unschlüssig an.

„Ich sag dir was, nimm dich in Acht vor dem widerlichen Kerl. Der ist ein Spanner und behelligt gern hübsche, junge Dinger. Er lungert auch gern mal spät abends in den Gängen rum und fängt einen ab, wenn man etwas später von einer Party kommt.“

Hedda nickte. „Ich will´s mir merken.“, meinte sie nur befremdet.

Endlich streckte das Mädchen mit den langen, weinroten Dreadlocks ihr die Hand hin und ihre Wut wich einem freundlicheren Lächeln. „Tut mir leid, daß du so einen skurrilen Empfang hier hattest. Ich bin Karorinn, ich studiere Biologie. Wir teilen uns die Bude hier. Ich dachte, du kommst erst am Wochenende, sonst hätte ich dich natürlich nicht im Nachthemd begrüßt.“, quasselte sie los. „Mittwochs hab ich früh keine Vorlesungen, das ist der einzige Tag, wo ich ausschlafen kann.“

Hedda lächelte und stellte sich ebenfalls vor. Mit guter Laune war ihr ihre Mitbewohnerin gleich um Längen sympathischer. Und mit der Handvoll weinroter Deadlocks, die die ansonsten welligen Haare wie einen Hingucker toppten, sah sie echt hipp aus. Hedda glaubte, daß sie die junge Frau mögen würde.

„Ooooooh, du hast eine Katze?“, quietschte Karorinn begeistert, als sie die Transportbox sah, und versuchte einen Blick hinein zu werfen.

„Ja. Ich hoffe, das ist okay für dich. Ich habe angegeben, daß sie mich möglich mit niemandem in eine Wohnung stecken sollen, der eine Katzenhaar-Allergie hat, oder sowas. Ich musste ihn mitbringen, ich konnte ihn nicht zu Hause lassen.“

„Ihn? Ein Katerchen also?“, lachte Karorinn. „Ich hab mich schon gewundert, was die Frage von der Tante aus dem Büro sollte. ... Lass ihn doch raus. Wer weiß, wie lange das arme Tier schon da drin hockt. Diese ganze lange Reise bis hier her. Ich zeig dir dein Zimmer, okay?“ Sie wuselte enthusiastisch los. „Da links hätten wir die Küche und das Bad ... und das hier ...“, sie drückte eine Tür auf und ging voraus. „Das ist deine.“

Hedda trat ein und schaute sich um. Ein Bett, ein Schreibtisch, ein Kleiderschrank und ein Bücherregal, alles in einem hellen Holzton. Die üblichen paar Quadratmeter eben. Ein klassisches Zimmer in einem Studentenwohnheim. Zum Glück war alles sauber und intakt. Sie hatte sich schon bildlich ausgemalt, daß die Schränkte total kaputt, niedergewirtschaftet und mit Filzstiften bemalt waren. Aber Zutoro schien ihrem Ruf als eine der besseren Universitäten gerecht zu werden. Auf der Zutoro studieren zu dürfen, war schon ein ziemliches Privileg. Und dieses Privileg sollten die Studenten wohl auch spüren können.

„Im Keller gibt es Waschmaschinen.“, fügte Karorinn an.

Ihr dunkelbraun gestreifter Kater machte eine kurze Besichtigungsrunde durch das Zimmer – viel gab es ja wie gesagt nicht – und sprang dann aufs Bett, um es sich dort gemütlich zu machen. Für eine Katze war dieses Zimmer derwegen ziemlich klein. Er würde hier nicht viel Bewegung haben. Vielleicht konnte sie Karorinn überreden, ab und an die Türen offen zu lassen, damit ihr Kater auch ihren Raum mit als Revier nutzen konnte. Sie schien ja nichts gegen Katzen zu haben.

„Nagut, pack erstmal in Ruhe aus und geh dich überall anmelden. Ich seh derweile mal zu, daß ich aus meinem Nachthemd rauskomme und mich vorzeigbar herrichte. Für mich fangen dann auch bald die ersten Vorlesungen des Tages an.“, schlug Karorinn vor und verzog sich wieder.

Hedda setzte sich zu ihrem Kater auf das Bett, streichelte zwei, drei mal über ihn drüber, und schaute sich dabei nochmal in Ruhe ihr Zimmer an. Es war ziemlich eng und klein, aber schön. Gefiel es ihr hier? Ja, entschied sie. Hier ließ es sich aushalten. Nach einer kurzen Verschnaufpause öffnete sie schließlich ihren Koffer und begann endlich auszupacken. Die beiden Lehrbücher, die sie schon hatte, landeten klatschend auf dem Schreibtisch, ihr Wecker weniger grob daneben. Dann pflückte sie ihren Kater aus den Klamotten heraus, als er begeistert mit im Kofferinhalt herum zu wühlen begann.
 

Hedda seufzte erleichtert, als die Vorlesung endlich zu Ende war. Der Dozent hatte auch noch fies überzogen. Zugegeben, das Thema war wirklich interessant und hatte die Studenten zu euphorischen Diskussionen verleitet. Aber ihr erster Tag war irgendwie schon anstrengend genug gewesen. Sie hätte heute doch nicht mehr in die letzte Vorlesung gehen sollen, auch wenn sie es nach dem bürokratischen Kram zeitlich gerade noch so geschafft hatte, dachte Hedda. Ihr Stundenplan sah zwar erstaunlich licht und nach viel Freizeit aus, aber sie ahnte jetzt schon, daß sie die Freistunden zum Lernen, Selbststudium, Nacharbeiten irgendwelchen Lehrstoffs oder Bewältigen irgendwelcher Hausaufgaben dringend benötigen würde. Müde klappte sie ihren Ordner zu und verließ den Lehrsaal, um sich ins Wohnheim zu begeben und sich aufs Ohr zu hauen. Vielleicht rief sie ihre Eltern ja erst morgen an, das würde bestimmt auch reichen.

Als sie das Gebäude verließ, rannte sie draußen im Park direkt in eine Schlägerei hinein, die sich soeben auflöste. Vier oder fünf Schaulustige standen herum und gafften, die meisten anderen Studenten gingen einfach weiter und taten so, als würden sie nichts sehen. Drei junge Männer in adretten Business-Anzügen zerrten einen vierten mit sich davon, der offensichtlich noch nicht genug hatte, lauthals herumwetterte und sich weiterprügeln wollte. Ein weiterer junger Mann im langen Ledermantel, der noch am Boden lag, raffte sich gerade wieder in eine sitzende Position auf.

Hedda hechtete erschrocken hin und kauerte sich neben ihn, wobei sie ihm eine Hand auf die Schulter legte. „Hey, bist du in Ordnung?“, wollte sie besorgt wissen.

Der Zusammengeschlagene fegte sich mit einer fahrigen Bewegung die langen, schwarzen Haare aus dem Gesicht, um überhaupt wieder etwas zu sehen. „Jaja, schon gut, alles okay.“, meinte er beiläufig. Dann wischte er sich das Blut von der Nase und musterte missmutig die roten Schlieren, die dabei auf seinem Handrücken zurückblieben. Ein genervter 'so-ein-Mist'-Ausdruck trat auf sein Gesicht.

„Du solltest ins Krankenzimmer.“, schlug Hedda vor.

Nun schaute er sie endlich an. „Mir fehlt nichts. Geh schon weg!“

„Nein, so lass ich dich nicht rumlaufen. Ich begleite dich ins Krankenzimmer!“

„Geh, hab ich gesagt! Mir geht es gut!“

Trotz seines unwilligen Gesichtsausdruckes stand sie auf und hielt ihm helfend die Hand hin, um ihn auf die Füße zu ziehen. „Keine Widerrede! Ich bringe dich hin!“

„Bitte! Lass mich in Ruhe!“, bat er nochmal eindringlich. Vergebens. Das Mädchen blieb stur. Stöhnend ließ er den Kopf nach vorn fallen. Und beeilte sich, aus seiner Manteltasche ein Taschentuch zu ziehen, das er sich auf den verbeulten Zinken drücken konnte, bis das Bluten wieder aufhörte. So ließ er sich dann notgedrungen von ihr hochhelfen und ging mit.

„Darf man deinen Namen erfahren?“, versuchte Hedda ein Gespräch zu beginnen und maß ihn aus den Augenwinkeln mit einem Blick, als müsse sie sich seinen Arm um die Schultern legen und ihn stützen. Aber er schien die Tracht Prügel ganz gut weggesteckt zu haben, abgesehen von dem Nasenstümper. Er war einen reichlichen halben Kopf größer als sie und sah mit seinen langen, schwarzen Haaren und dem langen Ledermantel nicht direkt wie ein typischer Student einer Elite-Uni aus. Sie fragte sich, was der wohl gemacht hätte, wenn hier Uniform-Pflicht bestanden hätte.

„Ich bin Safall.“, gab er mürrisch zurück.

Sie nickte. Und wartete vergeblich auf die Gegenfrage. „Ich heiße Hedda.“, teilte sie ihm dann trotzdem mit, auch wenn er es offenbar nicht wissen wollte.

Nun war er es, der nickte. „Ist dir eigentlich klar, was du hier gerade tust?“

„Ich bringe dich ins Krankenzimmer, weil du verletzt bist.“

Safall gab ein amüsiertes Zischen von sich. „Wir gehören ab jetzt zusammen!“

Hedda kicherte auf und strich ihre blonden Haare glatt. „Das ist mal ne coole Anmache. Hab ich so noch von keinem gehört. Sehr direkt, das hat was. Aber danke, ich bin schon vergeben und sehr glücklich.“

„Ich meine das ernst. Das Gesetz lässt da keinen Spielraum.“, gab er mit einer Humorlosigkeit zurück, die Hedda Angst machte.

„Was für ein Gesetz?“

„Du hast in einem Streitfall eindeutig für mich Partei ergriffen und mich in Schutz genommen. Damit hast du Stellung zu mir bezogen. Vom Gesetz her bist du eine Getreuschaft mit mir eingegangen. Du folgst mir.“, klärte er sie auf.

„Was für ein Gesetz!?“, wollte Hedda nochmal wissen. So verständnis- wie hilflos.

„Das hier ist eine Zirkelschule! Hier gelten die Gesetze des Zirkels!“, machte Safall ihr wütend klar und blieb stehen.

Keine Einsicht von Seiten des Mädchens.

„Das hier ist eine Zirkelschule, weil hier mehrere Klans unter einem Dach versammelt sind! Ein Zirkel! Das hier ist neutraler Boden! Und die Zirkelgesetze gelten für jeden, der sich auf diesem neutralen Boden aufhält, gleichermaßen!“

Hedda starrte ihn weiter ratlos an. Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach.

Safall verschränkte die Arme. Langsam wurde er argwöhnisch, was dieses Mädchen anging. Stellte die sich nur so dumm, oder war sie wirklich das, was er befürchtete? Ihm graute davor, es herauszufinden. „Du stammst aus keinem Klan, oder?“

„Nein!“

„Eine Klanlose. Na, meinetwegen. Damit kann ich leben. Was studierst du hier?“

„Uhren-Mechanik.“

Safall hielt sich stöhnend den Kopf. Es dauerte einen Moment, bis er das verdaut hatte und sich wieder fasste. „Du wirst den Studiengang wechseln!“, entschied er.

„Wie käme ich denn dazu?“

„Irgendeinen magischen Studiengang.“, fuhr er vehement fort. „Vorzugsweise was, was zu meiner Fachrichtung passt.“

„Shit, du bist einer von der magischen Fakultät?“, machte Hedda mit riesigen, schreckgeweiteten Augen, als ihr schlagartig einiges klar wurde.

„Ja. Und daß du es nicht bist, stellt uns gerade vor echte Probleme!“

„Oh ja, das Gefühl hab ich auch!“, stimmte das blonde Mädchen ihm überfordert zu und ließ hilfesuchend den Blick durch den Park schweifen. Magie! Sie wusste, daß es Magie gab. Magier waren selten, aber es gab sie, zusammen mit einigen anderen nichtmenschlichen, magischen Wesen. Sie bildeten eine halbe Parallelgesellschaft, sie hatten eigene Hierarchien und komplizierte Machtgefüge. Sie hatten eigene Schulen und Universitäten, eigene Firmen, eigene Stadtviertel, sie blieben gern unter sich. Als Nichtmagier kam man in diese Kreise schwer bis gar nicht hinein. Es gab nur wenige Überschneidungspunkte mit den gewöhnlichen Menschen. Hedda hatte gewusst, daß Zutoro eine magische Fakultät betrieb, aber sie hatte im Traum nicht daran gedacht, jemals mit den Magie-Studenten in Berührung zu kommen. In der Welt da draußen wurden Magier und Nichtmagier so sorgsam getrennt gehalten, wieso hatte es hier an dieser Universität anders sein sollen? - Nun war sie offensichtlich ungewollt in diese Kreise hineingeraten. Und das schlimme daran: Sie hatte keinen blassen Schimmer von gar nichts.

„Wirst du mich dann jetzt endlich zum Krankenzimmer geleiten?“, brachte Safall sie irgendwann sauer in die Realität zurück. Ihn nervte die Situation tierisch.

Hedda nickte vorsichtig. „Lass uns weitergehen ...“, murmelte sie mit belegter Stimme. Ihr war echt mulmig zu Mute. „Ich bin jetzt also ne Getreuschaft mit dir eingegangen?“ Die Frage, was das überhaupt so richtig umfasste, behielt sie wohlweißlich für sich.

„Ja, ob es dir passt oder nicht. ... oder besser gesagt: ob es mir passt oder nicht.“

„Und dafür kann ich nicht weiter Uhren-Mechanik studieren?“

„Was soll mir Uhren-Mechanik nützen? Das ist nichtmal ein magischer Studiengang. Um mir als Getreue eine Hilfe zu sein, musst du schon irgendwas studieren, was zu meinen Fähigkeiten passt.“

„Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie IRGENDWAS mit Magie zu tun. Ich weiß nur vom Hörensagen, daß es sie tatsächlich geben soll. Was glaubst du, wie lange ich ein magisch orientiertes Studium stemmen kann? Meine Noten werden ins Bodenlose einsacken!“

„Nicht mein Problem. Lass dir was einfallen.“

„Was studierst du denn genau?“, hakte Hedda mit unwohlem Gefühl im Magen nach.

„Traumdeutung.“, warf er ihr an den Kopf und stiefelte festen Schritten voraus.

Hedda zog eine Augenbraue hoch. Das war ein eigener Studiengang? Schnell holte sie wieder zu ihm auf. „Aha, du siehst also die Zukunft? Bist du Hellseher?“

„Das ist was anderes. Was ich mache, hat nicht immer mit der Zukunft zu tun. Man kann auch die Vergangenheit sehen. Sehr nützlich, wenn man auf der Suche nach Wahrheit ist. Ich habe Visionen.“

„Ein Visionär also!“

Safall verpasste ihr einen herben Schlag auf den Hinterkopf, der sie straucheln ließ.

„Aua, hackt´s bei dir?“, jaulte Hedda entrüstet.

„Etwas mehr Respekt, meine liebe Getreue!“

„Deshalb musst du mich ja nicht gleich schlagen. Das sollte nur Spaß sein.“

„Eine Treuschaft ist kein Spaß! Ich erwarte, daß du mich ernst nimmst!“

„Wenn du Frauen schlägst, verliere ich erst recht jeden Respekt vor dir!“

Safall blieb so unvermittelt stehen, daß Hedda es erst zwei Schritte später merkte, verschränkte die Arme und funkelte sie sauer an. „Brauchst du noch eine auf den Hinterkopf, oder wird´s auch so gehen?“, verlangte er angefressen zu wissen.
 

„Hedda-Schatz! Schön, daß du dich meldest. Bist du gut angekommen? Wie war dein erster Tag an der Uni? Gefällt es dir da?“, grüßte ihre Mutter fröhlich ins Telefon, als Hedda sie an diesem Abend anrief.

„Tja, weißt du ...“, begann sie verunsichert, kratzte sich am Kopf und wuschelte dann ihre blonden Haare neu zurecht. „Das Wohnheim ist schön und ich habe eine nette Mitbewohnerin. Ich glaube, meinen Kater werde ich ab jetzt nicht mehr sehr oft für mich alleine haben.“ Sie zwang sich ein gequältes Lächeln ab, um so zu tun als würde sie über ihren eigenen Humor lachen. „Die Professoren scheinen okay zu sein, und die Kommilitonen auch. Zumindest die aus meiner Fakultät.“

„Aber?“, hakte ihre Mutter mit der untrüglichen Intuition einer jeden Mutter nach. Sie wusste sofort, daß etwas im Busch war.

„Also ... ich hab da einen Kollegen von der magischen Fakultät kennengelernt. Und das könnte ... vielleicht ... noch zu Problemen führen.“

„Herrgott nochmal, Hedda! Musst du nichtsnutziger Tölpel dich denn gleich am ersten Tag schon in Schwierigkeiten bringen?“, polterte ihr Vater im Hintergrund los. Ihre Mutter hatte wohl auf Lautsprecher gestellt und ihn mithören lassen. „Was hast du wieder angerichtet? Erzähl schon!“

Treuschaft

Am nächsten Tag erwartete Safall sie vor dem Lesungs-Saal, als sie gerade aus ihrer letzten Vorlesung kam. Ihren Protest, daß sie mit ihrer Mitbewohnerin Karorinn verabredet sei, ignorierte er geflissentlich, und schleppte sie ein paar Meter den Gang hinunter zu einer Sitzecke. Dort drückte er ihr eine flache Holzschachtel in die Hand. Er wirkte nicht mehr so schlecht gelaunt wie gestern, aber immer noch sehr bestimmend. Hedda hatte nicht den Eindruck, daß er sich jemals auf Diskussionen mit ihr einlassen würde, ganz gleich worum es ging.

Sie setzte sich also und öffnete die Schatulle. „Wouw!“, entschlüpfte es ihr überrascht. Darin kamen ein Ring, ein Armband und ein Collier aus Silber und funkelnden, roten Steinen zum Vorschein. Möglich, daß es Rubine waren, aber Hedda wollte sich da nicht festlegen. Sehr kostspieliger Schmuck. „Für mich?“, strahlte sie begeistert.

„Bilde dir nichts drauf ein.“, gab Safall nüchtern zurück und dämpfte ihre Freude damit wieder ein wenig. „Den wirst du ab jetzt immer tragen. Du musst angemessen aussehen, was sollen die Leute sonst von mir denken? Die glauben, ich wäre ein armer Schlucker und könnte meine Getreuen nicht passabel ausstatten.“

„Bin ich jetzt dein Statussymbol, oder was!?“, maulte sie beleidigt.

„Der Schmuck ist in gewisser Weise Status, ja. Je höher dein Rang ist, desto mehr davon hast du zu tragen. Das wird einfach erwartet.“, klärte der Goth sie auf. „Und jetzt komm, du hast ne Menge zu lernen.“

Enttäuscht legte sich Hedda den größenverstellbaren Ring und das Armband an, die ihr plötzlich gar nicht mehr so toll vorkamen, und steckte die Schatulle dann in ihre Umhängetasche. Die Kette konnte sie mit ihrem Rollkragen-Pullover gerade nicht tragen.
 

Mit einem Kopfschütteln blätterte Hedda gefühlte Stunden später die Seite im Buch um und konnte sich einen unwilligen Ton nicht verkneifen, als sie sah, daß es noch eine ganze Weile so weiterging. Sie überlegte, sich ein anderes Buch zu holen. Hier in der Bibliothek der Universität standen ja genug Bücher über Magie herum.

Eine 'Getreuschaft' oder 'Treuschaft', seltener auch 'Treue' genannt, war eine ziemlich komplizierte Konstellation zwischen zwei Personen. Im Prinzip eine Art Schwur-Bruderschaft. 'Partner' war nicht ganz der treffende Ausdruck dafür. Dafür war zu wenig Gegenseitigkeit im Spiel. Nach Heddas Verständnis waren Partner ebenbürtige Gleichberechtigte. Hier allerdings war ein eindeutiges Über- und Unterordnungs-Verhältnis gegeben. Der eine konnte über den anderen bestimmen, und zwar in allen Dingen des Lebens. Safall konnte ihr demnach tatsächlich aufdiktieren, den Studiengang zu wechseln. Es hatte eher was von einer Ehe, nur ohne die sexuellen Aspekte und den Zweck der Fortsetzung der Blutlinien, die damit für gewöhnlich einher gingen. Getreuer konnte jeder sein, egal ob Mann, Frau oder eigener Familienangehöriger. Hedda fiel unwillkürlich der Vergleich mit einer Sklaverei ein, auch wenn das Gesetz das anders auslegte. Im Gegensatz zur Sklaverei konnte eine Treue augenscheinlich wieder geschieden werden.

Safall sah fragend aus seinem eigenen Buch hoch, als er Heddas abwertenden hm-Laut hörte. Er selbst hatte sie hier hergeschleppt und sie gezwungen, sich dieses Zeug durchzulesen, damit sie endlich über ihre Situation im Bilde war. Und er sah es gar nicht gern, wie wenig ernst sie das nahm.

„Diese Gesetze sind das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben sind.“, maulte Hedda unzufrieden und kassierte dafür einen derben Schlag auf den Hinterkopf.

„Du wirst die Zirkelgesetze achten!“, verlangte Safall sauer.

„Aua, spinnst du!?“

„Ich erwarte von dir mehr Respekt vor diesen Gesetzen! Du bist eine Getreue, vergiss das niemals! Benimm dich entsprechend!“

„Deshalb musst du mich nicht gleich schlagen! Gewöhn dir das ab, man! Wozu braucht man Getreue überhaupt?“, nörgelte Hedda weiter.

„Es gibt Magie, die so groß und mächtig ist, daß man sie nicht alleine bewerkstelligen kann. Dazu braucht man Eidesgenossen, die einen mit ihrer Magie unterstützen oder vor den Nebenwirkungen bewahren.“

„Nagut, aber wie oft und lange fabriziert man sowas schonmal? Das ist doch kein Dauerzustand, daß man dafür nen Bund fürs Leben eingehen muss, oder?“

„Hängt davon ab, in welcher Position man ist. Wenn man ein Minister-Amt begleitet oder anderweitig ne hohe Stellung inne hat, wird sowas schon von einem erwartet.“

Hedda atmete schwer durch. Schöner Schlamassel. „Und du wirst mal so eine phänomenale Position antreten, ja?“

„Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Kommt unter anderem auch drauf an, mit welchen Ergebnissen ich die Universität abschließe. Bis jetzt mache ich mich ganz gut. Bis auf diese blöde Sache mit unserer Getreuschaft. Das wird man mir sicher als Arroganz auslegen, auf der Universität schon eine Nebengetreue zu haben.“ Er überlegte kurz. „Andererseits ist das meine Sache und geht andere nicht wirklich was an.“

„Nebengetreue?“, echote Hedda wenig begeistert. „Wie in einem Harem, wo man Hauptfrauen und Nebenfrauen hat, oder was?“

„So bescheuert, dich zu einer vollwertigen Getreuen zu machen, bin ich nun wirklich nicht. Dafür kannst und weißt du viel zu wenig von der Magie. Ich würde mich lächerlich machen.“, schmunzelte er mild. Dieser Kontrast trat inzwischen immer deutlicher zu Tage. Safall schien von Natur aus eigentlich eine eher friedliche Seele zu sein. Solange man ihn nicht ärgerte. „Sei froh, daß du nur eine Nebengetreue werden wirst. Die Pflichten und Erwartungen an dich, die da dran hängen, sind ungleich geringer.“

Hedda nickte mit einem nichtssagenden Gesichtsausdruck.

„Hast du dich schon um den Neigungswechsel gekümmert? Uhren-Mechanik wirst du jedenfalls nicht weiter studieren.“, legte der Goth mit den langen, schwarzen Haaren ruhig nach, bevor sie sich wieder ihrem Buch zuwandte.

„Nein, hab ich noch nicht.“

Der tadelnde Blick, den Safall ihr zuwarf, ließ sie den Kopf einziehen, auch wenn er diesmal darauf verzichtete ihr wieder eine Kopfnuss zu verpassen.

„Ich habe in der Verwaltung noch keinen erreicht, um mich schlau zu machen, welcher Studiengang überhaupt sinnvoll wäre.“, verteidigte sich Hedda kleinlaut.

Er schnaubte. Dann sah er auf die Uhr. Zeit, die Bibliothek zu verlassen. „Pack zusammen. Ich will dich jemandem vorstellen.“
 

Hedda stutzte, als sie im Wohnheim vor einer der zahllosen Türen stehen blieben, Safall einen Schlüssel zückte und aufschloss. „Wohnst du hier?“, wollte sie wissen. Der Goth hatte gesagt, er würde sie jemandem vorstellen wollen. Sie hatte nicht damit gerechnet, daß er sie auf sein Zimmer schleppte. Sie hatte irgendwie Bedenken, mit ihm allein auf seiner Bude zu sein. Wer weiß, worin das endete.

„Ja, hier wohne ich.“

„Sagtest du nicht ...“

„Komm rein.“, trug er ihr auf und ging voraus.

Drinnen kam ihnen mit einem grüßenden Lächeln ein Mädchen entgegen. Hedda erstarrte kurz. Sie glaubte nicht, dieses Mädchen auf dem Kampus schonmal gesehen zu haben, denn sie war ziemlich auffällig. Sie war Safalls exaktes Gegenteil. Während er eine große, athletische Statur hatte und mit seinen langen Haaren und seinem langen Ledermantel rabenschwarz daher kam, war sie klein und zierlich, hatte ein arschkurzes, schneeweißes Kleid und kurze, hochstehende, ebenfalls schneeweiße Haare. Was sie allerdings mit Safall gemein hatte, war das Gesicht. Die beiden hatten so identische Gesichter, das gab ihr irgendwie Rätsel auf.

„Das ist Sewill, meine Erste.“, stellte Safall vor und drückte Heddas Kopf nach vorn unten, um sie mehr oder minder per Hand in eine Verbeugung zu zwingen. Sie sollte dem weißen Mädchen offenbar Respekt zollen.

„Freut mich.“, murmelte Hedda ihr also zu. „Deine erste 'was'?“, wollte sie dann neugierig von Safall wissen.

„Meine erste Getreue.“

„Hast du denn noch mehr?“, entfuhr es Hedda fassungslos.

„Nein, du Einfaltspinsel. Ich hab nur die eine. Aber das macht sie automatisch zu meiner Ersten. Für meinen Studiengang ist es notwendig, einen Getreuen zu haben. Sie ist übrigens meine Zwillingsschwester.“

Ah ja. Das erklärte einiges. Hedda hielt die Klappe, bevor sie etwas falsches sagte.

„Sewill, das ist Hedda, das Mädchen, das mich im Park draußen aufgelesen hat. Sie soll meine Nebengetreue werden. Hat sie deinen Segen?“

Sewill unterdrückte sichtlich ein Seufzen und setzte stattdessen ein Lächeln auf. „Es ist ja nicht so, als ob die Gesetze dir da eine Wahl lassen würden.“, meinte sie. Ihre Stimme klang glockenhell und sauber. Sie wäre sicher eine tolle Sängerin gewesen. Sie hatte so eine Stimme, der man gern zuhörte.

„Aber deine Meinung entscheidet, wie sie künftig zu behandeln ist.“, erwiderte Safall und fuhr ihr sanft durch die weißen Haare, wie einer Geliebten. Da sie Zwillinge waren, stand wohl außer Frage, ob sie als Paar zu betrachten waren, aber man merkte ihnen doch an, wie nahe sie sich standen.

Hedda musterte das Mädchen verstohlen. Tatsächlich trug sie einiges an Schmuck und Klunker, und davon nicht gerade das billigste. Ihr weißes Kleid war mit aufwändigen, silbernen Stickereien und Perlen überzogen. Safall schien nicht gelogen zu haben, was die Statussymbol-Wirkung von Getreuen anging. Selbst ihre Haut wirkte kreideblass und ihre Augen wasserhell. Sie schien kein Fleckchen Farbe an sich zu haben, ja regelrecht farbabweisend zu sein. Hedda musste irgendwie an einen Geist denken, wenn sie dieses blütenweiße Mädchen sah. Erst vor diesem Kontrast fiel ihr auch auf, was ihr an Safall die ganze Zeit so sonderbar vorgekommen war. Die Augen. Seine Augenfarbe war so tiefschwarz wie alles an ihm. Hedda hatte schon oft Menschen mit dunklen Augen gesehen, dunkelbraun, ja. Aber noch nie Augen wie die Nacht selbst. Ob alle Magier so unnatürlich wirkten?

Sewill musterte sie mit dem gleichen Interesse. Und ihrer Mimik nach zu urteilen schien sie dabei mehr zu sehen als nur das äußere Erscheinungsbild. Irgendwann seufzte sie doch leise in sich hinein. „Safall, was willst du mit ihr? Sie ist zu gar nichts nütze. Sie trägt nichtmal Magie in sich.“

„Ich weiß.“, stimmte Safall ruhig zu. „Aber vielleicht kann sie ja als Nicht-Magier noch irgendwas lernen, was mir weiterhilft.“

Sie schaute Hedda wieder unschlüssig von oben bis unten an. „Sie hat keinerlei Achtung vor dir, Safall. Sei vorsichtig mit diesem Mädchen.“, riet sie ihrem Bruder. „Aber abgesehen davon hab ich nichts einzuwenden. Sie hat sich nur Sorgen um dich gemacht. Legen wir´s ihr nicht zum Nachteil aus.“

Danke, endlich mal jemand, der´s auf den Punkt bringt, dachte Hedda, schluckte aber auch diesen Kommentar ungesagt herunter. Sie wollte nicht schon wieder eine Kopfnuss von Safall kassieren. Er verteilte diese ja nicht gerade sparsam.

„Du kennst das vorgeschriebene Prozedere, Safall.“, meinte seine Schwester noch und verschwand dann mit einer leichten, verabschiedenden Verbeugung in ihrem Zimmer. Sie schloss die Tür, was einer Aussperrung gleichkam und irgendwie unhöflich rüberkam. Dann herrschte drinnen Stille. Kein quietschendes Bettgestell oder klappernde Schranktüren oder irgendwas anderes, was darauf hindeutete, was sie da drin nun treiben mochte.

„Und mir haltet ihr Respektlosigkeit vor.“, maulte Hedda beleidigt.

Safall warf der Tür einen besorgten Blick zu, dann schnappte er Hedda am Ärmel und zog sie wieder aus seiner Studentenwohnung hinaus auf den Gang. „Sieh es ihr nach. Sie ist bei sehr schlechter Gesundheit und oft schwach. Sie hat nicht die Kraft, recht aktiv zu sein oder sich lange mit anderen Menschen zu befassen. Sie braucht viel Ruhe. - Ich nehme an, daß sie deshalb nichts gegen dich als Nebengetreue hatte. Sie hofft, daß du uns eine Hilfe bist.“

„Oh ja, ne große Hilfe werde ich euch sein.“, stöhnte Hedda zynisch und spazierte mit ihm davon. „Sag mal, in den Gesetzen rund um das Getreuschafts-Zeug war mit keinem Wort von Menschen die Rede. Da geht es immer nur um Genii. Seid ihr sicher, daß diese Gesetze für mich überhaupt zutreffen?“

„Ich sehe nicht, warum sie für dich nicht zutreffen sollten.“, gab Safall gelassen zurück. Im Moment hatte er mal wieder eine sanftmütige Phase. „Ich bin ein Genius. Und es steht eindeutig geschrieben, wenn mir in einem öffentlich ausgetragenen Streit jemand zu Hilfe eilt und vor Zeugen zu mir steht, nimmt er den Getreuen-Status ein. Und nichts anderes hast du getan. Mir sind da keine Beschränkungen geläufig.“

Hedda seufzte unglücklich.

„Was bist du´n eigentlich so richtig?“, hakte sie nach. Genii nahmen meistens menschliche Erscheinungsformen an, wenn sie unter Menschen lebten, um diese nicht zu erschrecken. Da sie Safall bisher immer nur in seiner menschlichen Gestalt gesehen hatte und auch sonst keine Hinweise auf sein wahres Wesen finden konnte, hatte sie keine Ahnung, was er wirklich war. Reichlich spät, diese Frage, fiel ihr da auf.

„Wir sind Selkies, meine Erste und ich.“

Das Mädchen überlegte fieberhaft, was das nun wieder war. Es gab so unsagbar viele, verschiedene, magische Wesen auf der Welt. Man konnte kaum alle kennen. Sie hatte diese Bezeichnung allerdings schonmal gehört, demnach konnte es keine allzu seltene Spezies sein. Aber ihr fiel trotzdem gerade nichts dazu ein. Als Nicht-Magier hatte sie sich auch nie groß einen Kopf darum gemacht.

„Schottische Gestaltwandler.“, erklärte Safall weiter, da er ihre Ratlosigkeit wohl nicht übersehen konnte. „Normalerweise sind wir Robben. Aber wenn wir unser Fell ablegen, werden wir zu Menschen. Unter uns Selkies ist die Zukunftsdeuterei eine weit verbreitete Fähigkeit. Darum studiere ich auch Traumdeutung.“

„Du kommst aus Schottland?“

„Von den Orkney-Inseln, um genau zu sein. Und ich gedenke nach dem Studium auch wieder dort hin zurückzukehren. Ich vermisse das Meer jetzt schon.“

Das hieß dann wohl soviel wie: Sie musste mit. Hedda ließ innerlich den Kopf hängen. Was in Gottes Namen hatte sie sich da übergebraten?
 

Erst als sie mit Safall vor ihrer eigenen Studentenwohnung stand, blitzte das erste Mal der Gedanke auf, wo sie eigentlich mit ihm hin wollte. Auf ihr Zimmer? Ernsthaft? Etwas unschlüssig fummelte sie mit dem Schlüssel zwischen ihren Fingern. „Danke, den Rest schaffe ich alleine.“, stellte sie klar, um ihn abzuwimmeln.

„Nein, tust du nicht. Schließ schon auf.“

„Was willst du denn mit da drin?“

„Dir helfen, deine Sachen zu holen. Du wirst umziehen.“

Hedda glotzte ihn eine Weile dumm an, ohne den Sinn seiner Worte so richtig zu erfassen. In welcher Sprache hatte er gleich nochmal mit ihr gesprochen?

„Als meine Nebengetreue wirst du bei mir wohnen. Und spar dir die Diskussion!“, schob Safall ihrem etwaigen Protest gleich einen Riegel vor.

„Jetzt geht´s aber echt zu weit!“, empörte sich das Mädchen und stemmte die Hände in die Hüften. „Ich geh nirgendwo hin!“

„Ohne meine Erlaubnis nicht, da hast du Recht.“ Safall pflückte ihr den Schlüssel aus der Hand und verschaffte sich selber Zutritt. Sie war auch viel zu sprachlos, um etwas dagegen zu tun. Er schloss auf und ging hinein.

Von einer Kommode herunter schauten sie zwei abwertende Augen an, sichtlich unzufrieden ob des langen Alleingelassenwerdens. Heddas Kater.

Safall blieb stehen. „Ist das deine?“

„Ja.“, murrte Hedda.

„Du hast einen Nüff?“

„Tatsächlich. Und ich dachte immer, es wär ne Katze.“

Safall scheuerte ihr eine. „Hör endlich auf, so die große Klappe zu haben!“, wetterte er hysterisch und drohte ihr mit einem Zeigefinger.

„Und du hör auf, mich dauernd zu schlagen, du Vollidiot!“, schrie Hedda ihn an. Jetzt reichte es ihr endgültig. „Ich hab die Nase voll von dir! Deine scheiß Zirkelgesetze kannst du dir in den Hintern schieben und umrühren! Ich werde weder deine Getreue noch sonst irgendwas! Lass mich einfach in Ruhe! Geh jemand anderem auf den Sack mit deinem Freak-Kram!“ Sie prügelte ihn förmlich zur Tür hinaus und ließ diese dann schwungvoll ins Schloss krachen, um ihn auszusperren.

Karorinn war inzwischen aus ihrem Zimmer herausgekommen und lehnte mit verschränkten Armen und besorgtem Blick im Türrahmen. „Alles okay bei dir?“

„Dieses ... !“, empört und ungehalten schnappte Hedda weiter nach Luft, schluckte das üble Schimpfwort aber gerade noch herunter.

„Er hat deine Katze als Nüff bezeichnet?“, hakte Karorinn nach. Sie schien nicht wütend darüber, daß Hedda ihre Verabredung hatte platzen lassen. Im Gegenteil sah sie aus, als würden ihr gerade hundert Lichter aufgehen.

„Jetzt fang du nur auch noch an! Was zur Hölle ist ein Nüff?“

„Ein Nüff ist ein magisch begabtes Haustier. Unter den Katzen findet man wohl recht viele Nüffs. Die Katze gilt nicht grundlos als das Haustier der Hexen.“

„Mein Kater ist nicht magisch begabt! Das ist einfach nur eine ganz gewöhnliche Katze.“

„Hat er noch nie was sonderbares gemacht? Irgendwas, was du nicht verstanden hast oder nicht erklären konntest?“

Hedda kriegte sich langsam wieder ein. „Hm. Er ist bei meiner Großmutter mal ins Schlafzimmer gerannt und kam dann aus der Küche wieder raus. Zwischen den beiden Räumen gibt es keine Verbindungstür. Er hätte durch Wände gehen müssen, um in die Küche zu kommen. Aber wahrscheinlich habe ich ihn einfach bloß nicht gesehen, als er über den Flur gehuscht ist.“, winkte Hedda ab.

Karorinn wirkte nicht sehr überzeugt. „Bist du mit diesem Mann eine Getreuschaft eingegangen, Hedda? Sei ehrlich.“

„Jedenfalls behauptet er das die ganze Zeit.“, schmollte das blonde Mädchen.

„Er ist einer vom Gaya-Klan. Wenn es stimmt, was du sagst, musst du ihm gehorchen. Damit den Gesetzen Genüge geschieht.“

„Kennst du ihn? Woran hast du erkannt, daß er einer vom Gaya-Klan ist?“, wollte Hedda verblüfft wissen. „Hast du etwa Ahnung von Magie?“

„Ich weiß nur soviel, wie im Rahmen der Allgemeinbildung noch schicklich ist. Aber ich weiß um diese Zirkelgesetze und kann dir sagen, daß du sie nicht brechen kannst. Auch wenn du selbst kein Magier bist.“

„Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Ob diese Gesetze für mich überhaupt gelten, muss erst noch festgestellt werden.“, meinte Hedda und schnappte sich ihre Katze zum Knuddeln von der Kommode.

„Aber geh dich wenigstens bei ihm entschuldigen! Sonst wirst du so oder so Ärger kriegen, Hedda, bitte!“

„Ich bin ja nicht bekloppt.“, entschied Hedda und verkrümelte sich in ihr Zimmer. Alter Schwede, was war hier bloß los? Drehte denn die ganze Welt hohl?

Die Eingangstür schwang wie von selbst wieder auf. Aus dem Schlüsselloch stieg noch blauer Rauch auf. Wer weiß, mit welchem Zauber Safall das Schloss gerade geknackt hatte, um wieder Zugang zu bekommen. Missmutig trat er erneut ein und fluchte dabei leise in einer fremden Sprache vor sich hin, die irgendwie nach Gälisch klang. Sicher seine Muttersprache.

Karorinn hob ergeben die Hände. „Ich halte mich da raus.“, stellte sie sofort klar und verzog sich ebenfalls in ihr Zimmer.

„Besser ist das.“, grummelte Safall und stapfte in Heddas Zimmer, um sie am Kragen gewaltsam aus der Wohnung heraus zu schleifen. Er war das Theater sichtlich genauso leid wie sie. Ihr lautes Gezeter und Gebahren ignorierend zerrte er sie unter den vielen neugierigen Blicken der anderen Studenten zu seiner eigenen Wohnung zurück. Heddas Aufriss und die Art, wie er sie an den Klamotten durch die Gegend bugsierte, erregten eine Menge Aufsehen. Das Gerede, daß die nächsten Tage kursieren würde, nervte ihn jetzt schon. Es gab immer ein großes Hallo unter den Magiekundigen, wenn einer seine Getreuen nicht unter Kontrolle hatte. Uneinigkeit war ja immerhin genau das, was eine Getreuschaft eben nicht sein sollte.

Kuppelfrau

„Ich will einen Fall von Gewalt melden!“

Die ältere Dame im Büro der Verwaltung rückte sich ihre Brille zurecht und schaute Hedda dann mit erhobener Nase an. Vermutlich musste sie die Nase bloß so hoch heben, um durch ihre Brillengläser überhaupt etwas zu erkennen, aber es wirkte auf Hedda trotzdem überheblich. „Ja?“, wollte sie interessiert wissen.

„Es geht um einen gewissen Safall Gaya.“, fuhr Hedda fort.

„Ja ... ähm ... ich kenne ihn. Studiert Traumdeutung im 2. Jahr. Ein guter Student, seine Noten sind hervorragend.“

„Er hat mich mehrfach geschlagen, hat sich gewaltsam Zutritt in meine Wohnung verschafft, hat mich förmlich an den Haaren durch das halbe Wohnheim gezerrt und sperrt mich die ganze Nacht ein. Ich will, daß er wegen Körperverletzung, Hausfriedensbruch und Freiheitsberaubung angezeigt wird. Außerdem will er mich zwingen, meinen Studiengang zu wechseln und mit in seiner Bude zu wohnen.“

Die Sekretärin schaute sie noch einen Moment mit großen Augen an, schien innerlich bis 5 zu zählen, dann lachte sie plötzlich schallend los. Sie bog sich vor Lachen, so sehr, daß sie sich mit einer Hand den Bauch halten und mit der anderen auf der Tischplatte abstützen musste. Gröhlend ließ sie sich auf ihren Stuhl sacken und feierte im Sitzen weiter. Dann zog sie irgendwann ein Taschentuch heraus und tupfte sich vorsichtig die Lachtränen weg, um ihr Make-Up nicht zu verschmieren.

„Was ist so lustig?“, wollte Hedda angefressen wissen.

Die Sekretärin wedelte mit der Hand und lachte noch ein Stück weiter. „Du bist süß, Kind. Hast du schonmal was von den Zirkelgesetzen gehört?“, kicherte sie und kramte dabei in einer Schreibtischschublade nach einem Formular. „So leid es mir tut, Kleine, aber Safall ist absolut im Recht.“

„Das seh ich nicht so. Ich bin kein Magier, für mich gelten diese blöden Zirkelgesetze nicht! Und man kann ja wohl schwerlich gegen seinen Willen in eine Getreuschaft gezwungen werden!“ Wenn die Sekretärin so selbstverständlich von Zirkelgesetzen sprach, dann wusste sie sicher auch, was Getreuschaften waren und in welcher Situation sie und Safall gerade steckten, dachte Hedda verbittert. Sie fühlte sich von der Frau gerade total untergebuttert.

Die Sekretärin lachte weiter. „Hier hast du den Vordruck, um deinen Neigungswechsel anzuzeigen, Kind. Bring ihn mir ausgefüllt zurück, wenn du dich für einen anderen Studiengang entschieden hast. Und jetzt lass mich bitte weiterarbeiten. Ich hab viel zu tun, wie du siehst, ja?“ Immer noch kichernd beugte sie sich über die Postkiste und beachtete das blonde Mädchen einfach nicht mehr. Sie gackerte noch leise irgendwas von Körperverletzung und 'die gibt mir Spaß' vor sich hin, dann war sie wieder ganz in ihrer Arbeit versunken.
 

Als Hedda wieder aus dem Sekretariat kam, stand Safall bereits draußen und zog mit verschränkten Armen eine Augenbraue hoch. „Ihr hattet ja viel Spaß da drin. Was hast du ihr denn erzählt?“

„Nicht so wichtig ...“, grummelte Hedda.

„Erfolgreich gewesen?“

„Ja.“ Sie hielt ihr Formular hoch. 'Nein' wäre sicher zutreffender gewesen, hätte aber nicht zu seiner eigentlichen Frage gepasst.

„Gut. Dann lass uns gehen.“, entschied Safall und spazierte voraus. Er ließ das Mädchen kaum noch eine Minute aus den Augen. Er bestimmte mit verbissener Akribie, was sie wann tat oder nicht tat. Wenn er sagte, sie solle zu dieser oder jener Vorlesung gehen, dann war es so. Wenn er sagte, sie solle in der Bibliothek sitzen und lernen, dann war es so. Wenn er sagte, daß sie sich heute nicht wie verabredet mit Karorinn treffen würde, dann war es so. Wenn er sagte, sie würde jetzt nach über vier Wochen endlich wie erbeten die Studienrichtung wechseln, dann war es so. Und er sorgte persönlich dafür, daß seinen Anweisungen nachgekommen wurde. Er brachte sie überall hin und holte sie wieder ab. Keine Chance, irgendwas ohne sein Wissen oder seine Erlaubnis zu unternehmen. Ihre Freiheiten würde sie sich von jetzt an erarbeiten müssen, hatte er gesagt. Noch so einen Aufriss wie neulich würde er kein weiteres Mal mehr dulden. Karorinn hatte Heddas Sachen gepackt und den Koffer zu Safalls Studentenbude gebracht, zusammen mit ihrem Katerchen. Hedda hatte Sewills altes Zimmer bekommen. Diese war mit zu ihrem Bruder gezogen. Keine Ahnung, wie sie das auf den paar Quadratmetern ohne zweites Bett anstellten, aber Hedda war im Moment auch noch viel zu sauer, um sich darum einen Kopf zu machen.

„Ich werde heute Abend nicht da sein. Wir haben einen Auftritt mit unserer Band. Sei so gut, und fall meiner Ersten nicht zur Last, wenn du bei ihr bleibst. Noch lieber würde ich es sehen, wenn du dir in der Bibliothek ein Buch über Wahrsagerei schnappst und liest.“, erzählte Safall, während er mit ihr durch das Universitätsgebäude stiefelte.

Hedda seufzte innerlich. Sie kommentierte nicht, daß sie bisher gar nichts von seinen musikalischen Aktivitäten bemerkt hatte. Sie beschwerte sich auch nicht über seine dreiste Annahme, sie würde Sewill eine Last sein. Sie nörgelte nicht mal mehr über seine gebieterischen Befehle bezüglich ihrer Abendgestaltung. Sie hatte eingesehen, daß sie es damit nur schlimmer machte. „Was bestimmtes? Oder nur Wahrsagerei allgemein?“, gab sie lediglich zurück.

„Wie, was bestimmtes?“, wollte Safall irritiert wissen.

„Du bist Traumdeuter und hantierst mit Visionen rum. Da schien mir sowas in der Art naheliegend.“

„Traumdeutung und Visionen gehören zur Wahrsagerei dazu. Mach dich erstmal über das Allgemeine und das große Ganze schlau, bevor du ins Detail gehst.“

Hedda nickte nur.

„Und bitte hör endlich auf zu schmollen, Hedda. Ich hab mir unsere Situation nicht ausgesucht. Es ist nunmal jetzt so, wir können es nicht ändern.“

„Alter, ich wollte bloß wissen ob du okay bist, nachdem du paar auf´s Maul gekriegt hast. Es war nicht mein Anliegen, daß sowas hier draus wird!“, begehrte Hedda – nun doch wieder etwas hysterisch – auf und wedelte dabei anklagend mit dem Neigungswechsel-Formular. Und kassierte wieder einmal einen strafenden Schlag auf den Hinterkopf von ihrem schwarzen Eidesgenossen.

„Hedda! Mir brauchst du keine Vorwürfe zu machen! Ich hab dich dreimal gebeten, zu gehen! Dreimal! Mehr kann ich nun wirklich nicht tun. Aber nein, du musstest mir deine Hilfe ja unbedingt aufzwingen. Du wolltest es nicht anders. Hör auf, mich deswegen zur Schnecke zu machen.“

„Ich wusste nichts von euren blöden Gesetzen!“

„Bei euch Nicht-Magiern gibt es ein Sprichwort: Unwissenheit schützt vor Strafe nicht! Und jetzt will ich nichts mehr davon hören.“

Hedda machte nur noch ein wütendes 'hmpf', sagte aber tatsächlich nichts mehr.

Zufrieden marschierte Safall also weiter. „Wir gehen nachher zu einer Kuppelfrau. Zieh dir was ordentliches an. Aber konkurriere nicht mit meiner Ersten.“

„Was ist das nun wieder?“, stöhnte Hedda wehleidig.
 

Niemand ging eine Treuschaft ein, ohne das Zutun einer Kuppelfrau, hatte man ihr gesagt. So langsam bekam Hedda eine Ahnung, wer oder was diese alte, schrullige, schrumpelige Frau mit dem Kopftuch war. Sie verkuppelte Leute zu Getreuen, so wie Heiratsvermittler künftige Eheleute verkuppelten. Sie zog dabei einiges Tamtam ab und befragte die beiden willigen Probanden nach bestimmten Faktoren wie dem Geburtsdatum, dem Sternzeichen, der Blutgruppe und so weiter, um daraus horoskopartig eine Prognose abzugeben, ob die beiden denn zusammenpassen mochten. Und sie strich eine sagenhafte Summe Geld dafür ein. Schon aus diesem Grund vermutete Hedda, daß ihre Schützlinge grundsätzlich immer gut zusammenpassten. Denn keiner gab ja gern Geld aus für eine Enttäuschung.

Hedda legte sich vornüber auf die Tischplatte und parkte ihr Kinn auf den gekreuzten Unterarmen, aber Safall zog sie derb wieder in eine ordentliche Sitzhaltung hoch. Auch wenn sie hier im Hinterzimmer eines Teehauses außerhalb des Kampus hockten, wo sie keiner sah, sollte sie sich bitte benehmen. Hedda dachte abgelenkt, daß dieses Teehaus eigentlich ganz hübsch war. Mangels Alkohol kam es zwar für die allermeisten Studenten nicht zum Feiern in Frage, aber abgesehen davon war es ganz gemütlich.

Die Kuppelfrau gab sich indess redlich Mühe, ratlos auszusehen. „Das ist seltsam. Wirklich sehr seltsam.“, murmelte sie immer wieder und drehte ein von ihr gezeichnetes „Radix“ mit irgendwelchen „Häusern“ und „Feldern“ mal in diese, mal in jene Richtung. Hedda verstand nicht viel davon. Sie hatte wohl doch noch nicht genug über Wahrsagerei im allgemeinen und Astrologie im speziellen gelesen. „Ihr zwei passt wirklich überhaupt nicht zusammen. Aber trotzdem deutet alles darauf hin, daß ihr dringend miteinander arbeiten solltet. Ein dunkles Schicksal verbindet euch.“

Hedda versuchte, nicht allzu deutlich mit den Augen zu rollen. „Gibt es sowas wie Getreuschaften auf Zeit?“, wollte sie hoffnungsvoll wissen. Vielleicht entkam sie diesem Safall ja doch noch irgendwie, früher oder später. Sie hatte ihn ja inzwischen durchaus als nette, sympathische und offenherzige Person kennenlernen dürfen – solange man brav das machte, was er wollte. Und letzteres störte sie ganz entscheidend, auch wenn sie Safall ansonsten eigentlich sogar mochte.

„Welcher Art ist dieses dunkle Schicksal?“, warf Safall jedoch sofort ein, bevor die alte Kupplerin zu intensiv über Heddas Frage nachdenken konnte.

„Mh ... ein bösartiges Ding. Aber nicht für euch bestimmt.“

„Für wen dann?“

„Für jemanden, der dir sehr nahe steht. ... Hast du eine Freundin?“

„Eine Zwillingsschwester und Schwurschwester, meine erste Getreue.“, stellte Safall sofort fest, als müsse er da gar nicht lange überlegen. Als hätte er nicht viele Personen, die ihm so nahe stünden, daß es einer Erwähnung wert sei.

„Geht es ihr gut?“, hakte die Kuppelfrau nach.

„Nein, gar nicht. Sie ist sehr gebrechlich und schwach. Sie kränkelt.“

Die Kuppelfrau fragte ihn weiter nach irgendwelchen mystischen Faktoren aus, mit denen sie mystischen Hokuspokus betrieb und daraus mystische Antworten zu gewinnen erhoffte. Sehr mystisch, das alles, dachte Hedda abwertend. Ihr fehlte echt das magische Verständnis für sowas.

Die Kuppelfrau schüttelte den Kopf. „Nein. Kränkeln ist das nicht. Ihr fehlt etwas anderes. Das kommt von außen.“

„Wir sind einander 20 Jahre lang nie von der Seite gewichen. Welche Einflüsse von außen soll sie bekommen haben, die ich nicht bekommen habe?“

„Hör zu.“, seufzte die Alte. „Ich bin eine Kuppelfrau. Ich verstehe mich nicht sonderlich gut auf Ursachenforschung. Ich kann dir nur sagen, daß es von außen kommt. Mehr vermag ich in die Mittel, die mir zur Verfügung stehen, nicht hineinzudeuten. Ich könnte zwar raten, aber ich schweige lieber, als dir ungesicherte Mutmaßungen mit auf den Weg zu geben, die dich wohl in die Irre leiten würden. Such dir jemanden, der sich auf dieses Handwerk besser versteht und dir zuverlässiger helfen kann.“

Safall nickte betrübt, doch dann wurde wieder ein Lächeln daraus. „Dann danke ich euch zumindest für den gütigen Hinweis.“
 

Es war gerade 18 Uhr. Die Bibliothek stand den Studenten der Zutoro bis 23 Uhr offen und es schien tatsächlich ein paar eifrige Streber zu geben, die diese Öffnungszeiten in Anspruch nahmen. Safall gehörte wohl normalerweise dazu, wenn er nicht gerade mit seiner widerspenstigen Nebengetreuen zu hadern hatte. Jedenfalls war Hedda schon zweimal gefragt worden, wo Safall denn bliebe, er sei schon seit Tagen nicht mehr zum Lernen hier gewesen. Allein das Gefrage nervte Hedda, denn es bewies ihr, daß die anderen sie und Safall durchaus schon als fest zusammengehörenden Gespann ansahen. Nun, heute hinderten ihn seine Band-Aktivitäten daran, weiter an seinen ohnehin schon guten Noten zu arbeiten.

Hedda saß wieder über den Gesetzestexten des Zirkels. Sie versuchte, diese Paragraphen nochmal etwas ernsthafter zu lesen und sich dabei vorzustellen, daß sie wirklich danach leben müsste. Safall schien es damit jedenfalls sehr ernst zu sein. Soweit sie das verstanden hatte, war „Zirkel“ ein Begriff, stellvertretend für die Gemeinschaft aller magischen Familien und Klans des Landes. Nicht wenige Klans schienen zu rivalisieren oder sich sogar unverhohlen anzufeinden. Um immer noch ein gemeinsames Miteinander zu gewährleisten, hatte man irgendwann einheitliche Spielregeln für alle aufgestellt, sowie neutrale Zonen geschaffen, die jedem gleichermaßen offenstanden und wo Streitigkeiten untersagt waren. Hier konnte man ungestört reden, Handel betreiben, Ausbildungen absolvieren, klansübergreifende Ehen oder Getreuschaften schließen, oder was auch immer das gesellschaftliche Zusammenleben eben noch so ausmachte. Wenn man sich auf neutralem Boden befand, waren die Gesetze des eigenen Klans bedeutungslos, dann galt nur noch das Recht des Zirkels. Es war dem Bürgerlichen Gesetzbuch der gewöhnlichen Menschen nicht ganz unähnlich. Aber diese Zirkelgesetze, speziell die Gesetze der Treuschaft, waren echt furchtbar. Sie waren voll von Verboten und damit einhergehenden Körperstrafen. 'für dieses Vergehen zähle man seinem Getreuen so-und-so-viele Schläge mit dem Prügel über' ... 'für jenes Vergehen zähle man seinem Getreuen so-und-so-viele Hiebe mit der Peitsche über' ... zum Glück hatte sie noch an keiner Stelle etwas von Todesstrafen gelesen, aber sie war ja auch noch nicht am Ende. Wie konnte jemand nur allen Ernstes freiwillig eine Treuschaft eingehen? Das alles sollte ihr jetzt also tatsächlich blühen? Mit ihrer Frage, inwieweit diese Gesetze nur für Genii oder auch für Menschen galten – magisch begabt oder nicht – war sie allerdings immer noch kein Stück weitergekommen. Es war immer nur von „Klans“ und „Familien“ die Rede, aber wie man das zu verstehen hatte, stand nirgends. Hedda hatte sich über Selkies belesen. Bei denen gab es Klans in der Tat. Und Getreuschaften waren an der Tagesordnung. Das schien aber beileibe nicht bei allen Arten von Genii so zu sein. Und bei den Menschen? Keine Ahnung! Klans? Möglicherweise. Getreuschaften? Wohl kaum, da magisch begabte Menschen von Natur aus einen Genius Intimus an ihrer Seite hatten, der diese Funktion übernahm. Was die Gesetze betraf, hielt die Bibliothek leider kaum Literatur vor, denn Jura war blöderweise gerade ein Studiengang, den man an dieser Universität nicht studieren konnte. „Ich besauf mich.“, entschied sie deprimiert und schlug das Buch mit einem Knall zu.

„Ach, nicht doch.“, bat eine Stimme von hinten beruhigend. Eine Hand schwebte über Heddas Schulter hinweg und griff nach dem Buch.

Sie drehte sich um und schaute die junge Frau mit den schwarzen Locken irritiert an. Eine Asiatin. Vom Alter her war sie wohl Studentin dieser Universität. Und sie schien einen Faible für Schuluniformen zu haben, denn sie trug etwas, das schwer danach aussah. Direkt dick war sie nicht, aber doch stabil gebaut. Sie warf einen Blick auf den Titel des Buches und seufzte verstehend. „Die Gesetze des Zirkels, was? Das sind noch sehr, sehr alte Gesetze. Aus einer Zeit, als die gesellschaftlichen Strukturen dieses Landes noch anders aussahen. Viele davon sind gar nicht mehr zeitgemäß und finden heute auch kaum noch Anwendung. Sie wurden inzwischen von anderen, neueren Gesetzen abgelöst, die das gesellschaftliche Zusammenleben verschiedenartiger Genii auf dem gleichen Grund und Boden regeln.“

Hedda kniff die Augen zusammen. „Wer bist du?“

„Ich bin Soleil.“

Hedda ließ die Augen argwöhnisch zusammengekniffen. „Echt? Komischer Name.“

„Das ist mein Code-Name.“, erklärte die junge Frau und hielt ihren Armreif hoch. Diesen Armreif hatte Hedda schon bei einigen Studenten entdeckt, hatte aber noch nicht herausgefunden, was die Träger dieses Armreifs gemeinsam hatten. „Ich bin ein Genius. Alle Genii tragen Code-Namen.“

Hedda zog nun eine Augenbraue verständnislos nach oben.

„Herrje. Ich muss also noch viel weiter ausholen als ich dachte.“, stellte die Fremde amüsiert fest und setzte sich. „Aber du bist kein Magier, das ist okay. - Also, mein Name ist Soleil. Ich bin eine Yôkai und die Erste Getreue von einem der Magie-Studenten. Mein Herr ist ein Freund von Safall.“

„'Mein Herr'???“, echote Hedda ungläubig. Sie nannte ihren Anvertrauten wirklich 'Herr'? Ihr würde im Traum nicht einfallen, Safall 'Herr' zu nennen.

„Mein Herr hat mich gebeten, dich ein bisschen unter meine Fittiche zu nehmen, weil er merkt, wieviel Kummer deine Unwissenheit Safall bereitet.“

Hedda konnte nicht verhindern, daß sie sich unwillig halb abwandte. „Super. Noch jemand, der auf mir rumprügelt. Das kann ich brauchen.“

„Nein, nein!“ Soleil warf erschrocken das Buch auf den Tisch, griff nach Heddas Händen und hielt sie zutraulich fest. „Ich will nicht auf dir rumhacken, nein. Ich will dir nur all deine Fragen beantworten. Ich bin sicher, daß du sehr viele davon hast. Lass mich dir die Welt da draußen erklären! Lass uns Freunde sein! Ich will dir helfen, Hedda, glaub mir das. Ich bin auf deiner Seite.“

„Freunde ...“, gab sie mürrisch zurück. Etwas abfälliger als geplant. Wieder sah sie auf das Buch mit den elenden Zirkelgesetzen.

„Hör zu, Safall ist ein Gaya. Der Gaya-Klan ist den Traditionen sehr verbunden, darum hält Safall so viel auf diese alten Gesetze.“

„Diese Gesetze strotzen nur so von Prügelstrafen!“

„Ich weiß, aber sie werden heute wahrlich nicht mehr in dieser Härte angewendet. Statt vierzig Schläge mit dem Knüppel belässt man es bestenfalls bei einem Titscher auf den Hinterkopf. Die gesellschaftliche Stellung von uns Getreuen hat sich sehr gewandelt und wir werden heute anders behandelt als in den Büchern. Zu der Zeit, als diese Gesetze geschrieben wurden, konnte man sich die Getreuschaft nicht aussuchen. Damals sind rangniedrigere Genii einfach an ranghöhere Genii verkuppelt worden, ob sie wollten oder nicht, und hatten diesen zu dienen. Bei euch Menschen ist es doch ganz ähnlich gewesen. Männer und Frauen sind einander einfach versprochen worden, oder sie sind von Heiratsvermittlern einander zugeteilt worden, und dann hatte die Frau dem Manne 'Untertan zu sein', wie es in der Bibel so schön heißt, und hatte zu schweigen und fleißig im Haushalt zu arbeiten. - Aber die Zeiten haben sich geändert, Kleines. Heute finden bei euch Menschen die Hochzeiten doch auch immer irgendwie freiwillig statt, oder? Und der Mann hat bei weitem nicht mehr so viel Befehlsgewalt über seine Frau. Genauso hat es sich bei den Getreuen im Laufe der Zeit geändert. Getreuschaften werden in aller Regel freiwillig eingegangen. Da setzen sich zwei Genii aus völlig freien Stücken zusammen und reden in Ruhe drüber, ob sie eine Getreuschaft eingehen wollen oder nicht. Und der Anführer der Getreuschaft tut gut daran, seine Getreuen gut zu behandeln. Es gibt nur noch sehr wenige Ausnahmen, wo eine Getreuschaft von Gesetz wegen aufgezwungen wird. Das du nun gerade in so eine Ausnahme reingetappt bist, ist wohl blöd gelaufen und sehr bedauerlich.“

„Ja. Eine Ausnahme, die ich bis heute nicht verstehe.“, murmelte Hedda leise. Sie hätte Safall damals einfach liegen lassen sollen. Aber ihr Trotz machte doch langsam einer gewissen Neugier Platz. Diese Soleil schien es wirklich gut mit ihr zu meinen und ihr tatsächlich alles in Ruhe und im Guten erklären zu wollen. Sie wollte wirklich helfen. Und ihre Ausführungen, daß man die Gesetze heute nicht mehr so streng auslegen musste, stimmten Hedda auch zugegeben ein wenig milde.

„Die du nicht verstehst, weil du ein Mensch bist, schätze ich. Safall hat dich nach eigener Aussage mehrfach gebeten, zu gehen. Er wollte dich nicht in diese Situation hineinziehen, in der du jetzt bist. Und jeder normale Genius wäre an deiner Stelle auch mit Sicherheit gegangen. Weil die Zirkelgesetze jedem allgemein bekannt sind.“

„Ich bin aber kein Genius! Ich wusste nichts davon! Ist überhaupt schon jemals ein Mensch zum Getreuen geworden?“

Soleil zog ein ratloses Gesicht. „Nicht, daß ich wüsste. Wozu auch?“

„Siehst du!? Weil diese Gesetze für mich gar nicht gelten! Diese Gesetze sind gar nicht dafür vorgesehen, daß ein nichtmagischer Mensch sie befolgt!“

„Das kann man so nicht sagen. Nur, weil es noch keinen vor dir gab, muss es nicht automatisch ausgeschlossen sein.“, überlegte das japanische Mädchen und schien sichtlich darüber nachzudenken, wo man sowas in Erfahrung bringen könnte.

„Was wäre gewesen, wenn Safall bewusstlos geschlagen worden wäre und mich gar nicht hätte wegschicken können!?“, diskutierte Hedda streitlustig weiter. „Darf man einem verletzten Genius keine Erste Hilfe leisten, ohne sich gleich lebenlang an ihn zu binden? Was sind das für dämliche Gesetze?“

„Das wäre was anderes gewesen. Safall brauchte keine Hilfe. Er kam gut alleine klar. Es wäre auch was anderes gewesen, wenn Safall bei einem Unfall verletzt worden wäre, und nicht in einem Streit. Aber wenn du jemandem in einer öffentlichen Auseinandersetzung gegen seinen Willen eine Hilfe aufzwingst, die er nicht braucht, dann machst du damit deutlich, daß du zu ihm gehörst.“

„Und er kann nichts dagegen machen, daß ich fortan seine Getreue bin?“

„Er kann dir das Leben zur Hölle machen, wenn du dich aufmüpfig zeigst und dich nicht wie eine Getreue benimmst. Welche Strafen die Gesetze der Treuschaft vorsehen, hast du ja bereits zur Kenntnis genommen. Darum würde sich zu sowas auch kaum einer gegen den Willen des künftigen Herrn verpflichten.“

Hedda winkte nur ab und stand auf, um das Buch ins Regal zurückzustellen. „Du bist also auch eine Getreue?“, wollte sie dabei wissen.

„Ja, ich bin die Erste meines Herrn. Ich bin eine Pyromanin, ein kleines Feuerteufelchen. Ich kann alles und jeden in Flammen aufgehen lassen.“

„Ist ja cool.“, urteilte Hedda.

„Nein, nicht wirklich.“, gab Soleil etwas bedrückt zurück. „Das ist keine sehr steuerbare Fähigkeit. Ich kann das Feuer nichtmal kontrollieren, geschweige denn wieder löschen. Einmal entfacht, habe ich keine Kontrolle mehr darüber.“

„Okay, doch nicht so cool.“, schmunzelt sie.

„Ich hoffe hier an der Uni irgendwas zu lernen, was mir da ein bisschen weiterhilft. Daher habe ich übrigens meinen Namen 'Soleil'. Weil ich alles in ein Flammenmeer wie die Sonnenoberfläche verwandeln kann.“

„Wieso trägst du eigentlich gar keinen Schmuck weiter?“ Sie deutete auf Soleils lange Kette mit dem abstrakt geformten Anhänger, der abgesehen von dem ominösen Armreif das einzige Schmuckstück an ihr war. „Mich hat Safall schon zweimal rund gemacht, weil ich ihm zu wenig Klunker getragen habe.“

„Oh, das hängt davon ab, wie vermögend und wie hoch angesehen dein Klan ist.“, wusste Soleil zu erklären. „Du musst standesgemäß aussehen. Wenn dein Herr so ein reicher Geldsack ist, oder ein ranghohes Mitglied der Regierung, dann musst du als seine Getreue natürlich entsprechend auftreten. Ist dein Herr nur ein einfacher Handwerker, dann erwartet man das von euch nicht in solchem Maße. Es geht darum, daß dein Herr sich nach seinen Kräften und Möglichkeiten gut um dich kümmert. Er ist für dein Wohlergehen verantwortlich. Er darf nicht zulassen, daß du verlotterst. Die vom Gaya-Klan gehören jetzt nicht zu den ärmsten Schluckern ihrer Art, aber sie sind auf dem Boden geblieben. Keine Schnösel und Snobs also. - Übrigens gibt es bei der Menge des Schmucks auch eine Rangordnung unter den Getreuen. Als Zweite oder Dritte deines Herrn darfst du nicht ganz so aufgedonnert rumlaufen wie die Erste. Die Erste Getreue steht in der Hierarchie über dir.“

„Verstehe.“, bemerkte Hedda nüchtern. Sie überlegte kurz. „Ich geh mich jetzt trotzdem besaufen.“
 

Safall stöpselte im Studentenclub seine Gitarre an und testete die Saiten an. Nicht schlecht. Er regelte noch etwas die Lautstärke und den Equalizer nach, um den Bass nicht zu sehr zu übertönen. Heute würden sie vor Publikum spielen. Das taten sie häufiger. Der Club im Keller des Studentenwohnheims war die einzige Kneipe weit und breit, oder zumindest etwas, das an Kneipe grenzte. Wenn man feiern wollte, dann konnte man das nur hier. Und warum sollte die universitätseigene Studentenband nicht für Stimmung sorgen? Die Band hatte Zuschauer, die anderen Partygänger hatten bessere Musik als das Radio, so war allen gedient. Etwas schwerfällig faltete er sich in seinen Tragegurt hinein, um sich die Gitarre umzuhängen und dann die Saiten vernünftig stimmen zu können. Das würde schnell gehen.

„Hast du auf die Fresse gekriegt?“, wollte sein Drummer betont hämisch wissen und rempelte ihn dabei kumpelhaft an.

„Halt bloß die Klappe.“, murrte Safall missmutig. Er bekam nur ein Kichern zur Antwort, das nicht böse gemeint war. Nach vier Wochen wurde er das langsam leid. Dabei hatte er sich echt Mühe gegeben, die Spuren in seinem Gesicht zu übertünchen. Seufzend wandte sich Safall zu ihm um, nachdem er alle Saiten seiner Gitarre gestimmt hatte. „Sieht man das etwa immer noch?“, wollte er unglücklich wissen.

„Ein wenig.“, mischt sich sein Sänger besorgt von der anderen Seite ein. „Wenn man es weiß, sieht man es noch ein bisschen. Diese blutigen Krusten da auf der Oberlippe sind noch nicht wieder ganz weg.“

„Und ich sag noch, daß du dich nicht mit den Mhorags anlegen sollst. Du weißt doch selber, was die von unsereins halten.“, kommentierte der Drummer. „Diese sensationsgeilen Wichtigtuer aus dem Loch Morar sind fast noch schlimmer als ihre Verwandten aus dem Loch Ness.“

„Genau, und dabei ist dieser eine Kerl, der sich als 'Seeungeheuer Nessi' feiern lässt, schon schlimm genug. Mach doch einfach nen Bogen um die, Safall.“

„Angelegt hab ich mich mit denen nicht.“, verteidigte sich der Goth. „Aber ich seh auch nicht ein, das Computerkabinett nicht mehr nutzen zu dürfen, nur weil ich bessere Noten habe als die.“

„Du hast doch nen Laptop und Internetanschluss auf dem Zimmer.“

„Na und!?“, blaffte Safall uneinsichtig. „Ich lass mir von denen trotzdem nicht vorschreiben, welche Teile der Uni ich betreten darf und welche nicht, nur weil sie von nem besseren Klan abstammen! Ist das etwa ihre Uni? Wo leben wir denn?“

Sein Sänger lachte leise. „Schon gut, reg dich nicht wieder über sie auf. Das ist doch genau das, was sie erreichen wollen. Geh ihnen einfach aus dem Weg.“, schlug er milde vor. Das mochte Safall so an ihm. Er hatte eine friedliche, harmonieliebende Art an sich und konnte hochkochende Gemüter damit gut wieder zur Ruhe bringen. Kaum zu glauben, daß dieses liebenswürdige Kerlchen Flüche studierte. ... Apropos Flüche, fiel Safall in diesem Zusammenhang ein. „Hör mal, Salome, kann ich dich mal um Hilfe bitten? Ich war heute bei einer Kuppelfrau, um die Sache mit meiner neuen Nebengetreuen amtlich zu machen, und da kam das Gespräch auf meine Erste.“

Der Sänger nickte. „Wie geht´s Sewill denn?“

„Nicht gut, das ist es ja. Die Kuppelfrau war der Auffassung, daß äußere Umstände an ihrer schlechten Verfassung Schuld sind, und seither habe ich einen ganz blöden Verdacht. Kannst du sie dir bitte mal ansehen?“

Salome nickte wieder. „Klar, ich komm dich gern morgen nach der letzten Vorlesung mal besuchen, wenn du willst.“

„Safall, ist die da hinten deine?“, unterbrach ihr Drummer das Gespräch und deutete in die Tischreihen des Clubs, wo sich gerade ein blondes, schon sichtlich betrunkenes Mädchen von ihrem Stuhl erhoben hatte, ein paar Meter taumelte, mangels Gleichgewicht letztlich zusammensackte und auf dem Boden sitzen blieb.

Safall stöhnte und nahm seine Gitarre wieder vom Tragegurt. „Entschuldigt mich kurz. Ich bin in 10 Minuten wieder da.“ Sauer rauschte er aus der Beschallungsecke, wo sie ihre Boxen und Instrumente aufgebaut hatten, und zwischen den Tischen von feiernden Studenten hindurch. Halb im Vorbeigehen schnappte er Hedda am Kragen, zerrte sie wieder auf die Füße und zog sie grob mit sich davon. „Musst du mir denn nichts als Schande bereiten!?“, zischte er sie an. „Ich hatte bisher keine abfällige Meinung über die Klanlosen. Sieh zu daß das so bleibt!“

Salome

„Hast du Vater schon angerufen?“, säuselte Sewill leise. Ihre Stimme klang heute wie ein Wispern. Ein Zeichen, daß sie kraftlos war und sich nicht gut fühlte.

„Nein.“, drang es nur gedämpft aus dem Leder. Safall lag vornübergebeugt auf der Tischplatte und hatte das Gesicht frustriert im Ärmel seines Mantels verborgen. Er wusste langsam nicht mehr, was er noch mit Hedda anstellen sollte. Eben hatte er sie wieder abstrafen müssen, weil sie in einem Test eine schlechte Note geschrieben hatte. Nun hockte sie in ihrem Zimmer und schmollte. So wie Safall in seinem hockte und verzweifelte. Hedda war furchtbar. Sie wusste nichts, sie konnte nichts, und vor allen Dingen war sie völlig unwillig, irgendeine Übereinkunft anzustreben. Was sollte er mit so jemandem anfangen?

Sewill legte ihm zärtlich die Hand auf eine Schulter. „Du musst es ihm aber sagen.“

„Ich weiß nicht, wie. Er wird mich umbringen.“

„Er hat seine Augen und Ohren überall. Wenn er es von jemand anderem erfährt, bevor du es ihm selber sagst, wird er noch viel wütender sein.“, gab Sewill zu bedenken.

„Das ist mir klar.“, seufzte er in seinen Lederärmel hinein und angelte blind nach Sewills Hand auf seiner Schulter, um sie zu drücken.

„Ich hatte eine Vision von einem jungen Mann mit dunkelgrünen Haarsträhnen, der hier her kommen wird.“, wechselte sie das Thema.

„Salome, ja. Ich hab ihn eingeladen, daß er uns besuchen kommen soll.“

„Er wird sich verspäten.“, orakelte Sewill hellseherisch.

Safall hob endlich das Gesicht aus der Armbeuge und lächelte sie an. „Schön. Dann kannst du dich noch etwas ausruhen. Komm her.“, bat er, wechselte vom Stuhl aufs Bett und rutschte dann bis ganz an die Wand, damit seine weißhaarige Schwester ebenfalls mit hinein passte. Einladend hielt er ihr eine Hand hin. Es war eigentlich nur für eine Person ausgelegt. Aber seit Hedda in Sewills Zimmer gezogen war, hatten sie sich daran gewöhnt, eng umschlungen im gleichen Bett zu schlafen. Safall zog sie in seine Arme und drückte sie fest an sich.

„'Salome' ist ein interessanter Name für einen Jungen.“, entging ihr nicht.

„Hm. Vielleicht haben sich seine Eltern ein Mädchen gewünscht.“, schmunzelte er, die Augen schon geschlossen.

„Er heißt nicht wirklich Salome.“

„Nicht?“

„Nein. Das ist ein Deckname. Wenn man den wahren, vollständigen Namen von jemandem kennt, kann man völlige Macht über ihn erlangen. So sehr, daß er außer Stande ist, Befehle, die man ihm gibt, zu verweigern. Sicher studiert er irgendwas, was ihn in dieser Hinsicht hat vorsichtig werden lassen.“

Safall gluckste leise. „Ja, allerdings. ... Hast du in deiner Vision auch erfahren, wie er tatsächlich heißt?“ Er hatte gewusst, daß 'Salome' nur der Spitzname seines Sängers war, hatte sich aber nie Gedanken darüber gemacht. Erst jetzt, wo Sewill ihn darauf hinwies, merkte er, daß er nach fast einem Jahr immer noch nicht dessen vollständigen, echten Namen kannte. Dabei war Salome ein Mensch. Im Gegensatz zu Genii arbeiteten Magier eher selten mit Code-Namen.

Sewill schüttelte den Kopf und gab einen verneinenden mh-mh-Laut von sich. Dann herrschte Schweigen zwischen den beiden.
 

Sewill schlug über eine Stunde später die Augen wieder auf und sah sich suchend im Zimmer um. „Salome ist da.“, stellte sie fest. In der Tat klopfte es drei Sekunden später auch schon höflich an der Tür.

Safall raffte sich aus dem Bett hoch, wobei er über seine Schwester hinwegklettern musste, und richtete sich den Mantel. „Wer von uns beiden studiert hier eigentlich das Wahrsager-Zeugs? ... bleib liegen.“, meinte er und ging die Tür öffnen. Sie war schon von Natur aus eine furchtbar begnadete Hellseherin. Wer weiß, wie gut sie erst hätte sein können, wenn sie gesundheitlich in der Lage gewesen wäre, sich wirklich einem entsprechenden Studium zu widmen.

Draußen winkte ihm wie erwartet sein Sänger mit den grünen Strähnen in der Haaren grüßend zu. „Hi. Sorry, daß ich so spät bin. Mein Professor für Kräuter und Tränke hat mich mit seiner endlosen Nörgelei aufgehalten. Meine Hausarbeit hat ihm nicht gefallen, dem alten Drachen.“

„Macht nix, komm nur rein.“, winkte Safall fröhlich ab. „Wieso hast du Kräuter und Tränke im Stundenplan?“

„Hat das im studium fundamentale nicht jeder?“

„Nein!? Bin ich wohl drumrum gekommen.“

„Sei froh. Der Professor gibt aus purem Prinzip keine Note besser als 2,7. Damit die Studenten auf dem Boden der Tatsachen bleiben und sich nicht für die Geilsten halten, sagt er. Der versaut einem den ganzen Notendurchschnitt.“

Safall lachte. Inzwischen waren sie bis in Safalls Zimmer vorgedrungen.

„Hi.“, machte Salome beim Eintreten.

„Das ist meine Schwester Sewill, meine Erste. Sewill, das ist Salome. Du kennst ihn ja in gewisser Weise schon.“, stellte der Goth die beiden einander vor. Da Sewill das Zimmer kaum verlassen konnte, waren sich die beiden tatsächlich noch nie begegnet. Nichtmal in der Mensa, da Sewill immer außerhalb der Stoßzeiten essen ging.

Sewill erwiderte den Gruß leise und hielt dem Besucher im Liegen die Hand hin.

Der Sänger schaute ein paar Mal zwischen ihr und Safall hin und her. „Meine Güte, ihr seid einander wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten. Und doch so grundverschieden. Sowas hab ich noch nicht erlebt.“

Safall bot ihm den einzigen Stuhl im Zimmer an, aber er lehnte dankend ab und setzte sich zu Sewill auf die Bettkante, noch immer ihre Hand haltend. Sie fühlte sich ausgekühlt an und vermittelte keinerlei Händedruck. Salome kam sich gerade wirklich wie ein Arzt am Krankenbett vor.

„Du studierst doch Flüche und hast Ahnung davon. Die Kuppelfrau meinte, Sewills Verfassung wäre fremdverursacht. Kannst du mir sagen, ob du den Eindruck hast, daß sie verflucht sein könnte? Eine andere Idee hab ich aktuell nicht.“

„Hm ... Normalerweise haben Flüche eine recht akute Wirkung. Wie lange geht das denn schon so?“, wollte Salome wissen und schaute sich das weiße Mädchen eingehend an, so wie ein Arzt einen Patienten unter die Lupe nahm.

„Es hat vor ein paar Jahren angefangen. Es geht ihr mal etwas besser und mal etwas schlechter, die Tendenz geht aber eindeutig dahin, daß es immer schlimmer wird. Inzwischen kann sie kaum noch auf dem Kampus herumlaufen, ohne zwischendurch zusammenzubrechen. An schlechten Tagen muss ich ihr was zu Essen aufs Zimmer bringen, weil sie es nicht mehr bis runter in die Mensa schafft.“

Salome atmete hörbar durch und wog nachdenklich den Kopf hin und her. „Ich weiß nicht recht. Ich habe schon von Schwund-Flüchen gehört, die deinen Körper mehr oder weniger 'verschwinden' lassen. Du nimmst immer weiter ab, bis du nur noch ein Gerippe bist und dann halt irgendwann vor Schwäche das Zeitliche segnest. Aber das hier sieht mir nicht danach aus und dauert auch viel zu lange. Ne gesunde Statur hat sie ja schon. ... Bist du oft krank?“

Sewill nickte. „Ich habe ein schlechtes Immunsystem. Ich erkälte mich ständig und hab förmlich jede Woche irgendwas anderes.“

„Und mit euren Visionen könnt ihr nicht ergründen, was es damit auf sich hat?“

Sowohl Safall als auch seine Schwester schüttelten bedauernd die Köpfe. Selbst ihr Vater hatte schon oft und lange versucht, im Rahmen der Wahrsagerei etwas herauszufinden. Auch ihm blieb der Blick auf die Ursprünge versagt – was im übrigen sehr typisch für Flüche war, denn die sollten ja möglichst nicht aufgedeckt werden.

„Na schön.“, entschied der Sänger und sah sich suchend im Zimmer um. „Als anständiger Student der Magie hast du doch sicher eine magische Grundausstattung hier. Ich könnte mal Kerzen, Räucherstäbchen, Klangschalen und Runen-Steine brauchen.“

„Räucherstäbchen hab ich. Aber alles andere ... Ich könnte mit einem Nüff dienen!“

„Seit wann hast du´n SOWAS?“, lachte Salome.

„Meine Nebengetreue hat einen Kater.“

„Achso. Ja, der wird´s auch tun. Her damit.“, willigte er fröhlich ein.
 

Salome spazierte mit ernster Miene im Zimmer herum, räucherte mal Sewill, mal Safall und mal dieses und jenes ein, um herauszufinden, ob auf irgendwas davon ein Fluch lag. Seit einer gefühlten Ewigkeit schon. Man bekam in dem kleinen Zimmer kaum noch Luft vor lauter Räucherwerk. Dabei sah er sich immer wieder konzentriert um, als suche er etwas oder warte auf etwas oder wolle irgendwas erspüren. Seine Augen hatten eine seltsame Weiß-Trübung angenommen, als wäre er erblindet, tatsächlich schien er damit aber auf andere Daseins-Ebenen wie etwa die Astral-Ebene sehen zu können. Geschafft hatte er das, indem er minutenlang Heddas Katze in die Augen gestarrt hatte, welche davon sichtlich nicht begeistert gewesen war. Es hatte wohl das bewirkt, was Salome wollte – nämlich seine Pforten der Wahrnehmung zu öffnen – brachte aber bei der Suche nach Flüchen bisher nicht den erhofften Erfolg. Es war immerhin schon das dritte Räucherstäbchen, das er abbrannte. Und so ein Räucherstäbchen brannte nicht bloß 5 Minuten. Safall war in dieser Hinsicht aber ein sehr geduldiger Zuschauer. Er wusste, daß man für gewisse Formen der Magie wirklich viel Zeit brauchte. Er stand in der Ecke und versuchte, möglichst nicht im Weg zu sein.

Salome kippte irgendwann ein Fenster, damit wieder Luft herein konnte. Seine Augen klarten sichtbar wieder auf. „Also irgendwas ist hier am Werk. Natürlich ist das nicht, was mit deiner Schwester passiert.“, urteilte er, nur halb zufrieden. „Aber ich kann es nicht so richtig lokalisieren oder spezifizieren. Ich schätze, irgendwas in Richtung Fluch wird es schon sein, aber ich kann nicht genau sagen, was es ist. Das einzige, was ich mit Sicherheit weiß, ist, daß es nicht von Geistern oder Dämonen herrührt. Wären das Nebenwirkungen einer Besessenheit, hätte die Katze anders reagiert.“, meinte er mit Deut auf Heddas Kater, der inzwischen zusammengerollt auf dem Bett lag und pennte und sich dabei von Sewill dezent im Fell herumzwirbeln ließ.

Safall nickte verstehend. „Hast du eine Idee, wie wir es rausfinden können?“

„In die Bibliothek setzen und lesen!“, schlug der Sänger mit einem schiefen Grinsen vor und ließ sich nun endlich auf den Stuhl fallen. „Ich kenne gerade keinen, der uns da ne große Hilfe wäre. Du etwa?“

„Gibt es hier keine Professoren, die von sowas Ahnung haben?“

„Keine Chance. An die kommt man nicht ran. Die sehen es nicht als ihre Aufgabe an, den Profis die Arbeit wegzunehmen, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen. Für unsereins sowieso nicht. Die Klans, die ne Ader für Flüche haben, sind alles Russen. Die nächsten mir bekannten Hexer, die sich Fluchabwehr auf die Fahnen geschrieben haben, sitzen in Moskau und Stalingrad. Übrigens, die zwei Professoren, die sowas hier bei uns an der Zutoro unterrichten – wer hätte das gedacht – sind auch Russen. Genauso wie geschätzt die Hälfte meiner Studienkollegen. Was ich damit sagen will: die ernsthaften Fluchpraktiker bleiben unter sich.“ Salome überlegte kurz. Und fuhr dann etwas vorsichtiger fort: „Ich könnte jemandem aus einem älteren Jahrgang vorschlagen, sich im Rahmen seiner Abschlussarbeit mit euch zu beschäftigen, den Ursprung des Fluchs zu ergründen und ihn gegebenenfalls zu lösen, wenn er kann. Und alles zu dokumentieren. Aber glaub mir, das willst du nicht. Dabei würden vielleicht Sachen ans Licht gezerrt und festgehalten werden, die dein Klan nicht lustig findet.“

Sewill schüttelte vehement den Kopf. „Safall, tu das nicht. Diplomarbeiten werden veröffentlicht. Sie wären für jeden frei zugänglich.“

Es klopfte pflichtbewusst an der Tür. Safall musste lächeln. So langsam gewöhnte sich seine Nebengetreue doch ein paar Manieren an. Auf die entsprechende Aufforderung steckte Hedda den Kopf herein. „Hi. Seid ihr schon fertig? Kann ich rein?“

„Ja. Was gibt es denn?“

„Ich will nur wissen, was ihr meinem armen Kater antut. Himmel, wieso stinkt das hier so extrem nach Weihrauch?“, wollte das Mädchen mit plötzlich kratziger Stimme wissen. Die Luft hier drin war ja kaum noch zu atmen.

„Deine Katze liegt da und pennt. Der geht´s gut, keine Sorge.“, erklärte Safall mit einem Lächeln und einem Deut auf das Bett. Der Kater streckte sich gerade genüsslich, rollte sich dann mit einer Hau-ruck-Bewegung über den Rücken auf die andere Seite herum und kugelte sich wieder zusammen, um weiter zu schlafen.

„Und? Was ist rausgekommen?“, wollte Hedda interessiert wissen und kam ganz herein. Zu viert wurde es nun doch verdammt eng hier drin. Dennoch ließ sie es sich nicht nehmen, Salome höflich zu grüßen und sich ihm vorzustellen. Er nannte ihr im Gegenzug seinen Namen und grinste wissend. Vermutlich hatte sich Safall schon ausreichend bei ihm ausgeheult, wie furchtbar seine Nebengetreue sei.

„Ich schätze, wir beide werden uns jetzt mal eingehend über Flüche belesen und das andere Zeug, was ich dir auf den Lehrplan gesetzt hatte, erstmal zurückstellen.“, klärte Safall sie über die neuesten Erkenntnisse auf.

„Also doch?“, meinte sie unglücklich. Nach allem, was sie mitbekommen hatte, waren Flüche nichts für Hobby-Hexer. Sie hatte gehofft, Safalls Freund würde nichts in dieser Richtung finden.

„Hast du denn inzwischen eine Ahnung, was du studieren willst?“, wollte Salome wissen.

„Hat doch keine Eile. Mitten im Semester kann ich eh nicht wechseln. Neigungswechsel gehen nur zum Beginn des nächsten Semesters.“

„Schon. Aber je eher du dich anmeldest, desto besser sind deine Chancen, angenommen zu werden. Und je eher du weißt, was du willst, desto eher kannst du dich schon drauf vorbereiten. Soviel ich weiß, hattest du ja bisher nicht so viel mit Magie zu tun. Was, wenn du eine Richtung mit Aufnahmeprüfung erwischst?“

Hedda stöhnte leise. „Schon wieder einer, der auf mir rumprügelt. Danke. So wie ich das sehe, werde ich hier GAR KEINEN magischen Studiengang belegen. Weil ich nämlich kein Magier bin! Ich habe keine magische Begabung!“

Salome lächelte versöhnlich. „Wir meinen es doch nicht böse, Hedda.“

„Ich weiß schon. Safall steckt mich nur zu meinem Besten in diese und jene magische Vorlesung, weil er meint, das würde mich gut auf dieses oder jenes vorbereiten. Aber soll mir recht sein. Wenn ich meine eigenen Vorlesungen für Uhren-Mechanik nur lange genug schwänze, werde ich schon irgendwann von der Uni fliegen und dann hab ich vielleicht auch endlich meine Ruhe vor euch.“

„Da muss ich dich enttäuschen. Als meine Getreue schmeißt dich keiner von der Uni, solange ich noch hier bin.“, ließ Safall ihre Hoffnungen zerplatzen. „Sewill ist gar kein Student und ist trotzdem hier.“

Hedda nickte nachdenklich. „Ja, da hab ich mich auch schon gefragt, wie das geht.“

Salome schob sich an den beiden vorbei. „Nagut, ich würde mich dann mal wieder vom Acker machen, Jungs und Mädels. Mir ist es hier zu voll und deine Schwester macht mir den Eindruck, daß sie etwas Ruhe braucht.“

„Ist gut.“, verabschiedete Safall ihn bereitwillig und zog ihn nochmal in eine kumpelhafte Umarmung, bevor er ging. „Danke für alles, Salome.“

„Keine Ursache.“ Er gab Sewill, die immer noch auf dem Bett lag, die Hand, knuddelte auch nochmal über Heddas Katze drüber, und zog dann ohne Eile seiner Wege.

„Ich würde mich dann jetzt auch verkrümeln. Soleil will mit mir raus in die Stadt gehen und shoppen.“, tat Hedda kund.

„Ist gut, tu das.“, nickte Safall.

Hedda warf noch einen Blick auf ihren Kater, entschied dann aber, daß er da auf Sewills Bett ganz gut aufgehoben war. Also verschwand sie wieder in ihrem Zimmer, um sich eine Jacke und Geld zu holen. Eigentlich erstaunlich, daß Safall noch nicht auf die Idee gekommen war, ihr Geld zu verwalten um ihren Aktionsradius noch weiter einzuschränken. Ihr Geld hatte sie tatsächlich behalten dürfen.

„Du lässt sie mit einer Yôkai durch die Gegend ziehen?“, rückversicherte sich Sewill besorgt und setzte sich mühsam im Bett auf. Yôkai waren Schlangen-Dämonen mit dem Kopf und Oberkörper von Menschen, die in Japan vorkamen und mit dem Element Feuer in Verbindung gebracht wurden. Schon deshalb hielten Wasserkreaturen wie sie und Safall eigentlich Abstand von solchen Genii.

„Ja. Ich weiß, daß wir Selkies mit den Yôkai nicht viel am Hut haben, aber es tut Hedda sicher gut. Diese Soleil ist selbst eine Getreue und hat vielleicht ein besseres Händchen dafür, ihr das eine oder andere begreiflich zu machen, als ich. Hedda wird vielleicht ein bisschen umgänglicher und einsichtiger, wenn sie mit dieser Japanerin befreundet ist. Außerdem hat Hedda so das Gefühl, meiner Kontrolle vorübergehend mal zu entfliehen. In dem Glauben will ich sie gerne lassen.“
 

„Ich hab dir mal eine Liste aller magischen Studiengänge mitgebracht, die man an der Zutoro studieren kann.“

„Och, nicht schon wieder ...“

„Komm schon, Hedda, es hilft doch nichts.“, bat Soleil beschwichtigend und hielt ihr den Zettel erbarmungslos hin. „Langsam musst du dich mit dem Thema mal beschäftigen. Das Semester ist schneller rum, als du glaubst.“

„Gut, dann hab ich hier auch was für dich. Safall hat mir ne Einkaufsliste mitgegeben. Er war zuversichtlich, daß du mir helfen würdest, alles zu finden.“ Hedda hielt ihr im Tausch ein anderes Blatt Papier hin und spazierte dann lesend durch die großen Eingangstore von Zutoro hinaus. Sie war derwegen erstaunt, wofür es alles eigene Studiengänge gab. 'Orakeln mit Hilfsmitteln'. Da lernte man sicher den Umgang mit Tarotkarten, Runensteinen, Kristallkugeln und ähnlichem. Sie überlegte, ob sie bei Safall jemals Hilfsmittel gesehen hatte, oder ob der für seine Visionen keine brauchte. Er sagte ja immer, er würde Visionen einfangen, wenn sein Geist im Schlaf auf Wanderschaft ging. Und er war immer tierisch sauer, wenn sie ihn dann als 'Schlafwandler' aufzog. Ein paar Studienrichtungen klangen ganz nett. 'Kräuterkunde', 'Schutz- und Bannzauber', 'alte magische Sprachen', 'Elementarmagie' ... das war sicher sowas wie Soleils Feuerkunst. Aber einige klangen auch ziemlich finster. Hedda fand nicht wenige dieser Studiengänge durchaus interessant. Allerdings gab es keinen einzigen, für den sie keine Magie gebraucht hätte. Und sie war nunmal nicht magisch begabt. Sie sah da schon echte Probleme auf sich zurollen, sowohl mit dem Lernstoff als auch den Mitstudenten, die sie einfach nur auslachen würden.

„Meine Güte, wozu braucht Safall ägyptischen Papyrus?“, brütete Soleil derweile über ihrem Einkaufszettel. „Wo sollen wir sowas herkriegen?“

„Er schreibt da seine Songtexte und Noten drauf, wenn er für seine Band Songs schreibt. Er meint, dann klingen sie schöner.“

Soleil schaute Hedda verwirrt an, fragte sich sichtlich ob man das verstehen musste, schüttelte dann kommentarlos den Kopf und las weiter.

Gegenfluch

„Hey, da ist das Tee-Haus. Da drin haben Safall und ich uns mit der alten, schrulligen Kuppelfrau getroffen. Wollen wir reingehen?“

„Du solltest nicht so abwertend über sie reden, Hedda. Kuppelfrauen sind hochangesehene Leute.“, gab Soleil besorgt zurück.

„In erster Linie sind sie geldgeile Wichtigtuer.“

„Hedda!“

„Ja-ja, schon gut. Lässt du dich nun von mir auf einen Tee einladen, oder nicht?“, lachte diese und spazierte fröhlich voraus. Sie waren schon fast drei Stunden lang kreuz und quer durch die ganze Innenstadt gerannt, um Safalls Wunschliste abzuarbeiten, und schleppten nicht wenige, schwere Tüten mit sich herum. Man glaubte gar nicht, wie schwer es heutzutage im Zeitalter des Kugelschreibers war, an ein Fässchen schwarze Tinte heranzukommen. Tintenpatronen für Füllfederhalter: kein Problem. Blaue Tinte in Fässchen: gerade noch so. Schwarze Tinte: niemals. Es war frustrierend. Hätte sie das eher gewusst, hätte sie Safall vorher gefragt, ob auch Tusche ginge. Die hätte sie zur Not noch in einem Künstlerbedarf auftreiben können. Hedda wollte sich jetzt endlich mal irgendwo hinsetzen.

Das Tee-Haus war angenehm leer, als sie eintraten. In einer Ecke saß ein einsamer Mann mittleren Alters mit schwarzen Wuschelhaaren und Lederjacke, der gedankenversunken aus dem Fenster schaute und dabei an einer Tasse Tee nippte. Ansonsten war absolut keiner hier. Obwohl er eindeutig nicht mehr in einem Alter war, um als Student durchzugehen, entdeckte Hedda an ihm den altbewährten Metallreif am Handgelenk, der ihr in letzter Zeit schon so oft untergekommen war. Unwillkürlich schaute sie, ob auch Soleil ihren heute trug. „Sag mal, was hat es damit auf sich?“

Soleil folgte dem Blick zu ihrem Armreif, während sie sich in einer Sitzecke niederließ und dabei ihre Tüten zu verstauen versuchte. „Oh, das ist ein Identifikationsmittel. Da ist eine Registriernummer drauf eingraviert, siehst du? Jeder Genius hat so ein Ding. Damit kann er eindeutig identifiziert werden. Wie bei einem Pass bei euch Menschen.“

Hedda grübelte einen Moment. „Sewill und Safall tragen sowas nicht.“

„Man ist ja auch nicht verpflichtet, das Ding 24 Stunden am Tag zu tragen. Aber wenn man mit Behörden zu tun hat, oder außer Landes will, muss man ihn vorzeigen können. Du trägst deinen Pass doch auch nicht ständig gut sichtbar um den Hals, oder?“

„Hallo. Was darf ich euch Mädchen denn bringen?“, unterbrach die Besitzerin des Tee-Hauses die beiden.

„Ich nehme einen japanischen Macha.“

„Ääääh ... das selbe.“, entschied Hedda auf die Schnelle ein wenig überfordert, da sie sich noch gar keine Gedanken über ihre Bestellung gemacht hatte. Als die Betreiberin sich wieder trollte, griff sie aber doch nochmal zur Karte. „Woar, der Macha ist ja schweineteuer!“

„Das ist der beste Tee der Welt.“, beharrte Soleil irritiert. Sie verstand nicht, wie man da keine entsprechende Summe dafür hinblättern wollte.

„Du bezahlst ihn ja auch nicht ... Ich hoffe, der ist sein Geld wert.“, murrte Hedda leise und beobachtete weiter den schwarzhaarigen Gesellen am Fenster. Was der wohl alleine in einem Tee-Haus wollte? Naja, wahrscheinlich nichts zwielichtiges. Bestimmt nur Zeit totschlagen oder auf jemanden warten.

Soleil begann sich mit dem Booklet einer CD zu beschäftigen, die sie sich gekauft hatte. Da Hedda ein reges Interesse an dem Genius gegenüber zu haben schien, wollte sie sie nicht bei ihren Beobachtungen stören. Ein paar Minuten später kamen ihre bestellten Tees und Soleil nahm einen tiefen Zug aus der Tasse. Sie konnte nicht anders, sie musste zufrieden durchatmen. „Ist der gut!“

Hedda pustete erst eine Weile in das kochend heiße Gebräu, bis sie es für abgekühlt genug hielt, und gönnte sich ebenfalls eine Kostprobe. Sie verzog das Gesicht und schluckte hart. „Woar, der ist ja furchtbar! Der schmeckt wie Heu!“

„Das ist grüner Tee. Was hast du erwartet, wie der schmeckt? Nach roten Früchten?“

„Wieso ist das Zeug so grieselig?“

„Weil er nicht gefiltert wird. Das Teepulver rührt man direkt ins Wasser.“

„Grässlich!“, urteilte Hedda nochmals und stellte ihre Tasse angewidert weg.

Weiter ausbauen konnten sie ihre Debatte nicht, denn in diesem Moment flog die Tür auf und zwei finster aussehende Herrschaften betraten mit suchendem Blick das Tee-Haus. Sie waren so haarig und verwildert, daß Hedda unwillkürlich an Werwölfe denken musste. Sogar ihre Zähne wirkten wie Fänge, als sie grinsten. Die zwei trampelten polternd auf den einzigen anderen Gast zu.

„Wo ist Victor?“, raunzte einer der beiden ohne Begrüßung.

Soleil sah sich hektisch nach der Besitzerin des Tee-Hauses um. Sie hatte den Eindruck, daß sie schnellsten bezahlen und verschwinden sollten. Das hier hatte alles, was man für einen handfesten Streit brauchte.

„Er ist nicht hier. Aber ich kann euch sicher auch weiterhelfen.“, gab der Gast mit der schwarzen Wuschelfrisur ruhig zurück und setzte die Teetasse auf dem Tisch ab.

Einer der beiden Schläger fegte den Tisch zur Seite, so daß das Porzellan klirrend auf dem Boden in Scherben ging.

Der Schwarzhaarige seufzte, blieb aber – auch ohne Tisch – gelassen sitzen.

Die Besitzerin des Tee-Hauses war spurlos verschwunden.

„Hol sofort Victor her!“, blaffte einer.

„Er ist nicht hier, das sagte ich doch. Ihr werdet mit mir Vorlieb nehmen müssen.“

Einer der Schläger zerrte die erschrocken quietschende Soleil von ihrem Stuhl hoch und hielt sie grob vor sich fest wie eine Geisel. „Hol ihn jetzt her, oder ich werde dieses Mädchen hier ...“

Soleil presste die Augen fest zu und ließ, halb Schock, halb Notwehr, die Jacke ihres Kidnappers in Flammen aufgehen. Der stieß sie von sich und begann sich schreiend um sich selbst zu drehen, warf sich dann auf den Boden und rollte sich brüllend herum, um das Feuer zu löschen. Sein Kollege schlug mit den bloßen Händen auf die Flammen ein. Ein Stuhlbein fing ebenfalls Feuer. Der bisher herumsitzende Schwarzhaarige sprang gleichfalls hoch und wuselte hektisch mit in dem Chaos herum. Das knochentrockene Holz der Bodendielen rauchte bereits bedrohlich. Keuchend packte Soleil Hedda am Ärmel und zerrte sie fluchtartig aus dem Tohuwabohu des engen Tee-Hauses hinaus auf die Straße. Nach Luft schnappend blieben sie dort draußen stehen und verfolgten das Gekrache und Gepolter aus sicherer Entfernung.

„Himmel, was war das?“, krächzte Hedda kurzatmig.

„Ich hab keine Ahnung.“

„Sollten wir dem Typen da drin nicht helfen?“

„Wie denn? Das einzige, was ich kann, ist, das Tee-Haus jetzt endgültig in Flammen aufgehen zu lassen.“, gab Soleil zurück.

Einen Augenblick später wehte eine Druckwelle sämtlichen Rauch explosionsartig aus der offenen Tür, den offenen Fenstern und jeder undichten Mauerritze. Da das Tee-Haus eine ziemliche Bretterbude war, gab es davon sichtlich einige. Die beiden Schläger stürzten Hals über Kopf aus dem Häuschen und rannten davon. Dann kehrte Stille ein. Hedda und Soleil standen noch eine Weile unschlüssig draußen herum, neben ein paar weiteren Schaulustigen. Bis Hedda entschlossen losstapfte und wieder hineinging.

Der Schwarzhaarige rückte drinnen in aller Seelenruhe die Tische und Stühle wieder an ihren Platz. „Ich entschuldige mich vielmals für das Spektakel.“, meinte er gerade.

Die alte Betreiberin kehrte unterdessen murrend Scherben hinter ihrem Tresen zusammen. Bei der Druckwelle war vieles zu Bruch gegangen. „Macht nichts. Macht nichts. Es hätte schlimmer kommen können. Die hätten mein Tee-Haus bis auf den letzten Dachziegel zerlegt, da bin ich mir sicher.“

Sowohl der Schwarzhaarige als auch die Betreiberin – schwer auf ihren Besen gestützt – schauten Hedda fragend an, als sie wieder herein kam. „Hey. Ist bei euch Mädchen alles okay? Entschuldigt das Theater.“, merkte sie an.

„Neutrale Zone.“, fügte der Kerl mit den schwarzen Wuschelhaaren und der Lederjacke nur schulterzuckend hinzu. Was er damit sagen wollte, war selbst ihr klar. In den neutralen Zonen waren Streitigkeiten unter rivalisierenden Parteien zwar offiziell untersagt ... aber eben nur offiziell. In der Tat waren sie regelrecht vorprogrammiert, gerade weil hier so viele rivalisierende Parteien aufeinander hockten. Erst jetzt bemerkte Hedda das viele Kajal in seinem Gesicht, das seine Augen raubkatzenhaft betonte. Noch ein Goth, dachte sie. Die schienen sich hier ja zu tummeln. „Eine tolle Fähigkeit, die deine Freundin da hat. Feuer aus dem Nichts zu erschaffen. Wirklich gut.“, lobte er.

„Sie, äh, sie ist nicht mein Genius Intimus.“

„Das weiß ich.“, meinte er irritiert. „Ich sagte ja auch nichts von Genius Intimus.“

„Oh.“ Hedda war ebenso irritiert wie er und musste verlegen weg sehen. Sie hielt seinem Blick nicht mehr stand. Offensichtlich konnte er sehen, ob ein Mensch und ein Genius zusammengehörten, oder nicht. Und sie selbst erkannte ohne den Armreif nichtmal, wer überhaupt ein Genius war.

Soleil traute sich ebenfalls endlich wieder herein. „He, alles gut hier drin?“

„Egal jetzt. Möchtet ihr einen neuen Tee?“, bot die Besitzerin des Tee-Hauses den beiden gastfreundlich an.

„Ja!“, jubelte Soleil.

„Nein!“, hielt Hedda bestimmend dagegen.

„Doch!“

„Nein!“

„Warum!?“

„Dieses Zeug nicht!“

„Na schön. Für dich einen Macha, für dich irgendwas anderes.“, entschied die Alte, erst an die eine, dann an die andere gerichtet, und ging ihren Besen wegbringen. Vom Boden mitten im Gastraum klaubte sie ein Amulett auf. Verwundert hielt sie es hoch. „Ist das deins, Urnue?“, wollte sie von dem Schwarzhaarigen wissen. Das erste Mal, daß ein Name fiel. Die Besitzerin des Tee-Hauses schien ihn zu kennen.

„Nein, solche Dinger hab ich nicht nötig.“

Sie betrachtete es wieder, dann hielt sie es Soleil hin. „Willst du es haben?“

Soleil winkte hektisch ab. „Kein Bedarf, danke. Wahrscheinlich gehört es einem dieser Schläger. Ich hab keine Lust, mir Ärger mit denen aufzuhalsen, weil die es wiederhaben wollen, oder so.“

„Was ist das denn?“, hakte sich Hedda mit ins Gespräch ein.

„Das Zeichen auf dem Anhänger wehrt wohl Flüche ab.“

„Oh, geben Sie her, ich nehm´s! Dafür hat Safall ganz sicher Verwendung!“

„Dann sag ihm aber, wo du´s her hast! Nicht, daß ihr Probleme bekommt.“, mahnte Soleil.
 

„Aber du hast doch in deiner Vision gesehen, was passiert ist.“, drängte Hedda. „Für mich klingt das eindeutig. Du solltest es melden. Das ist ein Verbrechen gewesen.“ Der Vorfall im Tee-Haus war jetzt drei Tage her und längst wieder vergessen. Sie hatte inzwischen wieder ihre üblichen Schikanen von Safall am Hals.

„Ich sag doch, ich bin mir nicht sicher, was ich gesehen habe.“, hielt Safall stoisch dagegen und blätterte sein Buch um. Sie saßen gerade zu dritt in der Bibliothek und recherchierten etwaigen Flüchen hinterher, die zu Sewills Verfassung passen könnten. Dummerweise gab es nicht gerade wenige Flüche.

„Wie kannst du da nicht sicher sein? Der Typ hat ein Haus angezündet!“

„Man muss mit der Interpretation solcher Visionen sehr vorsichtig sein. Weil man nie weiß, was man NICHT gesehen hat. Man schwebt immer in Gefahr, nur die halbe Wahrheit mitzubekommen.“

„Hast du schonmal eine Vision falsch gedeutet?“, hakte Salome von der anderen Seite nach und sah ebenfalls aus seinem Buch hoch.

„Oh ja, ich lag schon ganz furchtbar daneben. Ich habe mal einen Mann gesehen, der ein Neugeborenes des Nachts in einem See ertränkt hat. Ich habe ihn den Behörden als Mörder gemeldet und er wurde festgenommen. Später stellte sich heraus, daß er das Kind nur getauft hat. Das hat mir ziemlichen Ärger eingehandelt.“

„Getauft?“, gab Salome ungläubig zurück.

„Ja. Der gehörte offenbar irgendeinem Religionszweig an, wo es üblich ist, daß man bei der Taufe mit dem ganzen Körper komplett untergetaucht wird, so wie Johannes der Täufer es damals zu biblischen Zeiten noch gemacht hat. Keine Ahnung. Ich hab jedenfalls nur gesehen, wie dieser Mann das Kind unter Wasser gedrückt hat, aber nicht, daß er es auch wieder rausgezogen hätte. Das meine ich damit. Man muss vorsichtig sein, wenn man beurteilt, was man da sieht.“

Sowohl Hedda als auch Salome vertieften sich kopfschüttelnd wieder in ihre Bücher. In solchen Momenten wusste Salome wieder, warum er keine Wahrsagerei studierte. Viel zu schwammig und ungenau das alles, selbst wenn man ein angeborenes, magisches Talent dafür hatte. „Oh, na hör dir das hier mal an.“, bemerkte er beim Weiterlesen. „Der Jahrestausch-Fluch. Er ermöglicht dem Anwender, seine Lebenserwartung mit der einer anderen Person zu tauschen. Der Anwender erhält die Anzahl der Lebensjahre, die sein Tauschpartner noch gehabt hätte, und umgekehrt. Das hört sich sehr nach deiner Schwester an, findest du nicht?“

Safall rutschte mit einem Ruck heran und versuchte etwas zu erkennen. „Du meinst, da hat irgendein sterbenskranker Sack seine Krankheit auf Sewill übertragen und sie stirbt jetzt an seiner Stelle?“

„Sowas geht? Andere für dich sterben zu lassen, ist ja echt ein mieses Ding. Ist sowas nicht verboten?“, wollte Hedda wissen.

„Flüche sind immer verboten!“, schoss Safall zurück.

„Ah ja? Warum kann man sie dann studieren?“

Salome lachte. „Du würdest staunen, wieviele legale Flüche es gibt. Aber ihr habt Recht. Sowas hier wird wohl kaum erlaubt sein.“

Safall bemühte sich weiter, auf der Buchseite irgendwas lesen zu können. Es sah nicht nach einem gedruckten, sondern nach einem mit Tinte per Hand geschriebenen Werk aus und die zackige Handschrift war nicht gerade gut zu entziffern. Unten war irgendeine Skizze gekritzelt, die viel Enthusiasmus aber wenig zeichnerisches Talent bewies. Jedenfalls konnte Safall nicht enträtseln, worum es sich dabei handeln sollte. „Steht da auch, wie man den Fluch wieder lösen kann?“

„Jetzt mal langsam, Kollege. Erstmal müssen wir rauskriegen, ob wir es hier wirklich mit einem Jahrestausch-Fluch zu tun haben. Nur weil die äußeren Symptome dem Augenschein nach ähnlich sind, muss es kein Treffer ins Schwarze gewesen sein. Um die Aufhebung können wir uns später immer noch Gedanken machen. ... Und nein, hier steht nichts über die Aufhebung. Das hier ist bloß ein Nachschlagewerk, wo so viele Flüche wie möglich katalogisiert wurden. Ein Lexikon, wenn du so willst.“

Als Salome aufstand, um sich ein weiterführendes Buch zum Thema zu suchen, zog sich Safall den dicken Wälzer heran. Er konnte kein Wort lesen. Das war nicht einfach nur eine verkorkste Handschrift, wurde ihm klar. Das war gar keine lateinische Schrift! „Sag mal, ist das Altdeutsch? Oder, nein, wahrscheinlich Kyrillisch. Weil die Fluch-Experten doch alle Russen sind, hast du gesagt.“

„Das ist Glagolitisch.“, rief Salome hinter dem nächsten Regal. „Das ist quasi die Vorstufe von Kyrillisch. Das Kyrillische hat sich aus dem Glagolitischen entwickelt.“

„Alter, sowas kannst du lesen?“, entfuhr es Safall.

„Ist das erste, was man lernt, wenn man so eine Studienrichtung wie ich einschlägt. Wie du schon sagst: Die Fluch-Experten sind alles Russen. Daher ist ein Großteil der einschlägigen Fachliteratur russisch oder irgendwas älteres. Wusstet ihr übrigens, daß dieser Konstantin – später Kyrill von Saloniki genannt – nach dem diese Schrift benannt wurde, sie eigentlich gar nicht entwickelt hat? Kyrillisch, beziehungsweise Asbuka, ist ne Mischung aus griechischem Alphabet und ein paar glagolitischen Buchstaben, für die Laute, die im Griechischen nicht vorkamen. Wurde um das Jahr 900 herum von einem Bischof der damaligen bulgarischen Hauptstadt Preslaw verbreitet. Der Typ war nichtmal ein Schüler von Kyrill, geschweige denn Kyrill höchstselbst. Er war nur ein Schüler von Kyrills Bruder Method. Kyrill und Method haben auch fast ein Jahrhundert zu zeitig gelebt, um Urheber dieser Schrift sein zu können.“

„Salome, bitte ...“, unterbrach Safall ihn stöhnend. „Du hast im Studium offensichtlich gut aufgepasst und ich bewundere das, aber das hilft uns gerade nicht weiter. Wir sind auf der Suche nach Flüchen.“, meinte er. Er warf nochmal einen Blick auf das fremdsprachige, handgeschriebene Lexikon vor sich. Ihm wurde ein wenig bang. „Und ich schätze, ich brauche deine Hilfe noch viel nötiger, als befürchtet.“, fügte er leise an. Er hoffte, daß Salome gut genug im Übersetzen solcher Texte war, falls die Aufhebung des Fluchs auch in sowas hier verschlüsselt war.

„Mal davon abgesehen, ich kann dir zu jedem Fluch den passenden Gegenfluch basteln, wenn ich nur weiß, wie er aufgebaut ist.“, erzählte Salome weiter, klatschte seine drei neuen Bücher, die er sich geholt hatte, auf den Tisch, und setzte sich wieder. „Alle Arten von Flüchen lassen sich auf nicht mehr als drei oder vier Grundformen zurückführen. Hat man diese Grundform erkannt und durchschaut, ist es relativ leicht, sie unter Beachtung einiger Faktoren aufzuheben. Das ist quasi das kleine 1x1 der Fluchwissenschaften, das lernen wir in meinem Studiengang ziemlich früh. Aber das alles ist reines Glücksspiel, wenn wir nicht wissen, welche Vehemenzfaktoren der Fluch hatte.“

„Was ist denn ein Vehemenzfaktor?“, wollte Hedda ungebildet wissen, auch wenn der Name ihr schon fast eine Ahnung davon gab.

„Die Stärke des Fluchs, beziehungsweise seiner Bestandteile zueinander.“ Salome lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. „Lass es mich mal so ausdrücken: Ein und derselbe Zauber kann mächtiger oder schwächer sein. Nur weil du zu einem Fluch den passenden Gegenfluch beherrschst, muss es dir nicht automatisch zum Erfolg gereichen. Ist der Fluch stärker als dein Gegenfluch, kannst du abdanken. Deshalb sind Flüche ja so fies, weil für ihre Aufhebung der Vehemenzfaktor entscheidender ist als bei jeder anderen Art von Magie. Man kann einen Fluch nicht bloß ein bisschen abschwächen. Beim Brechen eines Fluches gibt es nur ganz oder gar nicht. Wenn dein Gegner sehr mächtig ist, und dem Fluch viel Kraft verliehen hat, und du ihm nicht ebenbürtig bist, nützt dir alles Wissen und Können nichts mehr. Das ist dann, als ob du mit einem Glas Wasser einen ganzen Waldbrand löschen willst. Ja, Wasser löscht Feuer, das ist ne Tatsache. Aber du brauchst auch genug davon.“ Er zuckte mit den Schultern. „Du kannst es dir so vorstellen wie Armdrücken. Der Stärkere gewinnt.“

Safall sah ihn mit eingeschlafenem Gesicht an und ließ das erstmal kurz setzen. Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte.

„Es gibt Möglichkeiten, festzustellen, wie mächtig ein Zauber ist. Es gibt verschiedene Zahlenwerte und Skalensysteme dafür.“

„Wonach richtet sich die Stärke eines Zaubers denn?“, wollte Safall wissen.

Salome zuckte wieder mit den Schultern, als könne er das nicht so genau sagen. „Hängt von verschiedenen Faktoren ab. Training, angeborenes Talent, Qualität der verwendeten Materialien, falls du welche hast, je nach Zauber auch die Tages- oder Jahreszeit oder die Mondphase, magische Hilfe von außen ... Wenn ein Getreuer dich bei deinem Zauber unterstützt, gewinnt deine Magie schon den einen oder anderen Punkt. Es summiert sich aber nicht bis ins Unendliche auf, die Macht eines Zaubers steigt nicht linear mit der Anzahl der beteiligten Leute.“
 

„Und du bist dir sicher, daß es ein Jahrestausch-Fluch ist?“, hakte Sewill skeptisch nach, als ihr Bruder ihr davon erzählte. Zu Recht. Sie war immerhin die, die etwaige Misserfolge am deutlichsten zu spüren bekam.

„Salome und ich haben tagelang alles durchgesucht, was uns irgendwie möglich war. Es gibt keine anderen Flüche, die auch nur ansatzweise ins Schema passen.“, erklärte er ihr in beruhigender Stimmlage.

„Safall, ich halte das für keine gute Idee.“

„Hast du Bedenken?“

Sewill wandte fröstelnd den Blick ab. „Irgendwie schon, ja. Ich kann dir nur nicht sagen, woher ich die nehme.“

„Hattest du eine Vision, daß es schiefgehen wird?“, wollte er sanft wissen und strich ihr eine Haarsträhne glatt.

„Nein.“

„Ich auch nicht. Also lass es uns versuchen.“

„Ich hatte aber auch keine Vision, daß es gelingen wird.“, hielt Sewill dagegen. Obwohl sie schwach und leise klang, hatte sie einen Tonfall, dem man unter jeden Umständen Gehör schenkte.

„Ach, Schwesterchen. Wenn wir für jedes Vorhaben erst auf Zukunftsvisionen warten würden, würden wir nie irgendwas zuwege bringen.“

„Ich habe es versucht, Safall! Ich habe es wirklich versucht! Der Blick auf die Auswirkungen eures Gegenfluches bleibt mir komplett verborgen. Die Zukunft ist ungewiss. Bitte überdenke es nochmal.“

„Wenn ich es noch recht lange überdenke, stirbst du mir inzwischen weg. Was haben wir zu verlieren, Sewill? Sehr viel schlechter kann es dir kaum mehr gehen. Selbst Vater ist dafür. Ich soll es versuchen.“

„Hast du mit ihm gesprochen?“, wollte das schneeweiße Mädchen überrascht wissen.

„Ich habe schon mit ihm telefoniert, ja.“

„Hast du ihm auch von Hedda erzählt?“

„Nein, das noch nicht ...“, gestand er kleinlaut. Da hatte er strategisch gedacht. Wenn Sewills Rettung gelang, würde diese blöde Sache mit seiner neuen Nebengetreuen zur unwichtigen Nebensächlichkeit verblassen, über die sein Vater nicht mehr sonderlich erbost sein würde.

„Kann ich euch helfen?“, wollte Hedda von der Seite wissen. Sie saß auf dem einzigen Stuhl im Zimmer und fühlte sich irgendwie abgeschoben. Safall drüben auf der Bettkante bei seiner Schwester würdigte sie keines Blickes mehr. Er hatte nicht mal mehr gewürdigt, daß auch sie tagelang mit in der Bibliothek gesessen und Bücher gewälzt hatte.

Safall schaute sie ratlos an. „Wie willst du uns bitte helfen?“

„Keine Ahnung. Vielleicht kann ich deinem Gegenfluch ja etwas mehr Kraft verleihen. Kannst du nicht irgendwie auf meine Energie zugreifen, ohne daß ich selber Magie dafür einsetzen muss? Komm schon, ich will helfen! Lass mich helfen!“

Der Goth mit den langen schwarzen Haaren und den schwarzen Lippen überlegte eine Weile hin und her. „Mit einem Nüff könnte es gehen. Wenn du deine Katze herholst, kann sie eine Brücke zwischen uns schlagen.“

„Du meinst, mein Kater-Schatz wird dann sowas wie ein Stromleiter?“

„Ihm passiert dabei nichts, keine Sorge. Er wird es gar nicht merken. Du musst nur aufpassen, daß er sitzen bleibt und nicht abhaut. Geh ihn holen!“, verlangte Safall mit einer auffordernden Handbewegung.

„Jetzt gleich? Sollte Salome nicht dabei sein, wenn du hier rumfluchst?“

„Ja, Salome kommt auch gleich. Er ist ja der einzige, der ein angeborenes Talent für Flüche hat. Ich kann das nicht, mir fehlt die magische Begabung dafür. Das Talent unseres Klans liegt in der Wahrsagerei.“
 

Sie bildeten förmlich eine Kette von Kreaturen, als Salome seine Vorbereitungen getroffen hatte und loslegen wollte. An der einen Hand hielt er Safalls Erste, seine andere Hand hatte er im Genick von Heddas Katze. An Heddas Katze wiederrum hingen Hedda selbst, die das genervte Tierchen an Ort und Stelle zu halten versuchte und besänftigend kraulte, und Safall. Salome hatte Hedda gebeten, um Himmels Willen nicht loszulassen, auch wenn sie sich komisch, schwindelig oder gar schwach fühlen sollte. Das seien normale Nebenwirkungen, wenn sich jemand anderes an ihrer Energie bediente. Nach allem, was er wusste, sollte sich der Energiefluss von selber so regulieren, daß es Hedda nicht umbrachte. Es bestünde wohl keine Gefahr, daß er ihr versehentlich zuviel Kraft nahm und ihr damit Schaden zufügte. Sie hoffte einfach mal, daß das stimmte. So wie sie bei vielen Faktoren einfach mal hoffte, daß sich alles von selbst zum Besten fügte. Sie war zugegeben nervös. Aber Salome hatte ihnen allen gut zugeredet, daß alles klappen würde. Das sei ein ziemlich gemeiner, aber im Grunde sehr simpler Fluch. Und Flüche seien außerdem wider die Natur, schon deshalb würde die Natur ganz von alleine dafür sorgen, daß sich möglichst alles von selber wieder ins Lot brachte.

Salome atmete nochmal durch, drückte ermutigend Sewills Hand und beobachtete das qualmende Räucherstäbchen neben dem Bett. Ein bisschen Asche rieselte davon herunter und fiel in die Auffangschale. Es war bis zu der Stelle heruntergebrannt, die er markiert hatte. Also begann er von seinem Spickzettel den Fluch vorzulesen. Das war Wortmagie. Leider war es kein Russisch, denn das hätte er gerade noch hinbekommen. Aber da Sewills rapide gesundheitliche Verschlechterung schon zu Hause in Schottland begonnen hatte, musste Salome annehmen, daß der Fluch auf Schottisch ausgesprochen worden war. Daher hatte er Safall gebeten, den Fluch in seine Muttersprache zu übersetzen. An sich war es völlig egal in welcher Sprache man einen Fluch aussprach. Aber wenn der Gegenfluch in der gleichen Sprache verfasst wurde wie der Fluch, gegen den er gerichtet war, trug das schon ein wenig zum Erfolg bei. Über die Stärke eines Fluches, die es zu überbieten galt, und die Vehemenzfaktoren hatte Salome sie ja bereits ausreichend aufgeklärt.

Zwischen zwei Zeilen schielte er wieder kurz zum Räucherstäbchen. Die Glut hatte sich in ein giftgrünes Glimmen verwandelt, also wirkte der Fluch. Bisher lief alles so, wie Salome es sich gedacht hatte. Langsam machte sich in seinem Kopf auch das vorhergesehene Dröhnen breit, von dem er den anderen gesagt hatte, man solle sich davon einfach nicht irritieren lassen. Konzentriert und in gewisser Weise beruhigt las er also weiter. Sehr lang war der Fluch nicht. Nur ein paar Zeilen, deren Inhalt sich keinem außer ihm erschloss. Der Fluch war wie in Rätseln geschrieben, die keinen Sinn ergaben. Es hatte ihn einiges an Überzeugungsarbeit gekostet, Safall zum Übersetzen dieser wirren, kryptischen Texte zu bewegen. Nun, Salome störte das nicht, solange es nur das bewirkte, was es sollte. Der Katze unter seiner linken Hand sträubte sich spürbar das Fell und sie gab ein drohendes Jaulen von sich. Sicher würde sie nicht mehr sehr lange freiwillig da sitzen bleiben. Sie spürte, daß hier ungesunde Mächte am Werk waren. Hedda bemühte sich, das Tierchen mit einer Hand festzuhalten, während sie sich mit der anderen den Griffel des Gongs angelte. Wenn Salome fertig gelesen hatte, musste sie den Gong schlagen, da sie als einzige noch eine Hand frei hatte. Sewill als die, die verflucht werden sollte, durfte sich am Ritual in keinster Weise beteiligen. Zum Schlagen des Gongs kam Hedda allerdings nicht mehr. So wie Salome das letzte Wort gesprochen hatte, fuhr ein scharfer Blitz vom Räucherstäbchen Richtung Decke und riss Hedda, Safall und Salome gleich einer Explosion zu Boden. Salome ließ vor Schreck sowohl Safalls Schwester als auch die Katze los, welche sich kreischend davon machte und damit auch die Verbindung zu Hedda unterbrach. Der Blitz schoss noch einige Male kreuz und quer durch das Zimmer, von einer Wand zur anderen wie ein PingPong-Ball, so daß sich alle Anwesenden panisch schutzsuchend die Arme um die Köpfe schlangen, und krachte schließlich mit einer lauten Entladung ins Sewills Dekolleté. Dann war alles still.

„Au-au-au! Heiß! Heiß!“, hisste das weißhaarige Mädchen auf und fischte hektisch ihre Kette aus dem Ausschnitt ihres Kleides, um das glühend heiße Metall von ihrer Haut zu bekommen.

verfluchter Fluch

Vorsichtig warfen alle einen Blick in die Runde, aus Angst, der wild herumwütende Blitz könnte erneut erscheinen. Aber es blieb alles ruhig. Safall raffte sich wieder auf und griff nach dem Zettel, auf dem der Fluch niedergeschrieben gewesen war. Das Papier war total verkohlt und voller Brandflecken.

„Goooott, was war das denn?“, stöhnte Hedda neben ihm theatralisch. „Miezekatze, bist du okay? Wo steckst du, Katerchen?“, rief sie noch im Liegen.

Safall schaute ratlos von dem verbrannten Papier zu seiner Schwester. Und entdeckte den inzwischen wieder abkühlenden Kettenanhänger. „Sewill, wo hast du das her?“

„Das Amulett? Das hat Hedda mir vor ein paar Tagen geschenkt.“

„Das Zeichen darauf wehrt Flüche ab.“

„Ja, ich weiß ... Oh!“ Sewills Augen weiteten sich entsetzt, als sie verstand.

„Auch ein Gegenfluch ist ein Fluch.“, merkte Safall trotzdem ruhig an. Ohne irgendwem Vorwürfe zu machen. „Wie der Name schon sagt.“

„Das hab ich nicht bedacht ...“, gestand sie und schaute sich das Amulett an, als hätte sie es bisher noch gar nicht so genau betrachtet. „Meinst du, es hat euren Fluch ... auf euch zurückgeworfen?“, überlegte die zögerlich.

„Ich weiß nicht. Auf jeden Fall wird es den Gegenfluch oder mindestens einen Teil davon von dir weggeleitet haben.“, fand Salome nachdenklich.

„Woar, Salome, was hast du mit meiner armen Katze gemacht!?“, jaulte Hedda da plötzlich hysterisch hinter ihm auf. „Mein armer Kater-Schatz hat da plötzlich weiße Zacken im Fell!“

„Hedda, schlag den Gong, damit wir das Ritual wenigstens ordentlich beenden. Um alles andere kümmere ich mich gleich.“, gab der nur stoisch zurück.

„Aber mein Kater!“

„Schlag den Gong, hab ich gesagt!“ Er griff nach einem Buch und begann zu blättern, als wolle er nachlesen ob er was falsch gemacht hatte.

Maulend suchte Hedda in dem Chaos des Zimmers den Griffel und donnerte ihn volltönend gegen die Gong-Platte, schmiss ihn zurück auf den Boden und begutachtete weiter die neue Fellfarbe ihres Katers. Abgesehen davon, daß er jetzt Kuhflecken hatte, schien er zum Glück wohlauf zu sein. ... dachte sie zumindest, bis er sein letztes Futter in ihren Schoß zu würgen begann.

„Wie fühlst du dich jetzt, Sewill? Hat der Gegenfluch zumindest soweit durchgeschlagen, daß es dir besser geht?“, wollte Safall wissen.

„Kann ich noch nicht sagen. Mir steckt immer noch der Schreck von diesem Blitzgeschoss in den Knochen. Aber ich fühl mich nicht so, als könnte ich Bäume ausreißen.“

Safall hielt ihr tröstend eine Hand hin. Sewill nahm sie auch nur zu gern an. Und so, wie sie sich berührten, weiteten sich ihrer beider Augen erschrocken. Safall zog seine Hand panisch wieder weg. „Oh.“, fiel ihm dazu nur ein. „Ooooooooh, shit.“

Sie starrten sich gegenseitig entsetzt an. Dann nahm Safall wieder die Hand seiner Schwester und es war wieder weg. Er drehte sich zu Hedda um, welche ebenfalls gerade völlig verwirrt im Raum umher gaffte.
 

Victor schaute aus dem Fenster und beobachtete die vorbeilaufenden Passanten. Seine Tasse hatte er noch nicht angerührt. Seine Augenbrauen waren ein wenig zusammengezogen, so daß er besorgt wirkte.

„Glaubst du, daß sie wiederkommen?“, wollte Urnue vorsichtig wissen.

„Wenn sie wiederkommen, dann sicher nicht nur zu zweit.“, gab Victor zurück und griff nun endlich nach seinem Tee, um zu trinken. In diesem Tee-Haus hier, in dem er häufiger verkehrte, weil es neutrale Zone war, sah man inzwischen nichts mehr von der riesigen Schlägerei, die sich hier zugetragen hatte. Den Stuhl mit dem angebrannten Stuhlbein hatte Victor auf eigene Kosten ersetzt. Er fand, das war er der Besitzerin schuldig. Immerhin hatte er dieses explosionsgeladene Treffen mit den beiden Schlägern in dieses Tee-Haus hier gelegt. Die Tür zum Hinterzimmer stand heute offen. Es war keiner da, der seine Diskretion haben wollte.

„Es tut mir leid, daß es letztes Mal so eskaliert ist. Das Feuermädchen hat ein ziemliches Chaos verursacht, als sie seine Jacke angezündet hat.“, erklärte Urnue.

„Mach dir keine Gedanken deswegen. Ich habe trotzdem alles rausgefunden, was ich wissen musste. Nämlich, daß die mich nur treffen wollten, weil sie Ärger mit mir wollten. Ich bin froh, daß dir nichts passiert ist, das ist die Hauptsache.“

„Ich hätte dir trotzdem gern mehr Informationen verschafft. Zumindest, welche Fähigkeiten sie haben.“

Er setzte endlich ein Lächeln auf. „U., du spielst den Lockvogel für mich. Das ist schon mehr als ich je von dir verlangen dürfte.“

„Dazu bin ich doch dein Getreuer.“ Urnue nahm einen Schluck aus seiner eigenen Teetasse und sagte dann nichts mehr. Victor blieb ja immer in der Nähe und passt auf ihn auf. Er würde eingreifen, wenn was wäre. Es war ja nicht so, als ob der ihn einer sonderlich großen Gefahr aussetzen würde. Das hatte Victor noch nie getan. Er gab ganz gut auf Urnue Acht, seit damals.

Eine Weile herrschte Schweigen. Eine Weile, in der Victor wieder besorgt aus dem Fenster starrte und seine Tasse nicht anrührte.

„Irgendwas hast du auf dem Herzen, Dragomir.“, kam der Genius mit der schwarzen Wuschelfrisur nicht umhin zu bemerken.

Victor konnte sich ein neuerliches Lächeln nicht verkneifen. Nur seine Freunde und Sympathisanten nannten ihn 'Dragomir'. Und von denen hatte er denkbar wenige. Dann schwand das kurze Lächeln auch schon wieder. Ein Blick in die Runde war unnötig, also blieb sein Blick verbissen aus dem Fenster gerichtet. Victor wusste, daß er mit Urnue alleine im Tee-Haus war und keiner mithörte. „Diese Sache mit Ruppert vor 2 Jahren ... als er erschlagen wurde ... Ich habe damals eine barbarische Lösegeldsumme gezahlt, damit die dich verschonen und am Leben lassen.“

„Du hast was!?“

Victor nickte nur bekräftigend und schaute weiter zum Fenster hinaus. Er wollte Urnues Reaktion darauf nicht sehen. Er hatte ein bisschen Angst davor.

Urnue schien sich selbst nicht entscheiden zu können, wie er darauf reagieren sollte. Er ließ hilflos die Tasse auf die Tischplatte sinken und versuchte das Gedankenchaos in seinem Kopf wieder zum Schweigen zu bringen. Er blinzelte lediglich überrumpelt. „Wieso hast du mir das nie erzählt?“

„Oh, das hatte verschiedene Gründe. Einerseits wollte ich nicht, daß du dich mir gegenüber schuldig oder zu irgendwas verpflichtet fühlst. Andererseits hatte ich auch einfach nur Angst, du könntest wütend werden.“

„Wütend? Weil du mich gerettet hast?“

„Weil ich Ruppert nicht retten konnte. Für dich habe ich gezahlt.“ Victor schaute seinem Getreuen endlich wieder in die Augen. „Für deinen Schützling Ruppert nicht.“ Er ließ diesen Satz kurz sacken. „Ich hätte es nicht gekonnt, davon mal abgesehen. Kein Preis der Welt hätte sie davon abgehalten, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Aber ich war mir nicht sicher, ob dir dieses Argument vielleicht egal gewesen wäre. Ob du mir in deiner Trauer und Verzweiflung nicht trotzdem Vorwürfe gemacht hättest. Ob du mir nicht vorgehalten hättest, daß ich den Mord an Ruppert nicht wenigstens versucht hätte zu verhindern. Oder die Schuldigen zur Strecke zu bringen. Im Gegensatz zu dir weiß ich sehr genau, wer das gewesen ist. Rupperts Tod wird ungesühnt bleiben, so leid es mir tut. Du weißt selbst, warum ich da nichts tun kann. Ich agiere selber außerhalb des Gesetzes. ... Außerdem ...“ Victor haderte kurz mit sich, ob er das wirklich sagen sollte. Wenn irgendwas falsch ankommen konnte, dann das. „Außerdem wollte ich die Frage vermeiden, warum ich das überhaupt getan habe.“

„Ja, genau das wäre auch meine nächste Frage gewesen.“, gestand Urnue, immer noch ein wenig mit seinem Gefühlstaumel kämpfend.

„Ich kann´s dir nicht erklären. Ich weiß selber nicht, warum ich dich freigekauft habe. Ich konnte nicht anders. Ich fand, du hättest es nicht verdient.“

Urnue setzte ein schräges Grinsen auf. „Du hast mich einfach gern, was?“

Victor erwiderte ein verlegenes Schmunzeln – ein Zug, den Urnue noch nie an dem sonst so übermächtigen, selbstbewussten Mann gesehen hatte. „Offenbar. Ich habe meine Missionen immer alleine bewältigt, um keine Mitwisser zu haben und auf niemanden aufpassen oder Rücksicht nehmen zu müssen. Wer Freunde hat, hat Schwächen, weißt du? Willst du jemanden brechen? Dann nimm dir seine Freunde vor, und die, die ihm etwas bedeuten.“

Urnue zögerte. „Das klingt ... als hättest du Erfahrung damit, Dragomir.“, gab er dann etwas kleinlaut zu.

„Oh ja, allerdings.“ Victor zog ein unglückliches Gesicht. „Ich stand schon auf beiden Seiten dieser Gleichung. Aber immer alleine unterwegs zu sein, das ist auf Dauer ein recht einsames Dasein. Ich fand es an der Zeit, mir Gesellschaft zu beschaffen. Du bist ein angenehmer Vogel, Urnue. Klug genug, um meine Aktivitäten zu verstehen. Und mächtig genug, um auf dich aufzupassen, wenn du mich bei meiner Arbeit begleitest. Du weißt, mit was für Mächten ich mich rumschlage.“

Urnue nickte, senkte den Blick, schien kurz zu überlegen, sah dann wieder auf. „Du hast Recht. Hättest du mir das alles eher erzählt, hätte ich sicher sauer reagiert. Aber jetzt mit 2 Jahren Abstand sehe ich es genauso wie du. Du hättest für Ruppert nichts tun können. Danke, Dragomir. Ich bin dir schon die ganze Zeit dankbar gewesen. Dafür, daß du mich aufgefangen hast, als ich meinen Schützling nicht retten konnte. Dafür, daß du mich mitgenommen hast, als ich nicht wusste, wohin. Aber erst jetzt verstehe ich in vollem Maße, wofür ich dir wirklich dankbar zu sein habe. Du hast mir das Leben gerettet.“

Victor griff nach seinem schon kalten Tee und umschloss die Tasse mit beiden Händen, als wolle er ihn wieder aufwärmen. „Nimm mir die Sache mit Ruppert nicht übel, okay? Ich hoffe, das steht künftig nicht zwischen uns.“

Urnue schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Im Gegenteil. Wir sind eine verschworene Getreuschaft. Jetzt mehr denn je.“
 

„Da, sehen Sie sich das an!“ Safall berührte den Professor am Arm. Und nach dem schon gewohnten, kurzen Schwindelgefühl erwachte er im Körper des Professors wieder und sah durch dessen Augen sich selbst an. Er spürte ein unangenehmes Ziehen in der Hüfte. Der alte Mann hatte wohl kaputte Gelenke. Und er schmeckte noch den Rauch seiner letzten Zigarette. Der Professor, welcher nun in Safalls Körper steckte, glotzte irritiert zurück. Safall führte noch eine weitere Berührung herbei und er steckte wieder in seinem eigenen Körper. „Das muss irgendeine Art von Tausch-Fluch sein. Wen auch immer wir berühren, mit dem tauschen wir augenblicklich den Körper. Gott sei Dank lässt es sich auf die gleiche Art auch problemlos wieder rückgängig machen. Mit Tieren funktioniert das übrigens auch. Hedda hat schonmal den Körper mit ihrer Katze getauscht. ... Wir können nie wieder irgendjemanden anfassen!“, sprudelte es aufgekratzt aus Safall heraus.

„Ihr habt also versucht, den Fluch wieder aufzuheben, indem ihr den passenden Gegenfluch anwendet. Hat aber leider nicht geklappt, wie mir scheint.“, überlegte der Professor, dem die gesamte Vorgeschichte bereits erzählt worden war.

„Vielleicht haben wir beim Ritual was nicht richtig gemacht. Oder dieses Amulett, das meine Erste getragen hat, hat den Gegenfluch teilweise abgewehrt. Auch ein Gegenfluch ist ja trotz allem ein Fluch.“, meinte Safall und hielt ihm den Kettenanhänger hin, den Hedda im Tee-Haus von der alten Betreiberin bekommen hatte.

„Nein. Amulette sind bei dieser Art von Magie ziemlich nutzlos. Ihr habt euch wahrscheinlich einfach nur für den falschen Gegenfluch entschieden und der ursprüngliche Fluch hat sich dadurch gewandelt.“

„Also haben wir den Fluch quasi verflucht?“, fasste Safall ratlos zusammen.

Der Professor schmunzelte humorvoll. Einen Fluch zu verfluchen, war eine interessante Idee. Die Wortwahl hätte er nicht treffender finden können. Er stand ja sonst selten für die privaten Befindlichkeiten und Probleme der Studenten zur Verfügung. Und für die Art ihres Anliegens war er auch alles andere als der richtige Ansprechpartner. Aber dieser Fall hier hatte derwegen zu interessant geklungen, als daß er es sich nicht zumindest einmal angehört hätte. Die beiden schienen recht verzweifelt zu sein, denn sie hatten ihr Glück wohl nach eigener Aussage schon bei mehreren anderen Dozenten versucht, aber kein Gehör gefunden. Er saß gerade mit diesem Jungen vom Gaya-Klan, der ihm als Student der Wahrsager-Sparte zumindest bekannt vorkam, in seinem Büro. Das blonde Mädchen dazu kannte er allerdings gar nicht. Sie war ihm als Safalls angehende Nebengetreue vorgestellt worden. „Deshalb sollte man halbstudierte Magier nicht mit Flüchen rumhantieren lassen. Sowas gehört in die Hände von Profis. Die Fluch- und Verwunsch-Wissenschaften sind nicht grundlos eigene Studiengänge. Noch dazu die mit den schwersten Zugangsvoraussetzungen und der höchsten Durchfallrate überhaupt.“, meinte er. Er schien die ganze Sache nicht tragisch zu sehen. Das gab den beiden zumindest Hoffnung, daß sich das alles noch irgendwie regeln ließ.

„Wieviele fallen denn in diesen Studiengängen durch?“, wollte Hedda neugierig wissen und lehnte sich mit den Ellenbogen auf die Tischplatte. Die Zutoro lag mitten im japanischen Viertel von Düsseldorf und war eine internationale Universität, auf der Magier und Genii aus aller Herren Länder studierten. Die magische Fakultät der Zutoro hatte einen vielgepriesenen Ruf. Hier durch die Prüfungen zu fallen, war fast keine Schande, denn die galten mit als die schwersten. Aber das fand man natürlich nur solange cool, wie es einen nicht selber betraf. Hedda wusste, daß es vor allem auf der magischen Fakultät hohe Versager-Quoten gab.

Der Professor schätzte kurz über den Daumen. „Die Hälfte der Studenten scheidet mehr oder weniger freiwillig aus, bevor sie überhaupt zu den Prüfungen zugelassen werden. Und von denen, die tatsächlich zur Prüfung antreten, bestehen wiederrum bestenfalls die Hälfte. Man muss schon eine solide Veranlagung zum Thema mitbringen, um sich in diesem Studium durchzusetzen. Die jungen Magier, die, im wievielten Anlauf auch immer, ein Fluch- oder Verwunsch-Examen bestehen und nicht aus einem russischen Klan abstammen, kann man an einer Hand abzählen ... Ich bin mir übrigens nichtmal ganz sicher, ob es sich bei eurem Problem jetzt um einen Fluch oder eine Verwünschung handelt.“ Er schaute in etwas ratlose Gesichter und musste schmunzeln. „Flüche und Verwünschungen sind verschiedene Dinge, wisst ihr? Die Zielgruppe ist eine andere. Flüche schaden indirekt und sind teilweise schrankenlos auf jede beliebige Person weiterübertragbar. Verwünschungen schaden dagegen direkt und wandern nicht. Mh, wie erkläre ich das einem Neuling?“, überlegte er. „Verflucht ist man, wenn man anderen Leuten Schaden bringt. Verwunschen ist man, wenn man selber zu Schaden kommt. Große Goldschätze sind früher gern mal verflucht worden, damit sie keiner klaut, beziehungsweise damit die Diebe die Rache zu spüren bekommen. Und Prinzen wurden verwunschen, damit sie das Thronerbe nicht antreten. Du sagst zwar, dein Freund, dieser Fluchwissenschafts-Student, hätte das abgeprüft, aber du solltet lieber trotzdem nochmal genau rausfinden, ob deine Erste verwunschen oder ob irgendwas in ihrer Nähe verflucht ist, Safall.“

„Müsste ich die Auswirkungen dann nicht auch spüren?“, hakte dieser nach.

„Nicht zwangsläufig. Nicht jeder ist gleichermaßen empfänglich für die gleiche Art von Fluch. Vielleicht bist sogar du selber verflucht und der Grund für ihren Zustand. Wer weiß, nichts ist unmöglich.“

„Fühlst du dich schlechter, seit du bei mir bist?“, wandte sich der Goth in einer Art Galgenhumor an Hedda.

„Ja. Aber das liegt vermutlich nicht an irgendeinem Fluch.“, gab sie gespielt schmollend zurück. Was sie von seinen Erziehungsmethoden hielt, wusste er ja.

Safall seufzte deprimiert. „Was können wir denn jetzt machen?“

„Ich schicke euch zu Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov. Er unterrichtet an der magischen Fakultät das richtige hardcore-Zeug in Sachen Fluch- und Verwunsch-Wissenschaften. Wenn der keinen Rat weiß, dann keiner.“

Hedda nickte einverstanden, während Safall ein unwohles Stöhnen nicht unterdrücken konnte. Sie sah ihn fragend an.

„Akomowarov!“, hielt Safall ihr nochmal vor, als könne er überhaupt nicht verstehen, daß es bei Hedda nicht klingelte. „Der Mann ist eine lebende Legende. Einer der wenigen Magister Artificiosus Magicae. Ein dermaßen krass mächtiger Magier, sowas gibt es nur ein paar Mal auf der Welt. Ich wusste gar nicht, daß er hier unterrichtet. Jetzt verstehe ich auch, warum diese Universität so hoch angesehen ist und Studenten aus aller Welt anreisen, um hier zu studieren.“

„Jetzt versink mal nicht gleich vor Ehrfurcht im Staub des Erdbodens!“, verlangte Hedda verständnislos. „Wenn er uns helfen kann, dann lass uns hingehen.“

Der Professor schüttelte unterschwellig den Kopf. Auch er musste einsehen, daß Hedda wirklich null Ahnung von der Welt der Magier hatte, sonst wäre ihr der Name zumindest schonmal begegnet. „Ich lasse ihm ein Ersuchen zukommen, damit er Bescheid weiß und euch nicht abblitzen lässt. In seiner Position wird er leider immer von vielen Leuten belagert und kann sich beileibe nicht die Zeit für jeden nehmen. Daher schickt er Fremde meistens konsequent weg. Ich empfehle euch, bei ihm ein respektvolles Auftreten an den Tag zu legen. Er mag jung aussehen und sich locker geben, aber er ist mächtig und vor allen Dingen gefährlich. Und er ist nicht grundlos ein Magister Artificiosus.“

Safall nickte. „Ich weiß.“

„Was macht denn einen Magister Artificiosus so besonders?“, hakte Hedda nach.

Nun stöhnte selbst der Professor wehleidig auf. „Herrgott nochmal, Safall, wo hast du dieses Mädchen aufgetrieben? Wie kannst du mit so jemandem eine Getreuschaft eingehen? Die stellt sich an, als hätte sie noch nie von Magie gehört.“

„Hat sie auch nicht. Und ich hab mir das nicht ausgesucht.“, gab der junge Mann mit den langen, schwarzen Haaren, etwas verbittert zurück. „Die Zirkelgesetze verlangen es. Ich kann nichts dafür.“

„Setz dich in die Bibliothek und lies, Mädchen! Mach dich über Magister Artificiosus und über Genii schlau, bevor ihr zu Akomowarov geht. Sonst wird er euch wahrscheinlich eigenhändig von der Universität schmeißen, angesichts eurer Unfähigkeit.“

„Das tue ich ja! Ich sitz schon jeden Tag mehrere Stunden in der Bibliothek. Aber ich kann leider mein eigenes Studium nicht gänzlich vernachlässigen!“

„Warum auch über Genii?“, getraute sich nun auch Safall verblüfft zu fragen.

„Weil Akomowarov einer ist!“, blaffte der Professor.

Safall zog die Stirn in breite Denkerfalten. „Okay!?“, machte er nur, als würde diese Tatsache eine Menge erklären. Aber noch weiter nachfragen tat er nicht.

„Akomowarov ist erst in ein paar Monaten wieder im Haus. Im Moment ist er nicht an der Universität, er ist nur im Sommersemester an 2 Tagen die Woche hier. Versucht euch die Zeit bis dahin so ungefährlich wie möglich zu machen und nutzt sie, um zu lernen.“, legte der Professor ihnen nahe und machte dann deutlich, das Gespräch so langsam beenden zu wollen.
 

„Ich fühl mich von euch allen total gedisst!“, nörgelte Hedda beleidigt. „Alle hacken auf mir rum, weil ich dies, das und jenes nicht weiß. Als ob ich freiwillig hier wäre!“

„Ist schon gut.“ Safall legte ihr mild einen Arm um die Schultern, als er mit ihr weiterging. Diese ungewohnt herzliche Geste brachte Hedda verdutzt zum Schweigen. Er gab sich dabei Mühe, sie nur mit dem Ledermantelärmel zu berühren und keinen Hautkontakt herzustellen, um nicht versehentlich den Körper mit ihr zu tauschen. „Du kannst nicht in vier Wochen das Wissen von 20 Jahren Lebenserfahrung aufholen. Das ist mir bewusst. Wir müssen einfach zusehen, daß wir dir nach und nach alles beibringen. Wenigstens das, was wichtig ist.“

„Hör mal, Safall, wieso lässt du mich nicht gehen, man? Ich hab mich dummerweise in diese Treuschaft hineinmanövriert, okay, blöd gelaufen. Mein Fehler, meine Dummheit, meinetwegen. Aber eine Treuschaft kann auch wieder geschieden werden. Gib mich doch einfach wieder frei.“

Safall lächelte dünn. „So einfach ist das nicht. Eine Getreuschaft ist ein Schwur. Ein Eid, den man voreinander abgelegt hat. Wir zwei sind Eidesgenossen. Einen Eid zu brechen, bringt Schande. Nicht nur über mich, sondern über meinen gesamten Klan. Kein Gaya wird jemals wieder irgendwo wohlwollend aufgenommen werden. Meine ganze Familie wird als Kameradenbetrüger zu Ausgestoßenen werden. Keiner gibt uns mehr Unterkunft oder Arbeit oder heiratet in unseren Klan hinein oder macht auch nur Geschäfte mit uns. Treuschaften sind wirklich eine verdammt ernste Sache.“

„Aber sie KANN geschieden werden!“

„Sicher. Mit den richtigen Gründen kann sie das. Wenn du versucht hast, mich umzubringen, zum Beispiel. Aber bitte tu das nicht.“, schmunzelte er sie humorvoll an. Dann sah er wieder nach vorn, immer noch den Arm um ihre Schultern gelegt. „Die Situation ist jetzt einmal so, wie sie ist. Ich bin sauer gewesen und habe dich weggestoßen. Zu Unrecht, schätze ich. Du hast es ja nicht böse gemeint. Du wolltest mir damals nur helfen und wusstest es nicht besser. Wir müssen lernen, miteinander auszukommen. Und den Rest kriegen wir dann schon irgendwie hin.“, versprach er in ruhigem Tonfall. „Wir werden ab jetzt immer Handschuhe tragen müssen, um das Risiko eines ungewollten Tausches zu minimieren.“

zwielichtig

Der neue Tauschfluch, den Salome ungewollt kreiert hatte, und den sie nur den 'verfluchten Fluch' nannten, bereitete Hedda inzwischen viel Spaß. Nachdem sie sich damit abgefunden und daran gewöhnt hatte, hatte sie begonnen, Experimente anzustellen. Der Tauschzauber war erstaunlich flexibel. Man konnte kettenreaktionsartig von Körper zu Körper springen, ohne zwischendurch in seinen eigenen Körper zurückkehren zu müssen. Es ließen sich lustige Ringtausche bewerkstelligen. Einmal hatten sie es geschafft, daß Safall in Sewills Körper, Sewill in Heddas Körper, Hedda im Körper ihrer Katze und die Katze in Safalls Körper gesteckt hatten. Es war ein göttlicher Anblick gewesen, wie Heddas Kater versucht hatte, in Safalls Körper steckend auf den Kleiderschrank hinauf zu springen. Berührte man zwei Personen gleichzeitig, tauschte man nur mit einer von ihnen den Körper. Das System, nach dem sich entschied, mit welchem von beiden, hatte sich ihr allerdings noch nicht erschlossen. Das schien reiner Zufall zu sein. Hedda hatte sich einmal heimlich in Salomes Körper hineingetauscht und in seinem Namen mit Safall geplaudert, um ihn auszuhorchen. Safall hatte es dummerweise gemerkt und war tierisch sauer geworden. Das hatte Hedda nie wieder versucht. Allerdings hatte sie seither – quasi als Wiedergutmachung – mit seiner Schwester einen Deal am Laufen, von Zeit zu Zeit den Körper mit ihr zu tauschen, damit auch sie sich endlich mal ungehindert auf dem Universitätsgelände und in der Stadt herumtreiben konnte, ohne nach 20 Schritten zusammenzubrechen. Hedda blieb dann einfach im Bett liegen und genoss ihre Ruhe. Solange sie sich nicht bewegen musste, war es zu ertragen. Dann konnte Safall sie zumindest nicht in die Bibliothek prügeln und zum Lernen zwingen. Sie war nur einmal ziemlich erschrocken, als sie plötzlich von einer Vision überfallen worden war. Hedda hatte ja noch nie zuvor Visionen gehabt und fand das echt creepy. Die Vision war sehr nichtssagend und belanglos gewesen. Sewill hatte ihr später gesagt, daß die meisten Visionen so wären. Man bekäme nur selten was großes, bedeutendes zu sehen. An Sewills Zustand hatte sich leider gar nichts geändert. Sie war immer noch so schwächlich und kränklich wie zuvor. Ihr Bruder Safall war darüber nicht sehr glücklich, aber Sewill selbst war der Meinung, man solle doch froh sein, daß ihre Verfassung nicht schlimmer geworden war. Der verkorkste Gegenfluch von Salome hätte immerhin sonstwas anrichten können.

Echte Panik machte sich breit, als Sewill von einem ihrer Stadtbummel nicht zurückkehrte. Sie hatte spätestens 18 Uhr wieder da sein wollen. Als 20 Uhr immer noch keine Spur von ihr zu finden war, wurde Safall hibbelig. Hedda glaubte, daß Sewill vielleicht Haselnüsse gegessen hatte und nun mit einem allergischen Schock in irgendeinem Krankenhaus lag. Hedda war allergisch gegen Haselnüsse. Wenn sie´s recht bedachte, hatte sie Sewill, die gerade in Heddas Körper draußen rumspazierte, nie davon erzählt.

Safall telefonierte alle Krankenhäuser in der Gegend ab, fand aber weder jemanden, der unter Sewills Namen noch unter Heddas Namen eingeliefert worden wäre. Er versuchte auch vergeblich, sie auf Heddas Handy zu erreichen, das sie eigentlich bei sich hätte haben müssen, wenn sie in ihrem Körper unterwegs war. Daraufhin schnappte er seinen langen Ledermantel und machte sich selbst auf die Suche. Sewill war seine Zwillings- und Schwurschwester. Er hatte normalerweise immer eine intuitive Ahnung, wo sie steckte und wie es ihr ging. Aber wenn sie die Identität mit jemandem getauscht hatte, riss diese Verbindung leider komplett ab.
 

Die Zutoro lag im japanischen Viertel von Düsseldorf. In diesem Viertel gab es ein privates Institut für die Bereinigung von Zaubereiunfällen. Safalls erste Idee war, daß seine Schwester sich vielleicht dorthin gewandt hatte, um sich Rat wegen ihres 'verfluchten Fluchs' zu holen, und nun von denen festgehalten wurde. Diesem Institut wurde nachgesagt, daß ganz gern mal Leute in Polizeigewahrsam übergeben wurden, wenn man dort den Eindruck von einem Verbrechen oder gar einem entsprechenden Vertuschungsversuch hatte. Und mit Flüchen war man da immer schwer in Mode. Aber dort war kein blondes, nicht-magisches Mädchen aufgetaucht. Das hätte die sicher auch sehr skeptisch gemacht. Was sollte ein nicht-magisches Mädchen schon in einem Institut für missglückte Magie wollen? Safall verzichtete darauf, obschon er einmal hier war, das Problem mit ihrem Fluch anzusprechen. Er legte selbst keinen Wert darauf, an die Polizei zu geraten. Er hätte denen nicht erklären können, was passiert war.
 

Da er hier nicht fündig geworden war, versuchte er es als nächstes im Hallenbad. Seine Schwester und er waren Selkies. Robben, die menschliche Gestalt annehmen konnten, wenn sie ihr Fell ablegten. Sewill vermisste das Meer genauso wie er. Und obwohl er sich nicht vorstellen konnte, daß ein gefließtes, mit Chlorwasser gefülltes Schwimmbecken ihr da einen passablen Ersatz bot, war es immerhin eine Chance. Den Eintritt zahlte er gern, und auch die blöden Blicke, als er mit Ledermantel und Straßenschuhen in die Schwimmhalle stiefelte, nahm er gern auf sich. Da er schwerlich selbst in die Frauenumkleiden hineinplatzen konnte, hatte er sogar ein paar gerade herauskommende, ältere Damen gefragt, ob noch ein blondes Mädchen drin sei. Alles vergebens. Sewill war auch hier nicht zu finden.
 

Safall trat wieder auf die Straße und überlegte. Wo sollte er als nächstes hingehen? Es war inzwischen fast 23 Uhr. Es gab kaum noch logische Optionen. Alles was Öffnungszeiten hatte, hatte inzwischen geschlossen. Außer bestenfalls ein paar ausgewählte Gastronomiebetriebe. Restaurantes hatten nicht so lange auf. Und Clubs gab es im Umkreis der Uni keine. Darum feierten ja alle im Studentenkeller des Wohnheims. ... Das Tee-Haus? Safall zögerte. Sie hatten Sewill von dem Tee-Haus erzählt, und von dem fluchabwehrenden Amulett, daß Hedda dort bekommen hatte. Möglich, daß sie dort hingegangen war, um mehr zu erfahren. Aber ob ein Tee-Haus um diese Zeit noch offen hatte, bezweifelte er auch irgendwie. Ein Blick aufs Handy sagte ihm, daß Sewill nach wie vor verschollen war. Hedda hatte ihm versprochen, anzurufen, falls seine Schwester inzwischen von selber auftauchte, während er noch draußen rumrannte und sie suchte. Mangels besserer Ideen machte er sich also auf den Weg und wählte dabei – wo er das Handy sowieso einmal in der Hand hatte – Heddas Nummer. Wie befürchtet ging Sewill auch weiterhin nicht an Heddas Telefon, obwohl sie es eigentlich bei sich hätte haben müssen und seine Nummer kannte.
 

Als Safall vor dem Tee-Haus ankam, fand er es verschlossen vor. Drinnen brannte zwar noch Licht, das durch die Ritzen der Bretterbude auf die Straße quoll wie die Füllwatte aus geplatzten Nähten, die Fensterläden waren aber zugesperrt worden. Safall drückte testhalber gegen die Tür, wusste aber im Prinzip schon vorher, daß diese nicht nachgeben würde. Auch sie war versperrt. Dennoch hörte man von drinnen Stimmen. Safall schaute sich nach links und rechts um. Die Straße war völlig ausgestorben. Keine Menschenseele unterwegs. Drinnen krachte etwas lautstark auf den Tisch, gemischt mit einem metallischen Klirren. Es klang wie ein Sack Münzen, den man auf die Tischplatte hatte fallen lassen.

„Hier hast du deine dreckige Kohle zurück, du Verräter!“, blaffte jemand.

Eine Sekunde herrschte nachdenkliches Schweigen. Dann gab jemand ein ruhiges und überaus sachliches, klärungsbereites „Was ist passiert?“ zurück.

„Du hast geredet!“

„Ich habe mit niemandem über euch gesprochen oder euch angezeigt.“

„Wer soll´s sonst gewesen sein? Die Staatlichen haben uns am Arsch, man! Wir hätten dich und deinen Kollegen damals kalt machen sollen! Wir hätten uns nicht auf Geschäfte mit dir einlassen sollen!“

Safall trat näher an die hölzerne Tür heran und versuchte durch einen Spalt zwischen den Brettern etwas zu erkennen. Nicht ohne vorher nochmal sorgsam zu prüfen, ob er auch wirklich alleine auf der Straße war und nicht beobachtet wurde. Das klang ihm irgendwie sehr verdächtig.

„Ihr seid mutig, das ausgerechnet mir ins Gesicht zu sagen. Nehmt das Geld wieder mit. Bitte. Es gehört euch.“, bat die ruhige Stimme. „Und lasst uns in Ruhe.“

„Nein! Bei einem wie dir wollen wir nicht in der Schuld stehen! Wir werden jetzt nachholen, was wir damals vergeigt haben! Unsere Absprache von damals zählt jetzt nicht mehr! Wir lassen uns von dir nicht einschüchtern!“

Safall erkannte durch die Spalten zwischen den Brettern der Tür drei Männer. Zwei von ihnen waren groß und stattlich und hatten verwilderte, ungekämmte, dunkelblonde Haare und abgeranzte Klamotten. Beide hatten typische Verbrecher-Gesichter. Ungepflegt, vernarbt und dreckig und daher altersmäßig unmöglich zu schätzen. Der dritte, wohl ihr Gegenspieler in diesem Disput, hatte schulterlange, offene, schwarze Haare und einen langen, schwarzen Ledermantel, wie Safall selbst. Nur war er sicher fast einen Kopf kleiner. Er wirkte mit seiner kleinen, zierlichen Statur irgendwie zart und noch nicht ganz ausgewachsen. Er sah unglaublich jung aus. ... und er kam gerade direkt auf die Tür zumarschiert!

Ehe Safall reagieren konnte, hatte der junge Bursche die Tür schon aufgezogen und stockte sichtlich erschrocken zurück, als er beinahe in den unerwarteten Passanten hineinrannte.

„Äh-ähm ... Sie gehen wohl gerade?“, improvisierte Safall, um zu überspielen, daß er möglicherweise etwas belauscht hatte, was er besser nicht hätte wissen sollen. „Hier brannte noch Licht. Ich wollte gerade schauen, ob das Tee-Haus noch geöffnet hat. Das fände ich nämlich ziemlich cool, um diese Uhrzeit.“

Die beiden verwilderten Kerle, die noch drinnen standen, fluchten laut, schoben sich an dem Dritten mit dem Ledermantel vorbei, und türmten in die Nacht hinaus. Sowohl Safall als auch der Unbekannte schauten ihnen beunruhigt nach.

Dann wandte der zierliche Junge seinen Blick wieder auf Safall. „Ich fürchte, das Tee-Haus ist bereits geschlossen. Wir haben die arme Besitzerin schon länger aufgehalten als wir es gesollt hätten.“, merkte er an und ging dann mit einem letzten, undefinierbaren Blick seiner Wege. Dieser Blick konnte von einer freundlichen Verabschiedung bis hin zu einer 'ich weiß, daß du alles gehört hast'-Drohung alles sein.

Safall blieb immer noch starr im Eingang stehen, halb drinnen, halb draußen, und wusste sich in seiner Situation sichtlich nicht zu helfen. Sollte er wenigstens die Betreiberin des Tee-Hauses noch fragen, ob ein blondes Mädchen hier gewesen sei und ob sie etwas über den Aufenthalt dieses Mädchens wisse, bevor er ging? Sollte er die Betreiberin vielleicht noch um einen Tee bitten, zu so später Stunde, um den streitlustigen Gesellen etwas Vorsprung zu lassen? Er wollte denen nur ungern direkt wieder in die Arme laufen, falls die hinter der nächsten Hausecke stehengeblieben waren. Also schaute er nur unschlüssig zu, wie die alte Frau die herausgefallenen Münzen zurück in den Geldsack stopfte und diesen dann in Verwahrung nahm. Jede weitere Entscheidung wurde ihm abgenommen, da in diesem Moment sein Handy losvibrierte. Sewill war wieder aufgetaucht und entschuldigte sich – hörbar alkoholisiert – daß sie mit Salome im Studentenclub versumpft sei und total das Zeitgefühl verloren habe. Salome hatte das hackedichte Mädchen wieder bei Safall abliefern wollen, als er selber endlich auf seine Bude und einfach nur noch ins Bett gewollt hatte.
 

Hedda konnte einen gewissen Unwillen nicht unterdrücken. Und das lag nur unwesentlich an dem miesen Kater, den Sewills gestrige Zesch-Tour ihr eingehandelt hatte. Sewill hatte sich echt volllaufen lassen, wohl als Selkie nicht wissend, wieviel Alkohol ein Mensch vertrug. Hedda schwor sich, nie wieder den Körper mit ihr zu tauschen. Oder sie den Rausch erst selber ausbaden zu lassen, bevor sie ihren Körper wieder zurücktauschte. Aber sie hatte ja heute früh wieder in der Vorlesung sitzen müssen, was war ihr also anderes übriggeblieben? Nicht, daß sie in ihrem verkaterten Zustand recht viel von dem Lernstoff hätte aufnehmen können.

Und dann noch das hier. Da hatte sie nun endlich ein brauchbares Buch über Genii gefunden, und dann ging es gleich wieder mit Paragraphen los. Langsam konnte sie keine Gesetze mehr sehen. Sie hätte sich doch lieber alles wichtige von Soleil erzählen lassen sollen. Sie hatte zwar eine Vorstellung davon, was ein Genius war – nach ihrem Dafürhalten einfach nur ein wie auch immer geartetes Fabelwesen – und wann ein Genius zum Genius Intimus wurde, aber ganz so einfach wie gedacht schien es wohl doch nicht zu sein. 'Zu jedem magisch Begabten gehört seit seiner Geburt ein Schutzgeist. Zumeist treffen Schutzgeist und Schützling kurz nach dem ersten Auftreten der Begabung aufeinander.*' Mit diesem knappen Kommentar war die gesamte Einleitung auch schon abgeschlossen. Es folgte der allgemeinverbindliche 'Codex Geniorum', dem sich alle Genii zu unterwerfen hatten.

<Paragraph 1: Ein ungebundener Schutzgeist oder eine ungebundene Schutzbestie wird als Genius bezeichnet, solange der Genius seinen Schützling noch nicht gefunden hat und die Verbindung zu diesem eingegangen ist. Genius intimus ist die Bezeichnung für einen an seinen Schützling gebundenen Schutzgeist.*>

<Paragraph 2: Der Schutzgeist, auch Genius genannt, ist ein Geisterwesen, welches Magiern, Hexen, Schamanen oder Hellsehern hilfreich zur Seite steht und diese vor Gefahren der anderen Ebene, auch als Astralebene oder Geisterwelt und ähnliches bezeichnet, schützt. Zumeist besteht zwischen Schutzgeist und Schützling eine angeborene magische Verbindung.*>

Hedda schaute auf und musterte den langhaarigen Goth, der neben ihr am Computer saß und seine Recherchen dort dran betrieb. In der Bibliothek standen ein paar PC´s herum, die beim Finden passender Bücher halfen und auf denen auch bestimmte Dokumente und Verzeichnisse in digitalisierter Form zu finden waren. „Safall, sagtest du, Sewill wäre deine Zwillingsschwester?“

„Ja, ist sie.“, meinte er abgelenkt und tippte weiter.

„Seid ihr ... seid ihr beides Genii?“

Safall warf ihr einen verständnislosen Blick zu. „Natürlich sind wir beides Genii. Was soll die Frage?“

„Naja, hier steht, daß zu jedem magisch begabten Menschen ein Schutzgeist oder eine Schutzbestie gehört. Ich hab nicht den Eindruck, daß einer von euch beiden zu einem Menschen gehören würde. Ihr habt keine Schützlinge, oder?“

„Nein. Aber unsere Getreuschaft verfolgt im Prinzip den gleichen Zweck.“, erklärte Safall und wandte sich wieder dem PC zu.

„Aber wieso habt ihr keine Schützlinge? Wenn doch hier steht, daß zu jedem magisch begabten Menschen seit seiner Geburt ein Schutzgeist gehört!?“

„Nicht jeder Genius ist zum Genius Intimus geboren. Die Mehrheit der Schutzgeister ist ungebunden. Genauso wie die Mehrheit der Menschen nicht magisch begabt ist. Die wenigsten Menschen sind Magier. Und haben dann auch keinen Genius Intimus.“

„Und wieso nehmt ihr menschliche Gestalt an?“

Safall lehnte sich wieder zurück. Er sah ein, daß er nicht zu seinen Nachforschungen kommen würde, solange Heddas Neugier nicht gestillt war. „Damit wir die Menschen nicht erschrecken, wenn wir unter ihnen leben.“, erzählte er also geduldig. „Stell dir mal vor, deine Freundin Soleil würde als riesige Schlange mit Frauenkopf und den Ausmaßen eines Güterzuges durch die Straßen walzen. Oder ein Mantikor mit giftigem Skorpionenschwanz würde in seiner wahren Gestalt über einem Marktplatz kreisen. Die meisten Menschen, vor allem die nicht-magischen, haben Angst vor unserer wahren Natur und den Gewalten, die wir verkörpern. Wir kommen euch zivilisierter vor, wenn wir so aussehen wie ihr.“

„Erkennt man an irgendwas, daß ihr Genii seid? Soleil trägt ihren Registier-Armreif, das habe ich schon mitbekommen. Aber wenn sie den nicht tragen würde, würde ich sie nicht von einem Menschen unterscheiden können.“, hakte Hedda nach.

„Nein, an sich nicht. Es gibt ein paar Magier, die die Gabe besitzen, hinter unsere Maske zu schauen. Aber die meisten können es nicht. Wenn wir uns komplett verwandeln, unterscheiden wir uns für das menschliche Auge rein äußerlich nicht mehr von Menschen. Den allerwenigsten Genii siehst du an, was sie sind.“

„Und dieser Professor da, zu dem wir gehen sollen, dieser Akomowarov, ist ein Genius? Der ist kein Mensch?“

„Offensichtlich nicht ...“, murmelte Safall, mit seinen Gedanken langsam wieder bei dem Computerprogramm. „Ich versuch ihn gerade in der MaMa-Datenbank zu finden. Ganz schön knifflig, wenn man nicht weiß, wie dieser ellenlange, russische Name dort drin genau geschrieben wurde.“

„Was für ne Datenbank?“

„Die Magister-Magicae-Datenbank.“

„Sowas gibt es?“

„Ja. Da drin werden alle Magier und Genii gelistet, die den Magister-Grad erreicht haben. Ist sowas wie ne zentrale Registrierung. Die ist auch nicht jedem frei zugänglich. Nur den Behörden und ausgewählten Universitäten wie unserer, zum Zwecke wissenschaftlicher Arbeiten. Aber sie hat weltweite Gültigkeit. Was da über dich drin steht, wird international anerkannt.“

„Klingt eher nach ner Verbrecher-Kartei.“, kommentierte Hedda zynisch.

„Nein. Da stehen so Sachen wie dein Schulabschluss drin. Wenn du irgendwo eine Arbeit annehmen willst, ist das hier ein beglaubigter Nachweis über deine Qualifikationen. Oder wenn du ... oh.“ Safall unterbrach sich selbst.

„Was ist?“

„Hab ihn gefunden. Das ist echt seltsam. Sieh dir das an:
 

Name: Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov. Von seinen Gegnern 'Victor', von seinen Sympathisanten 'Dragomir' genannt.
 

Klanlos.
 

Magister Artificiosus Magicae, Schwerpunkt Fluch- und Verwunsch-Wissenschaften, Bann-Wissenschaften, Kampf- und Abwehrzauber.
 

Geburtsdatum: unbekannt.
 

Geburtsort: unbekannt.
 

Wohnsitz: unbekannt.
 

Nationalität: unbekannt – in Klammern 'russisch'. Wieso schreiben die das in Klammern? Ist das nur eine Mutmaßung?
 

Familienverhältnisse: unbekannt.
 

Beruflicher Lebenslauf: unbekannt. ...
 

Alter Schwede! Rasse: unbekannt. Die wissen nichtmal was für ein Wesen in ihm steckt. Er könnte demnach von griechischem Zentaur über südamerikanische Amphitere bis ägyptische Sphinx alles sein.“

„Oder ein Phönix.“, schlug Hedda vor. „Das könnte seine fehlenden Angaben zu Geburtsdatum und Geburtsort erklären. Die wechseln ja immer mal.“

„Oder, Gott bewahre, ein Basilisk. Wieder in Klammern: 'Genius-Intimus-Status nicht bestätigt oder widerlegt'. Sowas muss doch rauszukriegen sein, ob der jemals nen Schützling hatte. Der muss doch in irgendeinem Geburtenregister gemeldet gewesen sein. Immerhin eines ist bekannt, er hat einen offiziellen Getreuen, einen gewissen Urnue D´Agou.“

„Die wissen ja nicht sonderlich viel über ihn.“, stellte Hedda fest.

„Das kommt mir sehr zwielichtig vor. Wenn so gar nichts über ihn bekannt ist, hat sich offensichtlich jemand sehr viel Mühe gegeben, seine Vergangenheit zu vertuschen. Erstaunlich, daß so jemand Professor an einer Elite-Uni werden kann.“

„Vielleicht hat er´s im Vorstellungsgespräch plausibel erklärt. Oder er hatte gute Referenzen vorzuweisen.“

„Braucht der nicht. Sein Name ist Referenz genug. Wie gesagt, der Mann ist ne lebende Legende.“, gab Safall zurück.

Hedda schoss ein Geistesblitz durch den Kopf. „Warte mal. Wie hat der geheißen?“

„Wer? Victor Dragomir ...“

„Nein! Sein Getreuer!“

„Äh ... Urnue. ... Urnue D´Agou.“, las Safall ihr verwirrt nochmal vor.

„Den kenn ich! Der war im Tee-Haus! Als Soleil dem Schlägertypen die Jacke angefackelt hat! Die beiden Schläger haben nach einem 'Victor' verlangt. Safall, das sind sie gewesen! Akomowarov und sein Getreuer Urnue.“

„Okay!?“, machte er nur überfordert und gab als nächstes 'Urnue D´Agou' in den PC ein. Dazu war das Gerät auch nicht auskunftsbereiter. Null Treffer. Dieser Urnue D´Agou schien nicht auf einen Magister-Magicae-Grad studiert zu haben. Die wenigsten Genii Intimi hatten das. Sie waren ja meist nur einfache Bodyguards, die nicht viel mehr können mussten, als auf der körperlichen und der astralen Ebene Gefahren abzuwehren. Unter Umständen wurden sie noch für Sekretariats-Arbeiten herangezogen, wenn ihre Schützlinge in einer so hohen Position waren, daß sie einen Sekretär nötig hatten. Wenn sie eine Ausbildung absolvierten, dann gingen sie häufiger nur bei jemandem in die Lehre, der annähernd die gleichen Fähigkeiten hatte. Manche Magier, die ihren Genii Intimi kaum Freiraum und eigene Persönlichkeitsentfaltung zugestanden, unterbanden auch gleich mal komplett, daß diese irgendeine Art von Ausbildung über die Schulpflicht hinaus durchliefen. Denn die zeitliche Deckung beider Ausbildungen von Magier und Genius konnte da durchaus mal kompliziert werden, wenn beide sich gegenseitig nicht von der Seite weichen durften.

„Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov.“, las Hedda derweile von ihrem Smartphone vor. Sie hatte den Kollegen wohl schlichterdings mal gegoogelt. „Trotz seines hohen Ansehens und Bekanntheitsgrades ist wenig über ihn bekannt. Er wird mit der Motus in Verbindung gebracht, einer kriminellen Organisation. Akomowarov wird der Niedergang dieses Verbrecherkartells maßgeblich zugeschrieben. Er ist nachweislich ein Genius. Es gibt jedoch verschiedene Quellen dazu, ob er jemals ein Genius Intimus war und einen Schützling hatte oder nicht, und was gegebenenfalls aus diesem geworden ist. De facto hat er heute keinen Schützling mehr, arbeitet aber in Getreuschaft mit einem gewissen Urnue D´Agou, dem Genius Intimus von Ruppert Edelig, welcher seinerzeit zwar kein nennenswerter Magier, jedoch ein einflussreicher Bankenbesitzer gewesen ist. Auch Ruppert Edelig wird mit der Motus in Verbindung gebracht. Edelig wurde vor etwas mehr als 2 Jahren erschlagen. Zur gleichen Zeit ging sein Genius Intimus die Getreuschaft mit Akomowarov ein. Man sagt, daß D´Agou durch einen Bannkreis handlungsunfähig gemacht wurde, wodurch er den Mord an seinem Schützling Ruppert Edelig nicht verhindern konnte, und Akomowarov ihn später gefunden und aus besagtem Bannkreis wieder befreit habe.“

Safall nickte verstehend. „Ruppert Edelig ist mir ein Begriff. Unangenehmer, reicher Sack. Und auch gerne mal sehr zwielichtig.“ Er gab den Namen in die Datenbank ein und wurde fündig. „Wouw. Man sagt, er hätte Akomowarov nach dem Niedergang der Motus lange versteckt gehalten und ihm Unterschlupf gewährt – wahrscheinlich nicht ganz freiwillig – und hat sich dadurch viele von Akomowarovs Feinden zu seinen eigenen gemacht. Ich weiß gerade nicht, was mich mehr ärgert; daß diese von öffentlichen Behörden erstellte Datenbank tatsächlich unbestätigte Gerüchte auflistet, oder daß man über diesen Akomowarov nichts genaues weiß. Was ist das für ein Typ, der nichtmal ne richtige Registrierung in der Meldekartei hat? Nichtmal ein Geburtsdatum! Hätten sie doch gleich ne Auskunftssperre draufsetzen können.“

„Also wenn ich das richtig verstanden habe, sind sowohl dieser Professor Akomowarov als auch dieser Urnue D´Agou herrenlose Schutzgeister, die beide ihre Schützlinge auf mehr oder weniger dubiose Weise verloren haben, und jetzt zusammenarbeiten.“

Safall schüttelte langsam den Kopf. „Man weiß nicht, ob Akomowarov jemals einen Schützling hatte oder nicht. Wahrscheinlich nicht. Und es kann uns auch egal sein. Mich interessiert eher, warum er so ein Geheimnis draus macht, welches seine wahre Natur ist. Er ist noch nie in was anderem als seiner menschlichen Tarngestalt gesehen worden. Gibt es Genii, die so verhasst sind, daß sie lieber keinem verraten, wer sie sind? Oder hat er so krasse Feinde, daß er seine natürlichen Schwächen lieber nicht preisgibt? Aber dann würde er doch nicht öffentlich an ner Uni unterrichten.“

„Sieh es mal von der anderen Seite. Vielleicht will er einfach nur gern ein Mensch sein und tut deshalb so, als wäre er einer.“

Safall verschränkte die Arme und grübelte vor sich hin.

„Wir sollten uns mal über diese Verbrecher-Organisation 'Motus' belesen. Vielleicht erfahren wir da noch die eine oder andere interessante Sache über ihn.“, schlug Hedda überzeugt vor.

„Bloß nicht. Wenn einer mitkriegt, daß wir solche Recherchen betreiben, ohne einen vernünftigen, akademischen Grund dafür zu haben, wird man blöde Fragen stellen. Also solange wir nicht vorhaben, eine Hausarbeit über ihn zu schreiben ... Vielleicht ist es auch gesünder, wenn wir gar nicht allzu viel über ihn wissen. Solange er uns hilft, sollte uns alles andere nicht interessieren.“

„Aber Safall! Wenn die in diesem Tee-Haus waren – wenn die beiden hier in Düsseldorf sind! – dann finden wir sie vielleicht! Dann müssen wir nicht bis zum Sommersemester warten, bis dieser Akomowarov wieder an der Uni ist. Vielleicht sollten wir uns häufiger mal in dem Tee-Haus da draußen blicken lassen.“

Safall verzog unwohl das Gesicht. Er hatte nicht vor, jemals wieder in die Nähe dieses Tee-Hauses zu kommen. Nicht nach dem, was er dort belauscht hatte. Dort liefen krumme Dinger, eindeutig. Und er konnte wahrscheinlich froh sein, wenn diese Typen jetzt nicht nach ihm suchten.
 

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* Zitate aus „Schutzbestie“ von Salix

Motus

„Scheiße! Du?“

„Macht euch nicht die Mühe, gastfreundlich zu sein. Ich bleibe nicht lange. Mich führt nur ein Anliegen her.“, brachte der langhaarige Junge mit dem Ledermantel es gleich auf den Punkt und krachte einen Sack voll Goldmünzen auf den Tisch. „Ihr wollt Ruppert Edelig ermorden.“

Der bärtige, verlottert aussehende, bullige Typ schaute überfordert zwischen ihm und dem Geld hin und her. „Du wirst uns nicht aufhalten.“, stellte er klar.

„Nein, ich WILL euch nicht aufhalten! Ermordert Ruppert! Weg mit ihm!“, stimmte der Junge mit einer wegwerfenden Handbewegung zu. „Ich hab kein Interesse an ihm. Aber sein Schutzgeist, den brauch ich noch!“

„Wie bitte?“

„Tut mir einen Gefallen und setzt ihn irgendwie außer Gefecht, ohne ihn umzubringen. Viel von meiner Arbeit wäre umsonst gewesen, wenn ihr den einfach kalt macht.“

„Was!?“, machte der verlotterte Kerl wenig geistreich, als könne er seinem Gegenüber nicht ganz folgen.

„Ich sorge dafür, daß er keine Lust verspüren wird, auf Rachefeldzug zu gehen. Ihr braucht euch um ihn keine Sorgen machen.“, versprach der Junge ernsthaft. „Ihr werdet nie wieder von ihm hören.“

Er winkte seinen Kollegen näher. „Mir gefällt die Sache nicht. Der Typ ist spooky. Was sollen wir machen?“, raunte er ihm leise ins Ohr, in der irrwitzigen Annahme, der Besucher würde ihn nicht hören.

„Wir sollten keine Fragen stellen und tun, was er sagt. Sonst haben wir wohl keine Gelegenheit mehr, das hier noch schnell auszugeben.“, raunte der andere mit einem Fingerzeig auf das Gold. „Und ich meine, was soll´s? Der Genius Intimus interessiert uns nicht. Vergessen wir eben im Eifer des Gefechts, ihn noch um die Ecke zu bringen. Wenn wir´s klug anstellen, wird er nichtmal als Zeuge zu gebrauchen sein, weil er nichts gesehen hat.“

Keuchend fuhr Safall aus dem Schlaf hoch und griff sich mit zitternden Fingern an die Schläfen. Er musste erst ein paar mal durchatmen, bis er sich daran machen konnte, das Gesehene zu rekapitulieren und zu verarbeiten. In solchen Momenten hasste er seine Gabe. Schöne Visionen waren ihm lieber.
 

„Hedda-Schatz, wieso meldest du dich nicht mehr? Ist es zuviel verlangt, deine arme, alte Mutter mal anzurufen?“ Ihre Mutter klang ein wenig vorwurfsvoll, so daß Hedda sich direkt wünschte, sie hätte das klingelnde Handy ignoriert. „Erzähl doch mal, wie laufen denn deine Vorlesungen?“

„Kann ich nicht sagen, ich geh nicht mehr hin.“

„Was soll das denn heißen? Hast du das Studium geschmissen?“

„Nein, das nicht. Aber Safall bestimmt inzwischen restlos über meinen Tagesablauf. Und er ist ein wenig ... naja ... magieorientierter als ich das geplant hatte.“, versuchte sie es plausibel zu machen. Für sie was das inzwischen Alltag. Aber wie sie das ihren Eltern erklären sollte, wusste sie nicht. „Hey, ich habe Zaubern gelernt! Ich kann mit anderen Leuten den Körper tauschen!“, erzählte sie dann in einem Anflug von Euphorie. Das klang immerhin besser als 'ich bin verflucht worden'.

„Hedda, lass solchen Unsinn!“

„Ma'am, ich kann´s doch auch nicht ändern.“, seufzte sie und ließ sich rückwärts in ihr Bett fallen. Sie war ja selber nicht übermäßig glücklich mit der Entwicklung der Dinge. Aber sie mochte Safall inzwischen ganz gern, wollte auch ihre neue Freundin Soleil nicht mehr missen, und die ganze Aktion mit dem Gegenfluch, der Sewill eigentlich das Leben hätte retten sollen, löste in ihr eine nicht zu leugnende Verbundenheit gegenüber diesem neuen, magischen Leben aus. Sie war eine Getreue. Und sie war es inzwischen gern und voller Überzeugung. Sie hatte einem Fluch getrotzt und stand Leuten von Angesicht zu Angesicht gegenüber, die so mysteriös waren, daß sie nichtmal eine Registrierung in der Melde-Kartei hatten. Eine Kuppelfrau hatte ihr weisgesagt, daß sie sich dringend mit Mächten herumschlagen sollte, die nichts als Unheil stifteten. Das sie wohl eine der Schlüsselfiguren dafür war, um diesen Mächten Einhalt zu gebieten. Und das wollte Sie! Sie wollte helfen! Sie hätte sonstwas dafür gegeben, wenn sie für Sewill auch nur das Geringste hätte tun können. Ihr Ärger darüber, daß ihr Uhren-Mechanik-Studium dafür in die Binsen ging, verblasste da fast zur Nebensächlichkeit. Wer brauchte Uhren-Mechanik, wenn ihm die ganze fantastische Welt der Magie offen stand? Nur wie erklärte man das einer besorgten Mutter?

„Hedda, wenn du diesen Unfug mit deinem Kommilitonen nicht klärst und weiter deine Zeit damit vertrödelst, lieber mit ihm rumzumachen, statt ordentlich zu studieren, werde ich das nicht weiter finanzieren! Dann melden wir dich von der Zutoro ab! Wir zahlen jeden Monat eine exorbitante Studiengebühr, damit du die bestmögliche Ausbildung erhältst! Hast du eigentlich eine Ahnung, was uns dein Studienplatz kostet? Wir haben in unserem Haus keine Schmarotzerin großgezogen! Wenn du dieses Privileg nicht zu schätzen weißt, dann kannst du eben nicht weiter studieren!“, legte ihr Mutter erbost fest.

„Aber Ma'am!“ Weiter kam Hedda nicht mehr. Das monotone Tuten in der Leitung sagte ihr, daß ihr keiner mehr zuhörte. Sie rollte mit den Augen und legte auf. Super Start in den Tag. Jetzt konnten die ersten Vorlesungen kommen. Was hatte Safall ihr heute gleich nochmal auf den Stundenplan gesetzt? Sie starrte noch eine Weile nachdenklich auf das Foto ihres Lieblingsmusikers, das sie auf dem Handy als Hintergrundbild eingestellt hatte, bis der Bildschirm in den Energiesparmodus fiel und aus ging. Dann steckte sie das Handy deprimiert weg und stand auf.

Im Bad traf sie auf Safall, der sich gerade die langen, schwarzen Haare ausbürstete. An sich fand sie sein Gothic-Styling ja ziemlich cool. Aber sie war auch immer wieder angenehm überrascht, wenn sie ihn mal gänzlich ohne Schminke sah. Er war auch in natura ein ganz schickes Männlein.

„Morgen.“, grüßte Safall und machte ein wenig Platz.

„Morgen ...“, gab sie unmotiviert zurück und griff nach ihrer Zahnbürste.

„Alles gut bei dir?“, wollte er verwundert wissen.

„Ich hab gerade mit meiner Mutter telefoniert. Sie will mich von der Zutoro abmelden und meine Studiengebühren nicht mehr bezahlen.“

Safall überlegte sichtlich, was das sollte. „Wieso?“, fragte er nach, als ihm kein passabler Grund dafür einfallen mochte.

„Weil ich mein Studium gerade mit Vollgas gegen die Wand setze?“, schlug Hedda vor. Sie verzichtete darauf, ihm Vorhaltungen zu machen, daß das seine Schuld sei. Über diese Phase waren sie beide längst hinweg.

Safall neigte den Kopf etwas und striegelte ungerührt seine Haare weiter. „Ich zahle deine Studiengebühren, daran soll´s nicht scheitern. Aber weggehen wirst du hier nicht, solange ich noch studiere.“

„Was bringt das, wenn ich nicht studiere? Ich werde es hier zu keinerlei Abschluss bringen. Weder irgendwas magisches, noch in Mechanik, wenn es so weiter geht wie jetzt. Spar dir das Geld.“, meinte sie, vollauf damit beschäftigt, Zahnpasta auf ihre Zahnbürste zu drücken. „Wie läuft das eigentlich bei Sewill? Sie studiert doch auch nicht. Zahlt sie Studiengebühren?“

„Ja. Sie hat hier Unterkunft und Vollverpflegung. Dafür muss man natürlich bezahlen, auch wenn man kein Interesse an den Vorlesungen zeigt.“

Hedda nickte nur. Das gefiel ihr gar nicht. Gegen den Willen ihrer Eltern hier zu bleiben und dafür sinnlos einem Selkie auf der Tasche zu liegen, war sicher nicht das, was sie sich von der Zutoro erhofft hatte. „Wie geht´s Sewill heute?“

„Schlecht. Sehr schlecht. Wenn uns mit diesem Fluch nicht bald irgendwas einfällt, wird sie Probleme kriegen. Lange hält sie nicht mehr durch.“, gab Safall besorgt aber ehrlich zurück und legte die Bürste weg, als sei ihm akut die Lust darauf vergangen.

Hedda nickte mitfühlend. „Und du? Du siehst heute auch irgendwie mitgenommen aus. Schlecht geschlafen?“

„Ich hatte ne echt grauenvolle Vision von drei Typen, die mir hier begegnet sind, und weiß noch nicht, was ich damit anfangen soll. Es ging um den Mord an diesem Ruppert Edelig, den wir neulich in der Bibliothek recherchiert haben, erinnerst du dich? Diese Typen sind hier in Düsseldorf. Offenbar sind sie nie gefasst worden.“

„Dann gib doch der Polizei mal nen Hinweis. Nur zur Sicherheit. Hast du den Mord als solchen gesehen?“, wollte Hedda wissen. Das wäre in der Tat ganz schön heftig gewesen. Um so eine Gabe beneidete sie Safall wahrlich nicht.

„Nein, es wurde nur darüber gesprochen. In meiner Vision sahen sie alle eine Idee jünger aus als dieser Tage im Tee-Haus. Einer von denen hat noch Bart getragen, aber es war definitiv einer von denen. Sicher ist das schon ne ganze Weile her, was ich da in meiner Vision gesehen habe.“

„Klar. Der Mord an Ruppert Edelig ist ja auch schon über 2 Jahre her.“

Safall schüttelte plötzlich entschlossen den Kopf. „Ich werde nicht zur Polizei gehen. Die Sache ist schon längst aufgeflogen. Als ich diese drei Männer hier in Düsseldorf gesehen habe, haben sie gerade darüber debattiert, daß irgendwer geplaudert hätte, und haben versucht, ihre Absprachen von damals rückgängig zu machen. Die Polizei hängt denen eh schon im Nacken.“ Obwohl er sich selber davon zu überzeugen versuchte, daß er damit fein raus war, bekam er ein flaues Gefühl im Magen. Diese Kerle hatten ihn am Tee-Haus gesehen. Die kannten jetzt sein Gesicht. Die mussten ja unweigerlich zu dem Schluss kommen, daß er derjenige war, der sie an die Polizei verpfiffen hatte. Spätestens wenn sie spitz kriegten, daß er Hellseher war.

„Wenn wir diesen Professor Akomowarov treffen, können wir ihn ja mal fragen, was wir machen sollen. Akomowarov hat doch damals den Genius Intimus von diesem Edelig gefunden und befreit und arbeitet inzwischen mit ihm zusammen. Der wird uns schon sagen können, wie der Stand der Ermittlungen ist.“

„Ja, das wäre eine Idee.“, stimmte Safall zögerlich zu und bemühte sich, seinen rebellierenden Magen wieder zu besänftigen.

Zufrieden stopfte sich Hedda endlich die Zahnbürste in den Mund und begann zu putzen.
 

Mit einem unschlüssigen Laut gab Hedda Soleil die Kopfhörer wieder. „Klingt ein wenig energetischer als die amerikanische Rockmusik. Nicht so träge und bass-lastig.“, urteilte sie. Sie standen gerade in einem Musikhandel und Soleil hatte ihr eine CD ihrer japanischen Lieblingsband zum testhören gegeben. Sie selber war hellauf begeistert davon, hier in Düsseldorf an ihre japanischen Bands heranzukommen. Japanisches Viertel sei Dank. Hier gab es ziemlich viele japanische Sachen, an die man in Deutschland sonst nicht so ohne weiteres herankam.

„Ich liebe sie!“, quietschte Soleil und nahm die CD, in die sie Hedda gerade hatte reinhören lassen, mit zur Kasse. Zusammen mit 6 oder 7 weiteren.

„Wo nimmst du bloß die ganze Kohle her?“, wollte Hedda wissen.

„Ich setze Prioritäten. Ich brauch nicht jede Woche neue Klamotten.“

„Mh. Das ist ein Argument. ... Na komm, lass uns bezahlen. Safall will, daß ich zeitig wieder da bin.“

„Wollt ihr wieder den ganzen Abend in der Bibliothek sitzen und recherchieren? Habt ihr nicht langsam alle Bücher durch? Ihr müsst doch auch mal raus.“

„Die Recherchen, die ich gern betreiben würde, untersagt er mir.“, maulte das blonde Mädchen und schaute zu, wie die Genia ihren Turm neuer CD´s bezahlte. „Dir sagt nicht zufällig der Begriff 'Motus' was, oder?“

Soleil schaute sie erschrocken an. „Was hast du mit denen zu schaffen, Hedda?“

„Gar nichts. Der Name fiel im Zusammenhang mit einem unserer Dozenten.“

Soleil raffte ihre Einkäufe zusammen und zog ihre Freundin eilig aus dem Musikhandel hinaus. Als wolle sie nicht, daß der Verkäufer das hörte. „Akomowarov.“, raunte sie in gedämpfter Tonlage.

„Ich sehe, du bist im Bilde.“

„Die Motus war ein riesiges Verbrecher-Kartell. Das waren mächtige Magier, die nichts auf Genii gehalten haben. Die hatten sich die Ausrottung einiger Wesen auf die Fahnen geschrieben, die ihrer Meinung nach eine zu große Gefahr für die Menschen darstellten. Sie haben Genii gejagt, gefangen und getötet, oder sie auf ihren riesigen Sklavenmärkten als Sklaven verkauft. Es gab einige Genii, die sich für 'besser' gehalten haben, und die das gut fanden und die Motus nach Kräften unterstützt haben. Sie haben dafür gesorgt, daß die Motus die 'schlechteren' Genii ausradiert. Die haben ganze Klans ausgelöscht, Hedda. Die Zeit der Motus war eine regelrechte Inquisition. Akomowarov ist wohl offiziell einer von denen gewesen und hat sich so weit hochgearbeitet, daß er den ganzen Haufen von der Führungsspitze abwärts auffliegen lassen konnte. Akomowarov war der, der diesen Mördern und Sklavenhändlern ein Ende bereitet hat.“

„Du kennst dich aber gut aus.“, kam Hedda nicht umhin zu bemerken.

„Verstehst du nicht den Ernst der Lage? Wenn du irgendwas von 'Motus' hörst, dann sieh zu, daß du Land gewinnst! Stell bloß keine Nachforschungen über die an! Mach einen Bogen um die! Die sind gefährlich!“

„Sagtest du nicht selber gerade, die Motus gäbe es nicht mehr?“

„Die Motus nicht. Aber ihre Anhänger sind immer noch da draußen. Die haben sich in alle Himmelsrichtungen zersprengt und haben sich jeder ihre eigenen, kleinen Gaunerbanden aufgebaut. Es gibt immer noch eine Unterwelt, wo Leute wie die agieren.“

Augenrollend ging Hedda weiter. Soleil übertrieb sicher ein wenig. „Wie ist das mit den Klans, Soleil? Gibt es da immer noch bessere und schlechtere?“

Die Yôkai verzog das Gesicht. „Sagen wir, es gibt immer noch Klans, die sich zumindest für was besseres halten, sowohl innerhalb ihrer eigenen Art, als auch gegenüber anderen Arten von Genii. Wasserwesen, wie Safall, und Feuerwesen, wie ich, können sich zum Beispiel schon von Natur aus gegenseitig nicht leiden. Deshalb lässt Safall dich immer alleine mit mir durch die Gegend ziehen und kommt nie mit. Und deshalb hab ich dich auch noch nie auf deiner Bude besucht.“

„Du magst Safall nicht?“, lachte Hedda. Sie sah das nicht so eng.

„Das ist nichts persönliches. Das liegt nicht an ihm selber. Aber Wasser ist dem Feuer nunmal überlegen, deshalb halten wir instinktiv Abstand von Wasserwesen. Nur im Gegensatz zur Motus machen wir da keinen Krieg draus.“

„Verstehe.“, schmunzelte Hedda unbesorgt.

„Aber die Selkies sind zum Beispiel Kreaturen, die sehr ausgeprägte Sippen- und Klansbande haben. Wenn du was über das Leben und Denken in Klansstrukturen wissen willst, ist Safall gleich der richtige Ansprechpartner.“, erzählte Soleil weiter. Ihr Weg führte die beiden Studentinnen am Tee-Haus vorbei und sie überlegte, ob sie Hedda noch auf einen Tee überreden könnte. Als sie allerdings sah, daß der alte, schmierige Hausmeister der Universität gerade in eben diesem Tee-Haus verschwand, entschied sie sich dagegen. Am Rande nahm sie noch wahr, daß daraufhin alle Fensterläden des Tee-Hauses geschlossen wurden.

„Safall hat mal was von 'Klanlosen' gesagt. Was sind das denn für welche?“, lenkte Hedda sie wieder von ihren Beobachtungen ab.

„Oh, die sind schlecht dran. Die gehören keinem der anerkannten Klans an und werden auch entsprechend unwürdig eingestuft.“

„Es gibt 'anerkannte' Klans? Klingt sehr diskriminierend.“

„Hm, du kannst es dir vorstellen wie bei deinem Kater. Es gibt anerkannte Katzenrassen und es gibt halt so Hauskatzen wie deinen Kater, der beim besten Willen nicht als Rassekatze durchgehen würde, weil er keine Papiere und keinen Stammbaum nachweisen kann. Eine Katze ist deswegen zweifellos trotzdem eine Katze, und das schon seit Generationen. Aber er wäre nach unserem Verständnis ein Klanloser. Ein Genius, ja, auf jeden Fall, aber definitiv ein Klanloser, weil ohne irgendeine Abstammung, auf die jemand was geben würde.“

„Super ...“

„Die Klanlosen sind noch ne Etage weiter unten. Noch schlechter angesehen als die rangniedrigeren Klans.“

„Unterscheiden sich die Klans auch so voneinander wie Katzenrassen? Hat jeder Klan irgendwelche klanseigenen Merkmale, die es nur in diesem und keinem anderen Klan auf der Welt gibt?“

Soleil schien selbst kurz überlegen zu müssen. „Nicht so direkt, nein. Was die Klans im Wesentlichen unterscheidet, ist ihre Geschichte. Der Status, den die Klans heute haben, hängt davon ab, wie sie sich über die Jahrhunderte so geschlagen haben. Es gab Klans, die es zu viel Ruhm und Macht gebracht haben, oder zu Reichtum, und die deshalb heute einflussreich und gut angesehen sind. Und es gab Klans, die sich mit Intrigen, Korruption und missglückten Affären ihren Ruf ruiniert haben und deshalb heute belächelt werden. Das ist eine rein historisch gewachsene Hierarchie. Manche alte Klans sind inzwischen völlig verschwunden, neue Klans sind dafür auf die Bildfläche getreten, das ist ein beständig im Wandel befindlicher Prozess. ... Ja, und manche Klans sind halt von der Motus ausgelöscht worden.“, schloss sie den Kreis wieder. „Wie geht es Safalls Schwester denn inzwischen?“, wechselte sie das Thema. „Hat euer Gegenfluch wenigstens irgendwas positives gebracht?“

Da Hedda zu jeder Tages- und Nachtzeit und bei allen Aktivitäten nur noch mit Handschuhen herumlief, hatte sie schwerlich verheimlichen können, daß etwas vorgefallen war. Daher wusste Soleil über alles Bescheid. Aber leider hatte auch sie keine Lösungsvorschläge. Hedda schüttelte den Kopf. „Ihr geht´s immer schlechter. Aber bis zum Sommersemester ist es nicht mehr lang. Wir hoffen, dieser Professor Akomowarov kann uns dann endlich helfen.“

„Was treibst du eigentlich in den Semesterferien?“, hakte Soleil euphorisch nach, als hätte sie schon Pläne mit Hedda.

„Weiß nicht. Safall ist sich nicht sicher, ob er nach Hause fahren soll oder nicht. Er würde gerne, wenigstens für eine Woche, aber Sewill ist definitiv nicht mehr reisefähig und er will sie nicht alleine hier lassen. Und mich lässt er auch nicht weg. Ich bin ja seine Nebengetreue und habe gefälligst an seiner Seite zu bleiben.“ Hedda ließ unmotiviert die Schultern hängen. „Ich weiß noch gar nicht, wie ich das meinen Eltern beibringen soll. Die erwarten, daß ich nach Hause komme. ... Andererseits wüsste ich auch nicht, wie ich denen erklären soll, wieso mein Kater jetzt plötzlich ein anderes Fellmuster hat und warum sie ihn nicht mehr streicheln dürfen. Wenn der plötzlich den Körper mit ihnen tauscht, flippen sie aus.“

Soleil lachte leise, als sie sich das bildlich vorstellte. „Aber ansonsten geht es deinem Kater gut, oder? Hat der Fluch bei ihm noch andere Nebenwirkungen gehabt?“

„Hm, ich hab mehr und mehr den Eindruck, daß er tatsächlich ein 'Nüff' ist, wie Safall es nennt. Er macht immer mehr kuriose Sachen, die ich nicht erklären kann.“

„Naja, das soll ja für Katzen nicht ungewöhnlich sein, daß sie komische Sachen machen.“

Intuition

„Eine Leiche ist tot, dies ist eine unbestreitbare Tatsache.“, las Safall vor. „Sie wird nicht aus dem Nichts wieder lebendig. Damit etwas Totes wieder lebendig wird, muss man von irgendwo anders Leben herholen. Ein anderes Wesen mit vergleichbarer Lebensenergie muss sein Leben lassen, damit eine Leiche wieder leben kann. Dies ist aus magischer Sicht eine klassische Form des Tausches.“

Salome legte nachdenklich den Kopf schief und nahm ihm das Buch dann weg, um sich den Deckel und den Inhalt anzusehen. „Schon möglich.“, fand er. „Das lernt man wohl im Necromantie-Kurs, schätze ich. Zombie-Kunde habe ich nicht belegt. Der Kurs ist zwar irre interessant, aber schweineteuer.“

„Ja. Manchmal ist es schon unpraktisch, daß man jeden Kurs einzeln bezahlen muss. Da muss man sich dreimal überlegen, was man wirklich braucht und was nicht.“

Salome gab ihm das Buch unglücklich zurück. „Das hilft uns nicht weiter.“

„Meinst du nicht? Wohlmöglich hat zwar keiner versucht, Sewill direkt zu töten, um eine Leichenpuppe wieder lebendig werden zu lassen. Aber vielleicht hat er ja sowas ähnliches als vorbeugende Maßnahme versucht. Also Sewills Lebenskraft zu klauen, um seinen eigenen Tod, oder den von irgendjemand anderem, zu verhindern oder hinauszuschieben. Das muss ja kein Fluch gewesen sein, wie wir erst gedacht haben, sondern vielleicht eine Art hiervon.“ Safall hielt das Buch mit dem Titel 'Grundverständnis der Necromantie' nochmal vielsagend hoch, bevor er wieder darin zu blättern begann.

„Wäre aber ne sehr untypische Form der Necromantie. Necromanten interessieren sich für nichts, das noch lebt. Die versuchen im Normalfall, schon tote Körper wieder lebendig zu machen. Und weil sie die Seele des Toten aus dem Jenseits nicht zurückholen können, bleibt der Körper eine zwar lebende, aber leere Hülle. Ein Zombie. Und das war´s dann auch schon. Zu mehr ist die Necromantie weder gedacht, noch in der Lage. Das, was du hier als Theorie in den Raum stellst, wäre mir neu.“

Safall zog eine enttäuschte Schnute und blätterte trotzdem noch ein wenig in dem Buch herum, fand aber tatsächlich nichts mehr, was seiner Idee auch nur nahe käme. Allerdings war es ja auch nur ein Grundlagenbuch, redete er sich trotzig ein. „Eigentlich ist es erstaunlich, daß Necromantie kein eigener Studiengang ist, sondern bloß als ausbildungs-begleitender Kurs angeboten wird.“, stellte er fest. Das hier sah ihm nach richtig komplexer Materie aus, wenn er die Texte so überflog.

„Eigentlich ist es erstaunlich, daß man Necromantie überhaupt studieren darf!“, hielt Salome vehement dagegen. „In den meisten Ländern der Welt ist Necromantie verboten! Und das, was man hier bei uns im Kurs lernt, ist auch nichts als Theorie. Ich glaube, das krasseste, was die hier versuchen, ist, tote Fliegen wieder zum Leben zu erwecken. Und selbst dafür müssen sie seitenweise Erklärungen und eidesstattliche Versicherungen unterschreiben, daß sie dieses Wissen unter keinen Umständen jemals an größeren Lebewesen anwenden und sich stets an die Gesetze ihrer jeweiligen Länder halten werden, in denen sie dann mal tätig sind. Necromantie wird nur noch um der Traditionen Willen unterrichtet, damit das Wissen nicht verloren geht. Zur aktiven Anwendung ist es heute definitiv nicht mehr gedacht.“

„Es ist zum Verzweifeln.“, stöhnte Safall und schob das Buch von sich. Warum bekam er einfach nicht raus, was mit seiner Schwester nicht stimmte? Was für eine exotische oder abwegige Art von Magie war das, der man nicht auf die Schliche kam? Ob er sich mal im Bereich afrikanischer Magie umschauen sollte? Bei Voodoo-Kulten und sowas in der Art? Leider würde er da hier kaum fündig werden. In diese Richtung konnte man auf der Zutoro nicht studieren, daher hielt die Bibliothek auch keine entsprechende Literatur vor. Und im Internet kursierte dazu nur Grütze.

„Na komm, lass uns aufhören. Die Band ruft. Wir werden die ganzen Semesterferien nicht zum Proben kommen, weil keiner von uns da ist. Also will ich den letzten Tag heute nochmal vernünftig nutzen.“
 

Safall stand an seinen Boxen, betriebsbereit, und wartete auf den Rest seiner Band. Sie waren eine vierköpfige Truppe, nur eine einzige Gitarre. Entsprechend viel hatte er zu leisten. Gab es in einer Band zwei Gitarren, übernahm eine den Rhythmus und eine den Lead und die Solos. Das war ... naja, auch nicht unbedingt einfacher, weil es dann noch ein Bandmitglied mehr gab, das in den gemeinsamen Takt mit hineinfinden und synchron gehen musste. Aber es wäre für jeden der beiden Gitarristen nur halb soviel Arbeit gewesen. So musste Safall beide Felder irgendwie alleine abdecken, beziehungsweise den Rhythmus-Part teilweise an den Bassisten abkommandieren.

Salome, der mit seinem Mikrophon nicht viel an Sound-Check zu tun hatte, vertrieb sich die Zeit damit, sich einzusingen. Für einen Menschen sang er wirklich gut. Sein Genius Intimus, ein etwas muffeliger Kizune-Junge, saß während der Proben immer am Rand und wartete einfach, daß es möglichst bald ein Ende hatte. Aber Salome sah nicht ein, sich sein Hobby vermiesen zu lassen. Also musste der Fuchsgeist wohl oder übel damit leben, auch wenn er die Musik nicht mochte. Im Gegenzug saß Salome auch zweimal die Woche im Sportclub und schaute ihm beim Fußballtraining zu.

Ihr Drummer war, wie Safall, ein ungebundener Schutzgeist ohne Schützling, und als Greif eher von der harmlosen Sorte, auch wenn er im Bedarfsfall immer eine unpassende Bemerkung auf Lager hatte. Aber er liebte es, große Show zu machen. Er ließ hinter dem Schlagzeug gern mal seine mächtigen Schwingen erscheinen, um zu posen. Und er sah nicht ein, daß der Studentenkeller dafür eigentlich nicht genug Platz bot. Genauso wenig wie er einsah, daß auch Drums ab und an mal gestimmt werden sollten.

Die Bassistin, das einzige Mädchen in dieser gemischten Band, war eine Genia Intima und auch ihr Schützling saß, gemeinsam mit Salomes Fuchsgeist, standardmäßig im Probenraum herum und mimte das Publikum. Im Gegensatz zu Salomes Fuchsgeist war er allerdings ein riesiger Fan dieser Art von Musik und jubelte und feierte immer fleißig mit. Manchmal war es schon ein wenig lästig, nie ungestört proben zu können, aber das ließ sich halt nicht vermeiden, wenn man mit gebundenen Schutzgeistern zu tun hatte. Das Mädchen jedenfalls war jetzt nicht direkt talentfrei, aber etwas mehr Übung hätte ihr sicher nicht geschadet. Sie war eher der Theoretiker. Sie wusste eine Menge, konnte auf ihrem Bass aber bei weitem nicht alles selber umsetzen. Im Moment diskutierte sie mit dem Schlagzeuger über irgendwelche 'Synkopen' in einem 'geshuffelten Rhythmus' und brachte ihn damit mal wieder zur Verzweiflung. Er wollte so spielen, wie es ihm gerade in den Kram passte. Aber sie nörgelte ihm vor, daß sie als Bassistin auf sein Timing angewiesen sei und sich dann mit dem Bass nicht mehr vernünftig anpassen könne, und hielt ihm aufsässig und sauer das Notenblatt vor die Nase, um ihm Schwarz auf Weiß zu beweisen, daß er es anders spielen musste. Salome hielt sich wie immer fein raus. Also blieb es irgendwann wieder an Safall hängen, den Streit zu unterbinden und die beiden endlich zum Spielen anzuhalten.
 

Als sie bereits 2 Stunden geprobt hatten, schlug Safall plötzlich etwas auf den Magen. Ihm wurde ohne Grund und Ankündigung schlagartig schlecht und er fühlte sich schwummrig. Nach Luft ringend setzte er sich erstmal auf seinen Gitarrenverstärker, weil ihm alle anderen Sitzgelegenheiten so unendlich weit weg vorkamen. Die Bassistin brach erschrocken ihr Spiel ab. Salome und der Drummer brauchten einen Moment länger, bis sie merkten, daß im Klangbild Instrumente fehlten, und sich umsahen.

„Was´n los?“, wollte Salome besorgt wissen.

Er überlegte fieberhaft, was das war. „Irgendwas ist mit Sewill.“, entschied er dann und zerrte mit einer Hand sein Handy aus der Hosentasche, mit der anderen stellte er die Gitarre zur Seite. „Entschuldigt mich mal kurz.“ Bei seiner Schwester rief er erfolglos an. Also versuchte er es als nächstes bei Hedda.

„Hi, was gibt´s?“, meldete sich seine Nebengetreue arglos. Sie schien bester Laune, gar nicht als wäre irgendwas vorgefallen.

„Hedda, ist mit Sewill alles okay?“

„Weiß nicht!? Ich denke schon. Ich bin gerade in meinem Zimmer und sie in ihrem.“

„Gehst du bitte mal nachsehen?“

„Kann ich machen.“, stimmte sie zu. Safall hörte über das Telefon leise eine Decke rascheln. Sie hatte wohl gerade auf dem Bett gelegen. Schritte. Ein leises Klopfen. Keine Antwort. Ein 'Sewill? Alles gut bei dir?'. Hedda ging in das Zimmer, obwohl keine Antwort kam. Oder gerade WEIL keine Antwort kam. „Hm, sie schläft wohl.“, urteilte Hedda leise, um Safall am anderen Ende der Leitung auf dem Laufenden zu halten. „Sewill? ... Sewill! ... Sewill!!!!!! ... Ich krieg sie nicht wach! Safall, sie wacht nicht auf!“, berichtete sie weiter, jetzt hörbar verängstigter. Safall konnte beinahe hören, wie Hedda seine Schwester zu schütteln und wachzurütteln versuchte. Ihm rutschte schon wieder das Herz in den Magen. „Sie atmet! Aber sie wacht einfach nicht auf! Sie muss bewusstlos sein, oder sowas!“

„Fass sie nicht an, Hedda! Zieh bloß deine Handschuhe nicht aus!“, trug Safall ihr nervös auf, aus Angst, sie könnte versuchen, Sewills Pulsschlag zu kontrollieren. Nicht auszudenken, was passierte, wenn Hedda versehentlich mit einer ohnmächtigen Person den Körper tauschte. So weit hatten sie die Experimente mit ihrem 'verfluchten Fluch' dann auch wieder nicht ausgereizt, um die Folgen solcher Aktionen abschätzen zu können. „Bleib wo du bist! Ich bin sofort bei euch!“

„Das klingt gefährlich.“, warf Salome von der Seite ein, als Safall auflegte.

„Ich glaub, die Proben sind für heute zu Ende.“, gab Safall zurück. „Ich muss weg. Bitte nicht böse sein!“

„Brauchst du Hilfe?“

Safall schüttelte den Kopf. „Ich melde mich später nochmal bei dir.“, versprach er. Fahrig raffte er seine Sachen zusammen. „Schaltest du bitte meinen Verstärker noch aus, wenn er dann abgekühlt ist?“ Und schon war er wie der Wind auf und davon.

Salome schaute unschlüssig auf die Box. Er wusste, daß Röhrenverstärker erst ein wenig im Standby bleiben mussten, damit sie sich wieder erdeten. Sonst entlud sich beim Ausschalten der aufgespeicherte Strom schlagartig und machte den Verstärker mitunter kaputt. Aber Salome hatte sich noch nie um die Boxen der anderen gekümmert. Er musste erstmal schauen, wie die überhaupt aufgebaut waren und funktionierten.
 

Als Safall nur Minuten später fuchtig in seine Studentenbude hereinplatze, fühlte er sich bereits besser. Seiner Schwester musste es also schon wieder besser gehen, das wusste er praktisch bevor er dort ankam.

Hedda schaute auf und lächelte Safall beruhigend an. „Hey. Sie ist inzwischen wieder zu sich gekommen. Alles gut.“, begrüßte sie ihn. Sie stand von der Bettkante auf, um ihm Platz zu machen.

„Gott sei Dank.“, seufzte er nur und nahm im Hinsetzen Sewills Hand.

Das weiße Mädchen lächelte dünn, förmlich entschuldigend. „Ich wollte euch keine Sorgen bereiten. ... So schlimm ist es wirklich noch nie gewesen, daß ich weggekippt wäre. Meine Kräfte schwinden zusehens.“

„Uns wird was einfallen. Wir finden schon noch einen Weg, diesen Fluch von dir zu lösen. Oder was auch immer das sein mag.“, versprach Safall ihr.

Sie nickte zuversichtlich. Sie wusste, daß ihr Bruder alles in seiner Macht stehende unternahm. Untätigkeit konnte sie ihm wirklich nicht vorwerfen. „Hedda, ich werde ab jetzt nicht mehr den Körper mit dir tauschen. Es hat mir zwar Spaß gemacht, in deinem Körper wieder etwas aktiver sein zu können, aber so gern ich auch draußen in der Stadt rumlaufen würde, es wird inzwischen einfach zu gefährlich. Ich will dich nicht dem Risiko aussetzen, daß du an meiner Stelle ins Koma fällst oder schlimmeres. Wer weiß, ob du dann noch zurück kannst.“

„Woher hattest du eigentlich die Ahnung, daß mit Sewill irgendwas nicht stimmt? Hattest du während der Bandproben eine Vision?“, wollte Hedda von Safall wissen. Sie fand das beachtlich. Sie selbst war nur nebenan gewesen und hatte nichts mitbekommen.

„Ich hatte keine Vision. Das war Instinkt. Eine so intensive Verbindung finde ich selber ziemlich creepy. Ich hatte ja schon immer eine gewisse, intuitive Verbandelung mit meiner Zwillingsschwester, aber so heftig war es dann doch noch nie gewesen. Okay, so schlecht war es ihr auch vorher noch nie gegangen.“

„Aber komisch, daß eure Talente so unterschiedlich gelagert sind, wenn ihr doch mental schon halb miteinander verschmolzen seid. Du bekommst deine Visionen vorrangig im Schlaf und siehst eher die Vergangenheit. Sewill bekommt ihre Visionen mehr im Wachzustand und sieht eher die Zukunft.“

Safall lächelte. Jetzt konnte er ja wieder lächeln. Der Schreckmoment war vorüber, seine Schwester war wieder okay. „Wir zwei sind Gegensätze. Alles an uns ist so ziemlich das Gegenstück zum jeweils anderen. Das ist schon immer so gewesen. Wir ergänzen uns wie Ying und Yang, beim Aussehen angefangen. Keine Ahnung, woher das kommt. Unser Vater nannte es 'Schicksal' und meinte, für irgendwas würde es schon gut sein.“

„Bei uns Selkies kommt es schon gelegentlich mal vor, daß Geschwister im Geiste miteinander verbunden sind und immer wissen, wie es dem anderen gerade geht. Aber diese Gegensätzlichkeit ist wohl nicht gerade typisch.“, ergänzte Sewill.

„Im Gegensatz zu Sewill neige ich auch zu offenen Visionen.“, warf Safall noch in die Runde und freute sich über Heddas dummes Gesicht. Wieder etwas, das sie nicht wusste. Manchmal machte es ihm regelrecht Spaß, sie damit aufzuziehen. „Es gibt offene Visionen, wo du richtig siehst, was passiert ist oder passieren wird, wo du die Gesichter der Beteiligten erkennst und ihre Dialoge wortgetreu hörst. Und dann gibt es verschlüsselte Visionen, die mit Symbolen arbeiten, die es zu deuten gilt. Meine Zwischenprüfung in Traumdeutung am Ende des 1. Semesters war da ein echter Hammer. Mal sehen, ob ich das Ding noch irgendwo finde. Das fand ich so geil, das hab ich mir aufgehoben ...“ Safall stand auf, kam herüber und begann in seiner Schreibtischschublade herumzukramen und Papiere zu durchwühlen. Schließlich hielt er Hedda stolz das Gesuchte hin:
 

Ein Reiter in kupferner Rüstung jagt durch die Nacht gen Süden. Seine Macht ist groß. Er reitet einen gewaltigen, schwarzen Hengst. Die Mähne und der Schweif des Hengstes sind schlagendes, loderndes Feuer, die wie Kometenschweife hinter ihm herziehen. Das Pferd hat zwei gewaltige Widderhörner, und auf seiner Stirn prangt ein Schutzschild mit scharfkantiger Klinge zum Angriff. Der Reiter trägt ein Banner vor sich her, das im Wind weht. Darauf ist eine Fackel die angesteckt wurde, und das Feuer wird zu einem heulenden Wolfskopf. Ein faustgroßer Elf mit langen roten Haaren und grünem Anzug begleitet den Kupferritter fliegend. Der Ritter trägt das Schwert des Friedens.

Zu dem Reiter gesellt sich ein weiterer. Dieser reitet ein stämmiges, weißes Pferd, muskelschwer und kraftvoll gebaut. Die Panzerung des Pferdes ist aus Eis, blitzblank poliert und voller scharfer Grate, und ein frostiger Schneesturm folgt ihm wo immer es geht. Seine Wege werden zu Reif. Auf seinem Helm trägt der Reiter das Wappen der Zeit. Und darüber das Zeichen „Ewigkeit”.

Die zwei Reiter hetzen durch eine Schlucht, und da ist Geheul in den Schatten. Die gierigen Bluthunde der Königin heulen die Hymne der Trauer. Bis sie die vergeisterte Stadt erreichen, wo all die mächtigen Königreiche dieser Welt begraben liegen, die Gegend um Mitternacht. Ihre Zeit ist knapp. Vierundzwanzig Stunden Dunkelheit, die diabolische Mitternachtsstunde, mehr bleibt Ihnen nicht.

Der kupferne Ritter auf seinem schwarzen Feuerhengst ruft die Schatten ins Leben zurück, die das Mondlicht verblendet hatte. Jene, die ohne Tränen weinen. Jene, die ohne Flügel fliegen. Jene, die ohne Berührung fühlen. Gebeine, in Schellen für die es keine Schlüssel mehr gibt, raffen sich auf und gehen umher.

„Ich bin der Eine, der erwählte Sohn unter euren Söhnen! Jede Kunst durchlebt schwere Zeiten. Doch die Schlacht ist die höchste Kunst, sie wird überdauern! Werdet ihr kämpfen, zehntausend, Seite an Seite, für unseren heiligen Krieg?”, ruft der kupferne Reiter. Seine Stimme donnert über die Stadt und wogt durch die Mengen. Immer mehr Geister erheben sich und rufen mit lauter Stimme „Ja, wir werden!” „Folgt unserem Kreuzzug! Die Heere marschieren wieder! Folgt dem Schlachtruf voller Stolz! Singt die Hymne des Sieges, sie wird uns führen!”, fährt der Reiter fort. Sein Wort wiegelt die Seelen der gefallenen Kämpfer auf. Sie sammeln sich. Aus den Ruinen vergangener Schlachten heraus drängen sie. Hundert Helden folgen ihm, ihr Schlachtruf erfüllt die Bergkuppen. Tausend willige Männer. Der kupferne Reiter, und jener auf dem frostigen Ross, führen sie hinaus. „Mein Schwert steht dir zur Seite!”, ist der Ruf jedes einzelnen.

Die Erde brennt. Und der Krieg der Giganten verwüstet ihr Antlitz in einer einzigen feurigen Nacht. Licht und Dunkel vergehen in den entfesselten Elementen. Mitten unter ihnen, der Ritter und sein rastloses Schwert. Das Schwert des Friedens. Es bringt die Ruhe. Friedhofsruhe. Er geht durch die Reihen der Krieger, er geht den hoffnungslosen Weg, und wo immer das Schwert ihn begleitet, beenden die Mächte ihr verbissenes Ringen und legen sich zur Ruhe. Was bleibt, ist der Staub und das eilende Licht.

Der Vollmond bricht durch die Wolken. Das schwarze Pferd verschwindet wie ein Geist, der mit dem Wind geht. Das weiße Pferd wird zu einem Skelett, und versinkt tosend in den sich auftuenden Gesteinen. Die Hölle hat es wieder.

In der Zeit der aufgehenden Sonne, wenn die Schatten noch lang und die Herzen noch sündenfrei sind, richtet sich plötzlich ein neuer Tag gewaltig vor ihm auf. Die Uhr tut den ersten Schritt. Die diabolische Mitternachtsstunde, die vierundzwanzig Stunden Dunkelheit, sind um. Die Armee und ihr Schlachtruf vergehen in der allesvernichtenden Sonne.

Die Reiter stehen an einem aufgewühlten See. Das Wasser peitscht, die Gischt schlägt gegen die Felsen, daß Funken sprühen. Alles was der kupferne Reiter sagt, ist: „Nun scheide ich.” Die Fluten türmen sich auf und steigen aus ihrem ozeanischen Becken heraus. Wie eine grausame, lebende Masse wirft sich die See auf die Reiter und verschlingt sie beide. Das Banner des Feuers und das Wappen der Zeit trägt der faustgroße Elf mit den langen braunen Haaren hinfort.
 

„Wie krass.“, urteilte Hedda, nachdem sie fertig gelesen hatte. Selbst wenn sie nur die Hälfte der symbolträchtigen Elemente überhaupt erkennen mochte, war sie erschlagen von der schieren Masse. „Das Ding ist ja furchtbar. Erstmal erfährt man das Ergebnis der Schlacht gar nicht. Man weiß ja nichtmal, wer gewonnen hat, selbst wenn man rausbekommen sollte, für wen die Heere stehen. Und dann widerspricht sich der Text auch an einigen Stellen selber. Hier ist mal von hundert, mal von tausend und mal von zehntausenden die Rede. Und erst von einem Elf mit roten und dann von einem Elf mit braunen Haaren.“

„Nein, das ist kein Widerspruch, das sind nur unterschiedlich gewichtete Augenmerke auf bestimmte Gruppierungen innerhalb des einen Heeres. Und die sich ändernde Haarfarbe hat auch eine Symbolik. ... Um so ein Ding deuten zu können, musst du als allererstes mal wissen, aus welchem Kulturkreis derjenige stammt, der diese Vision hatte. Der Klassiker unter den deutbaren Symbolen ist der Drache. In Asien bringt ein Drache Glück und Segen. In Mitteleuropa war der Drache ein bösartiger Zerstörer, der von heldenhaften Rittern getötet werden musste. In Asien hat der Drache eine völlig andere Symbolik als in Europa.“

„Oder das Wasser.“, mischte Sewill sich vom Bett aus lächelnd ein. „Wenn Asiaten dem Wasser lebensspendende und segensreiche Kräfte zuschreiben, dann meinen sie damit seichte, langsame, geruhsame Bäche, an deren Ufern alles in Ruhe und Frieden wachsen kann. Europäer denken da eher an gigantische, machtvolle Wasserfälle, weil die die 'Kraft der Natur' verdeutlichen. Für Asiaten haben Wasserfälle eher was zerstörerisches, was sich in keinster Weise mehr bändigen lässt.“

„Zahlen sind auch so ne super Sache. In Japan ist die Zahl 4 downright evil, vergleichbar bei uns mit der 13. Wir Europäer verbinden mit der 4 dagegen nicht sonderlich viel. Höchstens vielleicht eine gewisse Ganzheitlichkeit, wie 4 Jahreszeiten, die ein Jahr voll machen, oder 4 Farben, die ein Kartenspiel bilden, oder die 4 Elemente, Feuer, Wasser, Erde und Luft, die einen Kreislauf und eine Einheit darstellen.“, erzählte Safall und nahm ihr den Prüfungstext wieder weg. Er verzichtete darauf, Hedda unter die Nase zu reiben, daß er diese Prüfung damals mit 1,1 als zweitbester bestanden hatte. Und er hoffte, daß Hedda ihn jetzt nicht nach der Bedeutung dieser Vision fragte. Sie hatte dermaßen wenig Ahnung von der Materie, daß er ihr abendfüllende Vorträge hätte halten müssen, damit sie auch nur die wesentlichsten Grundzüge davon verstand.

„Wenn das schon eine Prüfung im 1. Studienjahr ist, wie sehen dann erst die Prüfungen im 2. und 3. Jahr aus?“, wollte Hedda beeindruckt wissen.

„Zum Abschluss des 2. Jahres wird erwartet, daß man solche Visionen gezielt selber heraufbeschwören und in einer Weise sichten kann, daß man hinterher in der Lage ist, sie vollständig, lückenlos und korrekt wiederzugeben. Das Kriterium 'Vollständigkeit' ist das schwierigste. Bei erzwungenen Visionen, die man förmlich auf Befehl heraufbeschwören muss, verpasst man oft den Anfang oder verliert mittendrin die Verbindung und fällt in die Realität zurück, bevor man das Ende gesehen hat.“

„Und wie wollen die das nachprüfen? Du könntest dir doch was zusammenfantasieren. Die wissen doch nicht, was du gesehen hast oder hättest sehen sollen.“

„Oh, glaub mir, das können die!“, schmunzelte Safall überzeugt.

Hedda lachte plötzlich über einen Gedanken, der ihr kam. „Kann man als Hellseher eigentlich die Prüfungsaufgaben vorhersehen? Das fänd ich ja mal richtig geil, wenn man schon vorher wüsste, was drankommt.“

„Keine Sorge, die Prüfungsaufgaben sind so ausgelegt, daß einem alles Vorhersehen nichts nützt.“

Each Uisge

Safall trat vor die antike, massive Holztür mit den Eisenbeschlägen. Durch diese Tür hindurch hörte er bereits seltsame Geräusche, die er beim besten Willen nicht deuten konnte. Sie klangen knisternd und nach nichts, was er einordnen konnte. Langsam griff er nach dem wuchtigen Eisenring, schob den Riegel zurück und zog die schwere Tür mit Kraft auf. Sie ließ sich nur langsam und mühselig bewegen. Aus dem sich öffnenden Türspalt drang blendend helles Licht heraus. Safall musste sich die Augen abdecken und sich schließlich ganz abwenden, weil es zu gleißend war. Und dann ...

... wachte er auf. Er sah sich in seinem abgedunkelten Studentenzimmer um. Es war zwar mitten am Tage, aber er wusste schon ohne Blick auf die Uhr, daß sein Mittagsschlaf nicht lange angehalten hatte, den er sich auch nur gönnen konnte, weil Semesterferien waren und er nicht in irgendwelchen Vorlesungen zu sitzen hatte. Er drehte sich auf den Rücken und murrte ein leises „Mist!“ in sich hinein.

Sewill saß am Schreibtisch. Heute ging es ihr mal wieder so gut, daß sie zumindest aufrecht sitzen konnte. Also nutzte sie diese Phase zum Lösen ihrer geliebten Kreuzworträtsel. Sie schaute fragend herum, als sie ihren Bruder hinter sich grummeln hörte.

„Ich hatte wieder die Vision von dieser Tür.“, erzählte er mürrisch.

„Du hast wieder nicht gesehen, was dahinter ist, hm?“

„Nein. Es ist jedes Mal so. Da ist ein Licht, so hell, daß ich mich abwenden muss, und dann wache ich auf. Ich sehe einfach nicht, was hinter dieser Tür ist.“

„Mach dir keine Gedanken darum.“, tröstete Sewill ihn. „Wenn die höheren Mächte wöllten, daß du es siehst, würdest du es sehen. Diese Vision ist wohl nicht für dich bestimmt.“

„Aber sie muss wichtig sein. Sonst hätte ich sie nicht seit Wochen immer wieder. Ich hatte bisher nur eine einzige Vision mehrfach. Diese Feuervision. Das war, bevor unser Elternhaus abgebrannt ist.“

Seine Schwester zuckte nur mit den Schultern und wandte sich wieder ihrem Kreuzworträtsel zu. Sie konnte seine Visionen ja auch nicht beeinflussen.

Der Goth verzichtete darauf, sich die Augen zu reiben, um sein Make-Up nicht zu verschmieren, und setzte sich gähnend auf. „Ich geh eine Runde raus.“, entschied er.

„Machst du mir die Vorhänge wieder auf?“, bat seine Schwester mit einem einverstandenen Nicken. Sie musste ja nicht mit Leselampe in einer Dunkelkammer hocken, wenn er nicht schlief.
 

„Ich hab keine Ahnung, wo er steckt. Er hält sich ziemlich gut verborgen. Ich wüsste nichtmal, wo wir anfangen sollten, zu suchen.“, meinte der eine verlotterte Typ zu dem anderen. Sie wanderten mal wieder ziellos durch das japanische Viertel von Düsseldorf, in der Hoffnung, einem ihrem Opfer zufällig über den Weg zu laufen. Zweimal hatte die Betreiberin des Tee-Hauses ihnen geholfen, einen Kontakt herzustellen. Beim ersten Treffen, das die Alte arrangiert hatte, war nur Urnue als Späer aufgetaucht. Ihr wahrer Feind hatte sich versteckt gehalten. Der Junge mit dem langen Ledermantel war vorsichtig, wie man merkte. Das zweite Treffen, das die alte Tee-Haus-Betreiberin tatsächlich dennoch zu wege gebracht hatte, war leider anders verlaufen als die beiden sich das vorgestellt hatten. Er behauptete, er hätte sie nicht an die Polizei verpfiffen. Natürlich behauptete er das. Kein Ganove mit einem Fünkchen Verstand hätte was anderes behauptet. Die Tatsache, daß er in dem Mord an Ruppert Edelig selber mit drinhing, machte ihn sogar halbwegs glaubwürdig. Wer würde schon zur Polizei gehen und das Risiko eingehen, gleich selber mit weggesperrt zu werden? Aber dennoch glaubten die beiden ihm nicht. Er war der einzige Mitwisser. Wer sollte sie verraten haben, wenn nicht er? Es wusste niemand anderes davon. Nun, ein drittes Treffen im Tee-Haus würde es jedenfalls nicht geben. Die Besitzerin des Tee-Hauses weigerte sich, nachdem sie mitbekommen hatte, was ihre zwielichtigen Gäste voneinander wollten, weitere Treffen zu vermitteln. Andere Kontaktmöglichkeiten zu Victor hatten die beiden nicht. Seither blieb ihnen nichts anderes übrig, als suchenden Auges durch die Straßen zu laufen, und auf den Zufall zu hoffen.

„Cord!?“ Der eine schlug dem anderen mit dem Handrücken gegen den Arm, um dessen Aufmerksamkeit zu bekommen.

Cord sah ihn fragend an und folgte dann seinem Blick zu einem Mann mittleren Alters, der mit einer Gitarre am Straßenrand stand und Straßenmusik machte. Der Kerl sah so unscheinbar aus wie er sang. Man wäre achtlos an ihm vorbeigelaufen, ohne ihn zu bemerken, wenn man nicht fast über seinen Gitarrenkoffer geflogen wäre, der mitten im Weg stand und auf einzuwerfende Münzen wartete. „Der da?“

„Ein Kelpie. Wahrscheinlich sogar ein Each Uisge.“, urteilte der andere, sein Genius Intimus, der auf den Code-Namen 'Third Eye' hörte. Diesen Namen hatte er aufgrund seiner Fähigkeit bekommen, hinter die Masken der meisten Wesen sehen zu können, die in Menschengestalt herumliefen. Er sah fast jedem Genius an, was er wirklich war, und zum Teil sogar welche Fähigkeiten er hatte. Das war eine beliebte, hochgeschätzte und sehr gefragte Fähigkeit gewesen, damals als es die Motus noch gegeben hatte, und war auch der Grund für ihrer beider beruflichen Karrieren in diesen Kreisen. Nur wenige, mächtige Genii konnten vor ihm verbergen, was sie wirklich waren.

Cord grinste hämisch. „Dann sollten wir ihn uns mal vornehmen.“, beschloss er und gemeinsam stapften sie los.

Cord und Third Eye hakten den Straßenmusiker förmlich im Vorbeigehen unter, einer links, einer rechts, und zerrten ihn mit einem „Komm mal mit, Kumpel. Wir haben zu reden.“ mit sich davon. „Du wirst schön aufhören, unsere Lieder zu klauen!“, fügte Third Eye an, damit die anderen Passanten glaubten, daß es sich hier um einen gerechtfertigten Streit handelte, und einfach weitergingen. Tatsächlich nahm überhaupt keiner Notiz von ihnen oder griff gar ein, als sie den völlig verstörten Musiker rücklings in den nächsten, leerstehenden, offenen Hinterhof zogen.

„Was ... was wollt ihr denn von mir?“, fragte der Mann verängstigt, als er endlich wieder losgelassen wurde. Er starrte die beiden verlotterten, nach Verbrecher aussehenden Typen mit den ungekämmten, blonden Haaren eingeschüchtert an, die ihm den Weg zurück auf die Straße versperrten. Einer davon schlug nun auch die massive Holztür wieder zu, die als Durchgang gedient hatte. „Ich habe keine Songs geklaut. Die habe ich alle selber geschrieben, ehrlich.“

„Pfeif auf dein Gejaule, das du als Musik bezeichnest. Das interessiert uns nicht.“, hielt Third Eye böse dagegen.

Der Musiker hielt sich erschrocken an seinem Instrument fest, das er immer noch vor dem Bauch hängen hatte, bis Third Eye es ihm wegnahm und auf den Boden pfefferte. Die Saiten vibrierten von der Erschütterung hörbar nach.

„M-Meine Gitarre!“, jammerte der Mann wehleidig.

„Ach ja?“ Cord trat mit Wucht auf den Korpus, so daß die Holzdecke laut splitternd einbrach und zwei gerissene Saiten wegpeitschten. „Jetzt ist´s nur noch Sperrholz. Hat eh nicht viel getaugt. Dein Geklampfe klang grauenvoll.“

Der Musiker begehrte mit einem „Die hat ...“ auf, unterbrach sich aber selbst. Es war sicher unklug, denen vorzuhalten, was die Gitarre gekostet hatte. So wie die aussahen, würden sie ihm dafür eine Tracht Prügel verpassen und jeden einzelnen Euro in Schläge aufwiegen. Also glotzte er sie nur weiter hilflos mit großen Augen an. Er hatte immer noch keine Ahnung, was die von ihm wollten.

„Sag uns lieber mal, was du bist! Ich seh genau, daß du ein Genius bist!“, fuhr Third Eye ihn grob an.

„Was? I-I-Ich bin ein ... ein Each Uisge.“, stammelte er verwirrt.

„Ha, also doch.“ Third Eye schnappte ihn am Schlawittchen. „Machst du dich wenigstens nützlich? Bist du ein Genius Intimus? Hast du nen Schützling?“

„N-Nein!?“

„Schlecht für dich, Kumpel.“, drohnte Third Eye.

Brummend und theatralisch zog Cord ein kleines Büchlein aus der Innentasche seiner Jacke und begann zu blättern. „Ein Each Uisge. Wollen wir doch mal sehen, ob die auf der schwarzen Liste stehen.“

„Schwarze Liste!?“, jaulte der Musiker panisch.

Cord packte ihn an der Schulter und drückte ihn gewaltsam gegen eine Hauswand, um ihn festzuhalten.

„Ah ja, da haben wir´s ja auch schon. Each Uisge. Ein schottisches, sogenanntes 'Wasserpferd'. Sie nehmen die Gestalt von schönen Pferden an und verleiten Menschen dazu, auf ihrem Rücken zu reiten. Dann galoppieren sie ins Meer und ziehen den Menschen unter Wasser, wo sie ihn samt und sonders auffressen.“

„Sowas hab ich noch nie getan!“, jammerte er dazwischen. Third Eye verpasste ihm eine Ohrfeige, um ihn wieder zum Schweigen zu bringen.

„Dem Menschen ist es nicht möglich, abzuspringen, weil er von einer klebrigen Flüssigkeit auf dem Rücken des Each Uisge festgehalten wird.“, schloss Cord.

„Du gehörst zu den miesesten Viechern deiner Art, Kumpel. Sowas wie dich wollen wir hier nicht haben.“, machte Third Eye ihm klar.

Dem Musiker standen inzwischen schon fast Tränen der Panik in den Augen. „Ich lebe völlig legal hier! Ich kann mich ausweisen! Ich habe eine Registrierung und einen amtlich gemeldeten Wohnsitz!“

„Spar dir das. Each Uisges stehen auf der schwarzen Liste. Du hast das Recht zu leben gerade verwirkt. Du wirst hiermit exekutiert, um der Menschheit einen Gefallen zu tun. Ein bisschen weniger Verderben auf Erden.“

„Ich ... Was!?“ Der Mann begann zu strampeln und versuchte sich nach Kräften aus Third Eyes Griff freizukämpfen. Seine Überforderung und Panikstarre wichen einem puren Überlebenskampf. Third Eye rang ihn brutal zu Boden, wobei sein Opfer mit dem Gesicht voran im spitz gesplitterten Holz seiner Gitarre landete. Der Schreck, daß er nur knapp einem ausgestochenen Auge entgangen war, hielt ihn aber nicht davon ab, sich nach Kräften weiter zu wehren. Als er begann, nach Hilfe zu schreien, drückte Cord ihm einen Bannzettel zwischen die Schulterblätter. Daraufhin sackte der Musiker stumm und bewegungsunfähig in sich zusammen.

Third Eye und Cord schnauften erleichtert und atmeten erstmal durch. „Wir müssen irgendwie mal unsere Vorgehensweise ändern.“, merkte der Genius Intimus an. „Jedes Mal dieser Aufriss. Vielleicht solltest du unsere Zielobjekte künftig zuerst mit einer Bannmarke ruhigstellen und dann erklären wir ihm alles weitere.“

„Ich versteh gar nicht, warum wir denen überhaupt irgendwas erklären müssen. Dieser Abschaum gehört einfach kommentarlos beseitigt und gut.“, grummelte Cord mit einem abwertenden Blick auf den Musiker. „Auch wenn ich ein Bann-Magier bin, heißt das ja nicht, daß ich zwingend Gebrauch davon machen muss.“

„Nein, das fände ich unfair. Die sollen schon wenigstens die Chance bekommen, sich zu verteidigen. Ich kann mich auch mal irren, weißt du?“, hielt Third Eye dagegen.

„Und wenn schon. Lieber einen Genius zuviel kalt gemacht, als einen zu wenig.“

„Das hab ich nicht gehört!“, grummelte Third Eye und wandte sich wieder dem Musiker zu, der immer noch brav regungslos in den Trümmern seiner Gitarre herumlag und ganz langsam die Form eines Pferdes annahm. Cords Bann-Magie bewirkte unter anderem auch, daß ein Betroffener seine menschliche Tarngestalt nicht mehr halten konnte und wieder zu dem wurde, was wirklich in ihm steckte.

Cord steckte nur schulterzuckend sein schwarze-Liste-Büchlein wieder weg und holte stattdessen ein Schnappmesser hervor, um sein Opfer endlich zu erledigen.

Eine steife Windböe fegte durch den Hinterhof, kombiniert mit einem spitzen Schrei eines Raubvogels, und ließ beide herumfahren. Ein rabenschwarzer Greif mit schwarzem Adlerkopf und schwarzem Löwenkörper setzte mit den Klauen voran zum Landeanflug an. Die beiden verlotterten Verbrecher machten ihm erschrocken Platz, um nicht unter dem massigen, krallenbewährten Ding begraben zu werden. Das geübte Auge sah, daß dies die künstlich erschaffene Erscheinung eines begabten Gestaltwandlers war. Kein echter Greif war so rabenschwarz. Das Tier landete und nahm wieder menschliche Gestalt an. Die mächtigen, schwarzen Schwingen schlossen sich fest um den Körper und wurden zu einem langen Ledermantel.

„Victor!“, entfuhr es Cord, halb sauer, halb erstaunt. Er hatte nicht damit gerechnet, den Jungen, den sie eigentlich gesucht hatten bevor sie über den Straßenmusiker gestolpert waren, so unvermittelt vor sich zu sehen.

„Darf man fragen, was das wird?“, gab der Neuankömmling im Ledermantel herrisch zurück, sich eine Begrüßung sparend.

„Wonach sieht´s denn aus!?“

„Ihr werdet hier nicht rumlaufen und wahllos irgendwelche Genii hopp nehmen!“

Third Eye lachte. „Witzig. Es gab ne Zeit, da hast du nichts anderes getan als das. Und gerade du solltest wissen, daß unsere Auswahl alles andere als zufällig ist!“

„Die Motus gibt es nicht mehr!“

„Spar dir die klugen Sprüche.“, verlangte Cord und sah sich suchend die Mauern und Hausdächer ringsum an. „Wo ist Urnue, die Sau? Ihr zwei seid doch nie einzeln unterwegs, oder irre ich mich da?“

Victor überlegte kurz, ob er sich schon wieder auf diesen sinnlosen Streit einlassen sollte, wer die beiden an die Polizei verpetzt oder nicht verpetzt hatte. Er wusste, daß er nicht lange in der Nähe dieser beiden bleiben konnte. Cord würde versuchen, Zeit zu schinden, um irgendwas vorzubereiten. Cord war hinter ihm her. Sich ihm überhaupt zu zeigen, war schon gefährlich genug.

Cord schleuderte zwei Bann-Bälle nach ihm, die ihn genauso bewegungsunfähig machen sollten wie sein anderes Opfer. Er trug immer ein paar solcher zusammengeknüllten und mit Gewichten beschwerten Bannzettel bei sich. Sie waren zwar aufgrund der geringen Größe nicht so effektiv wie ordentliche Bannzettel, konnten dafür aber aus einiger Entfernung gezielt nach Leuten geworfen werden. Sie verschafften zumindest ein paar Sekunden Zeit, in der man sich vernünftig um sein Opfer kümmern konnte. Wie jeder Bannzettel blieben sie sofort dort haften, wo sie trafen. Aber Victor hob reflexartig eine Hand zur Abwehr und die Bann-Bälle prallten von einem Schutzschild ab, so daß sie ihn nicht trafen. Dann dehnte er den Schutzschild weiter aus, um Cord und Third Eye an die Hauswand zurückzudrängen.

Cord fiel das Schnappmesser aus der Hand. Er fluchte, musste aber vor dem Energieschild zurückweichen, so daß er das Messer nicht mehr aufheben konnte. Sauer aber machtlos musste er mit ansehen, wie Victor herüberkam und das Messer aufhob, während er selber gegen die Mauer gequetscht wurde und sich nichtmal mehr umdrehen konnte. Er ärgerte sich, daß er keine fertigen Bannzettel bei sich hatte, die Schutzschilde unterbunden hätten. Er hätte erst einen zeichnen müssen.

Zu weiteren Auseinandersetzungen kamen sie aber ohnehin nicht mehr, denn in diesem Moment ging die eisenbeschlagene Holztür auf und unterbrach das Gefecht.
 

Safall stiefelte immer noch ziellos durch die Straßen, einfach nur eine Runde Spaziergang machen, ohne wirklich irgendwo hin zu wollen, bis ihn eine schwere, beschlagene Holztür innehalten ließ. Es war ein alter, verwitterter Durchgang in ein offensichtlich schon sehr lange leerstehendes Grundstück. Der unbändige Wildwuchs an Unkraut und die blinden, über Jahrzehnte verdreckten Fenster sprachen Bände. Safall überlegte kurz hin und her. Diese Tür hatte Ähnlichkeit mit der aus seiner Vision. Aber er konnte wirklich nicht sagen, ob es die gleiche war. Wenn, dann war sie inzwischen viel älter und verrotteter als noch in seiner Vision. Er war sich einfach nicht sicher. Weil er auch das Gemäuer drum herum in seiner Vision nie beachtet hatte. Er war immer so auf diese Tür fixiert gewesen. Als er näher heranging, um sich die metallischen, verrosteten Beschläge anzusehen, hörte er es wieder. Das Knistern. Diesmal, in der realen Akustik einer echten Welt, erkannte er es auch besser. Es klang irgendwie elektrisch.

Er zog testhalber am Griffring der Tür, ohne ernsthaft zu glauben, daß sie offen wäre. Zu seinem Erstaunen gab sie aber tatsächlich nach. Und daraus drang das Licht hervor. Safall hielt den Atem an. Er hatte hier gerade ein echtes déjà-vue-Erlebnis. Er sammelte sich nochmal und mahnte sich selbst, bloß nicht wegzusehen. Egal was jetzt passierte, egal wie grell das Licht wurde, er durfte sich nicht abwenden! Er musste sehen, was dahinter war, komme was wolle! ... Seine Selbstmobilisierung war allerdings gar nicht nötig. Der sanfte, orange Lichtschein, der von einem magisch erzeugten Schutzschild herrührte, war beileibe nicht so hell, daß er irgendwie geblendet hätte. Das elektrische Knistern stammte von dem Versuch eines Menschen, besagten Schutzschild irgendwie zu durchbrechen.

Safall stand in der Tür und glotzte dämlich auf die Szene, die sich ihm bot. Da stand schon wieder dieser Junge im Ledermantel, der mit einer Hand einen Schutzschild aufrecht hielt und die beiden verlotterten Kerle, die er schon aus dem Tee-Haus kannte, gegen die Wand spielte. Mit der anderen hielt er ein Messer. Und zu seinen Füßen lag ein bewusstloser oder toter Genius – jedenfalls rührte der sich nicht mehr – in den Trümmern einer Gitarre. Safalls erster, klarer Gedanke, den er wieder zu fassen bekam, war ein entrüstetes „Die schöne Gitarre!“. Gefolgt von einem „Jetzt weiß ich also, wem der Gitarrenkoffer da draußen auf der Straße gehört.“ Da er selbst Musiker war, filterte sein Gehirn die aufgenommenen Informationen wohl mit entsprechender Priorität. Zumindest ging ihm erst in zweiter Linie auf, daß er hier in der Tat gerade Zeuge eines Verbrechens wurde. Der Täter hatte das Messer ja noch in der Hand.

Die drei, die noch handlungsfähig waren, gafften Safall nicht minder entgeistert an. Sie waren allesamt sichtlich entsetzt von der unvermuteten Unterbrechung.

„Was willst du hier?“, schnauzte irgendeiner. Safall konnte im Nachhinein beim besten Willen nicht mehr sagen, wer von denen.

„Ich hab ... die Tür in einer Vision gesehen.“, gab Safall wie in Trance zurück und deutete mit dem Daumen über die Schulter zurück.

Die beiden verlotterten Kerle fluchten laut. Einer der beiden, offensichtlich der Genius Intimus in diesem Gespann, verwandelte sich in eine Banshee, schnappte seinen Schützling und flüchtete nach oben. Der Weg in die Luft war zwischen Mauer und magischem Schutzschild der einzige Fluchtweg, der ihnen noch blieb. Laut heulend und klagend trug er seinen Schützling mit sich hinfort, als er über die Dächer davonflog. Sowohl Safall als auch der Junge hielten sich erschrocken die Ohren zu. Das Weinen einer Banshee konnte wahnsinnig machen oder sogar töten. Der Schutzschild brach in sich zusammen, da er nicht mehr gehalten wurde.

Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, warf der Junge im langen Ledermantel Safall einen missbilligenden Blick zu. Er war offensichtlich sauer, daß der diese ganze Aktion hier vereitelt hatte. Aber er sagte nichts, sondern machte sich nur kopfschüttelnd über den Bannzettel her, der noch zwischen den Schulterblättern des reglosen Each Uisge klebte. Allein das Entfernen des Zettels würde nicht genügen, um den Bann wieder zu lösen, wenn er einmal auf sein Opfer übertragen war. Konzentriert studierte er, was auf dem Bannzettel geschrieben stand. Vielleicht gab ihm das schon Aufschluss, wie der Bann konstruiert war und wie man ihn folglich wieder lösen konnte.

„Alter, ich hab noch nie eine männliche Banshee gesehen.“, brach Safall irgendwann als erster das Schweigen. Er war inzwischen wieder klar genug im Kopf, um sich innerlich dafür zu ohrfeigen, daß er über seine Vision von der Tür gesprochen hatte. Wie dumm war er denn? Jetzt wussten die allesamt, daß er Hellseher war. Wo denen doch sowieso schon die Polizei im Nacken saß und ihre Suche nach dem Schuldigen, der sie verpfiffen hatte, auf Hochtouren lief.

„Natürlich gibt es männliche Banshees. Banshees sind transgeschlechtlich, auch wenn die weiblichen, insbesondere die Totengräber-Frauen mit den rotverheulten Augen, über die Jahrhunderte mehr Publicity hatten. Sie gelten ja schließlich als dunkles Omen, das den baldigen Tod ankündigt.“, murmelte der Junge nur abgelenkt und löste endlich den Bann, den er inzwischen durchschaut hatte. Der Each Uisge erwachte zappelnd wieder zum Leben, hatte einen Moment arg damit zu kämpfen, seine langen, hektisch strampelnden Pferdebeine zu sortieren, dann nahm er wieder die Gestalt des Straßenmusikers an und brachte sich sofort luftschnappend einen Meter weit in Sicherheit.

„Zugegeben hab ich überhaupt noch nie eine Banshee gesehen.“, korrigierte Safall sich selbst, um irgendwie beim Thema zu bleiben. Er wollte um Himmels Willen nicht darauf zu sprechen kommen, was hier gerade passiert war.

Der Junge richtete abermals seinen unzufriedenen Blick direkt auf ihn. „Warum nur tauchst du immer wieder genau dort auf, wo ich Ärger mit diesen Jungs habe?“, wollte er ernsthaft wissen.

Safall rettete sich in ein hilfloses Schulterzucken und lächelte schief.

„Du solltest dich von uns fernhalten. Unsere Nähe wird dir nicht gut bekommen.“, legte der Junge ihm ans Herz und marschierte dann festen Schrittes los. Safall machte ihm auch sofort Platz, als er durch die Tür wollte. Er beachtete weder Safall noch den verstörten Straßenmusiker mehr. Beide waren für den Moment außer Gefahr, also war seine Arbeit getan. Was beide nun von ihm denken mochten, war ihm dabei herzlich egal. Er überließ es ihnen, wie sie weiter vorgehen wollten.

Safall und der Straßenmusiker schauten sich gegenseitig an. Ein wenig ratlos in gewisser Weise. Keine Ahnung, was sie jetzt tun sollten, als die letzten übriggebliebenen.

„Was zur Hölle seid ihr für Typen!?“, quietschte der Straßenmusiker hysterisch. „Seid ihr Nachfolger von der Motus, oder was?“

„Ich hab keine Ahnung, wer die waren.“, klärte Safall ihn wahrheitsgemäß auf und zog seinen langen Ledermantel aus, um ihn dem Straßenmusiker zu geben. Der hatte sich bei seiner ungewollten Verwandlung in das wesentlich größere Wasserpferd all seine Klamotten zerrissen und saß jetzt förmlich nackt hier in diesem Hinterhof. Safall hatte das dringende Bedürfnis, dem Musiker-Kollegen wenigstens mit Kleidung auszuhelfen, wenn er ihm schon mit der zerdroschenen Gitarre nicht helfen konnte. Und in gewisser Weise war ihm auch gehörig die Lust darauf vergangen, den Ledermantel zu tragen. Er wollte nicht mehr unbedingt so aussehen wie dieser seltsame Junge, der wohl, wenn man eins und eins zusammenzählte, ein Mörder war. Was für beschissene Semesterferien, zog Safall in Gedanken Resümee. Wäre er doch bloß nach Hause gefahren!

Wiedersehen

„Na schön, jetzt haben wir einen ganz passablen Angriffszauber aus Feuer, der einen gründlich durchgrillt. Nun müssen wir natürlich auch lernen, uns gegen sowas zu wehren. Soleil, welchen Zauber würdest du vorschlagen?“, wollte er von einem seiner Studenten direkt wissen. Sein Fach war zwar nicht gerade das langweiligste, aber trotzdem hatte er es sich angewöhnt, direkt mit seinen Zuhörern zu arbeiten, um sie bei Laune zu halten. Um so weniger öde wurde es für ihn selber.

„Den ... Spiegel-Fluch?“, schlug das japanische Mädchen vor. Das war laut Lehrbuch ihr nächstes Themengebiet, also schien das naheliegend.

„Den Spiegel-Fluch!?“, gab Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov zurück, in einem halb erstaunten, halb anerkennenden Tonfall, der ungefähr nach 'Sowas kannst du?' klang und sicher auch so gemeint war. „Der Spiegel-Fluch ist nicht die schlechteste Idee. Der unfairste Fluch, den ich kenne. Er spiegelt einen Zauber auf seinen Angreifer zurück. Und warum genau ist das Ding so unfair?“, fragte er in die Runde.

Jemand meldete sich. „Er ist Verteidigung und Angriff in einem und völlig unabhängig von der eigenen Stärke oder der Stärke des Gegners.“

„Ganz recht!“, stimmte Victor Dargomir Raspochenko Akomowarov zu. „Dieser Fluch ist so mies, weil er nicht übertrumpft werden kann. Egal wie haushoch dir dein Gegner überlegen ist, DIESER Fluch kann von ihm nicht durchbrochen werden. Ich zeige euch heute die Bewegungen dazu. Macht ruhig schonmal mit. Man kreuzt die Arme und nimmt alles auf, was da zu einem kommen mag. Stellt euch dabei vor, irgendwas liebgewonnenes in die Arme zu nehmen und an euch zu drücken. Man sammelt, sammelt, sammelt. Das Fassungsvermögen dieser Fluchblase ist schier unendlich. Und dann, wenn euer Angreifer endlich fertig ist, breitet ihr die Arme aus und schleudert alles auf ihn zurück. Als würdet ihr Konfetti werfen. Nochmal. Sammeln ... und zurückschleudern! ... Hat was von Tai Chi, nicht?“, scherzte er und machte die Bewegungen noch ein paar Mal vor. Wie er das vormachte, wirkte es so selbstbewusst und cool, daß automatisch alle Studenten den Drang verspürten, das auch können zu wollen. Daher lachten alle und machten fleißig mit, obwohl solche Trockenübungen gern mal als Kindergarten abgetan wurden. „Nagut, das soll´s für heute gewesen sein. Übt die hübschen Armbewegungen bis zum nächsten Mal fleißig weiter. Nächste Woche lernen wir dann die Magie dazu. Und wer sich eine gute Note verdienen will, sagt mir nächstes Mal, warum der Spiegel-Fluch zu den Flüchen gezählt wird. Schönen Nachmittag, Studenten!“

„Schönen Nachmittag, Professor Akomowarov!“, gröhlten ihm alle im Chor zu. Das war inzwischen ein fest eingeschliffenes Prozedere. Das kannten sie alle miteinander noch aus dem letzten Jahr.

Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov lächelte leicht. Er mochte diese rituellen, immergleichen Begrüßungen und Verabschiedungen. Seine Studenten ebenfalls, die schienen das genauso lustig zu finden wie er selbst. Während alle lärmend und polternd den Hörsaal verließen, drehte er sich zu seinem Schreibtisch um und begann in Ruhe zusammenzupacken.

Salome tauchte neben ihm auf. „Professor?“, begann er kleinlaut. „Ich komme mit meiner Hausarbeit über die Bann-Kreise einfach nicht weiter. Ich glaube, irgendwo habe ich da einen gewaltigen Denkfehler. ... also ... naja, hätten Sie vielleicht nochmal einen Moment Zeit für mich?“

„Klar. Womit genau hast du Probleme?“, wollte Akomowarov hilfsbereit wissen und schaute ihn interessiert an, statt weiter seine Sachen zusammen zu kramen. Für seine eigenen Studenten hatte er immer gern ein bisschen Zeit. Die waren ja immerhin der Grund, warum er hier war. Nur fremde Studenten hielt er sich rigeros vom Leib.

„Ich weiß nicht, wie man es anstellt, daß Zauber einen Bann-Kreis nicht durchdringen. Es gibt Komponenten, die einen Bann-Kreis blickdicht machen können.“

„Richtig, entweder nur nach innen, daß man nicht sieht, was drin ist, oder nur nach außen, daß der, der drinsteckt, nicht rausgucken kann. Das nennt sich Einwegschranke. Es gibt aber auch Komponenten, die in beide Richtungen blickdicht machen. Das sind dann Zweiwegschranken.“ Er zog sich mit Schwung rücklings auf die Tischplatte hinauf, als er merkte, daß das Gespräch länger dauern könnte. Selbst in dieser kindlich-frechen Haltung schaffte er es noch, ernstzunehmend auszusehen. Auch wenn er mit baumelnden Beinen und diesem täuschend jungen Gesicht auf dem Tisch saß, hätte man niemals in Frage gestellt, daß er ein fähiger und mächtiger Meister war.

Der Student nickte. „Das gleiche gibt es für schalldichte und physische Schranken, die keine stofflichen Dinge durchlassen – in welche Richtung auch immer. Und man kann Illusions-Elemente mit einbinden, die einem vorgaukeln, auf der anderen Seite der Barriere befände sich etwas anderes.“

„Man kann auch Elemente mit einbinden, die denjenigen, der im Bann-Kreis drin steckt, bewusstlos machen. Damit der sich da drin keine Lösung überlegt, wie er denn mal am blödestens wieder rauskommen könnte.“, fügte Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov an.

Wieder nickte er. „Ja, hab ich gelesen. Aber eine entscheidene Sache fehlt mir. Ich habe kein einziges Zeichen gefunden, das unterbinden würde, daß mein Gegner mir von dort drinnen lustig Flüche auf den Hals hetzt oder mir telekinetisch irgendwelche Sachen um die Ohren haut. Magie kann durch diese Bann-Kreise immer durch.“

Akomowarov schaute kurz überlegend zur Decke hinauf. „Ja und nein. Magie basiert immer auf irgendwas, was der Bann-Kreis einsperren kann. Für manche Zauber muss Blickkontakt bestehen, damit sie dich treffen. Manche Zaubersprüche – vor allen Dingen Wortmagie – musst du zwingend hören können, damit sie auf dich wirken. Wenn derjenige, der im Bann-Kreis drin ist, dich nicht sieht, oder du ihn nicht hörst, hilft ihm auch die entsprechende Magie nicht mehr weiter.“

„Also muss ich vorher wissen, was der alles in petto hat und meinen Bann-Kreis darauf abstimmen? Das ist ja furchtbar.“

Der Dozent lächelte leicht. „Keiner hat behauptet, daß Bann-Kreise einfach wären. Sieh es mal so: Es kann keine Bann-Kreise geben, die Magie perse unterbinden würden. Denn dann würde der Bann-Kreis sich ja selber auslöschen.“

„Also kann man mittels eines Bann-Kreises keine Magie ein- oder aussperren.“

„Nein.“

Salome grübelte noch sekundenlang vor sich hin. Dann entschied er irgendwann mit einer Mischung aus Lächeln und Schulterzucken, das Thema erstmal als geklärt anzusehen. „Danke, Professor.“, meinte er. „Das hat mir sehr weitergeholfen.“

„Den Eindruck habe ich nicht. Und das Thema deiner Hausarbeit war auch ein ganz anderes. Also, Salome, was genau hast du vor?“

Der Student ließ ertappt den Kopf hängen, trotz des geradezu väterlichen Tonfalls, den sein Dozent angestimmt hatte. „Nagut. Also ich kenne da jemanden, von dem ich vermute, daß ein Fluch oder eine Verwünschung auf ihm liegt. Aber wir haben noch nicht so richtig rausgekriegt, was es damit auf sich hat. Ich hatte gehofft, einen Bann-Kreis um den Betroffenen ziehen zu können, der den Fluch erstmal aussperrt, bis wir genug rausgefunden und uns eine Lösung überlegt haben.“

Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov sah wieder nachdenklich zur Decke hinauf und überlegte. „Das ist mal ne originelle Idee.“, gestand er. Dann schüttelte er irgendwann doch langsam den Kopf. „Aber mir ist kein Bann-Kreis bekannt, der sowas zuwege bringen würde. Wenn der Fluch bereits wirksam ist, dann sowieso nicht mehr.“

„Gut. Trotzdem danke, Professor.“
 

Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov trat aus dem Universitätsgebäude heraus, sah sich um und schaute dann auf die Uhr. Er war doch selber schon alles andere als pünktlich. Dann wanderte sein Blick wieder suchend durch die Runde. Einen Moment später hechtete jemand mit einem luftschnappenden „Dragomir!“ auf ihn zu und blieb völlig aus der Puste vor ihm stehen.

Victor schmunzelte amüsiert, während er wartete, daß der Mann mit den schwarzen Wuschelhaaren und der schwarzen Leder-Kombi wieder zu Atem kam. „Du bist aber ganz schön spät dran. Wo hast du gesteckt?“, wollte er wissen. Es war ein wohlwollendes, zugetanes Lächeln, das er auf den Lippen hatte. Man merkte sofort, daß Victor den Mann mochte.

„Tut mir leid. Ich hab im Trainings-Center völlig die Zeit vergessen.“, keuchte der andere, mit beiden Händen nach vornüber gebeugt auf seine Knie gestützt.

„Schon wieder das Trainings-Center? Urnue, du verbringst jede freie Minute da. Das kann nicht gesund sein.“

Der junge Mann richtete sich wieder auf. Nun sah Victor auch das viele Kajal und den schwarzen Lidschatten, die seine Augen stets umrahmten. „Du bist ein mächtiger Magier, Dragomir. Ich will dir gern gerecht werden.“

„Ach, Urnue.“, seufzte Victor und setzte sich langsam in Bewegung. Wie erwartet folgte Urnue ihm. „Du machst dir doch nicht immer noch Vorwürfe, daß du Ruppert damals nicht retten konntest, oder?“

„Ich weiß nicht. ... Ich fühl mich jedenfalls besser, wenn ich zumindest etwas dafür tue, daß mir das nicht nochmal passiert.“

Victors Lächeln wurde noch etwas breiter. Etwas dankender. Er war ja froh, daß Urnue in der Lage sein wollte, ihn zu verteidigen. Aber wenn Victor jemals in eine Situation geraten sollte, in der er sich nicht mehr selber verteidigen konnte, dann war Urnue ihm beim besten Willen auch keine Hilfe mehr. Er baute das Thema jedoch nicht weiter aus. Das hatte er schon in der Vergangenheit oft genug getan. Vergeblich. Und er hatte auch keine Gelegenheit mehr dazu, denn da ließen ihn „Professor Akomowarov!“-Rufe den Blick zum Eingang der Universität zurücklenken. Im Eingang stand noch Salome herum, der zwei anderen Studenten gerade gezeigt hatte, wer dieser ominöse Professor Akomowarov war. Diese zwei Studenten rannten ihm nämlich eilig nach, offensichtlich in dem Bestreben, ihn noch zu erwischen bevor er ging. Es waren keine Studenten aus seinen Vorlesungen, das sah er sofort. Victor kannte seine Studenten sehr genau. ... Aber auch wenn nicht, kannte er dieses Kerlchen. Lange, schwarze Haare und Ledermantel waren ja auf dem Kampus einer Universität recht auffällig und fielen ihm nicht nur deshalb ins Auge, weil er selber genauso aussah. Auch er bevorzugte den derben, schweren Ledermantel, der vor so mancherlei Einflüssen schützte.

Urnue begann zu grinsen, als er das blonde Mädchen entdeckte. „Hey. Was machst du denn hier? Bist du Student an der Zutoro? Wie geht´s deiner Freundin?“

„Oh, die macht sich jetzt schon selber Prüfungsstress, obwohl das neue Semester gerade erst angefangen hat.“, gab Hedda grüßend und mit unbefangener Fröhlichkeit zurück.

Victor sah verstehend zwischen Urnue, ihr und Safall hin und her. Letzterer gaffte ihn an wie vom Donner gerührt. „Ihr kennt euch?“, wollte Victor interessiert von seinem Getreuen wissen und schob die Hände in die Manteltaschen.

„Naja, 'kennen' wäre übertrieben. Ich hab dir doch von dem Mädchen erzählt, das im Tee-Haus ... du weißt schon ... diesem Kerl die Jacke angezündet hat. Das war ihre Freundin. Die beiden waren zusammen im Tee-Haus. Wir sind uns dort begegnet.“

„Wie amüsant. Wir beide kennen uns aus genau dem gleichen Tee-Haus.“, schmunzelte Victor Safall vielsagend an. Und schon wieder konnte Safall diese 'du hast uns doch belauscht'-Drohung aus seinem Blick herauslesen.

Der Student zog gerade haarsträubende Parallelen. Das war der Typ, den er in seiner Vision über den Mord an Ruppert Edelig gesehen hatte. Und den er spät Abends im Tee-Haus belauscht hatte. Der den Mord an Ruppert Edelig mitverantwortete. Und den er später auch bei dem Überfall auf den Each Uisge, diesen Straßenmusiker, auf frischer Tat ertappt hatte. Er wusste, daß dieses Milchbubi-Aussehen mit dem jugendlichen Körperbau und den schulterlangen, schwarzen Haaren, die das freundliche, junge Gesicht einrahmten wie zwei Vorhänge, täuschte. Erheblich täuschte. Dieser nämliche Typ war Professor an einer Universität? „S-Sie sind Professor Akomowarov?“, stammelte er nur perplex.

„Lustig, nicht?“, gab der schalkhaft zurück und grinste breit. „Wie, hast du gesagt, war doch gleich dein Name?“

Safall stellte sich und Hedda mit mulmigem Gefühl vor und fragte dann zögerlich, ob Akomowarov vielleicht etwas Zeit für ihr Anliegen habe.

Sein Name kam dem Professor aus der Bittschrift eines Kollegen bekannt vor, in dem ihm ein wahrlich absonderlicher Fall versprochen worden war, eine echte Herausforderung, kombiniert mit der Bitte, sich dieses Studenten doch einmal anzunehmen. Daher willigte Victor ein. Auf diese Herausforderung war er wirklich gespannt.
 

Victor drehte nachdenklich das verkohlte Papier in Händen, auf dem der Fluch niedergeschrieben gewesen war, und die Übersetzung dazu. Da er kein Schottisch konnte, hatte Safall ihm zumindest Salomes alte, englische Originalversion davon gegeben. Dann ließ er es geringschätzig auf die Platte seines Schreibtisches fallen. Die Geste war psychologisch bis zur Vollendung ausgereift und schund ungeheuer Eindruck. So wie jede seiner Bewegungen. Allein die gerade Haltung, mit der er auf dem Stuhl saß, wog die Unzulänglichkeiten seines viel zu jungen Aussehens bei weitem wieder auf. Er hatte Safall und Hedda mit zurück ins Universitätsgebäude genommen und in sein Büro gebracht, wo sie in Ruhe reden konnten. „Also eines kann ich euch auf Anhieb sagen. Das hier ist kein ordentlicher, ägyptischer Papyrus, das ist irgendein Leinfaser-Imitat mit Industrieklebstoff. Wenn ihr Flüche basierend auf Papyrus erarbeitet, müsst ihr schon wenigstens auch Papyrus verwenden.“

„Hedda!“

„Ich kann nichts dafür! Das ist mir als echter Papyrus verkauft worden! Zähl den Verkäufer an, nicht mich!“, hielt Hedda trotzig dagegen. „Hat das echt eine Relevanz, auf was für einem Papier man das aufschreibt? Salome hätte den Fluch auch aus dem Kopf aufsagen können, wenn er Schottisch gekonnt hätte.“, wollte sie dann wissen.

Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov nickte langsam. „Offensichtlich hat es eine Relevanz, sonst wäre das Papier nicht verbrannt. Wenn man einen Fluch konstruiert, muss man ihn an irgendetwas binden. Da im Gegensatz zur Verwünschung nicht die Zielperson selber als Medium herhalten kann, muss die Energie sich auf irgendeinem anderen Medium manifestieren können. Oft nimmt man irgendwelche Gegenstände dafür, die sich später leicht wieder zerstören lassen, falls man den Fluch mal wieder aufheben will. Salome hat sich offensichtlich für ein Schriftstück entschieden und dieses Fluchpapier hier entworfen, in dem Glauben es sei echter Papyrus.“

„Wir wissen jedenfalls nicht, was meiner Schwester nun wirklich fehlt, mal unabhängig von unserem schiefgegangenen Gegenfluch. Wir hatten es für einen Jahrestausch-Fluch gehalten, der Lebensjahre vertauscht.“, erzählte Safall.

„Gibt Sinn. Es handelt sich nach wie vor um einen Tausch-Zauber, er hat sich nur gewandelt. Ursprünglich hat er wohl Lebensjahre oder die gesundheitliche Verfassung vertauscht, jetzt vertauscht er Seelen in ihren Körpern. Zusätzlich zu den Jahren, oder ersatzweise, wer weiß.“

„Wohl zusätzlich. Meiner Schwester geht es keinen Deut besser als vorher. Es wird im Gegenteil immer schlimmer. Seit den Semesterferien ist sie schon dreimal ohnmächtig geworden, weil gar nichts mehr ging.“

„Also hat sich der Zauber nicht einfach nur gewandelt, sondern sogar erweitert. ... Und ab da wird´s knifflig. Ich fürchte, da ist mir die Universität keine Hilfe. Um da etwas rauszufinden, muss ich nach Hause in meine Privatbibliothek. Ich bemühe mich, so schnell wie möglich alles Nötige in Erfahrung zu bringen. Wisst ihr sonst noch irgendetwas, das mir helfen könnte?“

Safall verneinte bedauernd. Alles, was er wusste, hatte er Professor Akomowarov bereits erzählt. Das es vor ein paar Jahren in ihrer Heimat auf den Orkney-Inseln angefangen hatte, und daß beim Gegenfluch dieses Amulett aus dem Tee-Haus mit im Spiel gewesen war. Und das war auch schon alles, was er wusste. Akomowarov hatte das Amulett nach einer langen, sehr nachdenklichen Musterung an sich genommen.

„Du hast noch mehr auf dem Herzen, wie ich merke.“, stellte Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov in den Raum wie eine Tatsache.

Safall haderte kurz mit sich, ob er das wirklich sagen sollte. Andererseits war es vielleicht besser, das zu klären. Immerhin war er schon am Tee-Haus von Akomowarov als offensichtlicher Stalker aufgegriffen worden und ihm auch später an der alten, eisenbeschlagenen Tür wieder in einer eindeutigen Szene begegnet. Die Situation war hinreichend bekannt. „Sie hatten mit dem Mord zu tun, oder?“

Victors Blick schweifte kurz suchend über eine ganze Enzyklopädie von Erinnerungen, dann sah er Safall selbstbewusst direkt in die Augen. „Ich hatte mit so einigen Morden zu tun. Welchen genau meinst du?“, wollte er mit fester Stimme wissen. Gar nicht wie jemand, der sich ertappt oder schuldig fühlte.

„Ruppert Edelig.“

„Ah, der!“, machte Victor nur, sich erinnernd.

„Sie haben Geld dafür bezahlt, daß der Genius am Leben gelassen wird.“

„Ja, habe ich.“ Victors Stimme troff immer noch von Selbstbewusstsein und vielleicht sogar einer Prise Selbstgefälligkeit. Es hatte diese unterschwellige 'stört dich das?'-Note, die einen in den Wahnsinn treiben konnte.

„Sie sind ein ehrloses Schwein!“, hielt Safall ihm sauer vor.

„Ja? Ist es, da wo du herkommst, nicht gern gesehen, jemandem das Leben zu retten?“

„Wieso haben Sie den Mord nicht verhindert? Oder wenigstens der Polizei gemeldet, wenn Sie schon davon wussten? In den Gerüchten, die kursieren, heißt es immer nur, Sie hätten Urnue später gefunden und befreit. Es war nie die Rede davon, daß sie schon vorher von den Mordplänen wussten und es förmlich unterstützt haben!“

Auf Victors Gesicht machte sich ein Schmunzeln breit. „Du bist ein Hellseher, was? Natürlich, woher solltest du sonst davon wissen? Die zwei Kompagnons sind gerade ziemlich angezinkt, weil über diese Vorkommnisse irgendjemand der Polizei was gesteckt hat. Warst du es etwa, der sie verpfiffen hat?“

„Nein!“, wehrte Safall schnell ab, gerade noch bemüht, nicht allzu panisch zu klingen. Seine Entrüstung wich sichtlich einem viel kleinlauteren Tonfall. Er spürte deutlich, daß Akomowarov sich von Safalls Wissen nicht ins Boxhorn jagen ließ.

„Weißt du, wer ich bin? Hast du überhaupt eine Ahnung, was genau ich mache? Warum ich so ein Mysterium bin? Warum so viele mich feiern und doch hassen?“

Safall schüttelte eingeschüchtert den Kopf. Er wusste es wirklich nicht. Er hatte aber auch keine Lust herauszufinden, ob das vielleicht das letzte war, was er je erfahren würde. Lieber blieb er unwissend.

„Du warst doch dabei, in diesem Hinterhof. Ich schätze dich als ein schlaues Köpfchen ein. Ich glaube du weißt, was da vor deiner Nase passiert ist, als die beiden Schläger den Each Uisge angegriffen haben. Du weißt, in welchen Kreisen ich mich bewege. Ich bin ein vielfach gesuchter Mörder und Verbrecher. Ich agiere außerhalb des Gesetzes für die Rechte der Genii. Die Motus hat damals riesige Sklavenmärkte betrieben und hunderte von Genii in die Knechtschaft getrieben, zum Teil auch kaltblütig hingeschlachtet. Die Motus hat ganze Klans einfach ausgelöscht, wenn sie sich der Sklaverei nicht gebeugt haben. Ja, ich war der stellvertretende Leiter von diesem Verbrecherhaufen. Ich war die rechte Hand vom Boss selbst. Es hat mir viele Opfer abverlangt, so weit zu kommen. Und als ich endlich so weit war, habe ich dieses gesamte Kartell in die Knie gezwungen und hopp genommen. ICH war das!“ Victor machte eine theatralische Pause, um dem Gesagten die nötige Wirkung zuzugestehen. „Du kannst dir vorstellen, daß ich bis heute viele Feinde deswegen habe. Die ehemaligen Motus-Funktionäre sind bis dato auf meinen Kopf aus. Seit es die Motus nicht mehr gibt und sich die Funktionäre wie die Kakerlaken in alle Himmelsrichtungen zerstreut haben, um ihre eigenen, kleinen, miesen Geschäfte aufzubauen, greife ich Menschen an, die Genii nicht angemessen behandeln. Ich rede hier nicht von Otto-Normal-Magiern, die ihren Genius Intimus bevormunden. Ich rede von Gangster-Bossen, Drahtziehern der Unterwelt, einflussreichen, zwielichtigen Finanziers. Bei den Menschen, mit denen ich mich anlege, kann ich es mir nicht leisten, sehr rücksichtsvoll zu Werke zu gehen. Da verschwinden schonmal Leute und werden nie wieder gesehen. Oder wenn, dann nicht lebend. Verstehst du? Ich bin der, der die Unterwelt aufmischt. Ich gehöre zu den Guten, arbeite aber wie einer von den Bösen. Wenn die Staatlichen meiner habhaft würden, hätte ich einmal die gesamte Palette aller Vergehen am Hals, die das Strafgesetzbuch hergibt, deshalb geben sie sich zum Glück nicht sonderlich viel Mühe, mich zu fassen zu kriegen. Die haben erkannt, was ich tue. Die politischen Schachfiguren der Unterwelt dagegen würden mich liebend gern tot sehen, können aber nicht aus ihren Löchern gekrochen kommen, ohne sich selbst zu gefährden. Das ist ein schmaler Grat, auf dem ich mich bewege. Ich darf keiner der beiden Seiten zu nahe kommen. Egal in wessen Netz ich lande, ich bin in beiden Fällen unweigerlich des Todes. Für Genii von meinem Kaliber schlägt in etlichen Ländern der Welt, in denen ich gesucht werde, die Todesstrafe zu Buche. Deshalb bin ich ein Phantom. Deshalb weiß keiner irgendwas über mich. ... Du fragst, ob ich den Mord an Ruppert Edelig hätte verhindern können. Rupperts Feinde waren auch meine Feinde. Ich steckte in seinen Machenschaften bis zum Hals mit drin. Nein, ich hätte nichts tun können. Nicht ohne meinen eigenen Kopf mit hinzuhalten.“

Safall gaffte Akomowarov mit großen Augen an und wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Das alles, was er hier hörte, kam nicht unbedingt überraschend. Er wusste aus seinen Recherchen selber, in welchen Kreisen der Junge aktiv war. Allein die Tatsache, daß die Magister-Magicae-Datenbank so überhaupt nichts über ihn wusste, sagte im Grunde genug. Aber es von Akomowarov selber erzählt zu bekommen, so direkt und unverblümt, machte ihm echt Angst. Und was ihn dabei noch viel mehr irritierte, war, daß der so unglaublich jung aussah. Rein optisch hätte keiner den geringsten Zweifel daran gehabt, daß er hier selber nur Student wäre. In welchen Zeitfenstern hatte sich diese ganze Motus-Bewegung denn um Himmels Willen abgespielt?

„Ich empfehle dir, mit keinem über den Edelig-Mord zu sprechen. Vor allem nicht mit der Polizei. Sollten ich oder diese beiden Haudegen, die du im Tee-Haus gesehen hast, verschwinden, werde ich nicht mehr in der Lage sein, deiner Schwester zu helfen.“

Safall nickte einsichtig. Dann strich er sich nervös eine seiner langen Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Verraten Sie mir, was an diesem Edelig-Mord so besonders war? Soviel ich weiß, hatte die Motus zahllose Morde zu verantworten. Um keinen davon ist soviel Ruß gemacht worden wie um diesen Ruppert Edelig.“

Victor lächelte dünn. „Das kann ich dir sagen. Es gab einen ganz entscheidenden Unterschied zu allen anderen Verbrechen, die die Motus betreffen. Ruppert Edelig war ein Mensch. Der erste und einzige Mensch, der jemals der Motus zum Opfer gefallen ist. Die Motus wollte die Menschen schützen. Normalerweise waren diese Typen ausschließlich hinter gefährlichen oder unliebsamen Genii her.“

'Im Gegensatz zu Ihnen, wie man hört.', dachte Safall im Stillen. Laut aussprechen tat er diesen Gedanken freilich nicht. Schließlich brauchte er ja nach wie vor die Hilfe dieses Mannes. Er musste Sewill helfen. Er musste einfach. Akomowarov war seine letzte Hoffnung. Also würde Safall sich bestimmt nicht mit ihm anlegen.

Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov hob erneut vielsagend das verkohlte Papier mit dem Fluchtext hoch. „Ich begebe mich in meine Privatbibliothek, um ein paar Nachforschungen zu betreiben. Stellt in der Zwischenzeit nichts Blödes an!“, trug er Safall auf und erhob sich in einer runden Bewegung, für die er keinerlei Schwungholen zu brauchen schien, hinter seinem Schreibtisch. Damit machte er deutlich, daß auch Safall und Hedda jetzt bitte aufstehen und gehen sollten. „Ich melde mich wieder bei euch, sobald ich mehr weiß.“

„Danke, Professor. Wenn Sie vorbeikommen und sich Sewill einmal ansehen wollen, steht unser Studentenzimmer Ihnen jederzeit offen.“, schlug Safall ihm noch vor.

Hedda beschränkte sich auf eine höfliche Verabschiedung. Natürlich hätte sie viele Fragen oder Anmerkungen gehabt, aber sie wollte als Safalls Nebengetreue nicht wieder mit phänomenaler Dämlichkeit punkten. Daher zog sie es strategischerweise vor, die Klappe zu halten. Ihre Fragen konnte sie hinterher immer noch Soleil oder Safall stellen, wenn sie wollte.

Urnue, der die ganze Zeit über gleichsam schweigend in der Raumecke gesessen und aufmerksam das Gespräch verfolgt hatte, machte keine Anstalten, Hedda noch zu verabschieden. Er war der Genius Intimus von Ruppert Edelig gewesen. Es wäre damals seine Aufgabe gewesen, Ruppert Edelig zu beschützen. Und er hatte es nicht geschafft. Er hatte den Mord nicht verhindern können. Als direkt Betroffener ärgerte es ihn ein wenig, wie sensationslüstern und emotionsfrei die Studenten in ihrer Unwissenheit über die Motus und über diesen Mord sprachen, ohne irgendeinen Bezug dazu zu haben. Sie hatten keine Ahnung davon, was Victor wirklich vollbrachte, wenn er Genii vor den Übergriffen solcher Verbrecher bewahrte. Sie sahen in ihm vermutlich nichts anderes als einen weiteren Verbrecher unter vielen.

daheim

Derwegen etwas erleichtert zog Urnue seine Hände aus den Handgelenkschlaufen und richtete sich auf. Er hatte die ganze Strecke bäuchlings auf dem Rücken des großen, schwarzen Greifs gelegen, in den Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov sich verwandelt hatte. Diese Form bevorzugte der Gestaltwandler meistens, wenn er mit Urnue schnell größere Strecken zu reisen hatte. Sie erlaubte ihm, Urnue auf seinem Rücken tragen zu können, ohne sich um dessen Sicherheit Gedanken machen zu müssen, und trotzdem ausdauernd und wendig voran zu kommen. Aber auch wenn die Handgelenkschlaufen Urnue das Festhalten wesentlich leichter machten und ein versehentliches Loslassen oder kraftloses Abrutschen fast unmöglich machten, war es dennoch auf Dauer ganz schön anstrengend. Urnues Arme waren nach dem langen Flug nun ziemlich lahm davon, gegen den Fahrtwind anzukämpfen. Das dicke Seil, das er dem Greif um den Hals geschlungen hatte und das ihm zum Festhalten gedient hatte, fiel einfach zu Boden, als er es losließ.

Victor wartete, bis sein Getreuer wieder sicher auf beiden Beinen stand, bevor er sich in seine menschliche Gestalt zurückverwandelte. Er bückte sich nach dem Seil und hob es auf. Das Seil, lose um den Hals geschlungen, war schon ein ziemlicher Kompromiss. Urnue weigerte sich, auf einem Sattel oder Reitgeschirr zu reiten. Er fand es verachtend und demütigend, Victor einen Sattel zu verpassen. Er fand es schon schlimm genug, sich überhaupt von ihm auf dem Rücken tragen zu lassen und ihn als Reittier zu missbrauchen. Victor wiederrum weigerte sich aber auch, Urnue gänzlich ungesichert mit in die Luft zu nehmen. Der Gegenwind und eventuelle Flugmanöver konnten durchaus dazu führen, daß Urnue mal von seinem Rücken abrutschte. Bei der Höhe und Geschwindigkeit würde ihm ein Absturz schlecht bekommen. Während Victor so auf dem kleinen Podest vor dem Höhleneingang auf halber Höhe des Berges stand und das Seil aufrollte, schweifte sein Blick über das Gebirge ringsum. Es war inzwischen schon dämmrig geworden, bald würde es gänzlich dunkel sein. Über den Bergspitzen stand bereits der Mond. Ansonsten war hier draußen absolut gar nicht. In alle vier Himmelsrichtungen kilometerweit nur unberührtes Nichts. Abseits jeglicher erschlossener Zivilisation. Während er den Mond betrachtete, bemerkte er selbst nicht, wie er aufhörte, das Seil fertig zu rollen.

Urnue streckte sich. „Da wären wir wieder. Willkommen zu Hause.“ Er fühlte sich ein wenig steifbeinig von der stundenlangen Reiterhaltung, auch wenn er mehr gelegen als gesessen hatte.

Keine Reaktion.

„Dragomir? ... Was ist los? ... Hey!“

Erneut keine Reaktion.

Urnue verpasste dem Russen einen derben, unvorgewarnten Stoß, der ihn zu einem Ausfallschritt zwang und damit gleichsam in die Realität zurückholte. „Hör auf damit, ich finde das gruselig!“, kommentierte er.

Victor blinzelte irritiert. Er brauchte sichtlich einen Moment, um wieder klaren Verstandes zu werden. Dann schüttelte er den Kopf und wandte sich mit einem „Tut mir leid.“ dem Höhleneingang zu.

„Was sollte das denn?“, hakte Urnue nach. Es war irgendwie sehr creepy, wenn Victor wie versteinert herumstand, den Mond anstarrte, nicht mehr ansprechbar war und nichts mehr um sich herum mitbekam.

„Nicht so schlimm. Ich bin nur ein Pseudo-Werwolf.“

„Ein Pseudo-Werwolf!?“, echote Urnue betont. Ungläubig.

„Ich bin kein echter Werwolf, ich tu nur so.“, grinste Victor, warf nochmal einen letzten Blick zum Mond hinauf – es war Vollmond – und betrat dann endlich seinen Berg, um untertage zu verschwinden. „Du musst es dir vorstellen wie mondsüchtig. Wenn ich zu lange in den Mond schaue, vergesse ich, wer ich bin und was ich gerade wollte. Das hat mir schon ab und zu mal Probleme eingehandelt. Ich stand dann wirklich wie angewurzelt in der Landschaft rum und bin erst bei Tagesanbruch wieder zu mir gekommen, wenn der Mond endlich untergegangen ist. Aber inzwischen hab ich´s besser im Griff.“ Er deutete in das Tunnelsystem vor sich. „Deshalb verkrieche ich mich so gern da unten, wo das Mondlicht nie hinkommt.“

Urnue schüttelte nur den Kopf. „Echt gruselig.“, fand er erneut, während er kraftlos hinterher schlurfte. Bloß gut, daß sie die ganze Zeit mit dem Mond im Rücken geflogen waren, statt ihn ständig vor der Nase zu haben. „Ich bin ganz schön platt.“

„Das ist gut. Vielleicht schläfst du dann endlich mal.“

„Bist du gar nicht müde von dem langen Flug? Ich meine, ich saß ja bloß auf deinem Rücken und hab mich tragen lassen. Auch wenn es auf Dauer ein ziemlicher Kraftaufwand ist, sich festzuhalten, damit der Gegenwind einen nicht runterweht. Aber du hattest ja die ganze Arbeit. Du bist gerade fast 5 Stunden geflogen.“

„Es geht. Übermäßig ausgepowert bin ich nicht. Ich bin es gewohnt.“, gab Victor sorglos zurück, ohne sich aufhalten zu lassen.

„Du fängst aber nicht jetzt gleich mit deinen Studien an, oder?“

„Warum nicht?“

„Können wir vorher nicht wenigstens noch was essen?“, schlug Urnue mit gespielter Schmoll-Schnute vor. „Und am Verdursten bin ich auch.“

„Meine Vorratskammer steht dir offen. Bedien' dich.“

Der Genius mit der Wuschelfrisur schaute zu, wie Victor in einen Gang einbog und mit einem Fingerschnippsen Wandfackel für Wandfackel in Brand steckte, an denen er vorbei kam und die als Lichtquelle dienten. Der machte sich tatsächlich direkt auf den Weg in sein Bücher- und Studierzimmer. Mit einem uneinsichtigen Grummeln schlug Urnue eine andere Richtung ein. Er angelte ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche, schüttelte es und brannte damit die Fackeln an, die auf seinem Weg lagen. Der einzige Feuerzauber, den er beherrschte, war ihm zu aufwändig und dauerten zu lange. Mit dem Zigarettenanzünder war er schneller als mit Magie.
 

Victor ließ den Blick durch sein Studierzimmer schweifen, weil ihm langsam die Konzentration ausging. Er brauchte wohl mal eine kurze Pause. Sein Augenmerk blieb auf dem dick gepolsterten, mit weichem Fell abgedeckten Lager hängen, wo Urnue friedlich schlummerte. Victor mochte diesen Anblick irgendwie, wie das gertenschlanke Kerlchen mit den schwarzen Wuschelhaaren und der Lederjacke tief in den Fellen versunken herumlag und einfach nur schlief. Es war selten, daß Urnue mal so ruhig schlief. Jetzt, 2 Jahre nach dem Mord an seinem Schützling, hatte er immer noch ziemliche Probleme mit seiner inneren Balance. Victor musste bisweilen mit einem leichten Schlafzauber nachhelfen, damit Urnue überhaupt mal wegdöste. Als Victor weiterlesen wollte und sich das Pergament näher ins Kerzenlicht schob, stieß er mit der Kante eines aufgeschlagen daliegenden Buches eine kleine Messingfigur vom Tisch. Das metallische 'Pling' scholl durch die ganze Halle. Urnue war sofort hellwach. Schade. Der Schlafzauber half ihm zwar beim Einschlafen, aber äußere Einflüsse wie Berührungen oder laute Geräusche konnten ihn jederzeit wieder wecken. „Entschuldige.“, meinte Victor nur, stand aber nicht auf, um die Figur wieder aufzuheben. Stattdessen las er demonstrativ weiter, in der Hoffnung, sein Getreuer würde ebenfalls einfach weiter schlafen.

Urnue räkelte sich müde. Nichts mehr zu machen, sein Nickerchen war beendet. Er wusste selber, daß er nicht nochmal wegdämmern würde, also verschwendete er seine Zeit gar nicht erst mit entsprechenden Versuchen. „Wie lange hab ich geschlafen?“

„Zwei Stunden, höchstens.“

„Das ist nicht lange ...“, stellte er unglücklich fest.

„Urnue, hast du Lust, mir einen Gefallen zu tun?“

„Alles in meiner Macht stehende!“, stimmte der Genius mit den Wuschelhaaren zu und setzte sich auf Victors Lager auf. Ja, das hier war immerhin Victors Bett, in dem er gerade so dreist Siesta gehalten hatte.

„Magst du mir eine Pomelo schälen?“

Urnue überlegte verdutzt. „Wozu brauchst du´n sowas?“

„Ich will sie essen!“, stellte Victor nicht minder verständnislos klar und sah aus seinem Pergament hoch, das ihm gerade für seine Studien diente.

„Achso ...“

Victor lachte auf. „Nicht alles, was ich mache, hat mit Magie zu tun, Urnue. Manchmal hab ich auch einfach nur ganz gewöhnliche Grundbedürfnisse. Ich liebe Pomelos. Aber sie zu schälen, ist furchtbar lästig. Ich hasse dieses Gefummel.“

„Ich schäl dir eine, kein Problem.“

„Bitte schäl sie mit der Hand und nicht mit irgendeinem Häutungszauber. Wenn sie mit Magie in Berührung kommen, schmecken sie nicht mehr.“, gab Victor ihm noch amüsiert mit auf den Weg und vertiefte sich dann abermals in seine Lektüre. Langsam bekam er eine Idee, was bei dem Gegenfluch seines Studenten schiefgegangen sein könnte. Er las hier gerade von einem ganz ähnlichen Fall. Dort war es zwar kein Tausch-Zauber gewesen, der sich gewandelt hatte, sondern ein Fesselungs-Zauber, der statt des Körpers dann die Gedanken seines Opfers an etwas gebunden hatte, aber dem Grunde nach war das Prinzip das gleiche. Victor ging jedenfalls nicht davon aus, daß es sich bei dem Problem seines Studenten um einen Fluch oder eine Verwünschung handelte. Flüche und Verwünschungen folgten anderen Parametern. Was ihm allerdings noch Kopfzerbrechen machte, war diese sagenhafte Ausdauer, die der Zauber an den Tag legte. Unter allen Zaubern waren eigentlich tatsächlich nur die Flüche darauf ausgelegt, über Jahre oder gar Jahrzehnte fortzudauern. Die meisten Zauber verloren nach ziemlich kurzer Zeit ihre Wirkung wieder und mussten regelmäßig erneuert werden. Oder sie waren von einem wirklich verflixt mächtigen Magier ins Leben gerufen worden. Und das wiederrum glaubte Victor auch nicht. Er hatte sich ein bisschen mit Safall und seiner Schwester befasst. Das waren ganz gewöhnliche, unbedeutende Selkies, für die sich kein Schwanz interessierte. Ihr Klan hatte nichts, aber auch gar nichts, was irgendwelche mächtigen oder einflussreichen Leute auf den Plan rufen würde. Und – Hand aufs Herz – in Schottland gab es keine mächtigen oder einflussreichen Leute. Abgesehen von einem gewissen Genius namens 'Seeungeheuer Nessi' vielleicht, der aber auch viel mehr ein Medienliebling denn eine einflussreiche Persönlichkeit war.

Victor sah auf die Uhr, als Urnue mit leicht genervtem Gesicht wieder neben ihm auftauchte und ihm eine Schüssel mit dem zerpflückten Innenleben einer Pomelo auf den Tisch knallte. Und das lag nicht an seinen sowieso immer blitzschnell und fahrig wirkenden, wenn auch präzisen Bewegungen, die seine Wiesel-Natur mit sich brachte. Es war inzwischen weit über eine Stunde später. Wahnsinn, wie die Zeit verging, wenn man konzentriert studierte.

„Da hast du dein Teufelszeug.“, maulte Urnue. „Jetzt weiß ich, warum du sie nicht selber schälen wolltest. Das ist ja echt ne Sau-Arbeit.“

Victor feixte nur und beließ es bei einem sanftmütigen „Danke.“, um die schlechte Laune seines Getreuen nicht noch weiter anzustacheln.

„Ich geh weiter deine Höhlensysteme erkunden.“, informierte Urnue ihn, schon wieder zum Gehen gewandt.

„Ja, mach das. Falls du den unterirdischen See tief unten im Inneren des Berges finden solltest, und den Drang verspürst, unbedingt drin tauchen zu müssen, dann tu mir bitte einen Gefallen und hole nichts von dort unten rauf. Alles was auf dem Grund des Sees liegt, wurde nicht grundlos darin versenkt.“

„Ich will´s mir merken.“

„Verlauf dich nicht.“, bat Victor noch mit einem zugetanen Lächeln, bevor er sich wieder seinen Studien widmete. Obwohl der Berg, den Victor bewohnte, mit seinen weitläufigen Gängen und Höhlen ein regelrechtes Labyrinth bildete, hatte Urnue es bisher noch nicht geschafft, sich darin zu verirren. Seine Orientierung schien echt gut zu sein. Aber man wusste ja nie. Victor kannte und liebte seinen Berg. Die Höhlen waren zu Zimmern ausgebaut worden und mittels Magie wirklich wohnlich hergerichtet. Alles war sauber und trocken, nichts moderte, nirgends wucherten Moos oder Pilze. Belüftungsturbinen, die einen Luftzug durch sämtliche Gänge und Höhlen fabrizierten, sorgten regelmäßig für Frischluft in den unterirdischen Räumlichkeiten. In einer der Höhlen quoll ein kleiner Wasserfall aus der Wand, also gab es auch fließend Wasser. Für Feuer sorgte Victor selbst, wenn er welches zum Heizen oder Kochen brauchte. Für beides existierten sehr komfortable Einrichtungen. Der Berg stand einer gewöhnlichen Wohnung kaum in etwas nach. Das einzige, an was man sich gewöhnen musste, war die Tatsache, daß es verständlicherweise nirgends Fenster gab. Man musste immer mit Feuer Vorlieb nehmen, wenn man Licht brauchte. Die damit einhergehende Zeitlosigkeit hatte Urnue anfangs ziemlich irritiert. Man bekam keine Tages- und Nachtzeit mehr mit, weil man die Sonne nie auf- und untergehen sah. Es gab hier unten einfach keinerlei Tageslicht mehr, das dem Unterbewusstsein einen gewissen Bio-Rhythmus aufgenötigt hätte.
 

Urnue ließ sich auf Victors mit Fellen abgedecktes Bett fallen, da am Tisch keine weiteren Stühle standen, die er hätte nutzen können. Victors Studierzimmer war nicht dafür gedacht, während seiner Forschungen Gesellschaft zu haben. „Dragomir, ist dir klar, daß wir schon seit 2 Tagen hier sind?“, wollte Urnue wissen.

„Sicher. Aber wir müssen erst nächste Woche wieder an der Uni sein.“

„Das meinte ich nicht.“

„Was sonst?“, wollte Victor mild, aber mit seinen Gedanken doch deutlich mehr in den Büchern, wissen.

„Hast du überhaupt schonmal geschlafen, seit wir hier sind? Oder gegessen?“

„Sehr wenig, gebe ich zu.“

„Warum fesselt dich dieser Fall so?“

Victor sah immer noch nicht aus seinen Dokumenten hoch. „Ich muss möglichst schnell zu einer Lösung kommen. Dem Gaya-Mädchen läuft die Zeit weg.“

„Das ist es nicht.“, behauptete Urnue steif.

Victor lehnte sich zurück, verschränkte nachdenklich die Arme, musterte das Buch noch eine Sekunde säuerlich, als würde es ihm ein Geheimnis verschweigen, und gab dann für den Moment auf. Stattdessen lächelte er seinen Getreuen leicht an. „Urnue, ich muss dir was erzählen.“

„Ja? Leg los!“

„Erinnerst du dich an diese beiden Schläger, mit denen du dich im Tee-Haus treffen solltest, um rauszufinden, was die von mir wollen? Wo dieses Mädchen einem der beiden die Jacke angezündet hat?“

„Ja.“

„Hast du ihre Gesichter noch vor Augen? Würdest du sie wiedererkennen?“

Urnue reagierte mit einer Mischung aus Nicken und Schulterzucken. „Klar.“

„Bitte flipp jetzt nicht aus, wenn du das hier erfährst. Versprich mir, ruhig zu bleiben und keine kopflosen Aktionen loszulassen.“, bat Victor.

„Was ist denn mit den beiden?“, hakte Urnue nach.

„Ich hab dir doch erzählt, daß ich vor 2 Jahren ein horrentes Lösegeld gezahlt habe, um dich zu retten, als Ruppert erschlagen wurde. Das hab ich dir neulich nicht grundlos erzählt. Hier rollen gerade Schicksals-Würfel.“

„Ja!?“ Er verengte skeptisch die Augen und begann schon selber zu kombinieren. Sollten die wirklich ...!?

„Diese zwei sind die Mörder von Ruppert. Mit diesen beiden hatte ich den Deal, daß sie dich am Leben lassen sollen.“

„Da-das sagst du mir JETZT!?“, schnappte Urnue aufgebracht und fuhr vom Bett hoch.

„Setz dich wieder hin, Urnue. ... Ich weiß, was du jetzt denkst. Sie sind nie dafür drangekriegt worden. Wenn du sie das nächste Mal in die Finger kriegst, wirst du sie vermutlich umbringen wollen, für das, was sie getan haben. Aber das darfst du nicht, hörst du? Versprich mir, einen Bogen um sie zu machen. Ich brauche die zwei noch. Vorläufig. Du wirst deine Rache bekommen, das garantiere ich dir. Aber bitte unternimm erstmal nichts. Hier geht es um was größeres.“

Urnue atmete tief durch, ließ sich schwer auf seinen Sitzplatz zurückfallen und starrte mürrisch eine der Wände an. In seinem Kopf überschlug sich gerade alles. Es war fast ein Glück, daß er gerade hier in Victors Berg mitten im tiefsten Nirgendwo war. Er konnte gar nicht weg und irgendwas unternehmen, selbst wenn er gewollt hätte.

„Dieses Gaya-Mädchen von den Orkney-Inseln ... das hat irgendwas damit zu tun. Die hängt in diesem Mord irgendwie mit drin. Ich weiß bloß noch nicht, wie. Ruppert wurde auf den Orkney-Inseln erschlagen. Das ist kein Zufall. Gib mir noch etwas Zeit, bis ich die Zusammenhänge geklärt habe, okay?“

„Okay.“, gab Urnue nur zurück. Was hätte er auch sagen sollen? Finster kombinierte er in seinem Kopf die Tatsachen hin und her. „Weißt du, was ich mir gerade überlege?“, hob er schließlich von neuem an. „Du sagst, dieser Zauber wäre zu langlebig. Nur Flüche würden so lange überdauern, alle anderen Zauber müssten regelmäßig erneuert werden. ... Vielleicht WIRD er ja regelmäßig erneuert.“

„Was meinst du damit?“, fragte Victor, hellhörig geworden.

„Du sagst, das Mädchen ist von den Orkney-Inseln, wo Ruppert von Cord und Third Eye erschlagen wurde. Jetzt ist dieses Mädchen in Düsseldorf, und diese beiden genauso. Du hast Recht. Das kann kein Zufall sein, daß wir uns alle in Düsseldorf wiedergetroffen haben. Wer sagt, daß sie nicht immer noch hinter dem Mädchen her sind und den Fluch – oder weiß der Geier, was es nun ist – regelmäßig erneuern?“

Victor warf einen überaus dummen Blick auf seine Unterlagen, als müsse er akut überlegen, welches der Bücher jetzt das Gebot der Stunde war, und begann dann hektisch zu blättern. „Das ist gut! Urnue, du bist gut! Das könnte die Lösung sein. Auf die Idee kam ich noch gar nicht. Dieses Mädchen verlässt die Universität nie. Ich hab gar nicht in Erwägung gezogen, daß die beiden sich vielleicht auf dem Kampus rumtreiben könnten. Aber vielleicht sind es auch gar nicht sie selber.“

Hausierer

Safall hörte auf, Gitarre zu spielen und griff nach einer Strähne seiner langen Haare. Irgendwas war ihm aus den Augenwinkeln komisch daran vorgekommen. Sie war plötzlich weinrot geworden. Alle seine Haare! Auch die Körperbehaarung auf den Armen hatte die Farbe gewechselt. Von der Bassistin kam mit ein paar Sekunden Verzögerung gleichfalls ein empörtes Aufbegehren. Die Musik brach komplett ab. Safall sah sich um. Sie und der Schlagzeuger hatten ebenfalls beide weinrote Haare.

Salome lachte sich scheckig. „Wie geil. Das funktioniert!“, stellte er fest. Er hatte als einziger keine roten Haare bekommen.

„Warst du das?“, wollte Safall säuerlich wissen. Er fand das gar nicht lustig, wenn andere Leute mittels Magie an seinem Aussehen herumpfuschten.

„Mh, eigentlich sollten die Haare orange werden, und nicht dunkelrot. Da muss ich wohl nochmal etwas am Text feilen. Aber im Großen und Ganzen ... ja, passt schon.“

„Was für ein Text?“, mischte sich ihr Drummer ein.

„Mein neuer Songtext. Das Lied, das wir gerade gespielt haben. Das ist ein Fluchtext.“

„Du schreibst Fluchlieder? Bist du von allen guten Geistern verlassen!?“

„Was glaubst du, warum ich überhaupt in ner Band singe?“, grinste Salome. „Das ist genau das, was ich schon immer wollte: Fluchlieder komponieren. Die Fluchwissenschaft mit Musik kombinieren. Das war mein Traum, seit meiner Kindheit.“

„Du bist ja nicht ganz sauber!“, entschied Safall. „Mach das sofort wieder rückgängig! Ich will nicht mit roten Haaren draußen rumlaufen.“

„Der Fluch verpufft in einer Stunde ganz von selber wieder, keine Angst. Und ich habe nicht vor, böse Flüche zu singen. Ich will mein Publikum ja nicht ernsthaft verfluchen, ich will nur ein bisschen Schabernack treiben. Damit werden wir eine abgefahren coole Band, glaubt mir! ... Nagut, noch bin ich in der Experimentierphase. Aber ich konnte gerade beweisen, daß es tatsächlich möglich ist, Fluchlieder zu schreiben! Das hat noch keiner vor mir geschafft.“

„Weil´s noch keiner vor dir versucht hat! Weil´s auch Schwachsinn ist!“, grummelte ihr Drummer nur genervt. Er fand, daß Flüche beim besten Willen nichts mit Kunst zu tun hatten. Und wenn, dann war es eine verdammt morbide Kunst.

Salome angelte nach zwei Flaschen Bier aus dem Bierkasten, den sie immer hier im Probenraum herumstehen hatten, und reichte sie weiter. Bei echten Rockern ging es halt häufig um nichts anderes als die Vernichtung von Alkohol. „Los, das feiern wir!“, legte er euphorisch fest und griff nach den nächsten Flaschen.

„Ich bin mir noch nicht so sicher, ob das feiernswert ist.“, schlug nun auch der Schützling der Bassistin mit in das gleiche Horn. Er hatte wie immer am Rand gesessen und zugehört, während seine Genia Intima mit Proben beschäftigt war. Auch auf ihn als bloßen Zuhörer hatte der Rotschopf-Fluch durchgeschlagen. Er schnappte sich ungefragt eine Flasche Bier. Er fand, wenn er mit als Testobjekt herhalten musste, hatte er die nicht weniger verdient als die Band.

Der einzige, der halbwegs begeistert zu sein schien, war Salomes Fuchsgeist. „Kannst du diesen Fluch dauerhaft wirksam machen?“, wollte er wissen. „Das wäre mal nützlich! Nie wieder Haare färben!“
 

Hedda schaute hoch, weil ihr Kater plötzlich mit gespitzten Ohren vom Bett aufsprang und neugierig davontrabte. Da erst hörte sie es auch. Die Tür zu ihrem Zimmer stand offen, sonst hätte Hedda es überhaupt nicht gehört. Sie legte langsam ihr Buch zur Seite. Leise, scharrende Geräusche an der Wohnungstür. Safall war das nicht. Der hatte einen Schlüssel. Und für gewöhnlich gab er sich nicht so viel Mühe, leise zu sein. Aus dem toten Winkel sah sie einen Schatten an der Wand entlang huschen und zu Sewill weitergehen. Schleichenden Schrittes. „Was zur Hölle ...!?“, flüsterte Hedda fassungslos und stand auf, um hinterher zu gehen.

Die Wohnungstür stand noch offen. Einen Moment lang unschlüssig überlegte sie, was sie tun sollte. Dann ging sie hin, schloss die Tür wieder und zog ihren Schlüsselbund hervor, um von innen abzuschließen. Was auch immer da gerade in Sewills und Safalls Zimmer hockte, würde ihr ganz sicher nicht entkommen. Sie bemühte sich, mit den Schlüsseln nicht allzu laut zu klimpern. Dann platzte sie forschen Schrittes zu dem weißen Selkie-Mädchen hinein.

Mitten im Raum stand der widerliche, gelbzähnige Hausmeister und gaffte sie erschüttert an. Er war zu Tode erschrocken über die Störung. „Was tust du hier?“, krächzte er entrüstet und trat einen Schritt zurück.

„Ich wohne hier, wenn´s genehm ist! Darf man fragen, was Sie hier tun?“, erwiderte Hedda und schaute sich weiter um. Sewill lag auf dem Bett und schien zu schlafen. Sicherlich mit einem mächtigen Schlafzauber ins Land der Träume befördert, sonst wäre sie schon längst aufgewacht.

„Warum bist du nicht bei den Vorlesungen?“, wollte der Hausmeister wissen und versuchte dabei hitzig zu klingen, als hätte er einen berechtigten Grund, ärgerlich zu sein. Als ginge ihn der Tagesablauf der Studenten sehr wohl etwas an.

„Ich wüsste nicht, was Sie das kümmern sollte.“

Er schaute sich nervös nach einem Fluchtweg um. „Safall hat mich gebeten, gelegentlich nach seiner Schwester zu sehen, wenn er nicht da ist.“, versuchte er sich herauszureden. Leider war er ein zu schlechter Schauspieler um glaubhaft zu wirken. Er merkte selber, daß er durchschaubar war.

„Lüge! Dafür hat er mich! Raus mit der Sprache! Was haben Sie notgeiler, alter Bock hier zu suchen? Karorinn hat mich schon vor Ihnen gewarnt, als ich hier eingezogen bin! Sie stellen jungen Mädchen nach, was?“

„Ja! Ja, das ist es!“, nickte er eifrig. „Hast mich erwischt!“, stimmte er zu und hechtete dann an Hedda vorbei, um das Weite zu suchen, wurde aber bereits im Flur wieder gestoppt, als er die Wohnungstür verschlossen vorfand.

Hedda verengte argwöhnisch die Augen. Diese Ausrede, die sie ihm vorgeschlagen hatte, hatte er etwas zu bereitwillig angenommen. Da war noch mehr. Sie schaute sich nochmal im Zimmer um, fand aber außer der nach wie vor fest schlafenden Sewill nichts ungewöhnliches. Also folgte sie ihm.

Der abgewrackte Hausmeister hatte sich inzwischen von seinem Schreck erholt und ging, da er keine Fluchtmöglichkeit fand, in den Angriff über. „Wenn ich´s mir recht überlege ...“, begann er böse, packte Hedda am Schlawittchen und schob sie rückwärts zurück in Sewills Zimmer. „... hab ich doch kein so großes Interesse an euch Mädchen. Aber ich glaube, du hast was, das mir gehört. Du bist doch die, die immer mit dieser japanischen Yôkai durch die Gegend zieht! Wäre ja ein schöner Zufall, wenn du grundlos hier bei diesem Mädchen wohnen würdest.“, meinte er mit Deut auf Sewill.

Hedda konnte gar nicht so schnell Zusammenhänge herstellen. Soleil, Sewill, und etwas, das ihm gehörte? Ihr fiel nichts ein, wie sie diese drei auf eine Gleichung bringen sollte. Sie hatte nichts, was diesem Kerl gehörte! Und der Umstand, daß er gerade in einen handfesten, tätlichen Übergriff überging und sie körperlich bedrängte, machte ihr ziemlich Angst. Vielleicht hätte sie die Tür doch nicht abschließen sollen!

„Du warst doch mit der Yôkai im Tee-Haus! Gib es zu!“

„Ja. Mehrfach!“, stimmte Hedda verwirrt zu.

„Und du hast dort etwas gefunden! Rück es wieder raus!“

„Was!?“ Es dauerte noch eine Sekunde, dann kam der Gedankenblitz. „Das Amulett?“

„Ich sehe, du weißt wovon ich rede!“, griente der schmuddelige Hausmeister zufrieden. Inzwischen hatte er Hedda mit dem Rücken gegen den Kleiderschrank geschoben und baute sich drohend vor ihr auf. „Gib mir das Fluch-Medaillon zurück! Ich brauch es wieder, hörst du?“

„Ich hab es nicht mehr!“, wehrte Hedda eingeschüchtert ab.

„GIB ES HER!“, schrie er. War das schon mehr als Ungeduld? Schwang da schon Panik mit? Er schien das Ding wirklich dringend zu brauchen. „GIB ES MIR, SOFORT!“ Er schüttelte Hedda und wuchtete sie immer wieder rückwärts gegen den Schrank.

Hedda schnappte eine Sicherung raus. „Ich hab das blöde Ding nicht mehr!“, schrie sie zurück, holte aus und stempelte ihm in Notwehr die blanke Faust auf die Nase.

Getroffen ließ er sie los und taumelte zurück. Und hielt dann blöd glotzend inne, als er sich selber dort stehen sah.

Hedda hatte, da sie allein in ihrem Zimmer gesessen hatte, keine Handschuhe getragen. Der direkte Hautkontakt zwischen ihrer Faust und seinem Gesicht hatte bewirkt, daß sie mit ihm den Körper getauscht hatte. Der 'verfluchte Fluch' war ja nach wie vor im Gange. Ohne nachzudenken handelte Hedda affektartig weiter. Sie griff nach einem schweren Gegenstand vom Schreibtisch und zog ihn dem Hausmeister – also quasi sich selbst – über den Kopf. Der sackte, in ihrem Körper steckend, in sich zusammen und blieb reglos liegen.

Hedda atmete schwer durch und versuchte die Situation wieder unter Kontrolle zu bekommen. Was in Gottes Namen war hier gerade passiert? Sie bemerkte erst jetzt, daß sie im Körper des Hausmeisters steckte. Ihr eigener Körper lag ohnmächtig vor ihr auf dem Boden. Obwohl sie es aufgrund der häufigen Körpertausche mit Sewill inzwischen gewohnt war, war es immer wieder spooky, sich selbst ins Gesicht zu schauen. Ihr Blick wanderte zu dem Briefbeschwerer in ihrer Hand. Sie ahnte, daß ihr der beherzte Schlag später noch leid tun würde, wenn sie dann wieder wach war und wieder in ihrem eigenen Körper steckte. Aber jetzt hatte sie erstmal ganz andere Sorgen. Was wollte der Hausmeister mit dem Amulett, das die beiden Schläger im Tee-Haus verloren hatten? Was hatte der Alte mit den Schlägern zu schaffen? Kurzerhand beschloss sie, ein paar Recherchen zu betreiben. Wo sie ohnehin einmal mit dem Gesicht des Hausmeisters rumlief, sollte ihr das nicht schwer fallen. Sie zerrte ihren eigenen ohnmächtigen Körper an den Klamotten in ihr Zimmer, fesselte ihm die Hände und Füße und schloss ihn dann auch noch in ihrem Zimmer ein. Sie hoffte, das würde vorläufig genügen, damit der Hausmeister nicht türmte, solange sie weg war. Für Safall ließ sie eine kurze Nachricht da, was passiert war, damit er ihn nicht versehentlich frei ließ, wenn er zurück kam und ihn drinnen toben hörte. Für ihn sah er ja schließlich nach Hedda aus.
 

Keine halbe Stunde später stand Hedda in einer Seitengasse herum, beobachtete verstohlen das Tee-Haus und überlegte, ob sie da jetzt wirklich reingehen sollte. Tatsächlich hatte sie keine Ahnung, wie sie auftreten und sich geben sollte, um glaubwürdig zu erscheinen. Sie kannte den Hausmeister ja gar nicht. Man würde bestimmt sofort merken, daß mit ihm etwas nicht stimmte. Ihr Vorhaben kam ihr plötzlich gar nicht mehr so einfach vor. Eine schwere Pranke fiel unvermutet auf ihre Schulter und ließ sie quietschend herumfahren.

„Hey, Hausierer, mit dir haben wir ja gar nicht gerechnet. Bist ja zeitig dran.“, bellte einer grüßend und grinste ihn an.

Hedda schaute die beiden mit großen Augen an. Das waren die zwei Schläger von damals. Das ging ja schnell, daß sie auf die beiden traf. Wenn sie nur wenigstens gewusst hätte, wie die hießen, damit sie sie irgendwie anreden konnte. Sie würden sonst schnell Verdacht schöpfen. „Hi. Ja ... ähm ...“ Sie kratzte sich überfordert den strähnigen Kopf und überlegte fieberhaft, was sie sagen sollte. „Es gab da ein paar Probleme, wisst ihr? Mit dem ...“ Wie hatte der Hausmeister es genannt? „Mit dem Fluch-Medaillon.“

„Hast du´s immer noch nicht zurück?“, hakte einer der beiden nach.

„Nein.“

„Versager! Naja, egal. Los, lass uns endlich in irgendeine Kneipe gehen.“
 

Hedda würgte sich einen Schnaps herunter und hustete.

„Was ist denn heute los mit dir, Hausierer? Verträgst du den Sprit nicht mehr? Du kippst dir das Zeug doch sonst immer feste in die hohle Birne rein.“

„Ja, man, du bist heute voll komisch.“

Hedda schaute die beiden nicht an, von denen sie inzwischen immerhin wusste, daß sie Cord und Third Eye hießen. „Ich bin heute echt nicht auf der Höhe.“, grummelte sie nur, in der Hoffnung, den Hausmeister halbwegs gut zu imitieren.

„Wenn du das Fluch-Medaillon noch nicht wieder hast, hast du wohl auch den Zauber noch nicht erneuern können, oder?“, hakte Cord nach.

Hedda schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Dann sieh zu, daß du´s wiederkriegst!“

„Das Mädchen hat es nicht mehr. Ich weiß nur noch nicht, wo es hin ist.“

„Dann finde es!“, trug Third Eye ihr auf, als ob das so einfach wäre.

„Wo-Wozu sagtet ihr, braucht ihr das Medaillon gleich nochmal?“, wollte Hedda vorsichtig wissen, aus Angst, sich mit dieser seltendämlichen Frage endgültig zu verraten. Sie schob das Schnapsglas von sich. „Verdammisch, ich hab heute schon zuviel von dem Zeug gesoffen. Ich bin ganz Banane im Kopf.“, fügte sie noch an, um ihr absonderliches Verhalten den beiden Schlägern irgendwie plausibel zu machen.

Third Eye schüttelte tadelnd den Kopf. „Du solltest echt mal weniger saufen, Hausierer. Auf dem Medaillon liegt ein Fluch, das weißt du doch! Aber weil der, der von dem Fluch eigentlich getroffen werden sollte, schneller tot war als wir gucken konnten, ist der Fluch auf uns zurückgefallen. Weil er sonst kein anderes Opfer außer uns als Ersatz finden konnte! Darum musst du dieses blöde Ding unbedingt wiederfinden, verstehst du mich!? Wir müssen den Zauber, der uns den Fluch vom Hals hält, so bald wie möglich erneuern, sonst schlägt er wieder durch!“

Hedda kratzte sich wieder am Kopf. Die verwilderten, ungewaschenen Haare waren echt unangenehm. Warum sahen eigentlich alle Verbrecher so aus? Cord und Third Eye hatten genau die gleichen verlotterten Haare. „Mit dem Selkie-Mädchen? Das wird euch aber nicht mehr lange nützen. Das ist schon halb tot.“, gab sie zu bedenken. Vielleicht suchten sich die beiden ja ein anderes Opfer. Das wäre zwar auch nicht schön, aber zumindest wäre Sewill erstmal gerettet. Für das neue Opfer hatte man dann ja wieder ein paar Jahre Zeit, um sich eine Lösung zu überlegen. Erst beim nochmaligen Nachdenken über die Sachlage fiel ihr auf, daß die beiden Gauner gar nichts davon gesagt hatten, daß Sewill für den Zauber von Nöten wäre. Sewill hatte lediglich das Fluch-Medaillon in die Hände bekommen, das die beiden wiederhaben wollten. Nicht mehr und nicht weniger konnte Hedda mit Sicherheit sagen. Mist. Hoffentlich war das jetzt nicht das Ende ihres Gespräches, weil sie endgültig aufgeflogen war. Sie griff nach der Schnapsflasche und goss sich schnell noch einen ein. „Ich glaube, das hängt alles irgendwie mit diesem Akomowarov zusammen.“, wechselte sie das Thema.

„Natürlich hängt das mit Victor zusammen, du Idiot! Wegen dem machen wir diesen ganzen Zirkus doch! Was ist denn heute bloß los mit dir!?“

willentlich

„Es ist also kein Fluch im eigentlichen Sinne. Es ist nur ein Zauber, der einen Fluch von den beiden weglenkt.“, schloss Hedda ihren Bericht. Sie saß gerade mit Safall und Salome im Studentenkeller, trank einen über den Durst und erzählte dabei, was sie herausgefunden hatte, während sie in der Gestalt des Hausmeisters unterwegs gewesen war. Safall – dessen Haare wie versprochen inzwischen wieder schwarz waren – war ziemlich sauer, daß Hedda sich so in Gefahr gebracht hatte und unbedingt mit zwei Schwerverbrechern einen trinken gehen musste. Aber das störte sie nicht. Sie fand, ihre neuen Erkenntnisse waren das allemal wert gewesen. „Ich konnte natürlich nicht dämlich ranfragen, welcher Zauber genau es ist. Das wäre zu offensichtlich gewesen. Ich wollte mich ja nicht verraten.“, fügte sie an.

„Ne Fluchumleitung? Wie geil ist das denn!?“, jubelte Salome beinahe. Als Student der Fluchwissenschaft musste er für sowas natürlich Begeisterung aufbringen. „Das ich sowas mal mit eigenen Augen sehen darf! Das ist extrem seltene Magie! Und auch nicht ganz ohne, möchte ich anmerken.“

„Wenn sie so selten ist, wird die Auswahl an möglichen Zaubern ja entsprechend gering sein. Dann können wir Sewill sicher helfen.“, überlegte Safall.

Salome schüttelte den Kopf. „Ohne das Amulett können wir gar nichts machen. Und das hat Professor Akomowarov gerade.“

„Ist vielleicht auch gut so. Es klang, als könnten die ohne das Amulett den Zauber gar nicht erneuern. Ist doch gut für Sewill. Dann muss es mit ihr ja automatisch wieder bergauf gehen.“, meinte Hedda.

„Nicht zwingend. Es gibt auch genug Zauber, die dir schaden, wenn du sie nicht regelmäßig erneuerst. ... Aber trotzdem, jetzt gibt einiges auch viel mehr Sinn. Das Amulett sollte keine Flüche abwehren, sondern anziehen. Mit dem Zeichen darauf wäre das möglich. Es kann sowohl abwehrende als auch anziehende Wirkung haben, wenn man es im richtigen Kontext anwendet. Sowas wie eine doppelte Verneinung, die dann wieder zu einer positiven Aussage wird. Aber das ist unüblich. In 99 Prozent der Fälle wird es zur Fluchabwehr genutzt. Auf die Idee, daß jemand fluchanziehenden Schmuck mit sich rumträgt, kommt ja auch keiner.“

„Wenn ihr Fluch an dieses Amulett gebunden ist, warum zerstören sie es dann nicht einfach? Akomowarov sagte doch, daß man einen Fluch an etwas binden muss und dafür meistens Dinge nimmt, die man leicht wieder zerstören kann, falls man den Fluch wieder aufheben will.“

„Genau das ist der Haken. Das Amulett war aus Silber, 999 Sterling, also so gut wie pur. Reines Silber ist gar nicht so leicht zu zerstören wie du denkst. Feuer und Wasser heben Silber nicht an. Es schmilzt vielleicht ein bisschen zusammen und ändert die Form, aber zerstört wird es von Feuer nicht. Und rosten tut es genauso wenig.“

„Man kann beim Juwelier Säure-Tests kaufen, mit der man die Echtheit von Silber feststellen kann.“, hielt Hedda dagegen.

„Klar, aber die verfärben nur die Oberfläche ein bisschen. Es ist ja nicht das Ziel dieser Tests, das wertvolle Silber zu vernichten. Der Juwelier will das Silber schließlich noch verkaufen, nachdem er die Echtheit geprüft hat. Wenn du einen ganzen Klumpen Silber in diese Suppe reinschmeißt, dauert es Jahrzehnte, bis der komplett zerstört ist. Solange werden unsere beiden Pappenheimer wohl kaum mit dem Fluch leben wollen.“, meinte Salome nachdenklich. „Haben sie gesagt, was für ein Fluch das gewesen ist?“

„Nein. Und ich hab auch nicht gefragt. Sie haben nichtmal gesagt, wen der Fluch eigentlich treffen sollte. Nur, daß derjenige schneller tot war als sie dachten und der Fluch deswegen auf sie zurückgesprungen ist. Klang so, als hätten sie das Fluchritual nicht beenden können, bevor das Opfer gestorben ist.“

„Schon möglich. Flüche verpuffen nicht einfach, wenn sie ins Leere laufen. Wenn kein Zielobjekt da ist, suchen sie sich selber eins. Darum gab es zu allen Zeiten immer wieder Deppen, die sich versehentlich selber verflucht haben.“, nickte Salome.

Safall seufzte leise. „Die haben was mit Professor Akomowarov zu tun, schön und gut. Die beiden Schläger, das Amulett, der Fluch, der Tote, dieser Akomowarov, das gibt alles ein Bild. Das könnte schon alles Sinne ergeben. Aber wenn ich nur wüsste, was Sewill in dem ganzen Konstrukt für eine Rolle spielt ...“

„Wahrscheinlich gar keine.“, entschied Salome. „Sie ist wohl einfach nur ein zufälliges Opfer, das zur falschen Zeit am falschen Ort war, wie so meistens.“

„Glaub ich nicht.“

„Na, willst du deiner Zwillingsschwester etwa eine Verstrickung in kriminelle Machenschaften anlasten?“

„Nein, das nun auch wieder nicht ...“, wehrte Safall missmutig ab.

„Wir sollten mit Professor Akomowarov darüber reden. Aber der ist erst nächste Woche Dienstag wieder hier an der Uni. Wir müssen sehen, daß wir ihn da erwischen. Er neigt immer dazu, ziemlich schnell über alle Berge zu sein, wenn man ihn nicht gleich schon im Hörsaal festhält.“
 

„Denkst du das gleiche wie ich?“, wollte Hedda wissen, als sie an diesem Abend mit Safall allein in der Bibliothek saß. Natürlich in der Bibliothek. Wo sonst!?

„Was genau meinst du? Mir schwirrt gerade vieles durch den Kopf.“, wollte Safall stöhnend wissen und lehnte sich zurück. Er musste kurz aufhören, über seinen Notizen zu brüten, die trotz allem Bemühen keinen Zusammenhang ergeben wollten.

„Sewill verschweigt uns was, meinst du nicht? Sie muss doch davon wissen. Sie muss doch IRGENDWAS wissen. Der Hausmeister scheint regelmäßig in deiner Studentenbude ein und aus zu gehen, um irgendwelche seltsamen Zauber um Sewill herum zu erneuern, und sie behauptet ernsthaft, sie wüsste von nichts? Sie ist zu Hause in Schottland mehr oder weniger direkt das Opfer eines Fluches geworden, und die Typen, die dran Schuld sind, haben sie sogar bis hierher nach Düsseldorf verfolgt, und sie behauptet ernsthaft, sie hätte keine Ahnung davon gehabt? Es kann doch nicht sein, daß sie absolut gar nichts mitbekommen hat! Lag sie denn die ganze Zeit im Koma, oder was?“

Safall neigte nachdenklich den Kopf zur Seite. „Es muss nichtmal böswillig sein. Es gibt sehr effektive Gedächtniszauber, die dich sowas vergessen lassen. Vielleicht hat unser Hausmeister ja eine Begabung für Gedächtniszauber, wer weiß. Mir macht es eher Sorgen, daß die uns von Schottland bis hierher nach Düsseldorf verfolgt haben, wie du schon sagst. Weißt du, was ich glaube? Das hängt mit dem Ruppert-Edelig-Mord zusammen. Der wurde auf den Orkney-Inseln erschlagen, da wo Sewill und ich herkommen. Dieser Akomowarov hängt da mit drin. Und diese beiden Kerle, die ich im Tee-Haus gesehen habe, auch. Ich schwöre Stein auf Bein, daß es die beiden waren, mit denen du heute Vormittag einen trinken warst. Deine Beschreibung passt wie die Faust auf´s Auge. Die beiden wollten Edelig verfluchen. Akomowarov hat, wo er von den Mordplänen wusste, den beiden Geld gezahlt, damit sie Edeligs Genius Intimus am Leben lassen. Und jetzt sind diese beiden hier und hinter Sewill her. Das passt alles zusammen. Zeitlich, räumlich, einfach alles. Es ist dieser Edelig-Mord!“, beharrte Safall.

„Mal angenommen, es wäre wirklich ein Gedächtniszauber am Werk, könnte man den wieder aufheben? Könnte man Sewill dazu bringen, sich wieder zu erinnern?“

Er deutete ein leichtes Kopfschütteln an. „Ein guter Gedächtniszauber ist irreversibel. Ist eine Erinnerung einmal gelöscht, bleibt sie verloren.“

„Zumindest für denjenigen ...“, überlegte Hedda. „Du bist doch Hellseher, Safall. Versuch doch selber mal dein Glück! Deine Begabung erstreckt sich doch sowieso vordergründig auf Vergangenes.“

„Ich weiß nicht ... So gut bin ich nun auch wieder nicht, konkrete Personen an konkreten Orten zu einem konkreten Zeitpunkt zu finden, ohne genaue Namen und Daten zu haben. Ich studiere ja schließlich noch. Ich bin erst im 2. Studienjahr.“

„Also bitte. Du gehörst zu den Jahrgangsbesten.“, neckte das Mädchen ihn und rüffelte ihn mit dem Ellenbogen. „Das wirst du doch wohl hinkriegen.“

„Dazu müsste ich mehr wissen. Zumindest das genaue Datum und den genauen Ort des Mordes, am besten auch noch die Uhrzeit. Und den korrekten Namen von irgendeinem von denen. 'Third Eye' ist nur ein Deckname. 'Cord' alleine nützt mir auch nichts, ohne dazugehörigen Familiennamen ...“

„Versuch´s doch mal mit Ruppert Edelig.“

„Sehr wahrscheinlich auch nur eine Kurzfassung seines vollständigen Namens.“

„Herr Gott nochmal, dann nimm Sewill. Den korrekten Namen deiner Zwillingsschwester wirst du ja wohl wissen, oder?“

Safall verzog nur unleidlich das Gesicht und betrachtete wieder den großen Notizzettel, auf dem er alle Fakten und Wahrscheinlichkeiten zu Sewills schlechter Verfassung zusammengetragen hatte.

„Du willst gar nicht, oder?“, bohrte Hedda unbarmherzig weiter.

„Nein, will ich nicht!“, blaffte Safall herrisch zurück. „Ich will mir keinen Mord ansehen! Ich will nicht Augenzeuge davon werden, wie jemand umgebracht wird! Denk doch mal ein bisschen an mich und wie es mir dabei geht, wenn ich solche Visionen habe! Sowas live mitzuerleben, ist traumatisch! Es verändert einen da oben!“ Er tippte sich vielsagend gegen den Schädel, um zu verdeutlichen, was er meinte. „Ich will es nicht so weit bringen, daß ich noch psychologische Hilfe nötig habe!“

Hedda zog reumütig den Kopf ein. So hatte sie das wirklich noch nicht betrachtet.

„Und da liegt auch schon das größte aller Probleme. Ich kann keine Visionen heraufbeschwören, die ich gar nicht sehen will. Wenn ich mich innerlich schon dagegen sträube, wird sich mein Geist diesen Bildern gar nicht erst öffnen. Es wäre aussichtslos, wenn ich es auch nur versuche.“

„Aber was ist mit den Visionen, die du zufällig einfängst, ohne es vorher zu wollen oder zu wissen? Du hast doch häufig im Schlaf Visionen von irgendwelchen wahllosen Leuten, von denen du vorher überhaupt nichts wusstest. Und da war auch nicht immer nur schönes Zeug dabei.“

„Das ist was anderes. Diese Visionen beschwöre ich nicht bewusst oder willentlich herauf. Und da weiß ich ja vorher auch nicht, daß es was schlimmes ist, was ich gar nicht hätte sehen wollen. Solche Visionen gewollt herauf zu beschwören, ist wie der Versuch, auf eine glühend heiße Herdplatte zu greifen. Alle deine Reflexe arbeiten dagegen. Du WIRST da nicht draufgreifen, egal wie sehr du es versuchst. ... Es sei denn du bist Masochist oder irgendwie autoaggressiv gestört.“

Hedda schien irgendwie noch nicht so ganz überzeugt. „Es gibt aber Hellseher bei der Polizei und so weiter, die extra dafür bezahlt werden, solche Visionen mutwillig herauf zu beschwören, um bei den Ermittlungen zu helfen.“

„Ja. Die sind auch keine Studenten im 2. Jahr mehr. Ich kann sowas nicht. Ich habe noch viel zu lernen.“, meinte er verbittert und machte mit seinem Tonfall deutlich, das Thema jetzt beenden zu wollen. Er war die Diskussion leid. „Und als meine Nebengetreue steht es dir sicher nicht an, mir mit sowas Vorhaltungen zu machen oder mir gar Befehle zu erteilen.“

Hedda hob ergeben die Hände und hielt die Klappe.
 

„Du bist so still. Du hast was auf dem Herzen, oder?“, wollte Soleil wissen. Es war Montag. Sie und Hedda saßen gerade in der Mittagspause im kleinen Park vor dem Uni-Gebäude. Soleil stopfte mit Heißhunger irgendein undefinierbares, asiatisches Essen in sich hinein, während Hedda ihres noch nichtmal angerührt hatte. Sie waren nichtmal in die Mensa gegangen, weil Hedda nicht wirklich nach Essen zu Mute war. Sie saß nur mit ein paar Keksen im Gras herum, auf die sie keinen Appetit hatte.

Hedda registrierte die Frage sehr wohl, sagte aber lange nichts. Schaute auch nicht auf. Professor Akomowarov hatte ihnen deutlich genug nahe gelegt, mit niemandem über den Edelig-Mord zu sprechen. Und Hedda war sich der Konsequenzen durchaus bewusst, wenn sie es doch tat und es an falsche Ohren geriet. Wie hätte sie Soleil irgendwas über ihre Erkenntnisse rund um den 'verfluchten Fluch' oder Safalls Schwester erzählen können? Sie hätte dieses belastende Wissen gern mit jemandem geteilt. Nur wie? Und mit wem? Safall blockte das Thema ab. Er wollte sich nicht weiter damit auseinander setzen, bevor er Professor Akomowarov wieder gesprochen hatte, um sich nicht auf falsche Informationen oder Mutmaßungen zu versteifen, die vielleicht gar nicht stimmten. Er fand, es brächte nichts, sich sinnlos im Kreis drehend die Köpfe heiß zu reden. Und diesen Standpunkt konnte Hedda sogar nachvollziehen. Dennoch hätte sie gern jemanden zum Reden gehabt.

„Ist es was bestimmtes? Oder bist du einfach nur unglücklich mit deinem Leben? Macht diese Getreuschaft dir immer noch so zu schaffen?“, wollte Soleil wissen, da ihr eine Antwort zu lange aus blieb.

„Es sind verschiedene Dinge, die mir gerade zu schaffen machen.“

„Du bist immer noch für Uhren-Mechanik eingeschrieben. Du hast den Studiengang nicht gewechselt. Safall hat dich deshalb wieder zur Schnecke gemacht, oder?“

„Nein, das nicht. Es war einfach nicht möglich, daß ich einen Neigungswechsel einreiche. Es gab keinen magischen Studiengang in den ich hätte wechseln können. Ich bin ja nicht magisch begabt, so oder so. Das hat Safall inzwischen eingesehen. Nicht, daß er mich deswegen jetzt Uhren-Mechanik weiterstudieren lassen würde! Er steckt mich nach wie vor in jede Magie-orientierte Vorlesung, die er für richtig hält.“

„Was ist es dann?“, gängelte Soleil weiter. Sie wollte sich nicht geschlagen geben.

„Ich weiß es nicht.“

„Hast du keine akuten Wünsche? Oder Bedürfnisse? Nichts, was dir gerade helfen würde, dich besser zu fühlen? Nichts, wo du meinst, das ginge besser?“

„Mir geht dieser Genius nicht mehr aus dem Kopf ...“, gab Hedda also nach. „Dieser Getreue von Professor Akomowarov. Urnue.“

Soleil begann zu strahlen. „Du bist verliebt!“

„Nein! So meinte ich das nicht!“, schimpfte Hedda empört.

„Ich hab ihn vorhin hier auf dem Kampus rumwuseln sehen! Er ist gerade irgendwo hier in der Uni. Aber sicher alleine. Akomowarov kommt nie her, wenn er nicht ...“

„Wo!?“, unterbrach Hedda sie aufgekratzt und plötzlich hellwach bei der Sache. „Wo hast du ihn gesehen?“

„Äh ... Im Wohnheim drüben. Ich frag mich allerdings, was er dort zu suchen hat, jetzt wo ich so recht drüber nachdenke. ... Hedda?“

Das blonde Mädchen war bereits aufgesprungen und rannte Hals über Kopf davon. Ohne Erklärung, Entschuldigung oder Verabschiedung. Ihrer Richtung nach zu urteilen konnte sie nur ins Wohnheim wollen.

„Meine Güte, dieser Urnue muss dir ja gehörig den Kopf verdreht haben.“, murmelte Soleil ratlos.

Medaillon

„Urnue! Gott sei Dank, da bist du ja!“, jauchzte Hedda, noch halb außer Atem vom Rennen. War lange her, daß sie so richtig Sport gemacht hatte.

Der Genius Intimus stand vor der Tür des Hausmeisters, der seine Wohnung im Erdgeschoss des Studentenwohnheims hatte, als sie ihn fand. Er drehte sich mit fragendem Blick zu ihr um. „Hi. Hast du mich gesucht?“

Hedda nickte und versuchte ihre Atemnot wieder in den Griff zu kriegen. „Soleil sagte, du wärst hier auf dem Kampus. Ich muss mit euch reden, mit Akomowarov und dir.“

Urnue schaute nochmal die geschlossene Tür vor seiner Nase an. „Ich wollte gerade zu eurem Hausmeister. Er muss mir sagen, wo ich die beiden Schläger aus dem Tee-Haus finde, weißt du?“

„Cord und Third Eye.“, kommentierte Hedda neunmalklug.

Urnue zeigte sich entsetzt. „Woher kennst DU die beiden denn?“

„Vom Hausmeister. Und um genau diese beiden geht es. Ich muss mit euch reden.“

„Na toll ... Wie auch immer, entweder ist der Herr von und zu Hausmeister nicht da, oder er will mir die Tür nicht aufmachen. Ich hoffe für ihn ersteres.“ Urnue wandte sich in aufrechter, selbstsicherer Haltung zum Gehen. „Komm doch mit, wenn ich ihn suche. Dann kannst du mir erzählen, was du auf dem Herzen hast. Zu Akomowarov kann ich dich leider nicht bringen. Der ist nicht hier.“

Hedda stimmte zu und schloss sich ihm an. Besser als nichts. Sie erzählte ihm also von Anfang an die gesamte Geschichte, wie der Hausmeister heimlich in Sewills Zimmer eingedrungen war, das Fluch-Medaillon gesucht hatte, welches sich inzwischen in Akomowarovs Besitz befand, wie sie mit ihm den Körper getauscht und Cord und Third Eye getroffen hatte, wie die beiden ihr von der Fluchumleitung erzählt hatten, und auch, daß das alles sehr offensichtlich mit dem Edelig-Mord zusammenhing. Mit eben jenem Ruppert Edelig, dessen Genius Intimus Urnue gewesen war.

Urnue hörte sich das alles geduldig an, zeigte an keiner Stelle irgendeine Regung, und schaute immerzu nur starr vor sich auf den Weg, während er neben Hedda herging. Er machte kaum noch den Eindruck, nach dem Hausmeister zu suchen, sondern wirkte eher, als folge er einem altbekannten Weg, den er schon längst blind fand. Als habe er schon ein konkretes Ziel im Sinn. „Dragomir hat auch schon vermutet, daß es mit dem Mord an Ruppert Edelig zusammenhängt.“

„Cord sagte, daß mit dem Fluch-Medaillon die Fluchumleitung erneuert werden muss. Und es ist ziemlich offensichtlich, daß der Fluch auf Sewill umgeleitet wurde, auch wenn das noch keiner so wortwörtlich ausgesprochen hat. Ihr Zustand sagt ja alles. Auf den Orkney-Inseln hat es angefangen. Und es ist die einzige Erklärung, warum die allesamt hier in Düsseldorf sind.“

„Nein. Dragomir ist der Grund, warum die hier in Düsseldorf sind. Jemand hat geplaudert und sie an die Polizei verpfiffen. Die sind auf der Suche nach Dragomir, weil sie glauben, er war´s. Das ist der einzige Grund, warum sie hier in Düsseldorf sind. Er ist Dozent an der Zutoro. Der einzige Ort, wo man ihn in die Finger bekommt. Um die Fluchumleitung hätten sie sich von überall auf der Welt kümmern können.“

„Hast du etwa Ahnung von Flüchen und Fluchumleitungen?“, hakte Hedda nach.

Urnue grinste. „Ich bin der Getreue von einem Magister Artificiosus Magicae der Fluch- und Verwunschwissenschaften. Da kriegt man schon das eine oder andere mit.“

„Okay ...“, schmunzelte das blonde Mädchen verstehend. „Das muss ein sehr aufregendes Leben sein, mit einem Mann wie ihm zu arbeiten. Er ist so ein Mysterium, keiner weiß irgendwas über ihn. Ist sicher total spannend, an so jemanden näher heranzukommen. Du weißt Sachen über ihn, die sonst keiner weiß, oder?“

„Schon. Er hat mir ALLES erzählt. Was immer ich wissen wollte, hat er mir bereitwillig ausgeplaudert. Über die Motus, über seine Arbeit dort und danach, bis ins Detail. Er lässt mich seine Gedanken, Emotionen und Aktivitäten wissen. Er lässt mich an seinem Wissen und Können teilhaben. Unsere Talente sind sehr ähnlich gelagert, weißt du? Bannkreise und Kampfzauber beherrschen wir beide.“, erzählte Urnue und klang dabei sehr nüchtern. Nicht wie ein kleiner Junge mit leuchtenden Augen, der das als großes Abenteuer ansah und es genoss. „Aber er gibt auch mir partu keine Fakten zu seiner eigenen Person. Nicht sein Geburtsdatum, nicht seine Herkunft, nicht das Wesen das in ihm steckt ... nichtmal einen Teil seines echten Namens. Er hat zwar diesen schicken, ellenlangen Namen, Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov, aber der ist auch bloß Code.“

„Stimmt es, daß er einen Wohnsitz in Russland hat?“, blöffte Hedda. Sie hatte nichts dergleichen gehört. Das war nur geraten. Um seine Reaktion zu sehen.

Urnue kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann. Er hat einen Rückzugsort, ja, aber das ist kein gemeldeter Wohnsitz mit einer gültigen Postanschrift. Das ist ein Berg irgendwo mitten im tiefsten Gebirge. Da ist in alle Himmelsrichtungen einfach mal gar nichts. In dem Berg existieren weitreichende Höhlensysteme und ein unterirdischer See. Er hat sich diese Höhlen ganz wohnlich hergerichtet. Mir gefällt es da super, ich war schon dort. Aber ich könnte nichtmal sagen, ob das wirklich Russland war.“

„Wie seid ihr denn dort hingekommen?“

„Keine Ahnung. ... Ich ... Ich könnte dir weder den Weg beschreiben, noch den Standort auf ner Landkarte zeigen.“, stellte Urnue in einer Tonlage fest, als sei er selber überrascht darüber. „Ich bin mir nichtmal sicher, in welcher Richtung er liegt.“
 

Der alte, schmuddelige Hausmeister kam mit einer Gartenharke um die Hausecke geschlurkst und rannte beinahe in Urnue und Hedda hinein. Er fluchte erschrocken. Er war natürlich auch sofort entdeckt worden.

„He, Hausierer! Hier geblieben!“, rief Urnue.

Der Alte ließ die Harke fallen und wandte sich zur Flucht.

Urnue zischte irgendein lateinisches Wort, daß Hedda in der Hektik nicht richtig verstand, und streckte die Hand nach ihm aus.

Der Hausmeister stolperte, stürzte und schlug der Länge nach zu Boden. Unmöglich zu sagen, ob Urnues Zauber ihn getroffen hatte oder nicht. Und das war vermutlich auch die Absicht dahinter: Beweise minimieren. Wer wollte abstreiten, daß der verlotterte, notgeile Bock, der sich schon längst das Gehirn weggesoffen hatte, in seiner Panik über seine eigenen Füße geflogen war?

„Wohin so eilig, Freundchen? Dich brauch ich noch.“, stellte Urnue klar, als er neben dem Hausmeister in die Hocke ging, um zu sehen, ob er in Ordnung war, und ihm gegebenenfalls wieder hoch zu helfen.

„Ich hab nichts!“, wimmerte der Alte.

„Ich will ja auch nichts. Ich hab nur ein paar Fragen.“

„Ich weiß auch nichts!“

„Ich hab dich doch noch gar nichts gefragt. Aber wenn du schon vorbeugend solche Angst vor mir hast, bin ich sicher, daß du eine ganze Menge weißt!“

Hedda stand wie ein übergossener Pudel hilflos in der Gegend herum und hatte keinen blassen Schimmer, was sie tun sollte. Als Urnue sich von ihr verabschiedete, sie bat zu gehen, und den Hausmeister schließlich an der Jacke gekrallt vor sich her schob, nickte sie nur und ging wie in Trance ihrer Wege. Erst mit einiger Verzögerung wurde ihr klar, daß sie auch gern und berechtigterweise gehört hätte, was der Alte zu berichten hatte. Aber da war es zu spät. Da war Urnue schon mit ihm verschwunden und sie selbst bereits vor dem Hörsaal angekommen, um ihrer nächsten Vorlesung beizuwohnen. Die Mittagspause war vorbei.
 

Schlecht gelaunt schloss der Hausmeister seine Wohnung auf und bat Urnue herein. Notgedrungen. Eine Wahl hatte er ja nicht. Seine Hütte war die reinste Rümpelkammer. Urnue blieb fast der Mund offen stehen, als er eintrat. Die Wohnung sah so heruntergekommen aus wie er selbst und roch auch so. Alles war fleckig und staubig, in der Küchenzeile stapelte sich das benutzte Geschirr von Wochen, überall standen offensichtlich kaputte, halb zerlegte Gerätschaften herum. Der ganze Boden war förmlich ausgelegt mit den Tageszeitungen von mehreren Jahren. In jeder Ecke stapelten sie sich bündelweise. Jedes bisschen freie Ablagefläche war vollgestopft mit Unrat. Es war ein einziges, heilloses Chaos. Mittendrin stand Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov, schnappte sich ein Buch aus einem Schrank, ließ die Seiten schnell mit dem Daumen durchblättern, warf es desinteressiert zu Boden – was hier sowieso keinen Unterschied machte – und griff nach dem nächsten. Er schien nichts konkretes gesucht zu haben, sondern sich nur die Zeit zu vertreiben, denn als er Urnue und den Hausmeister hereinkommen sah, ließ er den Bücherschrank augenblicklich links liegen.

Der Hausmeister wurde bleich. „A-Akomowarov.“, stellte er ganz richtig fest. „Wie seid Ihr in meine Wohnung gekommen, mein Herr?“

„Mein Herr?“, gab Victor lachend zurück. „Spar dir die Höflichkeiten, Hausierer. Ich weiß, daß du mir nicht wohlgesonnen bist. Und du musst es mir auch nicht glaubhaft machen. Wenn du´s wissen willst, ich bin unter deiner Tür durchgekrochen.“

„Mh.“, machte der Hausmeister nur. Unter seiner Wohnungstür war tatsächlich ein Spalt, der einem kleinen Wesen genug Platz zum Durchschlüpfen geboten hätte. Einer Fliege oder Spinne etwa. Er wusste, daß Akomowarov ein talentierter Gestaltwandler war. Eines der wenigen Dinge, die man überhaupt über ihn wusste. So winzige Formen wie die von Insekten nahm er allerdings nur sehr selten und sehr ungern an und behielt sie nicht länger bei als unbedingt notwendig, weil sie entsprechend leicht zu töten waren. Er wäre schon mehr als einmal fast mit einem Pantoffel erschlagen worden, als er in Gestalt einer Fliege Leute belauschen und ausspionieren wollte. Die Menschen hatten den penetranten, gottgegebenen Drang, jedwedes Ungeziefer in ihrer Umgebung immer sofort und nachhaltig zu beseitigen. Der alte Hausmeister wünschte fast, es wäre irgendwem gelungen.

„Ich höre, du behelligst junge Studentinnen, Hausierer?“, taktete Victor das Gespräch auf und ließ sich in einer runden, hoheitlich aussehenden Bewegung auf dem abgewetzten, löchrigen, fleckigen Sessel nieder. Es hatte etwas würdevolles, wie ein König, der sich auf seinem Thron darnieder setzte. Die Unterarme drapierte er eindrucksvoll links und rechts auf den Armlehnen.

„Wie das?“

„Wurdest du nicht im Zimmer einer gewissen Sewill Gaya aufgegriffen, in das du dir unberechtigt Zutritt verschafft hast?“, wollte Victor wissen. Ja, er hatte alles mitgehört, was Hedda seinem Getreuen Urnue berichtet hatte. Er war dabei gewesen, auch wenn Hedda ihn nicht gesehen hatte.

„Ich habe nur nach einer Kette gesucht. Von dem Mädchen wollte ich nichts.“, hielt der Hausmeister dagegen.

Victor griff in seine Manteltasche und holte das Fluch-Medaillon hervor. Hielt es ihm zwischen Daumen und Zeigefinger baumelnd vor die Nase.

Im Gesicht des Hausmeisters zuckte es, wenn auch zu schnell um die Emotion noch deuten zu können. Aber er hatte offensichtlich verstanden. Und ja, das war die Kette, die er suchte.

„Die gehört Cord. Die erkenne ich sofort wieder. Was willst du damit?“

„Äh ... sie ihm zurückbringen.“

Victor zog ein 'ah ja, das glaube ich dir auf´s Wort'-Gesicht und ließ das Amulett wieder in seiner Manteltasche verschwinden. Er schwieg.

Der Hausmeister schwieg ebenfalls.

Urnue genauso.

Eine ganze Weile lauerte gespenstige Stille im Raum.

Draußen vor dem Fenster gingen ein paar Studenten vorbei, die sich unterhielten.

„Herrgott nochmal, Hausierer, jetzt lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen! Nun rede schon! Was treibt ihr drei hier?“, bat Victor also irgendwann genervt.

„Was sollen wir treiben? Auf dem Medaillon liegt ein Fluch, der Cord und seinen Genius Intimus zu monströsen Missgeburten entstellt. Ich will ja nicht behaupten, daß sie ohne den Fluch wesentlich hübscher wären, aber du weißt, was ich meine. Sie haben einen Weg gefunden, den Fluch zu unterdrücken. Aber dieser Zauber muss regelmäßig erneuert werden, sonst verliert er irgendwann seine Wirkung. ... Aber wozu erzähle ich dir das? Das weißt du doch alles!“, gab der Hausmeister zu bedenken.

„Was hat das Gaya-Mädchen damit zu tun?“

„Weiß nicht!? Was hat sie denn damit zu tun?“, gab er unwissend zurück, als hielte er das für eine Fangfrage, deren Antwort Victor selbst doch wohl am besten wissen müsse.

„Willst du sagen, sie hat nichts damit zu tun?“

„Na, zumindest nicht mit dem Fluch von diesem Medaillon da.“, beharrte er.

Victor fuhr sich nachdenklich mit zwei Fingern die Lippenkonturen nach und überlegte fieberhaft, wie das alles ein Bild ergeben könnte. „Sie muss in dem Mord an Ruppert Edelig mit drinhängen. Irgendwie!“

Der Hausmeister kicherte albern. „Ach, haben etwa Cord und Third Eye den alten Edelig auf dem Gewissen?“ Amüsiert warf er einen Blick zurück zu Urnue, in dem Wissen, daß der mal Ruppert Edeligs Schutzgeist gewesen war. Das war also der Pappkamerad, der seinen Schützling nicht hatte beschützen können. Alter Schwede, das hätte er Cord und Third Eye gar nicht zugetraut. Urnue galt heutzutage als verdammt mächtiger Genius, auch ohne Victors Hilfe. Auch mit Urnue alleine legte man sich nicht gern an.

„Wo haben die beiden den Fluch her und wie genau unterdrücken sie ihn?“, fragte Victor weiter. Das musste einen Zusammenhang zwischen all dem ergeben. Es musste einfach! Er hatte ihn nur noch nicht gefunden.

„Keine Ahnung. Ich verstehe nichts von Flüchen. Du bist der Experte. Ich kann dir nur sagen, daß sie in Schottland einen Mhorag jagen wollten, aber der ist bei seiner Flucht von den Klippen gestürzt und ist umgekommen, bevor sie damit fertig waren, ihn zu verfluchen. Daher ist der Fluch auf sie zurückgefallen. Scheinbar kann man diesen Fluch irgendwie mit einem Zauber unterdrücken. Ich habe einen Kollegen hier, der mir den Zauber aus Gefälligkeit immer mal wieder erneuert, weil er denkt, das Ding würde mir gehören und der Fluch würde mir gelten.“

Victor holte die Kette abermals hervor und starrte sie lange grübelnd an. Was hatte er übersehen? Was nur?

Der Hausmeister zuckte mit den Schultern. „Ich will ehrlich sein. Cord und Third Eye sind Genii-Jäger. Sie waren sehr lange in Schottland aktiv und haben dort etliche Genii gefangen oder umgebracht. Das weißt du selber. Und Ruppert Edelig wurde von den Motus-Fratzen weltweit gesucht, nachdem das alles so hochgekocht ist. Also wenn Ruppert gerade geschäftlich dort unterwegs war und ihnen ins Netz gegangen ist, dann war es reiner Zufall. So wie ich das sehe, war dieses Gaya-Mädchen vielleicht sogar ein Opfer der beiden. Möglich. Aber mit dem Mord an Ruppert Edelig hat das nicht das geringste zu tun. Die einzige Schnittstelle zwischen beiden Fällen ist die Tatsache, daß das Mädchen in den Besitz dieses Fluch-Medaillons gekommen ist.“

Victor warf dem Hausmeister die Kette zu, welcher sie erschrocken auffing, und erhob sich dann aus seinem Sessel. „Da, bring sie den beiden wieder. Ich danke für die Informationen. Sollte ich noch irgendwas brauchen, hörst du wieder von mir.“, meinte er und spazierte aus der schmuddeligen Wohnung hinaus, ohne noch irgendwas darin eines näheren Augenscheins zu würdigen.

„Ja, davon gehe ich aus.“, grummelte der Alte.
 

Victor und Urnue stiefelten gemeinsam über den Kampus davon. Urnue warf dem Magister Artificiosus einen verstohlenen Seitenblick zu. Er überlegte, ob er das für sich behalten sollte. Wenigstens für den Moment. Solange, bis sie wieder unter vier Augen waren. Aber dann konnte er es doch nicht. „Dragomir?“

„Hm?“

„Vertraust du mir?“

Er schaute ihn fragend an. „Natürlich. Hast du den Eindruck, ich täte es nicht?“

„Wieso löschst und veränderst du dann mein Gedächtnis mit irgendwelchen Zaubern?“

Victor gab einen verstehenden Ton von sich und ließ kurz den Kopf hängen.

„Du hast mich schon mehrfach mit in deinen Berg genommen. Aber ich kann nicht sagen, wo der ist. Ich kann mich nicht an den Weg erinnern. Nichtmal wie wir überhaupt da hingekommen sind!“

„Wie bist du darauf gekommen? Der Bann hätte eigentlich verhindern sollen, daß du dir überhaupt einen Kopf über dieses Thema machst.“

„Deine Studenten haben mich danach gefragt.“

Victor zog erschrocken eine Augenbraue hoch. Diesen Teil des Gespräches hatte er offenbar gar nicht mehr mitgekriegt. Hatte er sich da schon auf den Weg zur Wohnung des Hausmeisters gemacht, um vor ihm dort anzukommen? „Die haben dich gefragt, wo mein Wohnsitz ist? Wieso wollen die das wissen?“

Urnue zuckte ratlos mit den Schultern. „Reine Neugier, nehme ich an. Weil du so ein Mysterium bist und keiner irgendwas über dich weiß. Hedda hat es nicht böse gemeint, wenn du das denkst. Sie wollte diese Info nicht für irgendwas verwenden.“

„Urnue, ich will nicht, daß du mit irgendjemandem über mich redest. Auch nicht mit diesen scheinbar so harmlosen Studenten.“, erinnerte Victor ihn ruhig. „Egal, was sie über mich wissen wollen. Das habe ich dich schon mehrmals gebeten.“

„Aber wieso veränderst du mein Gedächtnis!?“, wollte Urnue stur wissen.

„Genau darum. Damit du mit keinem über mich redest.“

„Hast du noch mehr aus meinem Kopf rauszensiert? Hast du schonmal in meiner Anwesenheit deine wahre Gestalt angenommen und es mich dann wieder vergessen lassen? Damit ich es keinem verraten kann?“

„Nein. Der Standort meines Berges ist das einzige, was ich aus deinem Gedächtnis gelöscht habe. Und bitte sei mir nicht böse deswegen. Es muss sein.“ Er war noch immer die Ruhe selbst. Urnue hatte ihn noch nie böse erlebt. Jedenfalls nicht gegenüber ihm, seinem Getreuen. „Du bist mir so wichtig und ich will dich so gern um mich haben, daß ich dich tatsächlich zu diesem Berg mitnehme. Dich dort wohnen lasse. Dich unbeaufsichtigt dort drin auf Erkundungstour gehen lasse. Ich vertraue dir. Andernfalls würde ich dich nichtmal von der Existenz dieses Berges wissen lassen, das weißt du. Und du weißt auch, warum ich keinem von diesem Berg erzähle. Du weißt, wer alles ein Interesse an mir hat. Auch wenn ich öffentlich als Dozent an einer Universität unterrichte und damit ganz gern mal drüber hinwegtäusche, wie gesucht ich bin. Das tue ich nur, weil diese Universität so gut geschützt ist, daß mich da drin schwerlich irgendjemand angreifen kann.“, rief er seinem Getreuen sachlich in Erinnerung.

Urnue nickte einsichtig. „Ja, ich weiß, du hast Recht. Tut mir leid.“

„Ich tue das nicht, um dich zu ärgern, Urnue. Oder um meinem Misstrauen Abhilfe zu leisten. Ich muss einfach sicher sein, daß du von nichts weißt, egal wem du in die Hände fällst. Ich gehe nicht davon aus, daß du freiwillig plauderst. Aber es gibt Mittel und Wege, um auch unwillige Informanten zum Reden zu bringen. Nicht, daß ich dir das wünschen würde.“

Wieder nickte Urnue. „Ist okay.“ Er verzog kurz den Mund zu einer unschlüssigen Schnute, als er das nächste Thema auswählte, das ihm am Herzen lag, und abwog, wie bald er es ansprechen sollte. Ach was, besser jetzt als gleich. „Wieso hast du diesen beiden Verbrechern, die Ruppert getötet haben, das Amulett zurückgegeben?“

„Das Amulett hat uns nichts genützt. Wir haben keine Verwendung dafür. Und sie glauben sowieso schon, daß ich ihnen ans Leder will. Lass sie ruhig in dem Glauben, daß sich die Wogen langsam wieder glätten. Sie werden ohnehin nicht mehr lange Freude an diesem Ding haben.“

Diese Aussage stellte Urnue zufrieden und er folgte Victor ohne weiteres Gefrage oder Genörgel vom Kampus. Victor hatte ihm versprochen, daß der Mord an Ruppert noch gesühnt werden würde. Und das hier klang schwer danach.

„Wir werden wieder bei Null anfangen müssen.“, seufzte Victor. „Was auch immer dieser Sewill Gaya fehlt, ist weder ein Fluch noch eine Fluchumleitung.“

Gestaltwandlung

Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov stand vor einem gewaltigen Spiegel und betrachtete sich selbst von allen Seiten. Er hatte gerade die Gestalt des schwarzen Greifen angenommen, die er so gern nutzte, wenn er weit reisen und Urnue dabei auf dem Rücken tragen wollte. Oder allgemein, wenn er ohne Verkehrsmittel und ohne Grenzkontrollen weit reisen wollte. Er hatte einen Löwenkörper, der in den Proportionen stimmig war. Vorn hatte er Klauen, die Krallen in den hinteren Pranken waren vorhanden, aber gerade eingezogen. Der schwarze Adlerkopf sah auch korrekt aus. Waren die Augen zu groß? Oder der Schnabel zu gebogen? Victor tappte näher an den Spiegel heran. Nein, alles okay. Adler hatten eben so große Augen. Und die Schwingen? Wirkten sie natürlich? Als er entschied, daß sein Erscheinungsbild fehlerfrei war, verwandelte er sich als nächstes in ein Einhorn. Das sah in Rabenschwarz natürlich von vorn herein falsch aus, aber zumindest der Rest sollte stimmen. Es ärgerte ihn, daß er, so talentiert er als Gestaltwandler auch sein mochte, nicht in der Lage war, seine Fell- oder Federfarbe zu ändern. Jede Form, die er annahm, war unweigerlich schwarz. Darum hatte er auch als Mensch schwarze Haare. Wieder schaute er sich im Spiegel an. Vielleicht sollte er das Horn weglassen und einfach nur zu einem gewöhnlichen Pferd werden. Das wirkte in schwarz sicher viel unverdächtiger. Die Beine? Zu lang? Der Hals? Zu kurz? Der Kopf? Zu unförmig? Nein, sah alles okay aus. Dann würde er jetzt die Form eines Fauns probieren. Das sah schon realistischer aus. Faune mit schwarzem Fell gab es wirklich. Hm, die Nase war vielleicht etwas zu Hirsch-artig geworden, nicht menschlich genug. Da musste er nochmal auf einem Foto nachschauen, wie es richtig auszusehen hatte. Als nächstes versuchte er einen Drachen. Erschrocken zog er den Schädel ein um nicht gegen die Zimmerdecke zu knallen, als er größer wurde als gedacht. Er hätte hier im Trainings-Center doch einen größeren Raum als den Gymnastik-Raum buchen sollen. Aber da der einen großen Wandspiegel hatte, hatte er den für sein Vorhaben bevorzugt.

„Wouw. Den solltest du nicht in geschlossenen Räumen versuchen.“, kommentierte Urnue und hob eine Bank wieder auf, die Victor mit seiner schlagenden Schwanzspitze umgestoßen hatte.

Victor musste einsehen, daß er zu groß geworden war, um im Spiegel noch irgendwas zu erkennen. Er konnte sich ja kaum noch umdrehen, ohne irgendwelche Wände oder Trainingsgeräte in Mitleidenschaft zu ziehen. „Wie seh ich aus?“, wollte er also von seinem Getreuen wissen.

„Eindrucksvoll.“

„Das meinte ich nicht, du Witzbold. Findest du Fehler in meinem Aussehen?“

Urnue musterte ihn nachdenklich. „Hm, von Drachen versteh ich nicht so viel. Es gibt unglaublich viele Drachenarten. Schon möglich, daß es Drachen gibt, die so aussehen wie du gerade. ... Allerdings glaube ich nicht, daß es Drachen mit Hufen gibt.“, bemerkte er dann schmunzelnd.

Victor sah auf seine Füße herunter und fluchte leise. Die hatte er bei der Verwandlung vom Faun zum Drachen wohl mitgenommen. „Siehst du, heute früh hast du mich noch ausgelacht, warum ich das Gestaltwandeln trainieren will, weil du dachtest, daß ich das doch schon längst alles könnte. Aber wie du siehst, hab ich´s immer noch nötig. Das ist schwerer als du denkst. Vor allen Dingen von einer Form in die nächste zu wechseln, ohne mich vorher erst nochmal in meine wahre Gestalt zurückzuverwandeln, ist wirklich haarig. Damit tu ich mich schwer.“

„Kannst du denn jede beliebige Gestalt annehmen?“, hakte Urnue zwischen interessiert und beeindruckt nach.

„Ach, 'jede beliebige' wäre simpel. Schwer ist es, eine anatomisch korrekte Gestalt anzunehmen. Und die ist wichtig, um keinen Verdacht zu erregen, sonst fliegt die Tarnung ja sofort auf.“, meinte Victor und kehrte wieder in seine menschliche Form mit den schulterlangen, schwarzen Haaren und dem Ledermantel zurück. Der Ledermantel war bei der Herstellung magiedurchwirkt worden und machte die Verwandlung so mit, daß er bei der Rückkehr in die menschliche Gestalt unversehrt wieder auftauchte, so daß Victor nach einer Verwandlung nicht plötzlich nackig dastand. „Ich kann nicht einfach sagen 'jetzt werde ich zu einem Einhorn' und der Rest läuft automatisch. Meine Gestalt wird nicht von selber zu einem korrekt gebauten Einhorn. Ich muss vorher genau visualisieren, wie so ein Einhorn aussieht, und danach richtet sich dann meine Gestaltwandlung. Stelle ich es mir mit zu langen Beinen vor, werde ich bei der Verwandlung zu lange Beine kriegen. Stelle ich es mir mit Hasenohren vor, werde ich bei der Verwandlung Hasenohren kriegen. Wenn ich die Mähne vergesse, werde ich auch nach der Verwandlung keine haben. Darum muss ich beim Training immer vor einem Spiegel kontrollieren, wie ich aussehe, wenn ich fertig bin. Ich habe mir so 4 oder 5 Formen antrainiert, die ich jederzeit fehlerfrei hinkriege, die jedesmal gleich aussehen und die ich im Schlaf beherrsche, damit ich sie auch unter Hektik oder im Kampf problemlos einsetzen kann. Alles weitere ist schon etwas mühsamer und verlangt mir viel Konzentration ab. Ich weiß nicht, ob ich mich auch in Gegenstände verwandeln kann. Das hab ich noch nicht versucht. Ich habe mich nie getraut, eine Form anzunehmen, die tot ist. Aus Angst, daß ich mich vielleicht nie wieder zurückverwandeln kann, weil ich kein Bewusstsein mehr besitze.“

„Das ist trotzdem schon ne ganze Menge.“, überlegte Urnue. „Kannst du auch das Aussehen von anderen Leuten annehmen? Also die Gesichtszüge und den Körperbau von bestimmten Personen originalgetreu imitieren, und so?“

Victor lachte gutgelaunt. „Nein. Gesichter sind zu fein detailliert und zu spezifisch. Da kommt es auf jedes noch so kleine Hautfältchen und jede noch so dezente Kontur an. Das bekomme ich nicht hin. Auch wenn ich nicht abstreiten will, daß ich´s in der Vergangenheit nicht mehrfach versucht hätte. Außerdem hätte der Chef der Motus mich sofort umgelegt, wenn er das mitbekommen hätte. Solche Fähigkeiten galten als zu gefährlich, um geduldet zu werden. Mein immergleiches, menschliches Gesicht war meine einzige Lebensversicherung.“

Urnue schaute melancholisch zu Boden. „Ja, die Motus war sehr brachial, was das Aussieben unliebsamer Genii anging ...“, sinnierte er. „Ruppert war zwar keiner von den ganz radikalen, aber selbst er fand, daß es gewisse Arten von Genii auf Erden einfach nicht geben dürfe.“

„Ruppert war ein guter Mann.“, bekräftigte der Magister Artificiosus Magicae und setzte sich einfach mitten auf das Parkett. „Weißt du, die Bestreben der Motus kamen nicht von ungefähr. Es gibt da draußen nicht wenige Wesen, denen es in die Wiege gelegt ist, Menschen zu töten oder zu fressen. Solche Wesen werden auch niemals zu einem Schutzgeist. Each Uisge sind solche Genii. Es ist, solange wir zurückdenken können, noch nie vorgekommen, daß ein Each Uisge zu einem Genius Intimus geworden wäre. Es liegt auch gar nicht in der Natur eines Each Uisge, einem Menschen zu helfen. Each Uisge zerren Menschen unter Wasser und fressen sie dann auf. Das ist an sich erstmal eine ganz normale Sache. Jede Art, die in der Natur vorkommt, hat irgendwo da draußen natürliche Fressfeinde oder wie auch immer geartete Gegner. Und es ist auch ganz natürlich, sich gegen solche Feinde wehren zu wollen. Nichts anderes tun die Menschen. Ob ihnen das nun gleich das Recht gibt, Schwarze Listen zu erstellen und pauschal jedes Wesen ausrotten zu wollen, das dort drauf steht, ist ne andere Sache.“, erzählte er sachlich und völlig frei von irgendwelchen negativen Emotionen. Es schwang eher eine Bitte um Vernunft und Verständnis in seinem Tonfall mit. „Ich bin kein Mensch, ich kann dir über die Moralvorstellungen der Menschen wenig sagen. Ich weiß nur, daß alle ihre Gesetze darauf ausgerichtet sind, Menschen vor uns Genii zu schützen. Die Motus wollte Genii bekämpfen, die für Menschen gefährlich waren und sich nicht als gebundene Schutzgeister nützlich gemacht haben. Und solche, die man zumindest noch unterwerfen, kontrollieren und zur Arbeit anhalten konnte, haben sie versklavt.“

„Hast du das früher auch getan?“, wollte Urnue zögerlich wissen.

Victor nickte betrübt. „Ja. Leider.“

„Obwohl du selber ein Genius bist, und kein Mensch?“

„Es hat immer Genii gegeben, die die Motus unterstützt haben. Ihre Gründe waren ganz unterschiedlich. Einige haben sich davon erhofft, nicht selber zum Opfer zu werden. Andere haben sich von der Motus Hilfe versprochen, um ihre eigenen, kleinen Kriege gegen andere Genii-Klans auszutragen. ... Vielleicht tröstet es dich, wenn ich dir sage, daß mir auch die andere Seite wohlbekannt ist. Als die Motus in die Brüche gegangen ist, bin ich selber auf dem Sklavenmarkt gelandet. Ich wurde geschlagen, bespuckt, verhöhnt und bei Wasser und Brot in irgendwelche Kerker gekettet. Meine Fähigkeiten wurden mit Bannzaubern unterdrückt und mein Willen kontrolliert. Ich war so wundgeschlagen und verhungert, daß ich mich kaum mehr auf den Beinen halten konnte. Das alles kenne ich. Ich hab´s am eigenen Leib erfahren.“, erzählte Victor bedrückt. „Der Sklavenhändler war Gott sei Dank ein totaler Primat und hatte keine Ahnung, wer ich bin. Hätte der geahnt, daß ich der Vize-Chef und Erzverräter war, der die Motus durch den Kamin gejagt hat, wäre ich schon dort des Todes gewesen. Das Mädchen, das mich freigekauft hat, dagegen wusste es.“ Victor knöpfte seinen Ledermantel auf und kämpfte sich dabei in eine knieende Haltung hoch, um sich aus dem Kleidungsstück befreien zu können. Dann zog er auch das schwarze T-Shirt, das darunter zum Vorschein kam, noch bis ins Genick hoch und drehte Urnue seinen freigelegten Rücken zu. „Siehst du die Narben?“

Urnue schaute sich die derbe Verunstaltung zwischen Victors Schulterblättern genauer an. Es sah nicht nach gewöhnlichen Narben aus, wie sie von tiefen Schnitten oder Brandwunden zurückblieben. Sie waren nichtmal sonderlich groß, sie sahen nur falsch aus. Sie wirkten eher wie Fremdkörper unter der Haut. Irgendwie ungewöhnlich, ohne daß er näher hätte bezeichnen können, warum.

„Die stammen von ihrem Versuch, meine Bannmarke mit Gewalt zu lösen, um mich von dem Sklavenstatus wieder zu befreien.“

„Was ist aus dem Mädchen geworden?“

Victor zog das T-Shirt herunter und stopfte es ringsherum in den Hosenbund zurück. Sein Gesicht war ein wenig verbissen. „Frag nicht.“ Er schlüpfte wieder in die Ärmel des Ledermantels. „Fakt ist jedenfalls, daß ich mehr Glück als Verstand hatte. Der Sklavenhändler war mit der einzige, der meinen vollständigen, wahren Namen und mein wahres Wesen kannte. Der hätte mir auch im Nachhinein noch richtig Probleme einhandeln können, wenn dem einer gesteckt hätte, daß ich Akomowarov war. Zum Glück hat der nicht mehr lange genug gelebt, um das mitzukriegen und noch irgendwas über mich auszuplaudern. ... Danach bin ich bei Ruppert untergetaucht.“

„Wie hast du wirklich zu Ruppert gestanden?“, bohrte Urnue vorsichtig nach. „Ich meine, ich war sein Genius Intimus. Ich hab alles mitbekommen, was zwischen euch gelaufen ist. Wie er dich nach dem Zerfall der Motus wochen- oder gar monatelang beherbergt und versteckt hat. Wie er dich später finanziert hat. Ich weiß auch, daß er all das nie gerne getan hat. Ich weiß aber auch, daß du ihm im Gegenzug Kopf und Kragen gerettet hast, als etliche der ehemaligen Motus-Funktionäre von der Regierung drangekriegt wurden. Dafür bist du ihm wiederrum aufs Dach gestiegen, weil er mich zu schlecht behandelt hat. Ich habe nie so richtig durchschaut, wie ihr wirklich zueinander gestanden habt. Ich hatte nicht den Eindruck, daß ihr euch gut leiden konntet. War das zwischen euch eine reine gegenseitige Nutznießerschaft?“

„Ruppert war mein einziger, echter Verbündeter, den ich je hatte. Ich habe dem Chef der Motus ständig ins Handwerk gepfuscht und viele seiner Pläne vereitelt. Neben dem Chef selbst war Ruppert der einzige, der davon wusste. Und er war immer auf meiner Seite. Ich habe ihm viel zu verdanken. Und es schmerzt mich mehr als du denkst, daß ich ihm nicht helfen konnte. Ruppert und ich haben uns zu unserem gegenseitigen Schutz nicht sehr versöhnlich gegeben. Hätte irgendjemand spitz gekriegt, daß Ruppert mich unterstützt, wäre er sofort ans Messer geliefert gewesen. Wir wollten keinen Verdacht erregen. Darum hat Ruppert immer so getan, als wäre seine Hilfe an mich nicht freiwillig. Ich war der einzige, der es besser wusste.“

Nun war es Urnue, der betrübte nickte und den Blick senkte. Das Thema traf sie spürbar beide mehr als sie gedacht hatten. Nach über 2 Jahren noch.

„Es wird vielleicht egoistisch klingen, wenn ich dir das so erzähle, aber ich habe nie zugegeben, wie wichtig Ruppert mir war, damit ihn keiner als Druckmittel gegen mich einsetzt. Hätten die gemerkt, daß Ruppert für mich von Bedeutung ist, hätten sie ihn gefangen und gefoltert, um mich weich zu kriegen.“

„Also hast du für deinen Selbstschutz zugelassen, daß er ermordet wird?“, fasste Urnue ruhig zusammen. Er klang nicht erschüttert oder gar böse darüber.

„Sie hätten ihn so oder so umgebracht, das muss dir klar sein, Urnue. Ich will mich aus der ganzen Sache nicht rausreden. Aber ich habe ihm viel Leid erspart, indem ich meine Verbindung zu ihm verdeckt gehalten habe. Ihm und mir selber. Sie hätten meinen Willen gebrochen, mich wahrscheinlich sogar kalt gemacht, und hätten Ruppert hinterher trotzdem umgebracht. So ging es wenigstens schnell und ich habe meine Arbeit nicht aufgegeben. Ruppert hätte nicht gewollt, daß ich mich geschlagen gebe.“

Urnue nickte nur und wich Victors Blick weiterhin aus.

„Das ist ne ziemliche Verbrecher-Logik, oder?“, fand Victor mit einem makaberen Lächeln, das seine innerliche Betroffenheit durchaus erkennen ließ. Der Mord an Ruppert Edelig war ihm alles andere als egal, das sah man ihm an. Er hatte damals eine Wahl zwischen Pest und Cholera treffen müssen.

„Ich versteh es.“, versicherte sein Getreuer ihm. „Ich weiß, daß du nichts hättest tun können. Ich weiß es. ... Aber es setzt mir immer noch ziemlich zu, daß ICH das alles nicht verhindern konnte. Es wäre meine Aufgabe gewesen, Ruppert zu schützen.“

Victor seufzte leise. Die alte Leier wieder. „Du lagst ohnmächtig in einem Bann-Kreis. Was hättest du denn tun sollen?“

„Ich hätte wenigstens mitsterben sollen. Es ist ungerecht, daß Ruppert gestorben ist und ich noch lebe.“

„Ach, Urnue, sag doch sowas nicht. Du hast noch viel Arbeit vor dir. Wir haben eine Aufgabe, du und ich. Da draußen rennen noch genug ehemalige Motus-Säcke rum, die wir zur Strecke bringen müssen. Trauere nicht, daß du noch lebst! Sondern lebe, um denen heimzuzahlen, was sie verbrochen haben!“

Der Genius mit den Wuschelhaaren nickte einverstanden und sah Victor endlich wieder in die Augen. „Ja. Ich glaube, du hast Recht.“ Er lächelte. „Los, lass uns weitertrainieren. Ich will noch ein bisschen die Holzpuppe hier verprügeln!“

Victor nickte einverstanden und stand selbst auf, um sich wieder dem Spiegel zu widmen. Was sollte er als nächstes versuchen? Eine Banshee, das wäre mal cool. Das hatte er noch nie versucht. Er erinnerte sich an Third Eye zurück, und wie der ausgesehen hatte. ... und so wie er im Spiegel das aschgraue Gesicht mit der verdörrten Pergament-Haut, den eingefallenen Wangen, dem zahnlosen, runzeligen Mundloch und den schwarzen, todbringenden Augen sah, schoss ihm ein ungeheuerlicher Gedanke in den Kopf. Schockiert schnappte er nach Luft, taumelte einen Schritt vom Spiegel weg und fiel reflexartig in seine menschliche Gestalt zurück. Die süße, junge, unscheinbare mit dem Ledermantel. Gott sei Dank nicht in seine wahre Gestalt. Aber dafür war ihm seine menschliche Form inzwischen viel zu sehr in Fleisch und Blut übergegangen.

„Ist was?“, hakte Urnue erschrocken nach.

„Wir müssen los!“, entschied der Magister Artificiosus Magicae und hechtete eilig aus dem Gymnastik-Raum hinaus, wie von Dämonen gehetzt.

Urnue folgte ihm verdutzt. Er musste sich Mühe geben, mit ihm Schritt zu halten. „Was ist denn passiert??? ... Dragomir!“

„Ich weiß, was mit dem Gaya-Mädchen los ist!“

„Was??? Woher!?“
 

„Also Bann-Kreise und Schutz-Barrieren sind im Prinzip das gleiche. Ob du nun einen Kreis zeichnest, über dem sich eine Barriere manifestiert, oder einen langen Strich, macht keinen Unterschied.“

„Aber wieso funktionieren Bann-Kreise dann nicht, wenn der Kreis beim Aufmalen nicht ordentlich geschlossen wurde und Lücken hat?“

„Genau das ist die Frage.“, stimmte der Dozent zu, sichtlich zufrieden damit, wie schnell seine Studenten das Wesentliche herausfiltern konnten. Er warf mit dem Beamer eine Präsentation an die Wand, die den Inhalt eines aufgeschlagenen Buches abbildete. Die Doppelseite war voller Zeichen und Symbole, die in einen Bann-Kreis eingeflochten werden konnten. „Schutz-Barrieren sind auch Kreise, die geschlossen werden. Aber sie haben keine Innenfläche, keinen Radius, weil der Strich auf der gleichen Bahn hin und wieder zurück wandert. Hast du dich jemals gefragt, warum man bei einer Schutz-Barriere den Strich immer in einem Zug hin und wieder zurück ziehen muss?“, wollte er direkt von dem Studenten wissen, mit dem er sowieso gerade im Gespräch war.

„Nein, bisher nicht. An Schutz-Barrieren hab ich mich noch nicht versucht. Aber wenn ich mir das so ansehe, verstehe ich, warum. Der Startpunkt und der Endpunkt sind identisch. Damit ist es wieder ein geschlossener Kreis.“

Die Tür des Hörsaals öffnete sich einen Spalt breit und jemand kam herein, womit der Unterricht kurz zum Erliegen kam, denn natürlich gafften alle, wer da störte.

„Ah, Professor Akomowarov! Wie schön, Sie zu sehen.“, grüßte der Dozent seinen Kollegen fröhlich. „Gerade sprechen wir über Bann-Kreise. Das gehört doch zu Ihren Spezialgebieten. Haben Sie nicht Lust, uns zu assistieren?“

„Bedaure, ich bin in Zeitnot. Können Sie möglicherweise ihren Studenten da mal kurz entbehren? Ich muss mit ihm sprechen.“, konterte er mit Fingerzeig auf Safall.

Ohne die Zustimmung des Professors abzuwarten, ramschte Safall seine Sachen zusammen und kam aus der Sitzreihe heraus, um ihm zu folgen. Das mürrische 'hat das nicht bis zum Ende der Vorlesung Zeit?' des Dozenten ignorierten sie beide. Victor hatte ja bereits klipp und klar Eile geboten.

Akomowarov wandte sich bereits wieder um und ging voraus, noch ehe Safall ganz zu ihm aufgeschlossen hatte. Sie marschierten eine Weile stumm nebeneinander durch die Gänge der Uni.

„Haben Sie was herausgefunden, Professor?“, begann Safall irgendwann das Gespräch, da Akomowarov nicht von selber reden zu wollen schien.

„Ich muss mit deiner Schwester reden. Aber dazu musst du mich in deine Wohnung lassen. Sie wird mir kaum die Tür aufmachen können, wenn ich einfach so klopfe. Sie wird inzwischen gar nicht mehr aus dem Bett aufstehen können.“

„Nein. Sie ist bettlägerig. Wir haben inzwischen einen Pflegedienst angestellt, der ihr mehrmals am Tag mit der Toilette und so hilft.“, berichtete der Selkie unglücklich. Er fand es als Mann nicht gerade angenehm, ihr bei sowas zu helfen, auch wenn sie seine Schwester war. Nebenbei konnte er sein Studium ja auch nicht gänzlich vernachlässigen. Das tat er sowieso schon mehr und mehr, um sich um sie zu kümmern. Und Hedda ... nun ja ... Hedda traute er das nicht wirklich zu.

„Schlecht. Wenn ich Recht habe, müssen wir sie so schnell wie möglich nach Schottland zurückschaffen. Das wird in ihrem Zustand sehr ... s'traschni.“

Safall schaute ihn verblüfft an, da er dieses russische Wort nicht verstand. Kannte Akomowarov kein englisches Wort, das den Sinn auch nur ansatzweise wiedergab? Oder wollte er nicht, daß Safall ihn verstand? Seine Vorlesungen hielt Akomowarov zumeist auf Deutsch, da das hier nunmal eine deutsche Universität war. Mit den ausländischen Studenten, von denen er wusste, daß sie mit Englisch besser klarkamen, sprach er bisweilen auch Englisch, auch wenn sein unterschwellig rollender, russischer Akzent es denen, die Englisch auch nur als Fremdsprache sprachen, nicht gerade leichter machte. Safall hatte ihn allerdings noch nie Russisch reden gehört. Er fragte sich, in welcher Sprache er wohl mit seinem Getreuen Urnue redete, wenn sie unter sich waren. Er entschied, daß <s'traschni> wohl kein positiv gefärbtes Wort war, wahrscheinlich sowas wie 'schrecklich' oder 'grauenvoll', und verzichtete auf Nachfrage.

Der Weg hinüber ins Studentenwohnheim war ihm noch nie so weit vorgekommen. Aber irgendwann stand er endlich vor seiner Tür, schloss auf und bat den Professor herein. Als Akomowarov an ihm vorbei trat, fiel ihm wieder in aller Deutlichkeit auf, daß der fast einen Kopf kleiner war als er selber. Irgendwie gruselig, auf einen Höhergestellten so herabblicken zu müssen. Safall war ja in der Tat ziemlich hochgeschossen und fand selten jemanden, der mit ihm auf Augenhöhe kam, aber dieser Kontrast hier war deftig.

Akomowarov bückte sich kommentarlos nach der Katze, die ihm im Flur entgegen kam, um sie zu streicheln.

Safall erschrak. „Nicht! Der ...!!!“

„... ist verflucht, ich weiß.“, kommentierte Akomowarov und streichelte die Katze ungerührt weiter. Der 'verfluchte Fluch', der Körper vertauschte, und der auch auf der Katze lag, schien auf ihn keine Wirkung zu haben. Die Katze unterdess war hellauf begeistert, endlich mal wieder von irgendjemandem so richtig geknuddelt zu werden, und rollte sich begeistert auf dem Boden herum. Mit einem Lächeln ging Akomowarov in die Hocke, um besser an das Tierchen heranzukommen.

„Sind Sie etwa ... resistent gegen Flüche?“, wollte Safall irritiert wissen und nahm die Hand wieder herunter, die er panisch ausgestreckt hatte, um noch das schlimmste zu verhindern. Unnötigerweise.

„Nein, das nun auch wieder nicht. Aber ich bin ein Magister Magicae der Fluch- und Verwunschwissenschaften. Mich verflucht man nicht so schnell.“ Ob er den 'Artificiosus' absichtlich wegließ, blieb unklar. Er wuschelte den Kater noch ein bisschen weiter und erhob sich dann wieder. „Ich trage Fluchabwehr-Artefakte mit mir rum, die zumindest simple Flüche von mir fern halten und mächtigeres Zeug abschwächen. Sonst hätte ich die Katze natürlich nicht angerührt. Wenn Salome zurück ist, werde ich diesen Unsinn hier wieder beheben. Das wird kein großer Akt.“

„Und Hedda.“, fügte Safall ergänzend an.

Akomowarov rümpfte unmerklich die Nase. „Ach ja. Hedda. Die natürlich auch.“

„Sie mögen Hedda nicht sonderlich, oder?“

„Das will ich damit nicht sagen. Ich verstehe bloß nicht, warum du einen nicht-magischen Menschen in sowas mit reinziehst. Lass uns jetzt zu deiner Schwester gehen!“, trug er seinem Studenten auf und machte Platz, damit der vorgehen und ihm das richtige Zimmer zeigen konnte. Es waren immerhin 4 zur Auswahl, wenn man das Bad und die winzige Tee-Küche mitrechnete.

Er ging also zu Sewill hinein und teilte ihr mit, wen er da mitgebracht hatte, sofern sie aus den Gesprächen im Flur nicht schon von selber drauf gekommen war.
 

„Hi, du bist also das bedauernswerte Ding, das uns alle in Atem hält.“, grüßte Akomowarov das blasse, weiße Mädchen auf dem Bett. Dann begann er sich sofort interessiert und sehr genau im Zimmer umzusehen.

„Meister Akomowarov, es ist mir eine Ehre. Ich bin jetzt schon dankbar, daß Sie so freundlich sind, sich unseres Problems anzunehmen.“, gab sie freundlich zurück, obwohl sie seine Aufmerksamkeit schon längst nicht mehr hatte. Sie war erstaunt, daß er tatsächlich so jung und harmlos wirkte, wie man immer sagte. Trotz Safalls Erzählungen hatte sie das kaum glauben können.

„Das ... ähm ...“ Safalls Hand zuckte hoch, als Akomowarov in aller Selbstverständlichkeit nach einem alten Buch griff und es durchzublättern begann. „Das ist privat.“ Er fand es gar nicht toll, wenn der Professor ungefragt das Notizbuch seines Vaters unter die Lupe nahm. Da drin hatte sein Vater einige Magiestudien festgehalten, die er im Laufe seines Lebens betrieben hatte. Vieles davon war etwas zwielichtig.

Akomowarov blätterte dennoch ungerührt bis zum Ende durch und legte das Buch mit dem antiken, bröckelnden Ledereinband dann mit einem brummenden Ton wieder zur Seite. Nicht das, was er suchte. „Keine Sorge, der Inhalt interessiert mich nicht. Von dem Ding ging nur eine starke Magie aus. Ich wollte sicher gehen, daß es nicht mit dem Fluch zu tun hat, der auf deiner Schwester liegt ... auch wenn ich längst nicht mehr glaube, daß wir es mit einem Fluch zu tun haben. Aber man weiß ja nie.“ Er sah sich noch ein bisschen weiter im Zimmer um, sehr konzentriert, als versuche er etwas zu spüren, gab es aber irgendwann auf und zog sich unaufgefordert den einzigen Stuhl ans Bett, um sich zu setzen. „Nein, kein Fluch.“, entschied er. Und wandte sich endlich dem Mädchen zu, wegen dem er ja hier war. „Sewill, ich glaube du hattest in deinem Leben schonmal mit einer Leiche zu tun, hab ich Recht?“

Sie nickte zögerlich, als wäre sie sich nicht sicher, ob sie das zugeben sollte.

„Wann war das?“, hakte Akomowarov freundlich nach.

„Vor 2 – 3 Jahren. Es war im Winter ...“

„Das passt zusammen. Erzähl mir davon.“ Er machte einen recht zutraulichen, väterlichen Eindruck. Er wollte, daß Sewill ihm vertraute. Er hatte ja auch keinen Grund, böse zu sein. Er musste nur die Wahrheit herausfinden.

„Also ... es war am Strand. Ich bin immer gerne alleine am Strand spazieren gegangen, wenn ich meine Ruhe haben wollte. Und da hab ich ihn gefunden. Es war ein Mann, er lag unter den Klippen. Sicher ein Wanderer, der abgestürzt ist. Ich dachte, ich könne ihn ja nicht so dort liegen lassen. Die Vögel hatten schon begonnen, an ihm zu nagen. Und ich wollte auch nicht, daß das Meer ihn holt. Also habe ich ihn ... naja ... zumindest begraben.“, gab sie zaghaft zu. Sie wusste inzwischen selber, daß das irgendwie eine dumme Idee gewesen war.

„Weißt du, wer er war? Hatte er irgendwas bei sich, womit sich seine Identität feststellen ließ? Einen Ausweis, Führerschein, irgendwas?“

„Hab ich nicht nachgeschaut.“

„Hast du den Toten irgendwo gemeldet?“

„Nein.“

„Hast du denn nicht dran gedacht, daß irgendjemand ihn vermissen könnte?“

„Nein, daran hab ich in dem Moment nicht gedacht.“, gestand sie unglücklich. „Ich war ein bisschen überrumpelt und überfordert damit, gebe ich zu. Ich wollte einfach nur, daß er nicht mehr so da rumliegt und von den Vögeln gefressen wird.“

Akomowarov nickte besänftigend, als würde er das genauso sehen und absolut verständlich finden. „War er ein Mensch oder ein Genius?“

„Ein Genius.“

„Ein Mhorag?“

„Kann ich nicht sagen ...“, meinte Sewill bedauernd.

„Hast du ihm die Augen geschlossen, bevor du ihn begraben hast?“

„Ich weiß nicht mehr so genau. Ich glaube schon, ja.“

„Hast du ihm vorher in die Augen gesehen, bevor du sie ihm geschlossen hast?“

Sewill überlegte sichtlich, wozu diese Frage gut sein mochte. „Sicherlich. Ich hab ja erst nachgesehen, ob er wirklich tot ist oder vielleicht noch lebt.“

„Sewill, warum hast du uns das nie erzählt?“, mischte sich nun auch Safall mit in die Unterhaltung ein.

„Weil ich´s gruselig fand, okay? Ich wollte das einfach bloß wieder vergessen!“

Akomowarov lehnte sich zurück und verschränkte nachdenklich die Arme. „Es passt alles so furchtbar zusammen.“, sinnierte er. „Ich bin mir ziemlich sicher, wer der Tote ist. Und, nein, er ist nicht von den Klippen abgestürzt. Hinter dem war jemand her. Sewill, so leid es mir tut, du wirst uns die Stelle zeigen müssen, wo du ihn begraben hast.“

Sewill seufzte leise. „Ich kann es euch auf einer Karte zeigen.“

„Das ist zu ungenau. Wir haben keine Zeit, mehrere Kilometer Strand umzugraben.“

„Und wie komme ich nach Schottland, in meinem Zustand?“

„Wir fliegen. Ich trage dich.“, legte Akomowarov fest. „Safall kann uns mit dem Flugzeug hinterher reisen. Obwohl´s vielleicht gar nicht nötig ist. Mit etwas Glück könnten wir schneller wieder da sein als man denkt.“

„Wie fliegen Sie denn, wenn nicht mit einem Flugzeug?“, hakte Safall argwöhnisch nach. Er war kein Fan davon, seine Zwillingsschwester mit diesem zwielichtigen Individuum allein zu lassen, auch wenn er augenscheinlich nur helfen wollte.

„Ich nehme die Gestalt von irgendeinem flugfähigen Wesen an. Nur nichts zu großes, sonst werden wir an der Landesgrenze wohlmöglich noch abgefangen. Wir sollten keine Zeit verlieren, wir brechen noch heute auf!“

„Wa-... ?“ Safall wusste spontan gar nicht, was er zuerst sagen oder fragen sollte. „Was ist denn mit diesem Toten!?“, verlangte er grenzhysterisch zu wissen. Er fühlte sich von dem Magister Artificiosus Magicae gerade ziemlich überfahren.

„Das kann ich euch erst sagen, wenn wir ihn gefunden haben.“, warf Akomowarov in den Raum und stand schwungvoll von seinem Stuhl auf. „Trefft die nötigen Vorbereitungen. Ich bin in zwei Stunden wieder da und hole Sewill ab.“ Mit diesen Worten war er auch schon zur Tür hinausgeschneit und auf und davon. Er musste Urnue finden. Sofort.

„Zwei Stunden ...“, stöhnte Sewill lustlos.

„Der weiß irgendwas! Diese Fragen, die er gestellt hat, waren ziemlich suspekt. Ob du dem Toten die Augen geschlossen hast ... Wozu will er das wissen?“

„Ich hab keine Ahnung. Aber kann doch nur gut für uns sein, wenn er was weiß.“, gab sie müde zurück. „Solange er mir nur hilft, ist mir alles Recht. Ruf Vater an und sag ihm, daß wir nach Hause kommen.“

Safall ließ die Schultern hängen. „Ich hab noch gar keine Ahnung, wie ich ihm erklären soll, daß ich Hedda mitbringen werde.“

„Hast du ihm etwa immer noch nicht gesagt, daß du eine Nebengetreue hast!?“

Gast

„Hi, Ma'am.“, grüßte Hedda mit flauem Magen ins Handy.

„Hedda-Schatz! Das ich das noch erleben darf, daß du dich mal freiwillig meldest! Erzähl, Kind, wie geht es dir?“, quasselte ihre Mutter begeistert los. „Wir denken oft an dich, weißt du? Deine Vorlesungen sind bestimmt sehr anstrengend!“

Hedda ließ mit einem innerlichen Seufzen den Kopf hängen, sagte nichts dazu und ließ ihre Mutter einfach fertigschnattern. So schnell würde sie nicht zu Wort kommen, das war sie schon gewohnt.

„Kümmerst du dich auch gut um dein Katerchen? Ich vermisse ihn so! Du bist ja auch in den Semesterferien nicht nach Hause gekommen, da konnte ich ihn nichtmal knuddeln. Dein Vater und ich überlegen schon, ob wir einfach mal in den Zug steigen und dich besuchen kommen! Das wäre so aufregend!“

Hedda drehte sich der Magen um. Gott, nein, bloß nicht! „Äh, hör mal ...“, fiel sie ihrer Mutter also ins Wort. „Ich wollte dir sagen, daß ich ein paar Tage nicht erreichbar bin. Wir fahren nach Schottland. Ich weiß nicht, wie ich dort Handynetz habe.“

Verblüfftes Schweigen. „Schottland?“, kam dann die ungläubige Rückfrage. „Was tust du denn in Schottland?“

„Wir ... wir machen eine Exkursion. Von der Uni aus.“, sponn sich das blonde Mädchen schnell etwas zusammen. „Dort gibt es ... ähm ... ein Mechanik-Museum!“

„Tatsächlich? Hab ich ja noch nie gehört. In welcher Stadt denn!?“

Hedda kam ins Schwitzen. Sie kannte ihre Mutter. Sicher würde die das im Internet nachprüfen, sobald sie aufgelegt hatte. „Ich weiß nicht. Irgend so ein kleines Dorf, ich hab mir den Namen nicht gemerkt. Aber das Museum soll eines der besten der Welt sein. Ich bin schon ganz heiß drauf.“

„Hedda!?“, hakte ihre Mutter drohend nach. „Du hängst doch nicht immer noch mit diesem Magie-Studenten herum, oder? Hast du nicht erzählt, der wäre aus Schottland?“

„Der ist von den Orkney-Inseln. Und nein, ich hänge nicht ...“

„Die Orkney-Inseln SIND Schottland!“, empörte sich ihre Mutter. Sie würde sich nicht für dumm verkaufen lassen.

„Ach, Ma'am! Ich ...“

Von dem folgenden Donnerwetter bekam Hedda bloß noch die Hälfte mit. Weil sie auch gar kein Interesse daran hatte, diesem Gespreißel weiter zuzuhören. Wenn ihre Mutter nicht vernünftig mit sich reden lassen wollte und ihr ohnehin kein Wort glaubte, waren sowieso alle weiteren Gespräche aussichtslos. Ihre Mitteilung, daß sie für ein paar Tage ins Ausland gehen würde, hatte sie abgeliefert, damit sah sie ihre Pflicht als erfüllt. Irgendwann mitten in der Schimpfkanonade legte sie genervt auf. Pfeif drauf, wenn sie eh nicht zu Wort kam. Sie schaltete ihr Handy aus, um zu vermeiden, daß ihre Mutter gleich nochmal stinksauer zurückrief. Dann wandte sie sich der großen Glasscheibe zu, durch die man auf die Start- und Landebahnen sehen konnte. Sie befand sich bereits auf dem Flughafen. Sie war noch nie geflogen und war entsprechend aufgeregt. Man durfte sich einfach nicht vorstellen, daß im Falle eines Absturzes unter einem ein paar Kilometer pures Nichts waren, bevor man auf den Boden auftitschte. Die knapp 2 Stunden Flug würde sie schon irgendwie überleben. Der Wahnsinn, daß sie tatsächlich noch für den gleichen Tag Flugtickets bekommen hatten.

Safall neben ihr schloss gerade sein Check-In ab und schenkte ihr dann ein aufmunterndes Lächeln, um zu signalisieren, daß sie weiter konnten. Urnue war schon durch die Schranke und wartete auf sie. Er würde sie auf dem Flug begleiten. Akomowarov und Safalls Schwester nicht. Die waren bereits vorausgereist und würden sie am Flughafen in Schottland erwarten. Keine Ahnung, warum Akomowarov das Reisen per Flugzeug scheute. Safall vermutete ja gehässigerweise, daß er so gesucht war, daß man ihn sofort einkassieren würde, wenn er an irgendeiner Grenzkontrolle auftauchte, oder daß er erst gar keine gültige Identifikation besaß. Jedenfalls hatte er ihn keinen Armreif tragen sehen. Sewill hatte darauf beharrt, mit Akomowarov zu fliegen, also hatte Safall sie gezwungenermaßen gehen lassen müssen.
 

Der Flug verlief ruhig und ziemlich ereignislos. Da Urnue sich verbissen weigerte, über Akomowarov irgendetwas zu erzählen, und seien es auch nur die banalsten, unbedeutendsten Dinge, quatschte Hedda mit ihm über komplett belangloses. Etwa über mögliche Sehenswürdigkeiten in Schottland, nur für den Fall, daß sie vielleicht ein paar Tage länger blieben. Urnue wusste auch nicht, was Akomowarov in Schottland zu finden hoffte, störte sich aber nicht daran. Er schien nicht der Typ zu sein, der den Magister Artificiosus Magicae in Frage stellte. Über Edinburgh mussten sie noch eine Weile kreisen, da sie zu früh eingetroffen waren und noch keine Landeerlaubnis bekamen, und dann waren sie auch schon da. Das ging erstaunlich schnell, dachte Hedda fasziniert. Ans Fliegen konnte man sich gewöhnen.

In der Wartehalle trafen sie wie versprochen Sewill und Akomowarov wieder. Sewill lag quer auf einer Bank, mit dem Kopf auf einer Tasche, und schlief. Auch wenn sie die ganze Zeit getragen worden war, hatte die Reise sie bereits mehr als genug angestrengt. Professor Akomowarov saß neben ihr und versteckte sich hinter einer aufgeschlagenen Tageszeitung, um nicht allzu sehr aufzufallen. Sein Gesicht war zwar nicht weltbekannt, aber die, die ein berechtigtes Interesse an ihm hatten, kannten es mit Sicherheit. Als er Urnue bemerkte, nickte er ihm grüßend zu, faltete die Zeitung wieder zusammen und erhob sich schwerfällig von seinem Sitzplatz. „wse w poradke?“

„da.“, gab Urnue zurück.

Akomowarov nickte erneut und wandte sich dann Safall zu. „Willkommen zurück. Irgendwas passiert, auf dem Flug?“

Safall war etwas verwirrt von der Tatsache, daß Akomowarov und Urnue untereinander offenbar Russisch sprachen. Das kam ihm geheimniskrämerisch vor. Er wollte gefälligst verstehen, was in seiner Gegenwart gesprochen wurde. Er war immer noch zu beschäftigt damit, zu ergründen, was die Frage wohl bedeutet haben mochte. Sowas wie 'Alles in Ordnung?' möglicherweise.

„Nein, wir hatten einen sehr ruhigen Flug.“, antwortete Hedda also an seiner Stelle, da Safall selbst nicht reagierte.

Akomowarov deutete grinsend auf Safalls langen Ledermantel. „Du siehst aus wie ein Fan und Nachahmer von mir. Wenn dir das mal nicht noch Ärger einhandelt! Lasst uns irgendwo was essen und dann reisen wir weiter.“, ordnete er an und wandte sich zum Gehen. „Safall, willst du deine Schwester tragen?“

„Genau, bist doch ein kräftiger Bursche!“, stimmte auch Urnue mit ein.

„Natürlich werde ich sie tragen.“, stellte der Selkie in einem leicht feindseligen Tonfall klar, der schwer danach klang, als würde er seine Schwester keine Minute länger in der Obhut dieses dubiosen Kerls lassen.

Hedda kicherte leise. „Naja, Professor Akomowarov hat sie ja jetzt lange genug getragen. Jetzt kann mal jemand anders.“, fand sie belustigt. Es amüsierte sie, daß Safall so tat, als sei Akomowarov dem schneeweißen Mädchen zu nahe gekommen. Er war wohl eifersüchtig, wenn es um seine Schwester ging. Oder einfach nur sauer über den Ledermantel-Kommentar.
 

Als sie sich endlich bis zu Safalls Elternhaus draußen auf den Inseln durchgeschlagen hatten, war es bereits dunkel. Das bedeutete, sie würden heute keine anonymen Gräber an irgendwelchen Stränden mehr suchen. Das Haus war ein klassisches Cottage, eine Hütte aus ungleichmäßigen, unterschiedlich großen Natursteinen und grobem Holzbretterdach, weit draußen, abseits jeglicher Zivilisation. Es stand so nah an der Küste, daß man vom Fenster aus auf das Meer schauen konnte. Als Selkies hielten sie sich ohnehin so viel es ging im Meer auf – wenn sie nicht gerade in einer Universität in Düsseldorf festhingen.

Ein korpulenter Mann mit Bart empfing sie bereits ein gutes Stück vor der Hütte mit einer Laterne und geleitete sie die letzten paar Meter des Weges mit Licht. Er sah selbst in der Dunkelheit so aus, wie man sich einen rauen Seebären vorstellte. Hätte man ihm einen Dreiecks-Hut auf den Kopf gedrückt, wäre er sofort als Piratenkapitän durchgegangen. Er begrüßte Safall mit nicht mehr als einem fröhlichen Grunzen, nahm ihm Sewill ab und trug sie die letzten paar Meter bis zum Cottage selbst. Schweigend. Da sie in dicke Kleidung eingepackt war, musste er wegen des 'verfluchten Fluches' auch keine große Vorsicht walten lassen. Die Laterne fiel Urnue zu, welcher voran ging, um den unwegsamen Pfad zu beleuchten. Der Mann stellte sich nicht vor und schien auch nicht zu erwarten, daß die Gäste sich ihm vorstellten. Daher konnte Hedda nur mutmaßen, daß er Sewills und Safalls Vater war.

In der Hütte knisterte ein gemütliches Kaminfeuer, das hell genug war um den gesamten Raum zu beleuchten – die Hütte hatte nur diesen einen – aber trotzdem brannten auf dem Tisch auch ein paar Öllampen. Elektrischen Strom schien es hier nicht zu geben. Der Wind pfiff durch die Ritzen. Alles in allem sehr ... mittelalterlich. Ja, ein passenderes Wort fiel Hedda dafür nicht ein.

Der Seebär legte die schon wieder tief und fest schlafende Sewill auf einem Lager aus Tierfellen ab, fuchtelte den anderen, daß sie sich am Tisch niederlassen sollten, und begann dann mit einem weiteren, tonlosen Brummen, Krüge und Schüsseln aufzutafeln, um seine Gäste zu bewirten. Im Wesentlichen war es Met, Krustenbrot, Käse und getrocknetes Fleisch in Streifen, was er ihnen vorsetzte. Grobe Hausmannskost. Der Tisch und die zwei langen Bänke ohne Rückenlehne waren aus unbehandeltem, rustikalem Holz gezimmert und nicht gerade bequem. Aber Hedda beschwerte sich nicht. Sie bedankte sich nur für das Essen und vermied es darüber hinaus, irgendwelche Fragen zu stellen. Safalls Vater schien so oder so nicht der gesprächigste zu sein. Er kam auch nicht gerade wie ein herzlicher Vater rüber, der sich freute, nach endlosen Monaten endlich seine Kinder wieder zu sehen. Eine Frau im Haus gab es nicht. Hedda fragte sich, was aus Safalls Mutter geworden war. Ob er eine hatte? Beziehungsweise ob er noch eine hatte?

Eine Weile aßen sie stumm und unter den wachsamen Blicken des Hausherrn ihr Abendbrot. Dann holte der Alte doch plötzlich Luft, um etwas zu sagen. Hedda hatte schon fast geglaubt, er könne gar nicht reden. Oder zumindest kein Englisch, so daß er es lieber bleiben ließ. „Verdammisch noch eins. Akomowarov. Hier in meinem Haus. Wer hätte das gedacht!?“, polterte er. Er hatte eine laute, ungehobelte Stimme, aber so dunkel und rau, daß sie schon wieder angenehm war.

Akomowarov schmunzelte leicht. „Ich bleibe auch nirgends unerkannt.“, bemerkte er in amüsiert-wehleidigem Tonfall.

„Verstehen Sie mich nicht falsch, mein Bester.“, brummte er. „Ich mag kein Fan von Ihrer Sache sein, und auch kein Gegner. Ich will mich gern aus solchen Dingen raushalten, verstehen Sie mich? Der Ruppert-Edelig-Mord hier bei uns auf den Inseln hat damals große Wellen geschlagen. Es wäre mir ganz lieb, wenn ... naja ... es nicht die Runde macht, daß Sie Gast in meinem Haus sind. Ich glaube, das ist gefährlich.“

„Schon in Ordnung.“, lächelte Akomowarov. Er nahm das mit Humor. Solche Situationen kannte er aus der Vergangenheit zur Genüge. Es war immer und überall ein Eiertanz, wenn er irgendwo zu Gast war. Viele wollten ihn gern unterstützen, wollten aber um Himmels Willen nicht, daß jemand davon erfuhr. Oder sie hatten einfach keine Ahnung, wie sie mit ihm umgehen sollten. „Ich bin lediglich hier, um Ihrer Tochter zu helfen. Das ist alles. Mehr will und werde ich hier nicht tun.“, fügte er mit einem Nicken in die Raumecke an, wo Sewill schlief.

„Ich habe keinem gesagt, daß er hier ist.“, warf Safall kleinlaut von der Seite ein und erntete nur ein böses Brummen dafür, das ihn den Kopf einziehen ließ.

Sein Vater lehnte sich schwer vornüber auf die raue Tischplatte. „Ich wüsste nicht, wie ich es Ihnen danken sollte, wenn Sie es wirklich fertigbringen, meiner Tochter zu helfen, Akomowarov.“, stellte er fest.

„Brauchen Sie nicht. Wenn ich hier unbehelligt wieder weg komme, ist mir das schon Entgegenkommen genug.“

„Und wenn keiner jemals erfährt, daß Sie hier waren, soll mir das Recht sein.“, brummte er zufrieden.

Urnue kicherte, als er die dummen Gesichter von Hedda und Safall nicht mehr länger ignorieren konnte, die nur Bahnhof verstanden. „Für gewöhnlich bekommt es den Leuten nicht gut, sich als Freunde von Dragomir auszugeben. Nicht wenige, die ihm geholfen haben, haben deswegen Haus und Hof verloren. Weil sie sich den Zorn von Dragomirs Gegnern zugezogen haben und von denen hopp genommen wurden.“, erklärte er den beiden.

„Du meinst, es ist gefährlich, euch beide zu beherbergen?“, hakte Hedda nach.

„Schluss damit, ich will das nicht hören. Akomowarov ist mein Gast und so wird er hier auch behandelt.“, grollte Safalls Vater. „Was mich gerade viel mehr stört ...“, meinte er mit vielsagendem Augenblitz auf Hedda. „Sohn, es ist ja nicht so als ob deine Freunde nicht auch meine Freunde wären, aber verrate mir mal, warum du ein menschliches, nicht-magisches Mädchen in mein Haus schleppst!“, herrschte er Safall an und klang dabei alles andere als nach 'Freund'.

„Sie ist ... meine Nebengetreue.“

„WAS!?“

Hedda lehnte sich ein wenig zurück, um sich da raus zu halten. Safall hatte seinem Vater also bis heute nicht davon erzählt. Und glücklich war er – logischerweise – auch nicht. Da war sie jetzt aber mal gespannt, wie sich das entwickelte.

„Sie hat in einem öffentlichen Streit Partei für mich ergriffen. Das Gesetz verlangt es so. Ich hatte keine Wahl.“, erklärte Safall eindringlich.

„Ja bist du denn doof!?“, zeterte sein Vater noch aufgebrachter. „Die ist ein Mensch! Für die gelten die Getreuschafts-Gesetze überhaupt nicht!“

„Ha!“, machte Hedda triumphierend. „Hab ich´s dir nicht die ganze Zeit gesagt!?“

„Du Dummkopf! Was hast du nur gelernt, in all den Jahren!? Und sowas studiert an einer Universität, einfach unglaublich! Sowas ist mein Sohn!“ Er rang theatralisch die Hände zu einem Stoßgebet.

Safall ließ den Kopf hängen. Die Debatte, daß seine Schwester Sewill die fähigere der beiden Zwillinge war, musste er sich jetzt schon seit seiner Kindheit anhören. Dabei gab er sich auf der Uni so viel Mühe, um seinem Vater mit seinen guten Noten das Gegenteil zu beweisen. Aber selbst wenn er sein Studium als Jahrgangsbester abschloss, würde ihn das vermutlich auch nicht bekehren. Für seinen Vater war es leicht, zu behaupten, daß Sewill ihn sicher dennoch übertroffen hätte, wenn sie nur gesundheitlich in der Lage gewesen wäre, selber zu studieren. Es war nicht so, daß er seinen Sohn Safall nicht auch geliebt hätte, aber sein Vater hatte sich immer eine Tochter gewünscht und hatte es auch nie ganz geschafft, das zu verbergen. Seinen Sohn musste man eben nicht so verhätscheln wie seine kleine Prinzessin.

„Vater.“, meldete sich eine Stimme aus der Raumecke. „Hör auf damit.“ Sewill war wieder aufgewacht, vermutlich durch die ärgerliche, lautstarke Stimme des Seebären.

„Sewill, Kleines!“ Der grobe Haudegen sprang von der Bank auf und eilte zu seiner Tochter hinüber, um zu sehen wie es ihr ging.

„Du sollst meinen Bruder nicht so herabwürdigen, das weißt du!“

„Aber er hat sich eine Nebengetreue angeschafft!“, gab der große, bullige Mann mild zurück, plötzlich lammfromm, als sei er seiner Tochter tatsächlich eine gute Erklärung dafür schuldig.

„Ja, na und? Wir haben lediglich die alten Gesetze geachtet, wie du es uns gelehrt hast, Vater! Und wir haben trotz intensiver Suche niemanden gefunden, der uns das Gegenteil beweisen konnte. Nichtmal die Kuppelfrau hat widersprochen! Und wir dachten, die müsse es wissen.“, verteidigte Sewill ihren Bruder vehement weiter.

„Schon gut, schon gut, ich glaube dir ja, Liebes.“, beschwichtigte er seine Tochter. „Streng dich nicht so sehr damit an, dich aufzuregen. Du hast so schon wenig Kraft. ... Äh ... hier, trink was, mein kleiner Schatz!“, schlug er vor und hechtete los, um den Milchkrug und einen Becher für sie zu holen.

Safall verdrehte am Tisch unmerklich die Augen. Vielleicht war es auch gar nicht so schlimm, wenn er nicht das bevorzugte Kind seines Vaters war. Er wollte nicht mit 'Kleiner' oder 'mein lieber Schatz' betitelt werden. „Wir hatten einen langen Tag, wir sollten uns langsam zur Ruhe legen.“, fand er nüchtern und stand vom Tisch auf. Er beschloss, sich schonmal um warmes Wasser zu kümmern, damit sich alle waschen konnten. Fließend Wasser gab hier nicht, sie mussten mit einer Waschschüssel Vorlieb nehmen.
 

Sewill schreckte mitten in der Nacht aus einer Vision hoch. Um sie herum war es nicht mehr gänzlich dunkel. Die Morgendämmerung setzte bereits ganz langsam ein. Der Kamin war schon ausgekühlt und spendete weder Licht noch Wärme. Entsprechend kühl war es inzwischen geworden. Sie ließ ihren Blick irritiert durch das Haus schweifen. Es war so selten, daß sie Visionen im Schlaf hatte, daß sie sich erstmal orientieren musste. Kaum drei Schritte weit weg saß Urnue aufrecht auf dem Boden, an eine Wand gelehnt, und spielte mit zwei Steinchen, die er zwischen seinen Fingern drehte. Akomowarov schlief auf der Seite zusammengerollt, auffallend in seiner Nähe.

„He, kannst du nicht schlafen?“, wisperte Sewill in das Halbdunkel, um ihn auf sich aufmerksam zu machen.

Urnue schüttelte ruhig den Kopf. Er hatte längst mitbekommen, daß sie munter war. Er war hellwach und konzentriert. „Wenn wir unter fremden Dächern schlafen, hält immer einer von uns Wache.“, gab er leise zurück. „Wir können es uns nicht leisten, im Schlaf überrannt zu werden.“

Sewill nickte verstehend. „Wir sind hier nicht mehr sicher.“

„Ich weiß. Euer Haus wird belauert. Ich habe es schon bemerkt, seit wir einen Fuß auf diese Insel gesetzt haben.“

„Wir haben euch nicht verraten, Urnue.“

Er lächelte. Zumindest glaubte Sewill es im Halbdunkel so deuten zu können. „Nein. Das hätte ich euch auch nicht vorgeworfen.“

Das Mädchen überlegte einen Moment lang, wer davon wissen könnte, daß Akomowarov hier war, und woher. Und welches Interesse derjenige an ihm haben könnte. Ihre Vision war beunruhigend gewesen, auch wenn sie nicht jedes Detail davon in den Wachzustand hatte mitnehmen können. Die Hälfte, an die sie sich noch erinnerte, war schlimm genug gewesen. Wer auch immer da draußen im Schutz der Dunkelheit lauerte, hatte nichts Gutes im Sinn. „Sollten wir gehen?“

Urnue schüttelte den Kopf. „Lass Dragomir schlafen.“ Er spielte weiter mit seinen Kieselsteinchen und behielt den Raum im Auge. In der Dunkelheit hatte es keinen Sinn, fliehen zu wollen. Sie würden weder ihre Verfolger sehen, noch würden sie sehen, wohin sie überhaupt rannten.

Sewill schloss die Augen und versuchte ebenfalls noch etwas Schlaf zu finden. Der Gedanke, daß Urnue Bescheid wusste und Wache hielt, war ungemein beruhigend. Sie fühlte sich nicht in Gefahr, solange er da war. Und bestimmt würde er mit seinem Alarm auch nicht erst warten, bis das Haus de facto angegriffen wurde.

Steilküste

Urnue rieb Victor mehrmals mit der flachen Hand über die Seite, um ihn nicht zu grob zu wecken. Auch wenn jetzt langsam Gefahr in Verzug war, musste er ihn ja nicht brutaler als nötig aus dem Schlaf reißen. Draußen in den Dünen waren Bewegungen auszumachen, leider zu weit weg um irgendwas genaueres zu erkennen. Er hätte ja wenigstens gern gewusst, mit wem oder was sie es zu tun hatten. Oder mit wievielen.

Victor, der immer noch fest auf der Seite zusammengerollt lag, gab ein müdes Schnaufen von sich, bevor er lustlos die Augen aufblinzelte. Sein erster Blick galt dem Fenster. Die Fensterläden waren nicht geschlossen, daher konnte er draußen vor der Fensterscheibe den dunstigen Morgennebel vorbeiziehen sehen. Es war schon hell. Sie hatten länger ihre Ruhe gehabt als Victor geglaubt hatte. Als nächstes sah er fragend zu Urnue hoch, der aufrecht neben ihm saß.

„Dragomir, da draußen wird es unruhig.“, raunte sein Getreuer ihm leise zu.

Victor nickte und sah wieder zum Fenster. „Es ist ihnen wohl langsam hell genug, um einen Überraschungsangriff zu wagen.“

„Wir sollten die anderen wecken. Wenn hier alle wach sind, lassen sie es bestimmt bleiben und warten auf eine andere Gelegenheit.“

„Du hast Recht. Danke für´s Wachen, Urnue.“, meinte der Magister Artificiosus Magicae und streckte sich müde. Er fühlte sich steif und ausgekühlt. Das dünne Tuch, das er als Decke bekommen hatte, reichte kaum um sich die nächtliche Kälte vom Leib zu halten. Mit einem Fingerschnippsen Richtung Kamin versuchte er das Feuer wieder zu entfachen, aber im Kamin war nichts mehr, was gebrannt hätte. Nur noch Asche. Er unterdrückte ein unwilliges Stöhnen. Irgendjemand musste erst Holz nachlegen. Dazu hatte er aber gerade gar keine Lust.

Urnue warf einen seiner Kiesel nach Safall. Der kam mit einem empörten <Aua!> zu sich und schlang reflexartig die Arme um seinen Kopf, dort wo er getroffen worden war. „Guten Morgen, hoch mit dir! Wir haben heute viel vor.“, grinste Urnue.

„Spinnst du? Das tat weh!“, maulte der und rieb sich den Sand aus den Augen.

Von dem Tumult wurde als nächstes Hedda wach, und dann kettenreaktionsartig auch der Rest der Bagage.

„Ich überlege, ob ich mal auf Erkundungstour gehen sollte. Mal nachsehen, was da draußen los ist.“, schlug Victor leise und auf Russisch vor. So, daß es außer Urnue keiner hörte, und wenn, dann hoffentlich nicht verstand. Die anderen sollten nicht unnötig beunruhigt werden.

Urnue schüttelte vehement den Kopf. „njet, possalujsta ostavajtes sdes, Dragomir. Bitte bleib hier. Geh jetzt nicht weg, ich kann nicht alleine auf so viele aufpassen.“, wisperte er flehentlich zurück, gleichsam auf Russisch, und deutete dabei in die Runde. „Und darauf warten sie vielleicht bloß, daß du dich von der Gruppe trennst.“

„Du vertraust mir nicht, hm?“, schmunzelte Victor verschmitzt.

„Dragomir!“

„Schon gut, ich bleib bei dir.“

„Haben wir was verpasst?“, quasselte Hedda auf Englisch dazwischen und hielt jedem von ihnen einen Becher hin. Safalls Vater stand bereits mit einem Krug hinter ihr, um irgendwas trinkbares einzuschenken.

„Ach, ich habe mich nur gerade selbst bemitleidet, daß wir wohl keinen ordentlichen, starken Kaffee kriegen werden.“, log Victor.

„Ich kann euch einen starken Tee kochen, der hat die gleiche Wirkung.“, brummte der Seebär von einem Selkie. „Safall kümmert sich gleich um das Feuer.“

„Ich hoffe, Karorinn kümmert sich gut um meinen Kater.“, wechselte Hedda das Thema und hielt ihren eigenen Becher hin, um sich Milch eingießen zu lassen.
 

Nach einem eher spartanischen Frühstück brachen sie noch in aller Herrgottsfrühe an den Strand auf. Hedda gähnte noch und nörgelte über ihre schmerzenden Knochen. Sie hatte sich ihre Decke wie einen Poncho um die Schultern gelegt, um sich noch ein wenig zu wärmen, während sie gleich durch das spröde Küstenklima stapfen würden. Der einzige Gedanke, der ihre Laune hob, war die Erinnerung daran, wie Safall mit einem kleinen Taschenspiegel sein Gothic-MakeUp gezogen hatte. Wie eine Mode-Tussi.

Safall hatte seine zierliche Schwester Huckepack genommen und würde sie tragen. Sie musste ihnen den Weg zeigen.

Ihr Vater wollte nicht mitkommen, der blieb zu Hause. Er stellte nur eben noch sein Haus auf den Kopf, auf der Suche nach einer Schaufel, die Akomowarov verlangt hatte.

„Wozu brauchen wir´n eine Schaufel?“, wollte Hedda uneinsichtig wissen.

Akomowarov warf ihr nur einen vielsagenden Blick zu. „Wozu wohl!?“

„Ääääh ... nein! Nein! Ich will keine Leichen ausbuddeln!“, stellte Hedda schockiert klar, als ihr aufging, wie der Plan aussah. „Da bleibe ich lieber hier!“

„Du wirst gefälligst mitkommen!“, verlangte Safall streng.

„Ich bin nicht mehr deine Nebengetreue! Du hast mir gar nichts zu sagen!“

„Wir stecken da alle mit drin, auch du, du Feigling! Du kommst mit!“

„Hier, mach dich nützlich und trag die Schaufel!“, trug Safalls Vater ihr amüsiert auf und drückte ihr die Gerätschaft in die Hand.

Hedda ließ geschlagen die Schultern hängen und tat wie ihr geheißen.
 

Eine halbe Stunde später waren sie immer noch auf ihrem Vormarsch durch die unwegsame Landschaft. Hedda hatte inzwischen keine Ahnung mehr, wo sie war. Sie waren vom ebenerdigen Sandstrand inzwischen eine Etage nach oben gewandert. Das Meer lag etliche Meter unter ihnen, am Fuße einer senkrechten Felswand. Und sie war müde. Auf Sand zu laufen, war furchtbar anstrengend gewesen, da er keinen soliden Untergrund bot, sondern einem ständig unter den Füßen wegrutschte. Aber der massive, zerklüfftete, kantige Fels erschien ihr inzwischen auch nicht mehr komfortabler. Gab es hier denn keine Straßen, verdammt?

sledyjte sa nami.“ [Die folgen uns.], meinte Urnue leise zu Victor.

da, ja sametil jego.“ [Ich merke es.] „Kann nur gut sein. Dann lassen sie wenigstens das Haus und den Alten in Ruhe.“, raunte der leise zurück und sah sich unauffällig um. Es waren nicht viele, vielleicht zwei, höchstens drei Personen, die ihnen auf den Fersen waren. Er hatte schon eine Vermutung, wer es war, hatte aber noch keine Gelegenheit gefunden, seinen Verdacht zu bestätigen. Langsam wunderte er sich, daß die sich immer noch nicht gezeigt hatten.

Safall hielt am Rand der Steilküste inne und sah hinunter. Der Reisetrupp kam zum Stehen. Eine Rast? Hier?

„Ich vermisse das Meer.“, säuselte Sewill sehnsüchtig.

Safall atmete tief durch und nickte. „Ich auch. Wir werden bald die Chance haben, eine Runde schwimmen zu gehen, keine Sorge, Schwesterchen.“

„Wo ist denn nun das blöde Grab?“, maulte Hedda genervt. Sie drehte sich mit der Schaufel auf der Schulter um und verdachtelte dabei Urnue beinahe eine mit dem Schaufelblatt.

Sewill lächelte und deutete die Steilküste hinunter. „Da unten.“, grinste sie. „Wir müssen runterklettern.“

Hedda warf nochmal einen Blick in den schwindelerregend tiefen Abgrund. „Spinnst du? Da kann ich ja auch gleich freiwillig springen! Da kommen wir niemals heil runter!“

„Tapferkeit und Dummheit gehen oft Hand in Hand.“, lachte Sewill.

„Ich kletter da nicht runter!“

„Sei nicht so ein Mädchen! Ich kann fliegen. Ich trage euch runter.“, legte Akomowarov fest, der neben ihr aufgetaucht war und sich den Schlamassel ebenfalls ansah.

Urnue nahm Hedda genervt die Schaufel weg, die er schon zum zweiten Mal beinahe im Gesicht gehabt hätte, damit sie die nicht wirklich noch jemandem über die Birne zog.

Hinter ihnen wurde Heulen laut und ließ alle herumfahren. Akomowarov zerrte Safall und Hedda schnell vom Rand der Felsen weg, damit sie nicht reflexartig zurückweichen und hinunterstürzen konnten. Eine Banshee raste im Tiefflug heulend auf sie zu und über ihre eingezogenen Köpfe hinweg.

Urnue fluchte erschrocken und zog einen magischen Schutzschild hoch. Die Banshee, die derweile gewendet hatte und ihn gerade angreifen wollte, prallte mit einem dumpfen 'klonk' daran ab.

Akomowarov musste sich ein Grinsen verkneifen. Jetzt zeigten sich ihre Verfolger also endlich. Der andere kam auch gerade angerannt. „Cord und Third Eye. Woher wusste ich nur, daß ihr das seid? Ihr habt uns von Düsseldorf bis hier her verfolgt?“

„Ihr wollt das Grab da unten ausheben, oder?“, blaffte Cord ihn an. „Das müssen wir leider verhindern! Der Gute da unten muss verschwunden bleiben. Und euch müssen wir leider beseitigen, wenn ihr davon wisst.“

„Also habt ihr den armen Tropf da unten auf dem Gewissen?“

„Ja, man! Das ist der kleine Pisser, der sich von den Klippen gestürzt hat, bevor wir ihn fertig verfluchen konnten. Wegen dem ist der Fluch auf uns zurückgefallen!“, gab Cord ganz unverblümt zu und zeigte dabei auf seinen Kettenanhänger. Er trug das Fluch-Medaillon wieder selbst, das zeitweilig Hedda in die Hände gefallen war. „Als wir gehört haben, daß ihr nach Schottland reisen wollt, wussten wir gleich, daß da nichts Gutes bei raus kommt, und sind euch sofort nachgereist. Wie ich sehe, hatten wir Recht. Hier ist Endstation für euch!“ Cord stürzte sich ebenfalls auf Urnue.

Urnue hob erschrocken auch die andere Hand zur Abwehr, diesmal in Cords Richtung, und zog damit reflexartig noch einen zweiten magischen Schild hoch. „Ach du scheiße.“, ächzte er überfordert. Er war selber total überrascht, zwei Schutzschilder in zwei verschiedene Richtungen gleichzeitig beschworen zu haben. Das hatte er bei Victor durchaus schon gesehen, aber noch nie selber versucht. Er wusste vor lauter Aufregung gleich gar nicht, auf welchen von beiden er sich konzentrieren sollte. Beide Schilde forderten Aufmerksamkeit, um nicht wieder zusammenzubrechen.

Victor entschied, daß die Banshee der gefährlichere Gegner war und griff Third Eye mit einem Feuerzauber an, um ihn zu sich herüber zu locken. Sonst kam der am Ende noch auf die Idee, sich die Studenten zu krallen, sobald Urnues Abwehr ihm zu langweilig und mühselig wurde.

Cord zückte einen Bann-Zettel und pappte ihn auf Urnues immer noch aktives, magischen Schutzschild. Die leicht orange leuchtende Barriere fiel in sich zusammen.

„Fuck, was!???“, keuchte Urnue schockiert. Der Kerl konnte mit seinen Bannzaubern Schutzschilder durchbrechen? Cord grinste finster, kam einen Schritt näher, und wurde von dem nächsten Schutzschild gestoppt, das Urnue erschrocken neu hochzog. Der Schutzschild löste sich wieder in Luft auf, so wie er mit Cords Bann-Zettel in Berührung kam. Ebenso wie der nächste und der nächste. Urnue erzeugte im Sekundentakt immer neue Schutzschilder, um Cord fern zu halten, aber Schild um Schild fiel unter dem Barriere-brechenden Bann des Magiers. Und mit jedem davon verlor Urnue kostbare Distanz. Cord arbeitete sich vor.

Victor gab ein panisches „Urnue!“ von sich, konnte aber nicht einschreiten. Er war gut damit beschäftigt, Third Eye in Schach zu halten. Die Banshee deckte ihn ordentlich mit Angriffszaubern ein und er hatte seine liebe Mühe damit, schnell genug auf jeden davon zu reagieren. Da konnte er sich auf die missliche Lage seines Getreuen, der gerade auf den Rand der Klippe zugetrieben wurde, nur halbherzig konzentrieren.

Hedda sprang todesmutig herbei, schnappte von hinten mit beiden Händen nach Cords Kopf um mit ihm den Körper zu tauschen, und rannte dann in Cords Körper auf und davon. Seit sie in Sewills Körper steckend eine Vision gehabt hatte, wusste sie, daß sie zusammen mit dem Körper auch die magischen Fähigkeiten eintauschte. Und sie selber konnte absolut gar nichts. Solange Cord in ihrem nicht-magischen Mädchenkörper steckte, war er für Urnue schwerlich eine Bedrohung.

Safall verstand sofort was geschah, reagierte schnell und fiel direkt über Cord her, um ihn dingfest zu machen. Wenn er auch sonst keine Ahnung davon hat, mit Magie zu kämpfen – oder überhaupt irgendwie zu kämpfen – aber mit einem talentfreien Mädchen, das keine Ahnung hatte, was gerade passiert war, kam er gerade noch klar. Da er im Gegensatz zu Hedda Handschuhe trug, kam für ihn ein ungewollter Körpertausch nicht so leicht in Frage. Er musste nur aufpassen, daß Cord ihm nicht gerade eine klebte.

„Safall, was tust du!?“, wollte Urnue überfordert wissen und konnte auf die Schnelle nicht recht entscheiden, ob er dem flüchtenden Cord folgen, oder in das unverständliche Handgemenge zwischen Safall und Hedda einschreiten sollte. Erst als Safall ihn in Kurzform auf den Körpertausch aufmerksam machte, wurde ihm einiges klar. Aber da hatte Safall das blonde Mädchen bereits alleine abgefertigt, in dessen Körper gerade der Feind steckte. Also schaute sich Urnue als nächstes nach Victor um.
 

Third Eye in seiner Banshee-Form hatte vorerst von Akomowarov abgelassen und versuchte, seinem flüchtenden, vermeintlichen Schützling nachzufliegen. Akomowarov mühte sich, ihn mit dem Seil festzuhalten, das sonst Urnue als Flugsicherung diente und das er um Third Eye´s Bein geschlungen hatte, wurde aber haltlos mitgezogen wie ein Kitesurfer. Er fand auch keinen Halt, um irgendwie gegenzuwirken. Er fluchte so verbissen wie ungeniert auf Russisch vor sich hin. Sauer über den Klotz am Bein wandte sich die Banshee schreiend wieder um, um Victor endlich loszuwerden, da hatte Urnue ihr aber schon die Schaufel übergezogen. Leider nicht mit dem erhofften Erfolg. So eine Banshee schien mehr einstecken zu können als ein Mensch. In Rage hieb Urnue wieder und wieder mit der Kante des Schaufelblattes auf Third Eye ein, bis der endlich am Boden lag und auch dort blieb.

„Meine Güte, mach die arme Schaufel nicht kaputt. Die kann doch nichts dafür.“, merkte Victor ein wenig fassungslos an. So unbeherrscht kannte er seinen Getreuen überhaupt nicht, daß der sich so gehen ließ.

Urnue trat nochmal stinksauer mit dem Fuß auf Third Eye ein, pfefferte die Schaufel wütend daneben und stemmte dann die Hände in die Seiten, um erstmal fix und fertig durchzuatmen.

Hedda in Cords Körper tauchte neben ihnen auf. „He, könnt ihr mich mal irgendwie fesseln oder so, damit ich meinen Körper zurücktauschen kann?“, bat sie und hielt Victor auffordernd beide Handgelenke hin.

Der Magister Artificiosus Magicae nickte. „Sofort. Urnue, kümmer dich inzwischen mal um den Kollegen hier!“, trug er seinem Begleiter auf und hielt ihm das Ende des Seils hin, das immer noch um Third Eyes Bein geschlungen war.

Hedda wäre nur zu gern in Third Eyes Körper weitergesprungen, und von dort aus zurück in ihren eigenen. Leider ging das nicht. Sie konnte sich von dem 'verfluchten Fluch' nur einen Schritt entfernen. Wenn sie schon in einem fremden Körper steckte, der in den 'verfluchten Fluch' nicht involviert war, konnte sie von dort aus nicht auf noch einen weiteren Unbeteiligten weiterspringen. Sie musste zwingend erst in einen Körper zurückkehren, auf dem ebenfalls der 'verfluchte Fluch' lag, also in ihren eigenen, den von Sewill oder Safall oder den ihrer Katze. Es musste in den Körpertausch immer irgendeiner involviert sein, auf dem der Tauschfluch lag. Sie brachte es – zumindest alleine – nicht fertig, daß Cord und Third Eye in vertauschten Körpern steckten und sie selbst wieder in ihren eigenen zurückkehrte. Wirklich schade, denn damit hätte sie beide bestimmt gründlich außer Gefecht gesetzt.

Urnue dachte im Traum nicht daran, sich weiter um die Banshee zu kümmern. Er rauschte, immer noch halbwegs von Sinnen, zu Safall hinüber, der gerade von dem blonden Mädchen überrumpelt worden war. Cord kannte wohl Kampfsport-Techniken, die auch gegen einen körperlich überlegenen Gegner zogen.

Victor war zu irritiert, um noch zu irgendwas in der Lage zu sein. Er erkannte Urnue überhaupt nicht wieder. Was war denn los mit dem?

Hedda folgte ihm ohne nachzudenken. Auch sie hatte ein Interesse daran, daß Cord nicht in ihrem Körper türmte oder zu sehr zu Schaden kam.

Hinter ihnen kam die Banshee bereits wieder zu sich und raffte sich ächzend auf. Erneut versuchte sie zu ihrem Schützling zu gelangen.

Urnue krallte das überrumpelte, blonde Mädchen an der Kleidung, zerrte es von Safall herunter und zu Hedda hin, der eigentlichen Besitzerin dieses Mädchenkörpers, die nach wie vor in Cords Körper steckte. Er war sich sicher, daß in dem blonden Mädchen immer noch Cord steckte. Hätte hier im Eifer des Gefechts inzwischen ein Körpertausch mit Safall stattgefunden, hätte das Mädchen nicht lautstark auf Russisch geflucht. Nur Cord oder Third Eye beherrschten Russisch. Das war damals die einheitliche 'Amtssprache' der international agierenden Motus gewesen. „Tauschen!“, befahl er Hedda.

Sie griff nach ihrem eigenen Körper und tauschte sich wieder hinein.

Urnue ließ die nun wieder echte Hedda los, packte stattdessen den nun ebenfalls wieder echten Cord am Revers und wirbelte ihn grob herum an den Rand der Felsen.

„Nein!“, jappste Third Eye schockiert, der bereits auf halbem Weg war.

„Jetzt zeig ich dir, wie es ist, seinen Schützling nicht retten zu können.“, kündigte Urnue verbittert an und ließ los. Cord kippte hintenüber und verschwand mit einem langgezogenen Schrei im Abgrund.

Die Banshee stürzte sich heulend hinterher, in dem Versuch ihn aufzufangen, bevor er den Boden erreichte. Aber der Weg nach unten war nicht mehr lang genug, um ihn noch einzuholen.

Dann Stille. Selbst das Rauschen des Meeres schien für einen Augenblick den Atem anzuhalten. Sewill, Safall und Hedda schauten sich gegenseitig restlos erschüttert an. Urnue starrte mit verbissenem Gesicht in die Tiefe.
 

Victor schüttelte leicht den Kopf. Er trat mit einem betretenen Gesicht neben seinen Getreuen, schaute ebenfalls in die Tiefe und seufzte schwer. Verschränkte dabei die Arme vor der Brust. „Ach, Urnue. Ich hatte immer gehofft, daß du mal nicht zum Mörder werden musst.“

„Diese beiden Säcke haben Ruppert auf dem Gewissen! Du wirst mir meine Rache nicht verweigern!“, empörte der sich. „Ich bereue gar nichts! Die haben´s verdient!“

„Sicher. Aber unbedingt durch deine eigene Hand?“

„Ich hab noch versucht, ihn aufzufangen, aber ich konnte nicht mehr verhindern, daß er abstürzt. Weise mir mal das Gegenteil nach!“, hielt Urnue trotzig dagegen.

„Egal, kommt schon, konzentriert euch auf den Kampf!“, keuchte Safall. Er kam endlich hektisch wieder auf die Füße. „Third Eye wird jetzt richtig garstig werden, wenn er wieder rauf kommt!“

„Der kommt nicht wieder rauf.“, merkte Victor trocken an und trat vom Klippenrand zurück. Er zog ein sehr kühles, distanziertes Gesicht. Versuchte sich keiner Emotion hinzugeben. Cord und Third Eye lagen alle beide erstaunlich unspektakulär unten im Sand und rührten sich nicht mehr. Der Genius Intimus hatte offensichtlich nicht mehr rechtzeitig gebremst oder die Kurve gekriegt und war mit Cord gemeinsam unten aufgeschlagen.

„Wouw. Was für eine Loyalität gegenüber seinem Schützling, mit in den Tod zu springen. Hängen alle Genii Intimi und ihre Schützlinge so aneinander?“, wollte Hedda mit geradezu morbidem Interesse wissen.

Urnue wandte sich ebenfalls von dem Anblick ab und nickte. „Ich wäre auch mit Ruppert gestorben, wenn man mich nicht dran gehindert hätte. Die Verbindung zwischen einem Genius Intimus und seinem Magi ist so.“

„Nagut ... Ich schätze, wir müssen jetzt trotzdem da runter, oder?“, hakte Hedda unglücklich nach. „Kann bitte mal irgendwer nachgucken gehen, daß die zwei nicht doch blöderweise wieder aufwachen?“
 

„Ein schwarzer Engel, ich glaub´s ja nicht.“, grummelte Hedda, als sie sich Victors neues Erscheinungsbild ansah. Er hatte immer noch seine menschliche Gestalt mit dem Ledermantel und dem täuschenden Milchbubi-Gesicht, aber nun außerdem noch zwei gewaltige Schwingen auf dem Rücken. Er bückte sich gerade nach der am Boden liegenden Sewill, um sie hochzuheben und auf seinen Armen zu tragen.

„Dragomir ist ein sehr talentierter Gestaltwandler.“, kommentierte Urnue.

„Ja. Das erklärt wohl, warum niemand seine wahre Gestalt kennt. Scheinbar kann er jede beliebige Form annehmen, die ihm gerade in den Kram passt.“

Victor hob ab und verschwand mit Sewill im Abgrund, um sie unten auf den paar Metern Sandstrand abzusetzen, die dort noch existierten. Dann kam er wieder heraufgeflogen und reichte als nächstes Urnue die Hand. Dem war es zu schwul, sich auf Händen tragen zu lassen, daher wurde er an einem Arm baumelnd unten abgeliefert.

„Vergiss die Schaufel nicht.“, trug Victor Hedda auf, als er als letztes auch sie noch abholen kam. Dann waren sie alle unten.

„Na schön, Sewill, wo ist die Stelle?“, wollte Victor interessiert wissen. „Wo hast du damals den Toten begraben, den du gefunden hast?“

Sie deutete kraftlos auf eine Stelle und musste schon wieder hart mit sich hadern, daß ihr nicht die Augen zufielen. „Da, genau in der Mitte zwischen den drei Felsen.“, hauchte sie todmüde.

Akomowarov hielt Safall auffordernd die Schaufel hin. Kommentarlos.

Der Selkie honorierte es mit einem todwünschenden Blick, nahm das Werkzeug dann aber doch entgegen und machte sich ebenso stumm an die Arbeit. Es dauerte auch gar nicht lange, bis er auf ein unangenehm festes Objekt stieß. Nein, zwei. Das waren die Beine. Widerstrebend buddelte er drumherum weiter und legte auch den Rest frei. Abartig. Einfach nur abartig.

Akomowarov kippte dem Toten vorsichtig eine Ladung Wasser über den Kopf, um die Haut sauber zu waschen. „Hm. Wie erwartet.“, war das einzige, was ihm einfiel.

„Alter, der Bursche sieht ja noch taufrisch aus.“, fasste Hedda den allgemeinen Eindruck als Erste in Worte. „Sagtest du nicht, der wäre schon seit über zwei Jahren tot? Müsste er da nicht schon total verwest sein?“

„Sehr richtig beobachtet. Er ist zu einem Nachzehrer geworden.“, löste Akomowarov das Rätsel auf. „Nachzehrer sind eine eher unpopuläre Variante des Vampirs. Sie saugen nach ihrem Tod Leuten die Lebenskraft aus. Im Gegensatz zum klassischen Vampir, der sein Grab verlassen muss, liegt oder sitzt der Nachzehrer unter der Erde und saugt den Lebenden aus der Ferne die Lebenskraft ab. Wenn alte Berichte über Vampirattacken nicht vom Blutsaugen, sondern eher diffus vom „Würgen“ oder „Schwächen“ des Opfers sprechen, dann sind Nachzehrer im Spiel.“

Safall begutachtete mit mulmigem Gefühl das tote Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen und dem offenen Mund, der eigentlich mit Sand gefüllt hätte sein müssen, aber bis in den Rachen hinunter frei war. „Wie genau macht er das?“

„Indem er durch den offenen Mund sein Opfer „ruft“ oder durch das offene, böse Auge eine telepathische Verbindung mit ihm aufbaut. Häufig kaut er auch an seiner Kleidung rum. Sein Opfer stirbt an Auszehrung.“, seufzte Akomowarov unwohl. Auch ihm bereitete dieser widernatürliche Anblick sichtlich Unbehagen, genauso wie die Vorstellung, was sie nun mit diesem toten Burschen zu tun hatten. „Darum habe ich Sewill gefragt, ob sie ihm in die Augen gesehen und seine Augen geschlossen hat. Man darf so einer Leiche auf keinen Fall in die Augen sehen. Da wird schon die telepathische Verbindung zu ihrem künftigen Opfer hergestellt. In der Regel werden Wesen zu Nachzehrern, die noch was zu erledigen haben oder für ihren grausamen Tod Rache zu nehmen gedenken.“

„Ich hab mal gehört, daß die Leute solchen Dingern früher gerne Steine oder Erbsen in den Sarg geschüttet haben. Die dachten, der Tote müsste die erst zählen, bevor er mit seinem finsteren Treiben anfangen kann.“, erinnerte sich Urnue.

„Richtig. Der Aberglaube der Menschen kam nicht von ungefähr. Die Leute waren schon früher nicht ganz blöd.“, lächelte Akomowarov.

„Echt? Ich kenn nur die Version, ihm ein Fischernetz mit in den Sarg reinzuschmeißen, weil der Tote erst sämtliche Knoten lösen muss, bevor er sein Grab verlassen oder irgendwas anstellen kann.“, mischte sich Hedda von der anderen Seite mit ein. Alter Schwede, in was war sie hier nur reingeraten? Es war noch kein dreiviertel Jahr her, da hatte sie sich um Magie und magische Wesen keinen Kopf gemacht. Hatte einfach nur in Frieden Uhren-Mechanik studieren wollen. Schlimm genug, daß so ein magischer Witzbold ihr ernsthaft eine Getreuschaft hatte andichten wollen. Aber wann genau war sie zum böse-Fabelwesen-Jäger geworden?

„Ich glaube, das variiert von Kultur zu Kultur. Aber das meiste davon ist sowieso Quatsch. Weder Erbsen noch Fischernetze schützen dich, wenn wirklich einer zum Nachzehrer wird. Da müssen radikalere Mittel her.“, stellte Akomowarov klar.

„Egal. Wenn der Bursche hier die Ursache für Sewills schlechte Verfassung ist, dann müssen wir was gegen ihn tun. Was stellen wir jetzt mit ihm an?“, wollte Safall wissen. Er wollte endlich wieder hier weg. Das war nichts für ihn. Seine Nerven lagen jetzt, nach dem Kampf gegen Cord und Third Eye, schon blank genug. Er hatte das Gefühl, bald überzuschnappen.

„Wir müssen ihn pfählen oder ihm den Kopf abschlagen.“, wusste Akomowarov. „Ich glaube, den Kopf abzutrennen ist mit der Schaufelkante leichter.“

„Das mach ich nicht!“, stellte Safall hysterisch klar und warf die Schaufel weg. „Ich hab keinen Bock, zum Mörder zu werden!“

„Mach dich nicht lächerlich. Der ist schon tot.“

„Untot!“

„Klugscheißer!“, hielt Akomowarov ihm vor und nahm die Schaufel selber. „Willst du deiner Schwester nun helfen oder nicht? ... Danach sollten wir den Toten auch gleich irgendwo melden. Sicher hat er Verwandte, die ihn schon vermissen und ein Recht darauf haben, zu erfahren, was mit ihm passiert ist.“ 'Und ich würde zu gern mal erfahren, wer Cord und Third Eye an die Polizei verpfiffen hat.', fügte er im Stillen an. Hier waren offenbar noch mehr Mitspieler im Hintergrund, von denen er noch gar nichts wusste. Aber diesen Gedanken schob er vorläufig beiseite. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Jetzt hatte er erstmal ein Selkie-Mädchen aus den Klauen eines Nachzehrers zu befreien, damit sie endlich ein freies Leben führen konnte. Er stellte seinen Fuß auf den Grat der Schaufel und nahm Maß ...
 


 


 

ENDE (?)


Nachwort zu diesem Kapitel:
So, mein Vorlauf ist inzwischen aufgebraucht. Von jetzt an könnte es vielleicht immer mal einen Tag länger dauern, bis das nächste Kapitel kommt. Aber ich beeil mich. ;-) Komplett anzeigen

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