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the world outside

Magister Magicae 9
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ach, ziehen wir das Warten nicht unnötig in die Länge. Hier habt ihr! ^^
Kameraden, die Story ist viel viel umfangreicher geworden als ich dachte. Liegt daran, daß ich diesmal ne gute Ladung Konzept Art mit reingepackt habe, um euch die Welt drumrum und die Kulisse etwas bildlicher vor Augen zu führen - im Gegensatz zu 'Magister Magicae', was auf die reine, nackte Handlung beschränkt war. Dort hatte ich mich damals nicht mit der Beschreibung des Settings und der Gegebenheiten aufgehalten.
Ich bedanke mich ganz herzlich bei allen, die so fließig bis zum Ende mitgelesen haben (ich hab genau gesehen, daß ihr da wart! ^_~ ) und hoffe, es hat euch ein bisschen gefallen.

Mal noch eine Anmerkung am Rande: Ich habe zum Verschriftlichen meiner russischen Dialoge nicht die wissenschaftliche Transliteration verwendet, sondern die phonetische. Ich habe es also so festgehalten, wie man es aussprechen und nicht wie man es schreiben würde, um denen, die kein Russisch können, eine bessere Vorstellung davon zu ermöglichen. (Die, die wirklich Russisch können, werden mich sowieso erwürgen. :D ) Komplett anzeigen

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Steilküste

Urnue rieb Victor mehrmals mit der flachen Hand über die Seite, um ihn nicht zu grob zu wecken. Auch wenn jetzt langsam Gefahr in Verzug war, musste er ihn ja nicht brutaler als nötig aus dem Schlaf reißen. Draußen in den Dünen waren Bewegungen auszumachen, leider zu weit weg um irgendwas genaueres zu erkennen. Er hätte ja wenigstens gern gewusst, mit wem oder was sie es zu tun hatten. Oder mit wievielen.

Victor, der immer noch fest auf der Seite zusammengerollt lag, gab ein müdes Schnaufen von sich, bevor er lustlos die Augen aufblinzelte. Sein erster Blick galt dem Fenster. Die Fensterläden waren nicht geschlossen, daher konnte er draußen vor der Fensterscheibe den dunstigen Morgennebel vorbeiziehen sehen. Es war schon hell. Sie hatten länger ihre Ruhe gehabt als Victor geglaubt hatte. Als nächstes sah er fragend zu Urnue hoch, der aufrecht neben ihm saß.

„Dragomir, da draußen wird es unruhig.“, raunte sein Getreuer ihm leise zu.

Victor nickte und sah wieder zum Fenster. „Es ist ihnen wohl langsam hell genug, um einen Überraschungsangriff zu wagen.“

„Wir sollten die anderen wecken. Wenn hier alle wach sind, lassen sie es bestimmt bleiben und warten auf eine andere Gelegenheit.“

„Du hast Recht. Danke für´s Wachen, Urnue.“, meinte der Magister Artificiosus Magicae und streckte sich müde. Er fühlte sich steif und ausgekühlt. Das dünne Tuch, das er als Decke bekommen hatte, reichte kaum um sich die nächtliche Kälte vom Leib zu halten. Mit einem Fingerschnippsen Richtung Kamin versuchte er das Feuer wieder zu entfachen, aber im Kamin war nichts mehr, was gebrannt hätte. Nur noch Asche. Er unterdrückte ein unwilliges Stöhnen. Irgendjemand musste erst Holz nachlegen. Dazu hatte er aber gerade gar keine Lust.

Urnue warf einen seiner Kiesel nach Safall. Der kam mit einem empörten <Aua!> zu sich und schlang reflexartig die Arme um seinen Kopf, dort wo er getroffen worden war. „Guten Morgen, hoch mit dir! Wir haben heute viel vor.“, grinste Urnue.

„Spinnst du? Das tat weh!“, maulte der und rieb sich den Sand aus den Augen.

Von dem Tumult wurde als nächstes Hedda wach, und dann kettenreaktionsartig auch der Rest der Bagage.

„Ich überlege, ob ich mal auf Erkundungstour gehen sollte. Mal nachsehen, was da draußen los ist.“, schlug Victor leise und auf Russisch vor. So, daß es außer Urnue keiner hörte, und wenn, dann hoffentlich nicht verstand. Die anderen sollten nicht unnötig beunruhigt werden.

Urnue schüttelte vehement den Kopf. „njet, possalujsta ostavajtes sdes, Dragomir. Bitte bleib hier. Geh jetzt nicht weg, ich kann nicht alleine auf so viele aufpassen.“, wisperte er flehentlich zurück, gleichsam auf Russisch, und deutete dabei in die Runde. „Und darauf warten sie vielleicht bloß, daß du dich von der Gruppe trennst.“

„Du vertraust mir nicht, hm?“, schmunzelte Victor verschmitzt.

„Dragomir!“

„Schon gut, ich bleib bei dir.“

„Haben wir was verpasst?“, quasselte Hedda auf Englisch dazwischen und hielt jedem von ihnen einen Becher hin. Safalls Vater stand bereits mit einem Krug hinter ihr, um irgendwas trinkbares einzuschenken.

„Ach, ich habe mich nur gerade selbst bemitleidet, daß wir wohl keinen ordentlichen, starken Kaffee kriegen werden.“, log Victor.

„Ich kann euch einen starken Tee kochen, der hat die gleiche Wirkung.“, brummte der Seebär von einem Selkie. „Safall kümmert sich gleich um das Feuer.“

„Ich hoffe, Karorinn kümmert sich gut um meinen Kater.“, wechselte Hedda das Thema und hielt ihren eigenen Becher hin, um sich Milch eingießen zu lassen.
 

Nach einem eher spartanischen Frühstück brachen sie noch in aller Herrgottsfrühe an den Strand auf. Hedda gähnte noch und nörgelte über ihre schmerzenden Knochen. Sie hatte sich ihre Decke wie einen Poncho um die Schultern gelegt, um sich noch ein wenig zu wärmen, während sie gleich durch das spröde Küstenklima stapfen würden. Der einzige Gedanke, der ihre Laune hob, war die Erinnerung daran, wie Safall mit einem kleinen Taschenspiegel sein Gothic-MakeUp gezogen hatte. Wie eine Mode-Tussi.

Safall hatte seine zierliche Schwester Huckepack genommen und würde sie tragen. Sie musste ihnen den Weg zeigen.

Ihr Vater wollte nicht mitkommen, der blieb zu Hause. Er stellte nur eben noch sein Haus auf den Kopf, auf der Suche nach einer Schaufel, die Akomowarov verlangt hatte.

„Wozu brauchen wir´n eine Schaufel?“, wollte Hedda uneinsichtig wissen.

Akomowarov warf ihr nur einen vielsagenden Blick zu. „Wozu wohl!?“

„Ääääh ... nein! Nein! Ich will keine Leichen ausbuddeln!“, stellte Hedda schockiert klar, als ihr aufging, wie der Plan aussah. „Da bleibe ich lieber hier!“

„Du wirst gefälligst mitkommen!“, verlangte Safall streng.

„Ich bin nicht mehr deine Nebengetreue! Du hast mir gar nichts zu sagen!“

„Wir stecken da alle mit drin, auch du, du Feigling! Du kommst mit!“

„Hier, mach dich nützlich und trag die Schaufel!“, trug Safalls Vater ihr amüsiert auf und drückte ihr die Gerätschaft in die Hand.

Hedda ließ geschlagen die Schultern hängen und tat wie ihr geheißen.
 

Eine halbe Stunde später waren sie immer noch auf ihrem Vormarsch durch die unwegsame Landschaft. Hedda hatte inzwischen keine Ahnung mehr, wo sie war. Sie waren vom ebenerdigen Sandstrand inzwischen eine Etage nach oben gewandert. Das Meer lag etliche Meter unter ihnen, am Fuße einer senkrechten Felswand. Und sie war müde. Auf Sand zu laufen, war furchtbar anstrengend gewesen, da er keinen soliden Untergrund bot, sondern einem ständig unter den Füßen wegrutschte. Aber der massive, zerklüfftete, kantige Fels erschien ihr inzwischen auch nicht mehr komfortabler. Gab es hier denn keine Straßen, verdammt?

sledyjte sa nami.“ [Die folgen uns.], meinte Urnue leise zu Victor.

da, ja sametil jego.“ [Ich merke es.] „Kann nur gut sein. Dann lassen sie wenigstens das Haus und den Alten in Ruhe.“, raunte der leise zurück und sah sich unauffällig um. Es waren nicht viele, vielleicht zwei, höchstens drei Personen, die ihnen auf den Fersen waren. Er hatte schon eine Vermutung, wer es war, hatte aber noch keine Gelegenheit gefunden, seinen Verdacht zu bestätigen. Langsam wunderte er sich, daß die sich immer noch nicht gezeigt hatten.

Safall hielt am Rand der Steilküste inne und sah hinunter. Der Reisetrupp kam zum Stehen. Eine Rast? Hier?

„Ich vermisse das Meer.“, säuselte Sewill sehnsüchtig.

Safall atmete tief durch und nickte. „Ich auch. Wir werden bald die Chance haben, eine Runde schwimmen zu gehen, keine Sorge, Schwesterchen.“

„Wo ist denn nun das blöde Grab?“, maulte Hedda genervt. Sie drehte sich mit der Schaufel auf der Schulter um und verdachtelte dabei Urnue beinahe eine mit dem Schaufelblatt.

Sewill lächelte und deutete die Steilküste hinunter. „Da unten.“, grinste sie. „Wir müssen runterklettern.“

Hedda warf nochmal einen Blick in den schwindelerregend tiefen Abgrund. „Spinnst du? Da kann ich ja auch gleich freiwillig springen! Da kommen wir niemals heil runter!“

„Tapferkeit und Dummheit gehen oft Hand in Hand.“, lachte Sewill.

„Ich kletter da nicht runter!“

„Sei nicht so ein Mädchen! Ich kann fliegen. Ich trage euch runter.“, legte Akomowarov fest, der neben ihr aufgetaucht war und sich den Schlamassel ebenfalls ansah.

Urnue nahm Hedda genervt die Schaufel weg, die er schon zum zweiten Mal beinahe im Gesicht gehabt hätte, damit sie die nicht wirklich noch jemandem über die Birne zog.

Hinter ihnen wurde Heulen laut und ließ alle herumfahren. Akomowarov zerrte Safall und Hedda schnell vom Rand der Felsen weg, damit sie nicht reflexartig zurückweichen und hinunterstürzen konnten. Eine Banshee raste im Tiefflug heulend auf sie zu und über ihre eingezogenen Köpfe hinweg.

Urnue fluchte erschrocken und zog einen magischen Schutzschild hoch. Die Banshee, die derweile gewendet hatte und ihn gerade angreifen wollte, prallte mit einem dumpfen 'klonk' daran ab.

Akomowarov musste sich ein Grinsen verkneifen. Jetzt zeigten sich ihre Verfolger also endlich. Der andere kam auch gerade angerannt. „Cord und Third Eye. Woher wusste ich nur, daß ihr das seid? Ihr habt uns von Düsseldorf bis hier her verfolgt?“

„Ihr wollt das Grab da unten ausheben, oder?“, blaffte Cord ihn an. „Das müssen wir leider verhindern! Der Gute da unten muss verschwunden bleiben. Und euch müssen wir leider beseitigen, wenn ihr davon wisst.“

„Also habt ihr den armen Tropf da unten auf dem Gewissen?“

„Ja, man! Das ist der kleine Pisser, der sich von den Klippen gestürzt hat, bevor wir ihn fertig verfluchen konnten. Wegen dem ist der Fluch auf uns zurückgefallen!“, gab Cord ganz unverblümt zu und zeigte dabei auf seinen Kettenanhänger. Er trug das Fluch-Medaillon wieder selbst, das zeitweilig Hedda in die Hände gefallen war. „Als wir gehört haben, daß ihr nach Schottland reisen wollt, wussten wir gleich, daß da nichts Gutes bei raus kommt, und sind euch sofort nachgereist. Wie ich sehe, hatten wir Recht. Hier ist Endstation für euch!“ Cord stürzte sich ebenfalls auf Urnue.

Urnue hob erschrocken auch die andere Hand zur Abwehr, diesmal in Cords Richtung, und zog damit reflexartig noch einen zweiten magischen Schild hoch. „Ach du scheiße.“, ächzte er überfordert. Er war selber total überrascht, zwei Schutzschilder in zwei verschiedene Richtungen gleichzeitig beschworen zu haben. Das hatte er bei Victor durchaus schon gesehen, aber noch nie selber versucht. Er wusste vor lauter Aufregung gleich gar nicht, auf welchen von beiden er sich konzentrieren sollte. Beide Schilde forderten Aufmerksamkeit, um nicht wieder zusammenzubrechen.

Victor entschied, daß die Banshee der gefährlichere Gegner war und griff Third Eye mit einem Feuerzauber an, um ihn zu sich herüber zu locken. Sonst kam der am Ende noch auf die Idee, sich die Studenten zu krallen, sobald Urnues Abwehr ihm zu langweilig und mühselig wurde.

Cord zückte einen Bann-Zettel und pappte ihn auf Urnues immer noch aktives, magischen Schutzschild. Die leicht orange leuchtende Barriere fiel in sich zusammen.

„Fuck, was!???“, keuchte Urnue schockiert. Der Kerl konnte mit seinen Bannzaubern Schutzschilder durchbrechen? Cord grinste finster, kam einen Schritt näher, und wurde von dem nächsten Schutzschild gestoppt, das Urnue erschrocken neu hochzog. Der Schutzschild löste sich wieder in Luft auf, so wie er mit Cords Bann-Zettel in Berührung kam. Ebenso wie der nächste und der nächste. Urnue erzeugte im Sekundentakt immer neue Schutzschilder, um Cord fern zu halten, aber Schild um Schild fiel unter dem Barriere-brechenden Bann des Magiers. Und mit jedem davon verlor Urnue kostbare Distanz. Cord arbeitete sich vor.

Victor gab ein panisches „Urnue!“ von sich, konnte aber nicht einschreiten. Er war gut damit beschäftigt, Third Eye in Schach zu halten. Die Banshee deckte ihn ordentlich mit Angriffszaubern ein und er hatte seine liebe Mühe damit, schnell genug auf jeden davon zu reagieren. Da konnte er sich auf die missliche Lage seines Getreuen, der gerade auf den Rand der Klippe zugetrieben wurde, nur halbherzig konzentrieren.

Hedda sprang todesmutig herbei, schnappte von hinten mit beiden Händen nach Cords Kopf um mit ihm den Körper zu tauschen, und rannte dann in Cords Körper auf und davon. Seit sie in Sewills Körper steckend eine Vision gehabt hatte, wusste sie, daß sie zusammen mit dem Körper auch die magischen Fähigkeiten eintauschte. Und sie selber konnte absolut gar nichts. Solange Cord in ihrem nicht-magischen Mädchenkörper steckte, war er für Urnue schwerlich eine Bedrohung.

Safall verstand sofort was geschah, reagierte schnell und fiel direkt über Cord her, um ihn dingfest zu machen. Wenn er auch sonst keine Ahnung davon hat, mit Magie zu kämpfen – oder überhaupt irgendwie zu kämpfen – aber mit einem talentfreien Mädchen, das keine Ahnung hatte, was gerade passiert war, kam er gerade noch klar. Da er im Gegensatz zu Hedda Handschuhe trug, kam für ihn ein ungewollter Körpertausch nicht so leicht in Frage. Er musste nur aufpassen, daß Cord ihm nicht gerade eine klebte.

„Safall, was tust du!?“, wollte Urnue überfordert wissen und konnte auf die Schnelle nicht recht entscheiden, ob er dem flüchtenden Cord folgen, oder in das unverständliche Handgemenge zwischen Safall und Hedda einschreiten sollte. Erst als Safall ihn in Kurzform auf den Körpertausch aufmerksam machte, wurde ihm einiges klar. Aber da hatte Safall das blonde Mädchen bereits alleine abgefertigt, in dessen Körper gerade der Feind steckte. Also schaute sich Urnue als nächstes nach Victor um.
 

Third Eye in seiner Banshee-Form hatte vorerst von Akomowarov abgelassen und versuchte, seinem flüchtenden, vermeintlichen Schützling nachzufliegen. Akomowarov mühte sich, ihn mit dem Seil festzuhalten, das sonst Urnue als Flugsicherung diente und das er um Third Eye´s Bein geschlungen hatte, wurde aber haltlos mitgezogen wie ein Kitesurfer. Er fand auch keinen Halt, um irgendwie gegenzuwirken. Er fluchte so verbissen wie ungeniert auf Russisch vor sich hin. Sauer über den Klotz am Bein wandte sich die Banshee schreiend wieder um, um Victor endlich loszuwerden, da hatte Urnue ihr aber schon die Schaufel übergezogen. Leider nicht mit dem erhofften Erfolg. So eine Banshee schien mehr einstecken zu können als ein Mensch. In Rage hieb Urnue wieder und wieder mit der Kante des Schaufelblattes auf Third Eye ein, bis der endlich am Boden lag und auch dort blieb.

„Meine Güte, mach die arme Schaufel nicht kaputt. Die kann doch nichts dafür.“, merkte Victor ein wenig fassungslos an. So unbeherrscht kannte er seinen Getreuen überhaupt nicht, daß der sich so gehen ließ.

Urnue trat nochmal stinksauer mit dem Fuß auf Third Eye ein, pfefferte die Schaufel wütend daneben und stemmte dann die Hände in die Seiten, um erstmal fix und fertig durchzuatmen.

Hedda in Cords Körper tauchte neben ihnen auf. „He, könnt ihr mich mal irgendwie fesseln oder so, damit ich meinen Körper zurücktauschen kann?“, bat sie und hielt Victor auffordernd beide Handgelenke hin.

Der Magister Artificiosus Magicae nickte. „Sofort. Urnue, kümmer dich inzwischen mal um den Kollegen hier!“, trug er seinem Begleiter auf und hielt ihm das Ende des Seils hin, das immer noch um Third Eyes Bein geschlungen war.

Hedda wäre nur zu gern in Third Eyes Körper weitergesprungen, und von dort aus zurück in ihren eigenen. Leider ging das nicht. Sie konnte sich von dem 'verfluchten Fluch' nur einen Schritt entfernen. Wenn sie schon in einem fremden Körper steckte, der in den 'verfluchten Fluch' nicht involviert war, konnte sie von dort aus nicht auf noch einen weiteren Unbeteiligten weiterspringen. Sie musste zwingend erst in einen Körper zurückkehren, auf dem ebenfalls der 'verfluchte Fluch' lag, also in ihren eigenen, den von Sewill oder Safall oder den ihrer Katze. Es musste in den Körpertausch immer irgendeiner involviert sein, auf dem der Tauschfluch lag. Sie brachte es – zumindest alleine – nicht fertig, daß Cord und Third Eye in vertauschten Körpern steckten und sie selbst wieder in ihren eigenen zurückkehrte. Wirklich schade, denn damit hätte sie beide bestimmt gründlich außer Gefecht gesetzt.

Urnue dachte im Traum nicht daran, sich weiter um die Banshee zu kümmern. Er rauschte, immer noch halbwegs von Sinnen, zu Safall hinüber, der gerade von dem blonden Mädchen überrumpelt worden war. Cord kannte wohl Kampfsport-Techniken, die auch gegen einen körperlich überlegenen Gegner zogen.

Victor war zu irritiert, um noch zu irgendwas in der Lage zu sein. Er erkannte Urnue überhaupt nicht wieder. Was war denn los mit dem?

Hedda folgte ihm ohne nachzudenken. Auch sie hatte ein Interesse daran, daß Cord nicht in ihrem Körper türmte oder zu sehr zu Schaden kam.

Hinter ihnen kam die Banshee bereits wieder zu sich und raffte sich ächzend auf. Erneut versuchte sie zu ihrem Schützling zu gelangen.

Urnue krallte das überrumpelte, blonde Mädchen an der Kleidung, zerrte es von Safall herunter und zu Hedda hin, der eigentlichen Besitzerin dieses Mädchenkörpers, die nach wie vor in Cords Körper steckte. Er war sich sicher, daß in dem blonden Mädchen immer noch Cord steckte. Hätte hier im Eifer des Gefechts inzwischen ein Körpertausch mit Safall stattgefunden, hätte das Mädchen nicht lautstark auf Russisch geflucht. Nur Cord oder Third Eye beherrschten Russisch. Das war damals die einheitliche 'Amtssprache' der international agierenden Motus gewesen. „Tauschen!“, befahl er Hedda.

Sie griff nach ihrem eigenen Körper und tauschte sich wieder hinein.

Urnue ließ die nun wieder echte Hedda los, packte stattdessen den nun ebenfalls wieder echten Cord am Revers und wirbelte ihn grob herum an den Rand der Felsen.

„Nein!“, jappste Third Eye schockiert, der bereits auf halbem Weg war.

„Jetzt zeig ich dir, wie es ist, seinen Schützling nicht retten zu können.“, kündigte Urnue verbittert an und ließ los. Cord kippte hintenüber und verschwand mit einem langgezogenen Schrei im Abgrund.

Die Banshee stürzte sich heulend hinterher, in dem Versuch ihn aufzufangen, bevor er den Boden erreichte. Aber der Weg nach unten war nicht mehr lang genug, um ihn noch einzuholen.

Dann Stille. Selbst das Rauschen des Meeres schien für einen Augenblick den Atem anzuhalten. Sewill, Safall und Hedda schauten sich gegenseitig restlos erschüttert an. Urnue starrte mit verbissenem Gesicht in die Tiefe.
 

Victor schüttelte leicht den Kopf. Er trat mit einem betretenen Gesicht neben seinen Getreuen, schaute ebenfalls in die Tiefe und seufzte schwer. Verschränkte dabei die Arme vor der Brust. „Ach, Urnue. Ich hatte immer gehofft, daß du mal nicht zum Mörder werden musst.“

„Diese beiden Säcke haben Ruppert auf dem Gewissen! Du wirst mir meine Rache nicht verweigern!“, empörte der sich. „Ich bereue gar nichts! Die haben´s verdient!“

„Sicher. Aber unbedingt durch deine eigene Hand?“

„Ich hab noch versucht, ihn aufzufangen, aber ich konnte nicht mehr verhindern, daß er abstürzt. Weise mir mal das Gegenteil nach!“, hielt Urnue trotzig dagegen.

„Egal, kommt schon, konzentriert euch auf den Kampf!“, keuchte Safall. Er kam endlich hektisch wieder auf die Füße. „Third Eye wird jetzt richtig garstig werden, wenn er wieder rauf kommt!“

„Der kommt nicht wieder rauf.“, merkte Victor trocken an und trat vom Klippenrand zurück. Er zog ein sehr kühles, distanziertes Gesicht. Versuchte sich keiner Emotion hinzugeben. Cord und Third Eye lagen alle beide erstaunlich unspektakulär unten im Sand und rührten sich nicht mehr. Der Genius Intimus hatte offensichtlich nicht mehr rechtzeitig gebremst oder die Kurve gekriegt und war mit Cord gemeinsam unten aufgeschlagen.

„Wouw. Was für eine Loyalität gegenüber seinem Schützling, mit in den Tod zu springen. Hängen alle Genii Intimi und ihre Schützlinge so aneinander?“, wollte Hedda mit geradezu morbidem Interesse wissen.

Urnue wandte sich ebenfalls von dem Anblick ab und nickte. „Ich wäre auch mit Ruppert gestorben, wenn man mich nicht dran gehindert hätte. Die Verbindung zwischen einem Genius Intimus und seinem Magi ist so.“

„Nagut ... Ich schätze, wir müssen jetzt trotzdem da runter, oder?“, hakte Hedda unglücklich nach. „Kann bitte mal irgendwer nachgucken gehen, daß die zwei nicht doch blöderweise wieder aufwachen?“
 

„Ein schwarzer Engel, ich glaub´s ja nicht.“, grummelte Hedda, als sie sich Victors neues Erscheinungsbild ansah. Er hatte immer noch seine menschliche Gestalt mit dem Ledermantel und dem täuschenden Milchbubi-Gesicht, aber nun außerdem noch zwei gewaltige Schwingen auf dem Rücken. Er bückte sich gerade nach der am Boden liegenden Sewill, um sie hochzuheben und auf seinen Armen zu tragen.

„Dragomir ist ein sehr talentierter Gestaltwandler.“, kommentierte Urnue.

„Ja. Das erklärt wohl, warum niemand seine wahre Gestalt kennt. Scheinbar kann er jede beliebige Form annehmen, die ihm gerade in den Kram passt.“

Victor hob ab und verschwand mit Sewill im Abgrund, um sie unten auf den paar Metern Sandstrand abzusetzen, die dort noch existierten. Dann kam er wieder heraufgeflogen und reichte als nächstes Urnue die Hand. Dem war es zu schwul, sich auf Händen tragen zu lassen, daher wurde er an einem Arm baumelnd unten abgeliefert.

„Vergiss die Schaufel nicht.“, trug Victor Hedda auf, als er als letztes auch sie noch abholen kam. Dann waren sie alle unten.

„Na schön, Sewill, wo ist die Stelle?“, wollte Victor interessiert wissen. „Wo hast du damals den Toten begraben, den du gefunden hast?“

Sie deutete kraftlos auf eine Stelle und musste schon wieder hart mit sich hadern, daß ihr nicht die Augen zufielen. „Da, genau in der Mitte zwischen den drei Felsen.“, hauchte sie todmüde.

Akomowarov hielt Safall auffordernd die Schaufel hin. Kommentarlos.

Der Selkie honorierte es mit einem todwünschenden Blick, nahm das Werkzeug dann aber doch entgegen und machte sich ebenso stumm an die Arbeit. Es dauerte auch gar nicht lange, bis er auf ein unangenehm festes Objekt stieß. Nein, zwei. Das waren die Beine. Widerstrebend buddelte er drumherum weiter und legte auch den Rest frei. Abartig. Einfach nur abartig.

Akomowarov kippte dem Toten vorsichtig eine Ladung Wasser über den Kopf, um die Haut sauber zu waschen. „Hm. Wie erwartet.“, war das einzige, was ihm einfiel.

„Alter, der Bursche sieht ja noch taufrisch aus.“, fasste Hedda den allgemeinen Eindruck als Erste in Worte. „Sagtest du nicht, der wäre schon seit über zwei Jahren tot? Müsste er da nicht schon total verwest sein?“

„Sehr richtig beobachtet. Er ist zu einem Nachzehrer geworden.“, löste Akomowarov das Rätsel auf. „Nachzehrer sind eine eher unpopuläre Variante des Vampirs. Sie saugen nach ihrem Tod Leuten die Lebenskraft aus. Im Gegensatz zum klassischen Vampir, der sein Grab verlassen muss, liegt oder sitzt der Nachzehrer unter der Erde und saugt den Lebenden aus der Ferne die Lebenskraft ab. Wenn alte Berichte über Vampirattacken nicht vom Blutsaugen, sondern eher diffus vom „Würgen“ oder „Schwächen“ des Opfers sprechen, dann sind Nachzehrer im Spiel.“

Safall begutachtete mit mulmigem Gefühl das tote Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen und dem offenen Mund, der eigentlich mit Sand gefüllt hätte sein müssen, aber bis in den Rachen hinunter frei war. „Wie genau macht er das?“

„Indem er durch den offenen Mund sein Opfer „ruft“ oder durch das offene, böse Auge eine telepathische Verbindung mit ihm aufbaut. Häufig kaut er auch an seiner Kleidung rum. Sein Opfer stirbt an Auszehrung.“, seufzte Akomowarov unwohl. Auch ihm bereitete dieser widernatürliche Anblick sichtlich Unbehagen, genauso wie die Vorstellung, was sie nun mit diesem toten Burschen zu tun hatten. „Darum habe ich Sewill gefragt, ob sie ihm in die Augen gesehen und seine Augen geschlossen hat. Man darf so einer Leiche auf keinen Fall in die Augen sehen. Da wird schon die telepathische Verbindung zu ihrem künftigen Opfer hergestellt. In der Regel werden Wesen zu Nachzehrern, die noch was zu erledigen haben oder für ihren grausamen Tod Rache zu nehmen gedenken.“

„Ich hab mal gehört, daß die Leute solchen Dingern früher gerne Steine oder Erbsen in den Sarg geschüttet haben. Die dachten, der Tote müsste die erst zählen, bevor er mit seinem finsteren Treiben anfangen kann.“, erinnerte sich Urnue.

„Richtig. Der Aberglaube der Menschen kam nicht von ungefähr. Die Leute waren schon früher nicht ganz blöd.“, lächelte Akomowarov.

„Echt? Ich kenn nur die Version, ihm ein Fischernetz mit in den Sarg reinzuschmeißen, weil der Tote erst sämtliche Knoten lösen muss, bevor er sein Grab verlassen oder irgendwas anstellen kann.“, mischte sich Hedda von der anderen Seite mit ein. Alter Schwede, in was war sie hier nur reingeraten? Es war noch kein dreiviertel Jahr her, da hatte sie sich um Magie und magische Wesen keinen Kopf gemacht. Hatte einfach nur in Frieden Uhren-Mechanik studieren wollen. Schlimm genug, daß so ein magischer Witzbold ihr ernsthaft eine Getreuschaft hatte andichten wollen. Aber wann genau war sie zum böse-Fabelwesen-Jäger geworden?

„Ich glaube, das variiert von Kultur zu Kultur. Aber das meiste davon ist sowieso Quatsch. Weder Erbsen noch Fischernetze schützen dich, wenn wirklich einer zum Nachzehrer wird. Da müssen radikalere Mittel her.“, stellte Akomowarov klar.

„Egal. Wenn der Bursche hier die Ursache für Sewills schlechte Verfassung ist, dann müssen wir was gegen ihn tun. Was stellen wir jetzt mit ihm an?“, wollte Safall wissen. Er wollte endlich wieder hier weg. Das war nichts für ihn. Seine Nerven lagen jetzt, nach dem Kampf gegen Cord und Third Eye, schon blank genug. Er hatte das Gefühl, bald überzuschnappen.

„Wir müssen ihn pfählen oder ihm den Kopf abschlagen.“, wusste Akomowarov. „Ich glaube, den Kopf abzutrennen ist mit der Schaufelkante leichter.“

„Das mach ich nicht!“, stellte Safall hysterisch klar und warf die Schaufel weg. „Ich hab keinen Bock, zum Mörder zu werden!“

„Mach dich nicht lächerlich. Der ist schon tot.“

„Untot!“

„Klugscheißer!“, hielt Akomowarov ihm vor und nahm die Schaufel selber. „Willst du deiner Schwester nun helfen oder nicht? ... Danach sollten wir den Toten auch gleich irgendwo melden. Sicher hat er Verwandte, die ihn schon vermissen und ein Recht darauf haben, zu erfahren, was mit ihm passiert ist.“ 'Und ich würde zu gern mal erfahren, wer Cord und Third Eye an die Polizei verpfiffen hat.', fügte er im Stillen an. Hier waren offenbar noch mehr Mitspieler im Hintergrund, von denen er noch gar nichts wusste. Aber diesen Gedanken schob er vorläufig beiseite. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Jetzt hatte er erstmal ein Selkie-Mädchen aus den Klauen eines Nachzehrers zu befreien, damit sie endlich ein freies Leben führen konnte. Er stellte seinen Fuß auf den Grat der Schaufel und nahm Maß ...
 


 


 

ENDE (?)



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