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the world outside

Magister Magicae 9
von

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zwielichtig

Der neue Tauschfluch, den Salome ungewollt kreiert hatte, und den sie nur den 'verfluchten Fluch' nannten, bereitete Hedda inzwischen viel Spaß. Nachdem sie sich damit abgefunden und daran gewöhnt hatte, hatte sie begonnen, Experimente anzustellen. Der Tauschzauber war erstaunlich flexibel. Man konnte kettenreaktionsartig von Körper zu Körper springen, ohne zwischendurch in seinen eigenen Körper zurückkehren zu müssen. Es ließen sich lustige Ringtausche bewerkstelligen. Einmal hatten sie es geschafft, daß Safall in Sewills Körper, Sewill in Heddas Körper, Hedda im Körper ihrer Katze und die Katze in Safalls Körper gesteckt hatten. Es war ein göttlicher Anblick gewesen, wie Heddas Kater versucht hatte, in Safalls Körper steckend auf den Kleiderschrank hinauf zu springen. Berührte man zwei Personen gleichzeitig, tauschte man nur mit einer von ihnen den Körper. Das System, nach dem sich entschied, mit welchem von beiden, hatte sich ihr allerdings noch nicht erschlossen. Das schien reiner Zufall zu sein. Hedda hatte sich einmal heimlich in Salomes Körper hineingetauscht und in seinem Namen mit Safall geplaudert, um ihn auszuhorchen. Safall hatte es dummerweise gemerkt und war tierisch sauer geworden. Das hatte Hedda nie wieder versucht. Allerdings hatte sie seither – quasi als Wiedergutmachung – mit seiner Schwester einen Deal am Laufen, von Zeit zu Zeit den Körper mit ihr zu tauschen, damit auch sie sich endlich mal ungehindert auf dem Universitätsgelände und in der Stadt herumtreiben konnte, ohne nach 20 Schritten zusammenzubrechen. Hedda blieb dann einfach im Bett liegen und genoss ihre Ruhe. Solange sie sich nicht bewegen musste, war es zu ertragen. Dann konnte Safall sie zumindest nicht in die Bibliothek prügeln und zum Lernen zwingen. Sie war nur einmal ziemlich erschrocken, als sie plötzlich von einer Vision überfallen worden war. Hedda hatte ja noch nie zuvor Visionen gehabt und fand das echt creepy. Die Vision war sehr nichtssagend und belanglos gewesen. Sewill hatte ihr später gesagt, daß die meisten Visionen so wären. Man bekäme nur selten was großes, bedeutendes zu sehen. An Sewills Zustand hatte sich leider gar nichts geändert. Sie war immer noch so schwächlich und kränklich wie zuvor. Ihr Bruder Safall war darüber nicht sehr glücklich, aber Sewill selbst war der Meinung, man solle doch froh sein, daß ihre Verfassung nicht schlimmer geworden war. Der verkorkste Gegenfluch von Salome hätte immerhin sonstwas anrichten können.

Echte Panik machte sich breit, als Sewill von einem ihrer Stadtbummel nicht zurückkehrte. Sie hatte spätestens 18 Uhr wieder da sein wollen. Als 20 Uhr immer noch keine Spur von ihr zu finden war, wurde Safall hibbelig. Hedda glaubte, daß Sewill vielleicht Haselnüsse gegessen hatte und nun mit einem allergischen Schock in irgendeinem Krankenhaus lag. Hedda war allergisch gegen Haselnüsse. Wenn sie´s recht bedachte, hatte sie Sewill, die gerade in Heddas Körper draußen rumspazierte, nie davon erzählt.

Safall telefonierte alle Krankenhäuser in der Gegend ab, fand aber weder jemanden, der unter Sewills Namen noch unter Heddas Namen eingeliefert worden wäre. Er versuchte auch vergeblich, sie auf Heddas Handy zu erreichen, das sie eigentlich bei sich hätte haben müssen, wenn sie in ihrem Körper unterwegs war. Daraufhin schnappte er seinen langen Ledermantel und machte sich selbst auf die Suche. Sewill war seine Zwillings- und Schwurschwester. Er hatte normalerweise immer eine intuitive Ahnung, wo sie steckte und wie es ihr ging. Aber wenn sie die Identität mit jemandem getauscht hatte, riss diese Verbindung leider komplett ab.
 

Die Zutoro lag im japanischen Viertel von Düsseldorf. In diesem Viertel gab es ein privates Institut für die Bereinigung von Zaubereiunfällen. Safalls erste Idee war, daß seine Schwester sich vielleicht dorthin gewandt hatte, um sich Rat wegen ihres 'verfluchten Fluchs' zu holen, und nun von denen festgehalten wurde. Diesem Institut wurde nachgesagt, daß ganz gern mal Leute in Polizeigewahrsam übergeben wurden, wenn man dort den Eindruck von einem Verbrechen oder gar einem entsprechenden Vertuschungsversuch hatte. Und mit Flüchen war man da immer schwer in Mode. Aber dort war kein blondes, nicht-magisches Mädchen aufgetaucht. Das hätte die sicher auch sehr skeptisch gemacht. Was sollte ein nicht-magisches Mädchen schon in einem Institut für missglückte Magie wollen? Safall verzichtete darauf, obschon er einmal hier war, das Problem mit ihrem Fluch anzusprechen. Er legte selbst keinen Wert darauf, an die Polizei zu geraten. Er hätte denen nicht erklären können, was passiert war.
 

Da er hier nicht fündig geworden war, versuchte er es als nächstes im Hallenbad. Seine Schwester und er waren Selkies. Robben, die menschliche Gestalt annehmen konnten, wenn sie ihr Fell ablegten. Sewill vermisste das Meer genauso wie er. Und obwohl er sich nicht vorstellen konnte, daß ein gefließtes, mit Chlorwasser gefülltes Schwimmbecken ihr da einen passablen Ersatz bot, war es immerhin eine Chance. Den Eintritt zahlte er gern, und auch die blöden Blicke, als er mit Ledermantel und Straßenschuhen in die Schwimmhalle stiefelte, nahm er gern auf sich. Da er schwerlich selbst in die Frauenumkleiden hineinplatzen konnte, hatte er sogar ein paar gerade herauskommende, ältere Damen gefragt, ob noch ein blondes Mädchen drin sei. Alles vergebens. Sewill war auch hier nicht zu finden.
 

Safall trat wieder auf die Straße und überlegte. Wo sollte er als nächstes hingehen? Es war inzwischen fast 23 Uhr. Es gab kaum noch logische Optionen. Alles was Öffnungszeiten hatte, hatte inzwischen geschlossen. Außer bestenfalls ein paar ausgewählte Gastronomiebetriebe. Restaurantes hatten nicht so lange auf. Und Clubs gab es im Umkreis der Uni keine. Darum feierten ja alle im Studentenkeller des Wohnheims. ... Das Tee-Haus? Safall zögerte. Sie hatten Sewill von dem Tee-Haus erzählt, und von dem fluchabwehrenden Amulett, daß Hedda dort bekommen hatte. Möglich, daß sie dort hingegangen war, um mehr zu erfahren. Aber ob ein Tee-Haus um diese Zeit noch offen hatte, bezweifelte er auch irgendwie. Ein Blick aufs Handy sagte ihm, daß Sewill nach wie vor verschollen war. Hedda hatte ihm versprochen, anzurufen, falls seine Schwester inzwischen von selber auftauchte, während er noch draußen rumrannte und sie suchte. Mangels besserer Ideen machte er sich also auf den Weg und wählte dabei – wo er das Handy sowieso einmal in der Hand hatte – Heddas Nummer. Wie befürchtet ging Sewill auch weiterhin nicht an Heddas Telefon, obwohl sie es eigentlich bei sich hätte haben müssen und seine Nummer kannte.
 

Als Safall vor dem Tee-Haus ankam, fand er es verschlossen vor. Drinnen brannte zwar noch Licht, das durch die Ritzen der Bretterbude auf die Straße quoll wie die Füllwatte aus geplatzten Nähten, die Fensterläden waren aber zugesperrt worden. Safall drückte testhalber gegen die Tür, wusste aber im Prinzip schon vorher, daß diese nicht nachgeben würde. Auch sie war versperrt. Dennoch hörte man von drinnen Stimmen. Safall schaute sich nach links und rechts um. Die Straße war völlig ausgestorben. Keine Menschenseele unterwegs. Drinnen krachte etwas lautstark auf den Tisch, gemischt mit einem metallischen Klirren. Es klang wie ein Sack Münzen, den man auf die Tischplatte hatte fallen lassen.

„Hier hast du deine dreckige Kohle zurück, du Verräter!“, blaffte jemand.

Eine Sekunde herrschte nachdenkliches Schweigen. Dann gab jemand ein ruhiges und überaus sachliches, klärungsbereites „Was ist passiert?“ zurück.

„Du hast geredet!“

„Ich habe mit niemandem über euch gesprochen oder euch angezeigt.“

„Wer soll´s sonst gewesen sein? Die Staatlichen haben uns am Arsch, man! Wir hätten dich und deinen Kollegen damals kalt machen sollen! Wir hätten uns nicht auf Geschäfte mit dir einlassen sollen!“

Safall trat näher an die hölzerne Tür heran und versuchte durch einen Spalt zwischen den Brettern etwas zu erkennen. Nicht ohne vorher nochmal sorgsam zu prüfen, ob er auch wirklich alleine auf der Straße war und nicht beobachtet wurde. Das klang ihm irgendwie sehr verdächtig.

„Ihr seid mutig, das ausgerechnet mir ins Gesicht zu sagen. Nehmt das Geld wieder mit. Bitte. Es gehört euch.“, bat die ruhige Stimme. „Und lasst uns in Ruhe.“

„Nein! Bei einem wie dir wollen wir nicht in der Schuld stehen! Wir werden jetzt nachholen, was wir damals vergeigt haben! Unsere Absprache von damals zählt jetzt nicht mehr! Wir lassen uns von dir nicht einschüchtern!“

Safall erkannte durch die Spalten zwischen den Brettern der Tür drei Männer. Zwei von ihnen waren groß und stattlich und hatten verwilderte, ungekämmte, dunkelblonde Haare und abgeranzte Klamotten. Beide hatten typische Verbrecher-Gesichter. Ungepflegt, vernarbt und dreckig und daher altersmäßig unmöglich zu schätzen. Der dritte, wohl ihr Gegenspieler in diesem Disput, hatte schulterlange, offene, schwarze Haare und einen langen, schwarzen Ledermantel, wie Safall selbst. Nur war er sicher fast einen Kopf kleiner. Er wirkte mit seiner kleinen, zierlichen Statur irgendwie zart und noch nicht ganz ausgewachsen. Er sah unglaublich jung aus. ... und er kam gerade direkt auf die Tür zumarschiert!

Ehe Safall reagieren konnte, hatte der junge Bursche die Tür schon aufgezogen und stockte sichtlich erschrocken zurück, als er beinahe in den unerwarteten Passanten hineinrannte.

„Äh-ähm ... Sie gehen wohl gerade?“, improvisierte Safall, um zu überspielen, daß er möglicherweise etwas belauscht hatte, was er besser nicht hätte wissen sollen. „Hier brannte noch Licht. Ich wollte gerade schauen, ob das Tee-Haus noch geöffnet hat. Das fände ich nämlich ziemlich cool, um diese Uhrzeit.“

Die beiden verwilderten Kerle, die noch drinnen standen, fluchten laut, schoben sich an dem Dritten mit dem Ledermantel vorbei, und türmten in die Nacht hinaus. Sowohl Safall als auch der Unbekannte schauten ihnen beunruhigt nach.

Dann wandte der zierliche Junge seinen Blick wieder auf Safall. „Ich fürchte, das Tee-Haus ist bereits geschlossen. Wir haben die arme Besitzerin schon länger aufgehalten als wir es gesollt hätten.“, merkte er an und ging dann mit einem letzten, undefinierbaren Blick seiner Wege. Dieser Blick konnte von einer freundlichen Verabschiedung bis hin zu einer 'ich weiß, daß du alles gehört hast'-Drohung alles sein.

Safall blieb immer noch starr im Eingang stehen, halb drinnen, halb draußen, und wusste sich in seiner Situation sichtlich nicht zu helfen. Sollte er wenigstens die Betreiberin des Tee-Hauses noch fragen, ob ein blondes Mädchen hier gewesen sei und ob sie etwas über den Aufenthalt dieses Mädchens wisse, bevor er ging? Sollte er die Betreiberin vielleicht noch um einen Tee bitten, zu so später Stunde, um den streitlustigen Gesellen etwas Vorsprung zu lassen? Er wollte denen nur ungern direkt wieder in die Arme laufen, falls die hinter der nächsten Hausecke stehengeblieben waren. Also schaute er nur unschlüssig zu, wie die alte Frau die herausgefallenen Münzen zurück in den Geldsack stopfte und diesen dann in Verwahrung nahm. Jede weitere Entscheidung wurde ihm abgenommen, da in diesem Moment sein Handy losvibrierte. Sewill war wieder aufgetaucht und entschuldigte sich – hörbar alkoholisiert – daß sie mit Salome im Studentenclub versumpft sei und total das Zeitgefühl verloren habe. Salome hatte das hackedichte Mädchen wieder bei Safall abliefern wollen, als er selber endlich auf seine Bude und einfach nur noch ins Bett gewollt hatte.
 

Hedda konnte einen gewissen Unwillen nicht unterdrücken. Und das lag nur unwesentlich an dem miesen Kater, den Sewills gestrige Zesch-Tour ihr eingehandelt hatte. Sewill hatte sich echt volllaufen lassen, wohl als Selkie nicht wissend, wieviel Alkohol ein Mensch vertrug. Hedda schwor sich, nie wieder den Körper mit ihr zu tauschen. Oder sie den Rausch erst selber ausbaden zu lassen, bevor sie ihren Körper wieder zurücktauschte. Aber sie hatte ja heute früh wieder in der Vorlesung sitzen müssen, was war ihr also anderes übriggeblieben? Nicht, daß sie in ihrem verkaterten Zustand recht viel von dem Lernstoff hätte aufnehmen können.

Und dann noch das hier. Da hatte sie nun endlich ein brauchbares Buch über Genii gefunden, und dann ging es gleich wieder mit Paragraphen los. Langsam konnte sie keine Gesetze mehr sehen. Sie hätte sich doch lieber alles wichtige von Soleil erzählen lassen sollen. Sie hatte zwar eine Vorstellung davon, was ein Genius war – nach ihrem Dafürhalten einfach nur ein wie auch immer geartetes Fabelwesen – und wann ein Genius zum Genius Intimus wurde, aber ganz so einfach wie gedacht schien es wohl doch nicht zu sein. 'Zu jedem magisch Begabten gehört seit seiner Geburt ein Schutzgeist. Zumeist treffen Schutzgeist und Schützling kurz nach dem ersten Auftreten der Begabung aufeinander.*' Mit diesem knappen Kommentar war die gesamte Einleitung auch schon abgeschlossen. Es folgte der allgemeinverbindliche 'Codex Geniorum', dem sich alle Genii zu unterwerfen hatten.

<Paragraph 1: Ein ungebundener Schutzgeist oder eine ungebundene Schutzbestie wird als Genius bezeichnet, solange der Genius seinen Schützling noch nicht gefunden hat und die Verbindung zu diesem eingegangen ist. Genius intimus ist die Bezeichnung für einen an seinen Schützling gebundenen Schutzgeist.*>

<Paragraph 2: Der Schutzgeist, auch Genius genannt, ist ein Geisterwesen, welches Magiern, Hexen, Schamanen oder Hellsehern hilfreich zur Seite steht und diese vor Gefahren der anderen Ebene, auch als Astralebene oder Geisterwelt und ähnliches bezeichnet, schützt. Zumeist besteht zwischen Schutzgeist und Schützling eine angeborene magische Verbindung.*>

Hedda schaute auf und musterte den langhaarigen Goth, der neben ihr am Computer saß und seine Recherchen dort dran betrieb. In der Bibliothek standen ein paar PC´s herum, die beim Finden passender Bücher halfen und auf denen auch bestimmte Dokumente und Verzeichnisse in digitalisierter Form zu finden waren. „Safall, sagtest du, Sewill wäre deine Zwillingsschwester?“

„Ja, ist sie.“, meinte er abgelenkt und tippte weiter.

„Seid ihr ... seid ihr beides Genii?“

Safall warf ihr einen verständnislosen Blick zu. „Natürlich sind wir beides Genii. Was soll die Frage?“

„Naja, hier steht, daß zu jedem magisch begabten Menschen ein Schutzgeist oder eine Schutzbestie gehört. Ich hab nicht den Eindruck, daß einer von euch beiden zu einem Menschen gehören würde. Ihr habt keine Schützlinge, oder?“

„Nein. Aber unsere Getreuschaft verfolgt im Prinzip den gleichen Zweck.“, erklärte Safall und wandte sich wieder dem PC zu.

„Aber wieso habt ihr keine Schützlinge? Wenn doch hier steht, daß zu jedem magisch begabten Menschen seit seiner Geburt ein Schutzgeist gehört!?“

„Nicht jeder Genius ist zum Genius Intimus geboren. Die Mehrheit der Schutzgeister ist ungebunden. Genauso wie die Mehrheit der Menschen nicht magisch begabt ist. Die wenigsten Menschen sind Magier. Und haben dann auch keinen Genius Intimus.“

„Und wieso nehmt ihr menschliche Gestalt an?“

Safall lehnte sich wieder zurück. Er sah ein, daß er nicht zu seinen Nachforschungen kommen würde, solange Heddas Neugier nicht gestillt war. „Damit wir die Menschen nicht erschrecken, wenn wir unter ihnen leben.“, erzählte er also geduldig. „Stell dir mal vor, deine Freundin Soleil würde als riesige Schlange mit Frauenkopf und den Ausmaßen eines Güterzuges durch die Straßen walzen. Oder ein Mantikor mit giftigem Skorpionenschwanz würde in seiner wahren Gestalt über einem Marktplatz kreisen. Die meisten Menschen, vor allem die nicht-magischen, haben Angst vor unserer wahren Natur und den Gewalten, die wir verkörpern. Wir kommen euch zivilisierter vor, wenn wir so aussehen wie ihr.“

„Erkennt man an irgendwas, daß ihr Genii seid? Soleil trägt ihren Registier-Armreif, das habe ich schon mitbekommen. Aber wenn sie den nicht tragen würde, würde ich sie nicht von einem Menschen unterscheiden können.“, hakte Hedda nach.

„Nein, an sich nicht. Es gibt ein paar Magier, die die Gabe besitzen, hinter unsere Maske zu schauen. Aber die meisten können es nicht. Wenn wir uns komplett verwandeln, unterscheiden wir uns für das menschliche Auge rein äußerlich nicht mehr von Menschen. Den allerwenigsten Genii siehst du an, was sie sind.“

„Und dieser Professor da, zu dem wir gehen sollen, dieser Akomowarov, ist ein Genius? Der ist kein Mensch?“

„Offensichtlich nicht ...“, murmelte Safall, mit seinen Gedanken langsam wieder bei dem Computerprogramm. „Ich versuch ihn gerade in der MaMa-Datenbank zu finden. Ganz schön knifflig, wenn man nicht weiß, wie dieser ellenlange, russische Name dort drin genau geschrieben wurde.“

„Was für ne Datenbank?“

„Die Magister-Magicae-Datenbank.“

„Sowas gibt es?“

„Ja. Da drin werden alle Magier und Genii gelistet, die den Magister-Grad erreicht haben. Ist sowas wie ne zentrale Registrierung. Die ist auch nicht jedem frei zugänglich. Nur den Behörden und ausgewählten Universitäten wie unserer, zum Zwecke wissenschaftlicher Arbeiten. Aber sie hat weltweite Gültigkeit. Was da über dich drin steht, wird international anerkannt.“

„Klingt eher nach ner Verbrecher-Kartei.“, kommentierte Hedda zynisch.

„Nein. Da stehen so Sachen wie dein Schulabschluss drin. Wenn du irgendwo eine Arbeit annehmen willst, ist das hier ein beglaubigter Nachweis über deine Qualifikationen. Oder wenn du ... oh.“ Safall unterbrach sich selbst.

„Was ist?“

„Hab ihn gefunden. Das ist echt seltsam. Sieh dir das an:
 

Name: Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov. Von seinen Gegnern 'Victor', von seinen Sympathisanten 'Dragomir' genannt.
 

Klanlos.
 

Magister Artificiosus Magicae, Schwerpunkt Fluch- und Verwunsch-Wissenschaften, Bann-Wissenschaften, Kampf- und Abwehrzauber.
 

Geburtsdatum: unbekannt.
 

Geburtsort: unbekannt.
 

Wohnsitz: unbekannt.
 

Nationalität: unbekannt – in Klammern 'russisch'. Wieso schreiben die das in Klammern? Ist das nur eine Mutmaßung?
 

Familienverhältnisse: unbekannt.
 

Beruflicher Lebenslauf: unbekannt. ...
 

Alter Schwede! Rasse: unbekannt. Die wissen nichtmal was für ein Wesen in ihm steckt. Er könnte demnach von griechischem Zentaur über südamerikanische Amphitere bis ägyptische Sphinx alles sein.“

„Oder ein Phönix.“, schlug Hedda vor. „Das könnte seine fehlenden Angaben zu Geburtsdatum und Geburtsort erklären. Die wechseln ja immer mal.“

„Oder, Gott bewahre, ein Basilisk. Wieder in Klammern: 'Genius-Intimus-Status nicht bestätigt oder widerlegt'. Sowas muss doch rauszukriegen sein, ob der jemals nen Schützling hatte. Der muss doch in irgendeinem Geburtenregister gemeldet gewesen sein. Immerhin eines ist bekannt, er hat einen offiziellen Getreuen, einen gewissen Urnue D´Agou.“

„Die wissen ja nicht sonderlich viel über ihn.“, stellte Hedda fest.

„Das kommt mir sehr zwielichtig vor. Wenn so gar nichts über ihn bekannt ist, hat sich offensichtlich jemand sehr viel Mühe gegeben, seine Vergangenheit zu vertuschen. Erstaunlich, daß so jemand Professor an einer Elite-Uni werden kann.“

„Vielleicht hat er´s im Vorstellungsgespräch plausibel erklärt. Oder er hatte gute Referenzen vorzuweisen.“

„Braucht der nicht. Sein Name ist Referenz genug. Wie gesagt, der Mann ist ne lebende Legende.“, gab Safall zurück.

Hedda schoss ein Geistesblitz durch den Kopf. „Warte mal. Wie hat der geheißen?“

„Wer? Victor Dragomir ...“

„Nein! Sein Getreuer!“

„Äh ... Urnue. ... Urnue D´Agou.“, las Safall ihr verwirrt nochmal vor.

„Den kenn ich! Der war im Tee-Haus! Als Soleil dem Schlägertypen die Jacke angefackelt hat! Die beiden Schläger haben nach einem 'Victor' verlangt. Safall, das sind sie gewesen! Akomowarov und sein Getreuer Urnue.“

„Okay!?“, machte er nur überfordert und gab als nächstes 'Urnue D´Agou' in den PC ein. Dazu war das Gerät auch nicht auskunftsbereiter. Null Treffer. Dieser Urnue D´Agou schien nicht auf einen Magister-Magicae-Grad studiert zu haben. Die wenigsten Genii Intimi hatten das. Sie waren ja meist nur einfache Bodyguards, die nicht viel mehr können mussten, als auf der körperlichen und der astralen Ebene Gefahren abzuwehren. Unter Umständen wurden sie noch für Sekretariats-Arbeiten herangezogen, wenn ihre Schützlinge in einer so hohen Position waren, daß sie einen Sekretär nötig hatten. Wenn sie eine Ausbildung absolvierten, dann gingen sie häufiger nur bei jemandem in die Lehre, der annähernd die gleichen Fähigkeiten hatte. Manche Magier, die ihren Genii Intimi kaum Freiraum und eigene Persönlichkeitsentfaltung zugestanden, unterbanden auch gleich mal komplett, daß diese irgendeine Art von Ausbildung über die Schulpflicht hinaus durchliefen. Denn die zeitliche Deckung beider Ausbildungen von Magier und Genius konnte da durchaus mal kompliziert werden, wenn beide sich gegenseitig nicht von der Seite weichen durften.

„Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov.“, las Hedda derweile von ihrem Smartphone vor. Sie hatte den Kollegen wohl schlichterdings mal gegoogelt. „Trotz seines hohen Ansehens und Bekanntheitsgrades ist wenig über ihn bekannt. Er wird mit der Motus in Verbindung gebracht, einer kriminellen Organisation. Akomowarov wird der Niedergang dieses Verbrecherkartells maßgeblich zugeschrieben. Er ist nachweislich ein Genius. Es gibt jedoch verschiedene Quellen dazu, ob er jemals ein Genius Intimus war und einen Schützling hatte oder nicht, und was gegebenenfalls aus diesem geworden ist. De facto hat er heute keinen Schützling mehr, arbeitet aber in Getreuschaft mit einem gewissen Urnue D´Agou, dem Genius Intimus von Ruppert Edelig, welcher seinerzeit zwar kein nennenswerter Magier, jedoch ein einflussreicher Bankenbesitzer gewesen ist. Auch Ruppert Edelig wird mit der Motus in Verbindung gebracht. Edelig wurde vor etwas mehr als 2 Jahren erschlagen. Zur gleichen Zeit ging sein Genius Intimus die Getreuschaft mit Akomowarov ein. Man sagt, daß D´Agou durch einen Bannkreis handlungsunfähig gemacht wurde, wodurch er den Mord an seinem Schützling Ruppert Edelig nicht verhindern konnte, und Akomowarov ihn später gefunden und aus besagtem Bannkreis wieder befreit habe.“

Safall nickte verstehend. „Ruppert Edelig ist mir ein Begriff. Unangenehmer, reicher Sack. Und auch gerne mal sehr zwielichtig.“ Er gab den Namen in die Datenbank ein und wurde fündig. „Wouw. Man sagt, er hätte Akomowarov nach dem Niedergang der Motus lange versteckt gehalten und ihm Unterschlupf gewährt – wahrscheinlich nicht ganz freiwillig – und hat sich dadurch viele von Akomowarovs Feinden zu seinen eigenen gemacht. Ich weiß gerade nicht, was mich mehr ärgert; daß diese von öffentlichen Behörden erstellte Datenbank tatsächlich unbestätigte Gerüchte auflistet, oder daß man über diesen Akomowarov nichts genaues weiß. Was ist das für ein Typ, der nichtmal ne richtige Registrierung in der Meldekartei hat? Nichtmal ein Geburtsdatum! Hätten sie doch gleich ne Auskunftssperre draufsetzen können.“

„Also wenn ich das richtig verstanden habe, sind sowohl dieser Professor Akomowarov als auch dieser Urnue D´Agou herrenlose Schutzgeister, die beide ihre Schützlinge auf mehr oder weniger dubiose Weise verloren haben, und jetzt zusammenarbeiten.“

Safall schüttelte langsam den Kopf. „Man weiß nicht, ob Akomowarov jemals einen Schützling hatte oder nicht. Wahrscheinlich nicht. Und es kann uns auch egal sein. Mich interessiert eher, warum er so ein Geheimnis draus macht, welches seine wahre Natur ist. Er ist noch nie in was anderem als seiner menschlichen Tarngestalt gesehen worden. Gibt es Genii, die so verhasst sind, daß sie lieber keinem verraten, wer sie sind? Oder hat er so krasse Feinde, daß er seine natürlichen Schwächen lieber nicht preisgibt? Aber dann würde er doch nicht öffentlich an ner Uni unterrichten.“

„Sieh es mal von der anderen Seite. Vielleicht will er einfach nur gern ein Mensch sein und tut deshalb so, als wäre er einer.“

Safall verschränkte die Arme und grübelte vor sich hin.

„Wir sollten uns mal über diese Verbrecher-Organisation 'Motus' belesen. Vielleicht erfahren wir da noch die eine oder andere interessante Sache über ihn.“, schlug Hedda überzeugt vor.

„Bloß nicht. Wenn einer mitkriegt, daß wir solche Recherchen betreiben, ohne einen vernünftigen, akademischen Grund dafür zu haben, wird man blöde Fragen stellen. Also solange wir nicht vorhaben, eine Hausarbeit über ihn zu schreiben ... Vielleicht ist es auch gesünder, wenn wir gar nicht allzu viel über ihn wissen. Solange er uns hilft, sollte uns alles andere nicht interessieren.“

„Aber Safall! Wenn die in diesem Tee-Haus waren – wenn die beiden hier in Düsseldorf sind! – dann finden wir sie vielleicht! Dann müssen wir nicht bis zum Sommersemester warten, bis dieser Akomowarov wieder an der Uni ist. Vielleicht sollten wir uns häufiger mal in dem Tee-Haus da draußen blicken lassen.“

Safall verzog unwohl das Gesicht. Er hatte nicht vor, jemals wieder in die Nähe dieses Tee-Hauses zu kommen. Nicht nach dem, was er dort belauscht hatte. Dort liefen krumme Dinger, eindeutig. Und er konnte wahrscheinlich froh sein, wenn diese Typen jetzt nicht nach ihm suchten.
 

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* Zitate aus „Schutzbestie“ von Salix



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