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Discours tragique sur le bonheur

von

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Der nächste Tag brach bleiern und regnerisch an.

Ich wachte vor dem Weckerklingeln auf und lauschte noch eine Weile dem Regen, der gegen das Fenster trommelte. Dann erschien die Grausamkeit des Lebens in Form meiner Mutter und zog mir die Bettdecke weg. Und schickte mich mit dem Hund raus in die Kälte. Sadistin.

Um Viertel vor Acht schlängelte ich mich zwischen plappernden Sechstklässlern hindurch durch die Aula und fand das Klassenzimmer wirklich schon beim dritten Versuch. Ich war so stolz auf mich. Physik in der ersten Stunde. Und dann Mathe. Der Tag fing ja schon mal gut an.

Ich platzierte mich in die dritte Reihe, ließ respektvollen Abstand zu den Jungs neben mir und packte mein Zeug aus. Ein Blick zeigte, dass die Lehrer Kami und Koji wohl in jedem Fach auseinandergesetzt hatten, denn Koji saß vorne links bei der Tafel, worüber er nicht glücklich schien und Kami drei Reihen hinter ihm auf der anderen Seite des Klassenzimmers. Mit diesem interessanten Fakt konnte ich mich leider nicht mehr lange beschäftigen, denn Physik und Mathe hatten eines gemeinsam und zwar Zahlen und mit denen stand ich auf Kriegsfuß. Ich überstand zwei Stunden lang den Horror pur und verbrachte die Pause wie am Vortag allein. Das war gar nicht so übel… immerhin war ich es bereits gewohnt.

Danach durchlebte ich Erdkunde und Geschichte, wo die Lehrerin dem Pult etwas über die Kriege des Mittelalters erzählte, weil ihr niemand sonst zuhörte. Ich kritzelte Strichmännchen in meinen Block, bis es wieder läutete.

Gerade als ich sehr langsam aufstand – ich überlegte noch, was ich jetzt mit mir anstellen wollte (vielleicht konnte man sich in der Schulbibliothek gut hinter den Regalen verstecken) - erschien eine Traube von fünf oder sechs giggelnden Mädchen vor meinem Tisch. Zwei davon waren in meiner Klasse, der Rest musste zur allgemeinen Erheiterung hier sein: Sie kicherten und schubsten sich gegenseitig in meine Richtung, als könnte sich keine entscheiden, endlich was zu sagen. Dann trat eine vor, ein großes, schwarzhaariges Mädchen mit einem frechen Kurzhaarschnitt und einem energischen Kinn.

„Hey, wir dachten uns, du langweilst dich vielleicht in den Pausen-“ hinter ihr kicherte jemand und sie warf einen bösen Blick zurück, „wo du dich noch nicht auskennst. Deswegen dachten wir uns, wir nehmen dich mal mit. Ich bin Aiko.“

Sie streckte mir nach westlicher Sitte die Hand hin.

„Äh… ok, ähm, ich…“ Hirn! Auftritt Hirn, bitte! „Danke.“ Na also…

Ich stand auf, ergriff ihre Hand und hatte das Gefühl, mir würden die Finger gebrochen. Gemeinsam gingen wir den Gang hinab, die Treppe runter und verließen das Gebäude. Während ich mit ihnen trottete, ging mein Gehirn wichtigen Fragen nach:

1. Wieso bewegen sich Mädchen immer in Gruppen?

2. Worüber kichern sie?

Zu schlüssigen Antworten kam ich allerdings nicht, denn nachdem die erste Scheu sich langsam verlor, wurde mir bewusst, dass ich mitten in ein Kreuzfeuer aus Fragen gelaufen war und die meisten davon richteten sich an mich. Während ich also versuchte, sozial möglichst verträgliche Antworten zu geben, lässig zu wirken, witzig zu sein und dabei trotzdem nicht zu lügen – ich konnte mir nie merken, was ich wem wo erzählte und mein Leben war in dieser Hinsicht schon kompliziert genug, ohne auch noch hier damit anzufangen – sammelte sich kalter Schweiß in meinem Nacken, wie es immer passierte, wenn mich etwas überforderte.

Gerade als das Gespräch vielleicht peinlich geworden wäre, erreichten wir die Mensa.

An einem Tisch auf der linken Seite saßen bereits einige andere Mädchen und zwei, drei Jungs, die sehr offensichtlich zu ihnen gehörten. Ich wurde abgecheckt, mein Hintern für schön genug befunden und man rutschte zur Seite, um uns Platz zu machen.

Während der nächsten Dreiviertelstunde erfuhr ich, was in nächster Zeit so geplant war, wieso welcher Typ gerade diese Frisur oder jenes Shirt hatte und auf welche 53 Arten man Nagellack auftragen kann. Das würde ich bei Gelegenheit mal probieren. Die Männer redeten nicht. Dazu hatten sie entweder ihre Zungen zu tief im Hals ihrer Freundinnen oder zu wenig Hirnmasse. Was auch immer.

Dann war die Pause zu Ende und ich konnte meinen Klassenkameradinnen, die Chiyo und Saki hießen (ich wusste nur nicht mehr, wer wer war) zum Biologietrakt folgen.

Ich setzte mich in die vorletzte Reihe. Kurz vor knapp sprinteten Kami und Koji herein und ließen sich schräg hinter mich fallen. Offenbar hatte man hier nicht auf Trennung bestanden.

„Hilfst du mir jetzt oder hilfst du mir jetzt nicht?“, fragte Koji gerade.

Kami seufzte genervt. „Mein Vater meinte, wenn er noch einmal einen Anruf von der Schule bekommt oder mich die Polizei nach Hause bringt, schickt er mich aufs Militärinternat. Militär. Internat. Közi. Das bedeutet keine Freizeit und keine Mädels!“ Ein paar dumpfe Laute deuteten darauf hin, dass Bücher auf den Tisch geworfen wurden. „Warum machst du auch immer so Scheiße!“

„Ja, das war ein bisschen unglücklich…“

„Das war ein bisschen unglücklich“, äffte Kami ihn nach. „Ich zeig dir gleich, was ein bisschen unglücklich ist!“

Kurz war es still. „Andererseits“, sagte Koji dann, „lernt man auf dem Militärinternat vielleicht, Leute mit einem Nackengriff zu killen. Und sie servieren das Essen in so Tabletts mit kleinen Einzelkompartiments… kein Vermischen von unterschiedlichen Geschmacksrichtungen mehr, wenn du weißt, was ich meine.“

„Du bist ein Riesen-“

Was Koji war erfuhr, ich leider nicht mehr, denn in diesem Moment erschien eine kleine, pummelige Frau, die freudig vor der Klasse hin und her wuselte, schließlich tief Luft holte und strahlte: „Also meine lieben Kleinen, was wisst ihr denn so über Bienchen und Blümchen?“
 

Nach der letzten Schulstunde des Tages dann trat ich mit Aiko und meinen beiden Klassenkameradinnen durch das Schultor nach draußen auf die Straße. Ich hatte mich noch keinem Club angeschlossen, dementsprechend lag ein freier und potentiell wunderbarer Nachmittag vor mir: die Regenwolken des Vormittags hatten sich, wie sie es hier am Meer gerne taten, verzogen und ein belebender, kühler Wind strich mir durch die Haare. Ich fühlte mich ausnahmsweise besonders poetisch und drehte mich zu meinen Begleitungen, um ihnen solange ich noch im Flow war möglichst romantisch zu erklären, warum ich nicht mit ihnen gehen würde. Noch in der Drehung wurde ich mir jedoch einer allgemeinen Unruhe bewusst. Einer der Fußballtypen vom Mittagessen war aufgetaucht, und scheinbar nicht, um seine Zunge irgendwo hin zu stecken, sondern um kräftig die Buschtrommel zu schlagen.

„Was ist los?“

Aiko wandte sich mir zu und verdrehte die Augen. „Koji tut es schon wieder.“ „Tun was?“, fragte ich. „In Probleme geraten.“ „Koji hat heute Mittag anscheinend drei Oberschüler aus dem Karateklub mit irgendwas beschimpft, das man in dieser Situation besser nicht sagt“, sagte der Fußballtyp. (Ich musste dringend eine Liste mit Namen anlegen.) „Und jetzt warten sie hinten am Sportgelände.“

„Na ist doch wunderbar“, sagte Aiko und schüttelte den Kopf. „Viel Spaß dabei und ich geh jetzt.“ Ihre Freundin schaute überrascht von dem Handy hoch, auf dem sie offenbar gerade die neusten Infos überprüfte. „Was, du willst nicht zuschauen?“

„Ja“, sagte Aiko trocken. „Drei Idioten, die einem noch größeren Idiot das Mus rausquetschen. Genau was ich immer sehen wollte.“ Sie drehte sich zu mir. „Kommst du?“

„Äh“, machte ich. So viel zu meinem romantischen Flow.
 

Auf der anderen Seite des Sportgeländes hatte sich bereits eine kleine Traube gebildet. Die Traube hielt respektvollen Abstand zu drei großen, breiten Kerlen, die die Arme verschränkt da standen und offenbar versuchten, möglichst eindrucksvoll auszusehen. Ich weiß nicht, wie es den anderen ging, aber bei mir klappte das ganz gut. Und das, obwohl der mittlere ein wenig aussah wie ein Mops.

Wir reihten uns in die respektvolle Traube ein. Mir war nicht ganz klar, was ich hier machte. Es musste eine Mischung aus Flucht vor Aiko, Langeweile und Sensationslust sein. Die gleiche, die es unmöglich macht, bei diesen unwitzigen Pannenvideos im Kinderkanal wegzuschalten. Ich wollte gehen. Ich tat es nicht.

Wir warteten.

„Wetten, dass er kneift?“, sagte der linke gerade zu dem Mops, als Koji um die Ecke bog und langsam zu uns hinüberschlenderte. Und er war nicht allein.

„Oh Fuck“, fluchte der rechte leise.

„Was? Die Ratte traut sich aus dem Loch, und?“

„Ich wusste nicht, dass er Ukyou mitbringt“, zischte der rechte zurück.

„Und ist das andere Yoshida?“, flüsterte der linke. Der gruselige Goth und das Mädchen waren hinter den beiden aufgetaucht. „Alter. Wir können nicht Yoshida aufs Maul geben.“

„Ach, dann geh nach Hause zu Mama, du Baby“, zischelte der Mops zurück.

Kami, Koji, das Mädchen und der Goth, der außer Heinz noch einen Namen hatte, den ich allerdings wieder vergessen hatte, waren jetzt in Hörweite. Der Goth und das Mädchen blieben zurück, während die anderen beiden sich vorbewegten, bis sie das Testosteron der anderen Partei riechen konnten. Dann blieben auch sie stehen. Und wie jeder Mann meines Alters wusste ich, was jetzt kommen musste: Die macho-männlichen Riten des Männertums.

„So“, sagte Koji.

„So“, sagte der Mops. Er schenkte erst Kami, dann dem Goth einen Blick, in dem ein Funken Unsicherheit lag.

„Ja“, sagte Koji.

„Willst du dich entschuldigen?“, fragte der Mops. Arme verschränken.

„Ich wüsste nicht wofür.“ Arme verschränken.

„Közi“, sagte Kami.

Koji hob abwehrend die Hände: „Ich hab nur gesagt, dass seine Mutter –“

„Közi“, sagte Kami noch einmal, mit mehr Nachdruck.

„Ja, ist gut.“ Koji seufzte. „Es tut mir leid –“

Der Mops zog eine Augenbraue hoch, was bei seinem Gesicht einen wirklich extrem witzigen Effekt erzielte. Ich versuchte, nicht zu grinsen und wurde mir aus den Augenwinkeln gewahr, dass es dem Goth ähnlich ging.

„- dass dich die Wahrheit so verletzt“, schloss Koji.

Kami schlug sich mit der Hand gegen die Stirn.

„Ich ramm dich unangespitzt in den Boden, du Zwerg!“, brüllte der Mops. Öffnen der Arme zur Einschüchterungsgeste.

„Ah ja?!“, rief Koji zurück. „Vielleicht willst du aber auch lieber gehen, solange du noch gehen kannst!“ Spannen der Brust als Einschüchterungsgeste.

„Und vielleicht willst du mich ja mal am Ar-“

„Jaja, was auch immer“, fiel Kami genervt dazwischen und winkte ab. „Bringen wir’s hinter uns, ich komm zu spät.“
 

Knappe zehn Minuten später klopfte Koji sich Staub von der Schuluniform und leckte sich dort über die Lippe, wo sie blutete. „Das lief doch ganz gut.“ „Du hast echt nur Scheiße im Hirn!“, fauchte Kami und hielt sich das Taschentuch des Goths gegen die Stirn. Genau über der linken Braue war die Haut ein wenig aufgeplatzt. „Scheiße ist ein starkes Wort“, kontemplierte Koji. „Es ist eher… Poo-poo.“ Dann drehte er sich zur Traube. „Ok ihr Gaffer, es gibt nichts mehr zu sehen. Verpisst euch, bevor ich mit dem nächsten in der Reihe weiter mache“, sein Blick streifte mich eine Sekunde zu lange, „und ich schlage auch Mädchen – wenn es ihnen gefällt. Hehe. Nein. Echt jetzt. Geht.“

Ich schluckte und machte mich auf den Heimweg.
 

Nachdem ich mich umgezogen hatte, beschloss ich, mein Gedicht für Japanisch zu verfassen und schmiss mich aufs Bett, aber meine Gedanken drehten sich im Kreis. Irgendwie hatte ich heute ein bisschen zu viel Input für einen Tag bekommen. Wenn Situationen sich zu schnell veränderten, war mir das überhaupt nicht recht. Mit einem Seufzen schlug ich meinen Block auf, vertrieb die Gedanken an den heutigen Tag aus meinem Kopf und starrte auf das leere Blatt. Dann wanderten meine Augen zu meinem Wecker und schauten den Sekunden beim Vergehen zu. Zurück zu meinem leeren Blatt.

Ich kaute auf meinem Stift herum. Mein Blick fiel auf meine rechte Hand. Da waren solche kleinen weißen Halbmonde in den Nägeln meines kleinen und meines Mittelfingers. Was bedeutete das nochmal? Zuwenig Calcium? Zuviel Calcium? Schlechter Schlaf? Zurück zu meinem leeren Blatt. Na los, dachte ich.

Mir fiel nichts ein.

Ich runzelte die Stirn. Das war ja mal was Neues. Es gab nicht viele Dinge, in denen ich gut war. Aber wenn mich eines bisher noch nie verlassen hatte, dann war es meine Muse. Ich hatte geschrieben seit… ja. Seit ich schreiben konnte eben. Gut, meine ersten Gedichte waren nicht sonderlich ausgereift gewesen. Sie drehten sich um Dinge, die einen als Kind beschäftigen. Aber ich hatte Ideen gehabt. Tausende von Welten in meinem Kopf. Gefühle, Personen, Geschichten. Doch wenn ich jetzt in mein Inneres lauschte, fand ich nur Ameisenflimmern auf allen Bildschirmen. Ich setzte mich auf. Vielleicht war ich bloß ein bisschen unterzuckert.

Nachdem ich ein Glas Cola getrunken und einen Erdnussbuttertoast gegessen hatte, fand ich mich wieder auf meinem Bett ein. Leeres Blatt. Ok, here we go. Ääähm…. Die Sonne schien an einem - … Ne. Vielleicht: Und wenn ich nicht gesehen hätte - …So eine Scheiße. Uhm… Es war einmal - ... „Im Ernst jetzt?“, fragte ich mein Hirn genervt. Dieses zuckte ratlos mit seinen Windungen. Ich schmiss den Block vom Bett auf den Boden. Vielleicht war es die Seeluft. Oder noch die Nachwirkungen des Umzugs. Bestimmt würde das wieder besser, wenn ich mich eingewöhnt hatte. Oder aber, dachte ich, ließ mich nach hinten fallen und betrachtete trübsinnig die Wand neben meinem Bett, ich hatte meine Kreativität zu Hause gelassen und das war es jetzt gewesen. Ich lauschte noch einmal. Da war eine große Leere irgendwo in meinem Brustkorb und ich wusste, dass es eine Zeit lang dauern würde, das Gefühl zu identifizieren, welches diese Leere verursachte. Also konnte ich wohl damit anfangen. Einsam? Ne. Ich hatte meine Familie und davon abgesehen war ich jetzt schon seit langer Zeit allein. Deprimiert? Nicht wirklich. Seit ich die rosafarbenen Pillen nicht mehr nahm, sondern heimlich in meine Socken steckte und später wegwarf, war ich emotional stabil. Angst? Koji war beunruhigend. Ja. Aber auch diese Situation war eigentlich nichts Neues für mich. Nein. Ich hatte keine Angst. Was sollte er schon machen? Ich war schon öfter weggerannt, ich konnte auch ihm ausweichen lernen. Also… das waren sie, die negativen Grundstimmungen. Komm schon, Gefühl, dachte ich. Was bist du? Wenn ich das nur rausfand, gab sich der Rest bestimmt von selbst.

Ich starrte an die Decke. Mein Handy vibrierte an meinem Oberschenkel. Ich fand es in den Falten meines zerknautschten Lakens und hielt es mir zu nah vors Gesicht.

Wie lässt sich’s an?, stand dort.

Wie immer, schrieb ich zurück. Es gibt die einen und die anderen und dann noch mich.

Willst du reden?, erschien nach ein paar Sekunden.

Vielleicht morgen, schrieb ich zurück. Ich brauch noch Zeit, um meine Situation zu bewerten.

Kurz passierte nichts. Dann erschien: Überanalysier nicht. Das Leben ist einfach.

Darauf fiel mir nichts mehr ein. Kraftlos ließ ich meine Hand zurück aufs Bett fallen. Das Handy rutschte mir zwischen den Fingern hindurch und verschwand wieder in meiner Decke. Ich starrte wieder in die Weiten über mir. Vielleicht wäre es besser gewesen, mit jemandem zu sprechen, dachte ich noch. Doch ich fühlte mich ausgelaugt und gleichzeitig kribbelig und hätte nicht gewusst, was ich erzählen sollte. Nein… ich blinzelte langsam…. Das war schon … in Ordnung so…
 

„KAMUI!!!!“

Ich schrak auf, bekam einen Schlag an den Kopf und wusste nicht mehr, wer ich war.

Oder doch, ganz klare Sache, ich war Austin Powers. Ok, wo waren die Mädchen? Hier geht’s bumsfidel zu!

Halt, Moment, ich war nicht Austin Powers, der Schlag war meine Nachttischlampe und nicht Dr. Evil und die Stimme war auch keine Roboterbraut in Nöten sondern meine Mutter, die mich aufforderte, jetzt runterzukommen. Ich war eingedöst. Das Gefühl war noch da.

Ich seufzte, erhob mich vom Bett wie ein 80-Jähriger, kämmte meine Haare kurz mit dem altbewährten Fünf-Finger-Kamm und schlurfte die Treppe nach unten.

Die zwölf Schritte von unserer Haustür, durch die Einfahrt und die andere Einfahrt hoch bis zu jener Haustür kamen mir vor wie eine Odyssee.

Mein Vater richtete seinen Hemdkragen und klingelte.

Eine Frau ungefähr im Alter meiner Mutter öffnete die Tür.

Sie war Ausländerin, amerikanisch oder europäisch, denn ihre Augen waren blaugrau. Ihre Kleidung war schlich aber gewählt und ihre hellbraunen Haare hatte sie einfach hochgesteckt. Ich konnte nicht umhin mit einzugestehen, dass ich sie attraktiv finden würde, wäre sie ein wenig jünger. Ich sah unwillkürlich ein bisschen länger hin, als die Höflichkeit gebot. Irgendwo hatte ich ihre Augen schon einmal gesehen…

Sie sprach mit einem leichten Akzent, als sie uns hereinbat.

Das erste was ich feststellte war, dass unsere Häuser gleich gebaut waren.

Wir standen nämlich im selben Flur, den wir auch hatten. Rechts ging eine Tür weg, die genau wie bei uns ins Esszimmer führte, links wandte sich die Treppe nach oben.

Nur die Farben waren andere. Unser Flur war pfirsichfarben. Ihrer pastellblau.

Unsere Gastgeberin führte uns ins Wohnzimmer, das sich ans Esszimmer anschloss. Auf dem Sofa saß ein Mann im Alter meines Vaters, der aufstand, als wir eintraten, um meinem alten Herren die Hand zu reichen.

Durch und durch Soldat, schoss es mir durch den Kopf und ich wusste, dass ich richtig lag, lange bevor ich die Abzeichen in der Vitrine oder die Urkunden an der Wand entdeckte. Er hatte einen rigiden Kurzhaarschnitt, eine aufrechte Haltung und die Stimme von jemandem, der wusste, was zu sagen wichtig war. Seine Augen hatten die Farbe von dunklem Bernstein und er schien damit durch Mauern sehen zu können, so durchdringend war sein Blick. Der mir im Übrigen auch bekannt vorkam. Standhaft, mutig, vom Tod erprobt und mit Leben bestanden. Das war dieser Mann alles. Und ich hatte einen Scheißrespekt vor ihm.
 

Wir platzierten uns um den Tisch im Wohnzimmer und die Gespräche begannen. Ich schwieg und fragte mich nach ein paar Minuten, ob man mich zum Essen wohl an einen Kindertisch verfrachten würde, denn da war ich augenscheinlich besser aufgehoben – die Merkwürdigkeit des Gefühls, alle Themen zu verstehen, aber bei keinem wirklich einbezogen zu werden und sich für die meisten nicht einmal halb so sehr interessieren, wie es das Lächeln und das gelegentliche Nicken glauben machten sollten. Ich fragte mich, wann ich aus dieser Lebensphase herauswachsen würde und ob es eher langsam und allmählich oder plötzlich mit einem ‘Bang‘ passieren würde. Daneben hörte ich mit halben Ohr zu, grade genug, um falls nötig die richtige Emotion auf meinen Zügen aufzusetzen.

Von denen wenigen Sachen, die hängen blieben, war eine, dass unsere Nachbarin aus Amerika kam und sie unser Nachbar (der ein hohes Tier bei der aktiven Marine gewesen war, bis sie ihn aufgrund seines Alters und aufkommenden Rheumas an einen Schreibtisch gepflanzt hatten), sie bei einem Manöver kennen gelernt hatte. Und da Pearl Harbor inzwischen lange genug her war, hatten sie sich verliebt und sie war geblieben. Ich bemerkte, dass sich sein Gesicht eine ganze Nuance aufhellte, wann immer er von seiner Frau sprach, und das machte ihn ein bisschen weniger gruselig. Ein ganz kleines bisschen aber nur. Nach ungefähr zehn Minuten Elend steckte ein kleines Mädchen mit schwarzen Haaren und den Augen ihrer Mutter schüchtern ihren Kopf durch die Tür und keine dreißig Sekunden später war sie mit meinem Bruder auf und davon. Ich kam mir ein bisschen von der Welt verarscht vor.

Auf der einen Seite hatte ich Angst davor, dem unbekannten Wesen im Nachbarhaus zu begegnen, das – wie mir mitgeteilt wurde - noch nicht vom Kendo zurück war, auf der anderen Seite war ich sicher, dass alles besser sein musste, als hier am Tisch zu sitzen und die Deko zu betrachten.

Wie um mich zu erlösen gab es genau in diesem Moment Essen: es wurde laut die Treppe hinaufgerufen, bevor Frau Ukyou im Türrahmen erschien und uns ebenfalls zu Tisch bat.

Ihr Esszimmer war anders als unseres. Zum einen deshalb, weil wir einen niedrigen Tisch hatten und die Ukyous einen westlichen. Zum anderen, weil sich hier scheinbar keine Frau mit einer Vorliebe für Nippes auslebte. (Ich hatte ja die Hoffnung gehegt, das Zeug könne während des Umzugs verloren gehen, doch Nein – die ersten der hässlichen Dinger hatten bereits ihren Weg zurück auf alle freien Oberflächen gefunden.)

Hier jedoch gab es nur helles Pastellblau, weiße Rahmen und klare Formen. Ich war mir sicher, dass wenn Dinge in diesem Haushalt zur Ästhetik beitragen wollten, Herr Ukyou sie ganz genau darauf untersuchte, ob sie dieser Funktion auch in vorbildlicher Weise nachkamen und andernfalls entsorgte. Das reduzierte aufs Wesentliche. Eine Vase orangefarbene Blumen stand auf der Anrichte, ein Kerzenleuchter daneben. Bilder von Kalifornien und den Rocky Mountains reihten sich an der Wand nahtlos an die Weiten von Hokkaido und die Schreine von Osaka. Es gefiel mir.

Mein kleiner Bruder und das Nachbarsmädchen kamen kichernd zurück ins Esszimmer. Ich sah es kommen: Das war der Beginn einer laaaangen Freundschaft. Aber gut, dachte ich. Hatte zumindest einer von uns Glück bei den Mädchen. Es sei ihm gegönnt.

Es gab Essen aus dem Wok. Ich liebe Wok, aber meine Gedanken waren bei ganz etwas anderem als bei den Gerüchen, die aus dem Topf stiegen. Ich hörte die Haustür und jemand rumorte im Flur mit Jacke und Schuhen.

Ich hatte das Gefühl, mein Herz wäre auf einmal in meinen Hals gewandert. Jetzt ließ es sich wohl nicht mehr vermeiden. Obwohl: ich könnte mich alternativ auch auf den Teppich übergeben oder den Tisch umwerfen, zum Fenster rausspringen oder einfach nur unseren Herr Nachbarn mit Sachen anbrüllen, die man normalerweise nicht sagt. Er würde mich dann sicher gratis mit einem Bodycheck nach Hause schicken.

Natürlich tat ich nichts dergleichen, sondern zerquetschte stattdessen nervös ein Stück Hühnchen zwischen meinen Stäbchen. Es fiel mit einem weichen ‘Blobb –Flopp‘ auf meinen Teller zurück

Und dann ging die Tür auf.

Ich glaube in Realzeit dauerte es nicht mal eine Sekunde, aber für solche Fälle hatte mein eh schon lädiertes Gehirn die uralte Ninjakunst des unendlichen Augenblicks gemeistert.

Ich sah die Tür sehr langsam aufgehen, so langsam dass ich mich schon fragte, was falsch lief und dann wurde es mir klar: ich saß an diesem Tisch, und alles daran war falsch!

Denn in der Tür stand niemand anderes als Kami.
 

Ich starrte ihn an.

Ja, das sanfte Gesicht und die Augen seiner Mutter und den unnachgiebigen Ausdruck seines Vaters über einem entschlossenen Kinn. Ganz klar. Ukyou. Scheiße, mein Gedächtnis. Ich war am Arsch.

Er starrte zurück.

Mein Vater trat mir unter dem Tisch unauffällig gegen das Bein, eine Aufforderung, höflich zu sein.

„Hi“, meinte ich stimmlos, um überhaupt irgendwas zu sagen. Zwei Buchstaben, mehr konnte man auch echt nicht verlangen.

„Hi“, kam es genauso zurück. Kamis Vater schenkte ihm einen strafenden Seitenblick und ein Räuspern. Mein Gegenüber reagierte mechanisch. Er verbeugte sich halb, sagte: „Ukyou Kamimura, erfreut Sie kennen zu lernen“ und verharrte die exakt richtige Anzahl von Sekunden, bevor er sich wieder aufrichtete. Dann zog er seinen Stuhl zurück und ließ sich darauf fallen, ohne mich aus den Augen zu lassen. Das hier musste für ihn genauso befremdlich sein wie für mich und irgendwie beruhigte mich das ein wenig.

Seine Mutter reichte ihm ein Schälchen.

„Du bist zu spät“, sagte sein Vater tadelnd.

„Ja“, sagte Kami und warf sich die Haare über die Schulter, auf dass sie nicht ins Essen hingen.

„Ich… ja. Verzeihung.“ Offenbar fiel ihm über die Bestätigung des Offensichtlichen hinaus nichts weiter ein.

„Wie war die Schule, Schatz?“, versuchte es als nächstes seine Mutter.

„Grandios.“

„In welcher Klasse bist du denn?“, fragte meine Mutter. An ihrem Tonfall bemerkte der Kenner, dass der Plan, mir Freunde zu verschaffen, noch keineswegs aufgegeben war.

„10. A.“, sagte Kami und steckte sich dann schnell einen Brokkoli in den Mund. Vermutlich, damit er nichts mehr sagen musste. Ich konnte das nachvollziehen. Zum Glück war diese Stadt so klein, dass es nur eine High School gab. Sonst hätte er nochmal ein bis zwei Wörter dranhängen müssen.

Meine Mutter zählte zwei und zwei zusammen und fing zu strahlen an. „Ach, seid ihr in einer Klasse?“ Sie war ganz begeistert. „Ja… schon…“, druckste ich herum und warf Kami einen unsicheren Blick zu. Dieser machte ein unbestimmtes Geräusch. Es war kein Ja und kein Nein, sondern ein Wenn-ich-irgendwas-mache-ist-das-Thema-vielleicht-schneller-vorbei-Geräusch.

„Das ist ja schön“, strahlte auch Kamis Mutter, erst an mich gewandt und dann in Richtung ihres Sohnes. „Warum unternehmt ihr zwei nicht mal was zusammen? Dann hast du endlich auch mal normale Freunde!“

Warum bekommen Mütter eigentlich immer diesen ‘Ach mein kleines Putzelbabyschatzi wird endlich erwachsen‘-Tonfall wenn sie von ihren Söhnen reden? Ist das genetisch veranlagt, oder entwickelt sich das erst?

Kami schien das Ganze genauso peinlich zu sein wie mir, denn er beugte sich tiefer über seinen Teller und das was ich noch sehen konnte, hatte die Farbe von Rotwein angenommen.

„Die sind normal“, murmelte er seinem Reis zu.

„Na ja“, kommentierte Kamis Vater trocken. „Und setz dich aufrecht hin.“

Kami folgte der Aufforderung und ich checkte unwillkürlich meine eigene Haltung auf Missstände. Alles gut.

„Ist alles in Ordnung?“ Der väterliche Tonfall war zumindest ein wenig besorgter geworden. Kamis Hand wanderte unwillkürlich zu seiner Stirn. „Ja. Es war… gutes Training.“ Kurz schwenkten seine Augen zu mir, als wartete er darauf, dass ich ihn verpfiff. Nichts lag mir ferner. Sein Vater nickte also, sogar ein wenig zufrieden, und das war das.

Danach wandte sich das Gespräch unseren Lebensgeschichten zu, von denen wir selbst natürlich so wenig Ahnung hatten, dass unsere Eltern sie unbedingt erzählen mussten.

Sie fingen bei der ‘schlimmen Pubertät’ an, dann Grundschule und immer weiter abwärts, bis sie sich zum Babyalter durchgearbeitet hatten. Kami und ich trafen eine stillschweigende Übereinkunft, während wir krampfhaft versuchten, nur auf unsere Teller zu sehen: er lachte mich nicht aus, ich lachte ihn nicht aus. Wobei das ziemlich schwierig wurde, als seine Mutter eine sehr amüsante Geschichte zum Besten gab, an deren Ende Kami aus dem Gartenteich geangelt werden musste. Na gut, der Fairness halber: die Geschichte, wo ich es irgendwie geschafft hatte, mich selbst im Kofferraum einzusperren, war …. lassen wir das.

Nach einer qualvollen Viertelstunde wandte sich das Gespräch glücklicherweise unseren Geschwistern zu. Denen war das egal – sie steuerten sogar noch Details bei. Hach, die Unbedarftheit der Kindheit!

Nachdem uns das Vorhandensein eines Nachtisches noch weitere zehn Minuten an den Tisch gekettet hatte, erhielten wir die Erlaubnis, aufzustehen.

Ich folgte Kami mit einem unguten Gefühl. Seit unserem armseligen Versuch einer Begrüßung hatte er kein Wort zu mir gesagt, was mich extrem verunsicherte. Was, wenn er auch Menschenprinzipien hatte? Ich würde auch nicht gerne einen Unbekannten in mein Zimmer mitnehmen. Aber vielleicht hatten sie ja eine geheime Folterkammer, was konnte man schon wissen bei dem Vater. Vielleicht würde Kami mich in kleine Stücke häckseln und sie Koji schenken, nett verpackt, der würde sich sicher freuen.

Gerade hatte ich mich soweit in meine Paranoia hineingesteigert, dass ich bereit war, schreiend wegzurennen, als wir vor einer Tür standen. Ich betrachtete perplex einen verunstalteten lila Papierschmetterling, der in der oberen rechten Ecke sein Dasein fristete. Kami folgte meinem Blick und verzog das Gesicht. „Schwester, kein Kommentar.“ Dann stieß er die Tür auf.

Dahinter erwartete mich keine Folterkammer, sondern ein Zimmer, das meinem nicht unähnlich war. Bis auf eine Sache, die einen sofort ansprang: es war ordentlich.

Links neben dem Fenster stand ein großes, bis zur Decke reichendes schwarzes Bücherregal, in dem neben wenigen Büchern – auf den ersten Blick größtenteils Geschichte und Kaligraphie - auch all jene Sachen standen, für die anscheinend nirgendwo anders mehr Platz gefunden worden war. Ich sah einen Stein, ein paar Fotografien und eine für einen Typen ziemlich große Sammlung an Parfümflakons. Um seine Ehre zu retten sage ich hier aber auch, dass genau daneben auch einige Pokale standen, vermutlich sportbezogene. Genau unter dem Fenster stand ein Schreibtisch, auf dem sich allerdings nicht wie bei mir sonst Blätterstapel, schmutziges Geschirr und kleine Münzen tummelten.

Rechts neben dem Fenster stand das Bett. Es war breiter als meines und das ebenfalls schwarze Bettzeug darauf war ordentlich zusammengelegt. An der Wand darüber hing die Kriegsflagge von Shingen Takeda - ich erkannte sie aus dem Geschichtsunterricht. Beruhigend.

Ich ließ mich auf das angebotene Sofa an der Wand links von mir fallen und sah Kami dabei zu, wie er seine Sporttasche vor den Schrank warf und eine CD in seine Anlage klatschte. Musik war immer gut. Man konnte zur Not zuhören und so tun, als gäbe es gerade keine peinliche Stille. Dann sah ich mich um. Aus vielen der Poster an den Wänden wurde ich nicht schlau, aber einige erkannte ich doch, die mir vage sympathisch erschienen. Weiter wanderte mein Blick, auf der Suche nach irgendetwas, über das man Konversation machen konnte. Kami hatte ebenfalls einen Fernseher, aber er war wesentlich älter als meiner. Interessanter allerdings war… „Du hast ‘ne Playstation!“

Kami, der auf dem Weg zum Sofa gewesen war, hielt inne. „Wer nicht?“

„Ich nicht“, antwortete ich trocken. „Meine Eltern haben sieben lange Jahre gebraucht um herauszufinden, wie man beim Fernseher andere Programme außer die ersten drei einstellt. Außerdem glaubt mein Vater, alle Videospiele machten einen zu einem schießwütigen Zombie, der irgendwann Drogen nimmt und ins Gefängnis kommt, ohne vorher über Los zu gehen.“

Kami machte ein Geräusch, welches ich als amüsiertes Schnauben deutete und warf mir einen Controller zu.

„Ein bisschen hinterm Berg, oder?“

„Vielleicht etwas…“, murmelte ich und betrachtete das Plastikding mit Knöpfen in meiner Hand.

„Du musst mich anlernen.“

„Wir haben sonst gerade nichts zu tun.“

Er plumpste neben mich aufs Sofa und wir wählten Charaktere. Ich wählte irgendetwas mit einer Axt, da ich auch einmal im Leben Muskeln haben wollte. Kami wählte ein kleines Mädchen, das meinen Riesendämonen in jeder Runde mit erstaunlich gutaussehenden Attacken in den Boden rammte.

Wir spielten eine Weile und ich begann, mich etwas zu entspannen.

Der Drang, einfach wegzurennen, hatte ein wenig nachgelassen und ich konnte atmen. Also gut. Wenn ich atmen konnte, konnte ich auch…

„Du…?“ Mein Dämon bekam gewaltig eins auf die Mütze, weil ich vergessen hatte wie man Schutz drückte. Ich schaute vom Bildschirm auf meine Finger, um mich zu erinnern und wurde in dieser Zeit Opfer einer weiteren grandiosen Niederlage.

„Hhm?“, machte Kami.

„Wenn meine Eltern nicht grade da unten hocken würden, würdest du mich rauswerfen, oder?“

Er dachte eine Runde lang darüber nach. Zu seiner Verteidigung muss man sagen, dass es sehr kurze Runden waren.

„Sagen wir es anders…“ antwortete er schließlich während der Cutscene, „ich würde dich nicht rauswerfen, aber die Möglichkeit, dass du überhaupt reingekommen wärst, wär gering gewesen.“

Ich beobachtete eine Zeit lang das Geschehen auf dem Bildschirm und sagte nichts. Weil mir nichts einfiel.

Kami seufzte schließlich und drückte auf Pause.

„Nimm es nicht persönlich. Ich hab kein… Problem mit dir. Ich suche mir bloß meine Freunde gern genau aus. So was braucht Zeit.“

„Klar“, sagte ich. „Is‘ ok.“ Und das war es tatsächlich.

Wir spielten noch eine Runde. Ich landete einen Treffer und starb. „Mehr Seeeelen!“, sprach ich die eröffnenden Worte des Kampfs mit. Ihr literarischer Wert war gering.

„Du kommst ja wunderbar bei den Mädchen an, stell ich fest“, bemerkte Kami, das Thema wechselnd.

„Äh…“, meinte ich und er musste lachen, als er meinen gequälten Gesichtsausdruck sah.

„Es… ist ja nicht so, dass es nicht nett von ihnen wäre, aber… irgendwie hab ich’s nicht so mit Mädchen…“

Er kicherte, besiegte mich und sagte verstehend: „Ach so…“

Als mir auffiel, was ich da eben gesagt hatte, lief ich rot an.

„Was, Nein, doch nicht so!“

„Ich weiß schon…“ meinte er, allerdings immer noch grinsend.

„Und du?“, fragte ich, auch wenn ich nicht wusste, ob unsere Beziehung dafür schon fortgeschritten genug war. Aber wenn er mich mit Mädchen verarschte, durfte ich das auch.

„Naaah“, machte Kami. „Ich hab zu viel zu tun für ‘ne Freundin. Wüsste gerade gar nicht, was ich damit soll.“

„Was machst du denn so?“, fragte ich weiter. Es interessierte mich wirklich, was in dieser kleinen Stadt so ging, auch wenn ich es für unwahrscheinlich hielt, dass Kamis und meine Interessen sich überschnitten.

„Uhm“, machte er, „Kendotraining, Krafttraining, Tennis-“

“Kurzfassung?”, hakte ich ein. Keine Überschneidung der Interessen. Wie gedacht.

Kami lachte. „… ich hab viel Training.“

„Kann ich wen anderes bekommen?“, fragte ich. Wir unterbrachen das Spiel und ich suchte mir einen neuen Charakter aus. Er sah aus wie Draculas Onkel, wenn Draculas Onkel Pirat gewesen wäre. „Nimm nicht die Holzschwerter“, sagte Kami. „Oh“, sagte ich. Während ich meinen neuen Charakter einweihte und feststellte, dass meine Pechsträhne offensichtlich nicht in diesem Aspekt begründet lag, nickte ich zu einigen neuen Paar Sticks hinüber, die neben der Tür lagen, offenbar, um nicht vergessen zu werden. „Spielst du?“

„Nein, ich sammel die nur“, sagte Kami so ernst, dass ich es tatsächlich etwa zehn Sekunden lang glaubte.

„Idiot“, sagte ich.

Wir schwiegen ein paar Sekunden und lauschten der Musik.

„Danke übrigens“, sagte Kami schließlich. „Fürs Klappe halten.“

„Klar“, sagte ich.

Wir schwiegen ein paar Sekunden.

„Warum machst du das?“, fragte ich dann, mutig geworden. Vielleicht war es die Limo zum Essen. Zuviel Zucker bekommt meinem Verstand nicht.

„Was?“

„Probleme.“

Kami schien darüber nach zu denken. Allerdings nicht sonderlich lange. Dann kratzte er sich am Kopf und hob die Schultern. „Ich weiß nicht. Das ist es, was Freunde tun, oder? Noch nie die Probleme deiner Freunde abbekommen?“

Ich starrte auf meinen Dracula auf dem Bildschirm und biss mir innen auf die Unterlippe. Es blutete. „Ich … kann sein.“ Schwer zu sagen. Ich war nicht sicher, schon einmal Freunde gehabt zu haben.
 

Als ich an diesem Abend schließlich in meinem Bett lag, konnte ich lange nicht schlafen. Vielleicht lag es daran, dass ich nachmittags ein Nickerchen gemacht hatte, vielleicht am späten Essen, wahrscheinlicher jedoch am sozialen Kontakt. Ich brauchte nach so etwas immer eine Weile, um wieder runter zu fahren. Ich war aufgekratzt, und trotzdem war das komische Gefühl noch da. Mit einem Seufzen knipste ich das Licht wieder an, rollte mich auf den Bauch und griff nach dem Stapel CDs, die ich mir von Kami ausgeliehen hatte, um meinen Horizont zu erweitern. Auch in Zeiten der Internetdownloads gab es ja Leute, sinnierte ich, während ich mein Laptop angelte, die lieber was in der Hand hielten. Offenbar war Kami so ein jemand. Ich hörte ein Album von Culture Club und dann noch eines von Duran Duran, und irgendwo in der Mitte von What happens tomorrow schließlich, schlummerte ich ein.
 

You've got to believe

It'll be alright in the end

You’ve got to believe

It’ll be alright again

*
 

Am nächsten Tag hatte ich eine Grippe, fünf Erkältungen und ein gebrochenes Bein.

Na gut, ich hatte nicht wirklich eine Grippe und ein gebrochenes Bein, aber eine Erkältung war es! Ok, ich hatte keine Erkältung. Aber so ein ekliges Kratzen im Hals. Ja, ich bildete es mir ein.

Ich wusste das. Zu meinem Pech wusste meine Mutter es auch. Und so musste ich wieder in die Schule.

Warum ich so einen Aufstand machte?

Ein Mann, ein Wort: Sport.

Eine Doppelstunde lang rennen, schwitzen, springen und sinnlos Bälle durch die Gegend werfen. Außerdem hatte ich eine Abneigung dagegen, mich vor der halben Welt auszuziehen. Ich hasste Umkleidekabinen, den Geruch nach Schweißfuß, dieses klebrig-feuchte Gefühl von Turnmatten und Bällen, das Quietschen von Schuhsohlen auf Hallenboden, den Muskelkater am Tag danach und die Scham währenddessen: kurz, ich hasste Sport. Fast noch mehr als Mathe… aber auch nur fast.
 

An diesem Tag versuchte ich, mich am Ende der zweiten Pause zu verlaufen, aber wie das eben so ist, war ich nicht sonderlich erfolgreich, da zwei Typen aus meiner Klasse an mir vorbeigingen und mich sozusagen unfreiwillig zur Höhle des Löwen führten.

Einfach blau zu machen traute ich mich auch nicht. Mein Vater sah Sport als ‘Ausdruck der männlichen Männlichkeit im Manne’, also musste ich eine halbwegs annehmbare Note hinkriegen, auch oder gerade weil sich meine männliche Männlichkeit nicht gerade in jedermanns Gesicht klatschte.

Tatsächliche hatte ich im zarten Alter von zwölf schon einmal Probleme damit gehabt, eine Verkäuferin in der Mädchenabteilung loszuwerden, die mir absolut nicht hatte glauben wollen, dass ich ein Kerl und nur wegen meiner Schwester dort war, und nicht aufhören wollte, mir ein mintgrünes Sommerkleid anzudrehen. Mich rettete die Flucht durch die Parfümabteilung. Danach lachte mich meine Schwester ein halbes Jahr lang aus.

In der Umkleide bemühte ich mich um einen Platz irgendwo in einer Ecke, wo mich niemand beachtete. (Natürlich beobachtete mich objektiv betrachtet auch so niemand, aber wir erwähnten ja bereits meine schleichende Paranoia.)

Wir hatten mit einer unserer Parallelklassen Unterricht, wie ich feststellte. Ob ich mich darüber freuen sollte war mir unklar. Mehr Leute vor denen ich mich blamieren konnte. Andererseits auch mehr Leute, zwischen denen ich mich so klein wie möglich machen und hoffentlich untergehen konnte.

Ich trödelte so lange mit dem Aufknoten meiner Schuhe herum, dass die meisten schon hinausgetrippelt waren, bis ich überhaupt mit meinem Oberteil angefangen hatte. Als der letzte Turnschuh hinausgetrampelt war, schlüpfte ich in Rekordzeit in meine Sportsachen und lies mich dann auf die Bank fallen, auf der sich schon was weiß ich wie viele Leute den Hintern plattgedrückt hatten, um meine Schuhe anzuziehen.

Raus ging ich erst, als es sich wirklich überhaupt nicht mehr vermeiden lies.

Und wie sich herausstellte gerade noch rechtzeitig.

„Gakuto, Kamui?“

„Hier.“

Der Blick meines Lehrers schweifte über die ihm bekannten Gesichter und versuchte, der neuen Stimme ein Gesicht zu geben. Er war groß, breitschultrig und sah mich mit stählernem Blick über eine mindestens dreimal gebrochene Nase an, die einem Geier Respekt eingeflößt hätte. Seine Oberarmmuskeln traten hervor, sobald er nur den kleinen Finger krümmte. Ich war mir sicher, dieser Kerl gehörte zu denen, die eine Bierdose mit einer Hand an ihrer Stirn zermatschen konnten und es auch regelmäßig taten - zum Spaß, verstand sich.

Ich schluckte. Dieses Jahr würde ich in Sport wohl nichts zu lachen haben.

Er dachte sich wohl auch seinen Teil zu meiner Person und kehrte dann zu seiner Liste zurück.

„Satou, Manabu?“

„Krank“, kam Kojis Stimmte von irgendwo hinter mir.

Unser Lehrer runzelte die Stirn und machte ein Zeichen auf seiner Liste.

„Seien Sie so nett und richten Sie ihm aus dass, wenn er noch einmal… ’krank’ ist, ich ihn wegen Sport durchfallen lassen werde.“

Die Betonung auf krank ließ keinen Zweifel daran zu, dass er ziemlich genau wusste was gespielt wurde. Ich wusste nicht, wer dieser Mana war, aber ich konnte ihn verstehen.

Danach folgten Aufwärmübungen.

Wie ich erwartet hatte, lag das Augenmerk von Mr. Geier, der in Wirklichkeit Tori hieß, was nicht viel besser war, heute auf mir. Er war so liebenswürdig, mir beim Aufwärmen zu helfen, was damit endete, dass mir Muskeln wehtaten, von deren Existenz ich noch nie etwas gewusst hatte. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie sich Koji den Arsch über mich ablachte. Ok, ich sah lächerlich aus, aber so sehr? Kami machte sich zumindest die Mühe, sein Lachen zu unterdrücken, auch wenn man sah, dass es ihm reichlich schwer fiel. Vermutlich knackste er sich bei der Anstrengung drei Rippen an.

Wenigstens eine nette Geste.

Und als mir dann alles ausreichend wehtat, begann der eigentliche Unterricht. Wir mussten Völkerball spielen.

Ich wurde als einer der letzten ausgewählt, was mich nicht verwunderte. Die Vorstellung, ein Windhauch würde mich umwehen war allgegenwärtig - und nebenbei bemerkt nicht sonderlich abwegig. Doch ich war ihnen allen einen Schritt voraus und hatte einen Plan: Ich würde mich irgendwann am Anfang abwerfen lassen, dann an den Rand gehen und da gemütlich bis zum Ende der Stunde herumgammeln. Vielleicht sollte ich zwischendurch so tun, als würde ich versuchen einen Ball zu fangen, der Echtheit halber.

Wir platzierten uns auf dem Spielfeld (nun, die anderen platzierten sich, ich humpelte).

Közi und Kami waren beide in meiner Gegnermannschaft.

Meine Kameradenschweine schickten mich als Hintermann auf die andere Seite, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass sie mich nicht brauchen und ich ihnen auf diese Weise nicht im Weg stehen würde. Die Rechnung ging auf: Ich stand geschlagene zwanzig Minuten herum, ohne irgendetwas zu tun zu haben.

Doch leider stellte sich meine Mannschaft als sportliche Nieten heraus und weitere zehn Minuten später stand ich als letzter Mann im Feld.

Mit einem Koji, der mich von der anderen Seite her angrinste.

Meine Definition der Hölle.

Ich sprang ein paar Minuten lang wie ein Irrer übers Feld und wich den Bällen aus, was einfacher klang als es war. Selten erschienen einem runde, fliegende Objekte so bedrohlich, als wenn testosterongesteuerte Teenager sie auf einen abfeuerten.

Ich hüpfte wie ein junges Reh in die hintere Ecke und als ich mich umdrehte, bekam ich noch so eben mit, dass Koji einen Ball warf, an den ich mich gar nicht erinnern konnte. Ich hatte gerade genug Zeit um mir zu denken: Moment mal – und dann bekam ich irgendwas sehr hartes voll ins Gesicht und war erstmal weg.

Lange konnte meine angenehme Ohnmacht allerdings nicht gedauert haben, denn als ich wieder zu mir kam, war das Erste, was ich hörte, wie Mr. Tori Koji zusammenschrie, was er sich dabei gedacht hatte und von wegen das sei der schlimmste beabsichtigte Foul des Jahrhunderts gewesen und er solle bloß nicht glauben, dass er sich dumm stellen konnte.

Mir war das alles allerdings relativ gleichgültig, denn ich mein Schädel brummte wie eine Waschmaschine.

Ich hob einen Arm, von dem ich glaubte, dass es meiner war, und tastete nach meinem Gesicht. Fühlte sich normal an. Ich hatte Nasenbluten, aber es tat nicht weh, also hatte ich wohl keine zermatschte Zucchini im Gesicht.

Ich setzte mich auf, bereute es aber gleich darauf, weil mir kotzübel wurde.

Irgendwer reichte mir ein kaltes, nasses Handtuch, worüber ich mehr als nur froh war.

Ich wischte mir das Blut aus dem Gesicht, legte mir das Handtuch in den Nacken, damit das Nasenbluten aufhörte und bekam mich irgendwie auf die Beine, so dass ich zur Bank am Rand der Halle taumeln konnte.

So gern ich Koji auch für diese Aktion gekillt hätte, es hatte den Vorteil, dass ich früher gehen durfte. Ich konnte mich in aller Ruhe anziehen und dann verschwinden. Ein kurzer Stopp bei der Schulkrankenschwester und dann raus.

Wie ich nach Hause gekommen war, wusste ich später nicht mehr.

Ich wusste, ich hatte meine Sachen in den Flur geschmissen, mich die Treppe raufgeschleppt und war dann tot in mein Bett gefallen.

Irgendwann abends wachte ich dann wieder auf und stellte nach einem Blick in den Spiegel zufrieden fest, dass ich mies genug aussah, dass mir ein paar Tage zuhause durchaus zustanden.

Ich piekte noch etwas auf meiner Nase herum und ging dann runter in die Küche, wo ich meiner Mutter erst mal einen irren Schrecken einjagte.

Cool.

Ich durfte am nächsten Tag lieben bleiben. Meine Mutter brachte mir morgens Kakao und mein Vater war begeistert, wie gut ich mein Leiden ertrug - dass mein Gesicht fast gar nicht wehtat, musste ja niemand wissen. Also verbrachte ich einen wunderschönen Tag im Bett und sah fern, weit weg von Koji und allen anderen, die mir Probleme hätten machen können.

Am Nachmittag kam meine Mutter mit den Hausaufgaben nach oben.

„Der Nachbarsjunge war eben da. Wirklich ganz ein Netter. Ich hab ihn gefragt, ob er nicht reinkommen möchte, aber er musste weiter.“

„Mmh…“ machte ich und streckte meine Hände nach den Zetteln aus.

Der oberste war eine Liste mit den Hausaufgaben, die anderen irgendwelche Arbeitsblätter.

Ich widmete mich der Liste.

Ach wie schön, Mathehausaufgabe, hahaha… mach ich nicht.

Mmh, Englisch. Mal sehen, S. 23/4 ...

Uh, Biologie. Wie bitte, ich sollte WAS machen? Nene, ich war kein Pornostar, nix da.

Geschichte. An das Thema erinnerte ich mich düster…

Ganz unten auf der Liste dann fand ich eine Message an Gackt.

>Du machst es aber nicht lang… Na ja, gute Besserung.<

Darunter hatte er einen Chibi von sich gekritzelt, der einen Chibi von mir mit einer großen Spritze verfolgte. Kami, das wurde aus den wenigen Strichen klar, hatte sicher wundervolle Talente, aber Malen war keines davon.

Ich sah auf das Blatt und musste einfach grinsen.

War ja schon nett von ihm. Auch wenn ... Naja. Das würde ihn irgendwann anders fragen.

„KAMUI!“, kam eine Stimme von unten.

„JAAA?“

„Hier ist ein Mädchen für dich!“

Ich stand auf und sprang die Treppe runter, erinnerte mich rechtzeitig daran, wie krank ich war und schlurfte an meiner Mutter zur Tür, wie der Tod in Venedig.

Draußen stand Aiko, mit einem Blätterstapel, der mir bekannt vorkam.

„Hey Gackt, ich bring dir die Hausaufgaben.“

„Danke, ähm…“ Normalerweise würde jetzt ‘möchtest du reinkommen’ kommen, aber ich wollte das nicht wirklich. „… wie war der Tag?“

„Wie immer, wie immer…“, sagte Aiko und schaute mich interessiert an, während sie ohne hinzusehen ihren Umhängetasche durchforstete. „Dein Gesicht sieht schlimm aus. Hier.“ Sie reichte mir eine Salbe gegen Prellungen und Blutergüsse.

„Danke“, sagte ich artig.

„Ich hab mir alles GANZ genau erzählen lassen. Koji ist wirklich schrecklich…“

„Ähm, na ja, vielleicht hab ich auch einfach nicht aufgepasst…“ Moment, wieso verteidigte ich hier gerade Koji?

„Das glaub ich nicht. Er macht so was. Irgendwas ist falsch bei ihm… und nicht auf die attraktive Weise, wenn du weißt, was ich meine.“

„Ähm“, machte ich vorsichtig, „ich bin ein Junge, deswegen… Nein.“

„Naja, wie auch immer. Wir denken jetzt schon länger darüber nach, wie man ihm mal beikommt. Obwohl es so aussieht, als würde er sich bald selbst von der Schule kriegen. Aber das hier hat ein Nachspiel.“

„Ähm“, machte ich nochmal und kratzte mich mit der Salbe am Hinterkopf, „vielen Dank, aber-“

„Mach dir keine Sorgen, Gackt!“

Sie tätschelte mir die Schulter, schenkte mir ein aufbauendes Lächeln und zog ab.

„-macht euch keine Umstände…“, murmelte ich zu niemand bestimmten.
 

Es war Freitag, als ich wieder in die Schule ging.

Die erste Stunde war Geschichte, gefolgt von Japanisch bei unserer Klassenlehrerin, die sich am Ende der Stunde vor ihrem Pult aufbaute.

„Nun denn, anlässlich der Klassenfahrt, die am Montag beginnen wird-“

Oh Nein. Klassenfahrt. ALLES, aber um Himmels willen keine Klassenfahrt! DAS hatte mir meine Mutter also am Mittwochabend nach ihrem zweistündigen Telefonat mit Frau Ukyou erzählt, als ich nicht zugehört hatte!

“- möchte ich Sie noch einmal daran erinnern, dass sämtlicher Alkohol verboten ist! Vergessen Sie ihre Taschenlampen, falls vorhanden, und eine Regenjacke nicht. Der Bus fährt um acht Uhr vor der Schule ab, wer aus irgendeinem Grund nicht kommen kann meldet sich im Sekretariat ab. Seien Sie pünktlich. Das steht alles noch einmal auf den Informationsblättern, die ich jetzt durchgebe.“

Die Klasse bildete wieder Klümpchen und Knäulchen und diskutierte die Zimmeraufteilung aus, während sie in die Pause wuselten. Das einzige Knäul, das sich bei mir bildete, war das in meiner Magengegend.
 

Später an diesem Tag hing ich gelangweilt in meinem Zimmer herum. Meine Abende waren seit jeher nicht sonderlich spannend gewesen und – seltsamerweise – änderte sich daran nichts, nur weil man ich in eine neue Umgebung umpflanzte. Ich hatte sogar meine Hausaufgaben gemacht, so langweilig war mir. Hausaufgaben. An einem Freitag! Der Tiefpunkt eines jeden Teenagerlebens. Zieht’s euch rein.

Als es draußen dunkel wurde, zappte ich durch ein Abendprogramm, das aus Boxen, merkwürdigen Reality-Soaps und schlechten Krimis bestand und meine Chips waren auch schon seit einer halben Stunde leer.

Genervt schaltete ich den Kasten aus, warf die Fernbedienung neben mir aufs Bett und stand auf. Dann nahm ich eben den Hund und ging mit ihm raus, so konnte ich zumindest versuchen, das Ausmaß der Langeweile in meinem Leben zu leugnen.

Vor dem Haus wandte ich mich sobald es ging Richtung Strand, wo die Straßenbeleuchtung aufhörte und nur noch das Licht des Mondes, der sich im Wasser spiegelte, die Szenerie erhellte.

Wawa lief freudig vor mir her und rannte dem Ball nach, den ich immer wieder warf. Der Name war eine Strafe für jeden männlichen Hund, aber der Gute war inzwischen fünf Jahre alt und an jenem Tag, als es auf einmal in der Aktentasche meines Vater gewufft und dieser mit gespielter Überraschung einen knuddeligen Fellball herausgezogen hatte, war für meinen Bruder noch jeder Hund Wawa, jede Katze Nya-nya und jeder Vogel Ramen, wusste der Henker woher das Letzte kam. Tatsache war, unser Hund hieß bis heute Wawa.

Ein kalter Wind vom Wasser her kam auf und ich fröstelte leicht. Aber bis vor zum Anlegesteg konnte ich schon noch gehen.

Dort ließ ich mich auf den Boden fallen und sah übers Meer. Es war hier sehr still. Nach meiner turbulenten Woche erschien es mir angenehm. Wawa streckte sich neben mir auf dem Holz aus und gähnte. Ich kraulte ihn einige Minuten hinterm rechten Ohr.

Ein Schatten kam über den Strand in unsere Richtung. Jetzt blieb die Person stehen und hob etwas vom Boden auf, nur um es dann so weit es ging ins Wasser hinaus zu werfen. Ich kniff die Augen zusammen. Es war Koji.

Irgendwie schockte mich diese Erkenntnis schon gar nicht mehr, was hatte ich bei meinem Glück auch erwartet.

„Komm“, murmelte ich Wawa zu, der aufstand und mir nachtrottete.

Ich hatte keine Lust darauf, dass meine Leiche morgen in der Bucht gefunden wurde.
 

Zuhause angekommen warf ich zwei Aspirin gegen die hämmernden Kopfschmerzen ein, die sich in meinem Hirn breit gemacht hatten und kippte ins Bett, nur um – so kam es mir zumindest vor - drei Minuten später auf derselben Seite wieder herauszufallen.

„Fuck…“, murmelte ich halblaut, während ich mich aufsetzte und meinen Hinterkopf rieb. Draußen schien schon die Sonne. Ich stand auf, nahm eine Dusche und sprang dann auf der Suche nach menschlichem Leben einmal durchs Haus.

Ich fand meine Familie unten auf der Terrasse.

Ich ließ mich neben meinen Bruder fallen, der hibbelig an seinem Tamagoyaki herumkaute und anscheinend nur darauf wartete, aufspringen zu können.

Er würgte seinen letzten Bissen hinunter, während ich mir Kaffee einschenkte.

„Papa, darf ich jetzt gehen?“

Mein Vater schmunzelte. „Verschwinde, du Wirbelwind. Aber zum Mittagessen bist du zurück.“

Schneller als ich gucken konnte, war er auch schon verschwunden.

„Wo geht er denn hin?“ nuschelte ich über meinen Mund voll Ei hinweg.

„Zu Kaede. Wirklich ein nettes Mädchen, und gut erzogen außerdem. Und was hast du heute so vor?“

Ich zuckte mit den Schultern. Das war eine wahrheitsgemäße Antwort - Ich hatte keinen Plan.

„Wuss nisch.“ Ich schluckte. „Ich sollte ein wenig für die Schule tun, die sind hier viel weiter.“

„Das ist mein Sohn, immer am Arbeiten!“ Mein Vater beäugte mich stolz über den Rand seiner Zeitung hinweg.

„Hmhm…“, imitierte ich das Geräusch, welches ich gestern von Kami gelernt hatte und gab vor, sehr beschäftigt mit meinem Kaffee zu sein. Von den ungemachten Mathehausaufgaben (ganz zu schweigen von meiner alles durchdringenden Ahnungslosigkeit) und dem unfertigen Gedicht musste ja keiner was wissen.

Nach dem Frühstück begab ich mich also wirklich nach oben in mein Zimmer und setzte mich vor die Mathehausaufgaben - so ungefähr fünf Minuten lang.

Danach fand ich es viel interessanter, aus dem Fenster zu gucken oder einfach die Wand anzustarren. Mir war nie aufgefallen, dass die Farbe nach oben hin dunkler wurde, wirklich raffiniert.

Gegen elf Uhr schließlich hatte mir die Wand auch nichts mehr weiter zu bieten und ich beschloss, mir die Siedlung mal etwas genauer anzusehen, wenn ich schon nichts zu tun hatte.

Sobald ich ein paar Schritte gelaufen war, wurde mir klar, dass man hier anscheinend auch am Wochenende die Bürgersteige hochklappte - kein menschliches Wesen weit und breit.

Nur Gekreische zeugte hin und wieder von der Existenz jüngeren menschlichen Lebens und an der nächsten Straßenecke standen ein paar Poser und checkten sich gegenseitig durch die Gegend.

Ich lief eine gute Viertelstunde und erreichte schließlich das, was hier wohl eine Innenstadt darstellen sollte. Und da machte es auf einmal vor meinen Augen Tadaaa. Ein Musikgeschäft war direkt vor mir aus dem Boden gewachsen. Ich tastete nach meinem Geldbeutel. Vorhanden, ausgezeichnet! Meine Gitarre braucht dringend neue Saiten und auch sonst fiel mir spontan kein besserer Ort ein, um dort etwas Zeit zu verbringen, als ein Musikgeschäft mit seinen zahlreichen Möglichkeiten.

Ich öffnete die Ladentür und irgendwo weiter hinten klingelte es leise. Zögernd trat ich ein und blickte mich um. Die Ladentheke war unbesetzt und ein wenig befreiter machte ich einige weitere Schritte in den Laden. Wie überall befanden sich im vorderen Teil all jene Instrumente, die gerne von Leuten gekauft werden, die sich einbilden, Musiker zu sein bedeutete, eine Blockflöte, eine 12 000-Yen-Gitarre oder eine Bongo zu besitzen. Ich mochte allerdings diese kleinen Echsen aus Holz, deren Rücken ein Geräusch erzeugte, wenn man mit einem Holzstab darüber fuhr. Ich wiederstand der Versuchung und ging weiter nach hinten. Am anderen Ende des erstaunlich großen Raumes erspähte ich einige Klaviere und einen Treppenaufgang, wo ein Schild auf Gitarren und Bässe im Keller und Blasinstrumente im Obergeschoss hinwies. Andersherum wäre es vermutlich hinsichtlich genervter Nachbarn schlauer gewesen, dachte ich und ging die Treppe hinunter.

„Junge!“ Auf halbem Weg die Treppe hinunter zuckte ich zusammen und schaute mich hektisch um, da wurde mir klar, dass der Typ gar nicht mit mir redete. Langsam stieg ich tiefer. „Du schaus‘ seit Ewichkeit’n immer uff de jleiche Jitarre. Wird det nu‘ mal was oda nich‘?“

„Wird, wird“, sagte eine andere Stimme. Ich erstarrte und zog reflexartig den linken Fuß wieder eine Stufe nach oben, zum rechten. Diese Stimme… „Noch zwei Wochen. Du verkaufst sie nicht vorher, oder?“

„Det frachst du mir jetz‘ ooch schon drei Monate, wa? Und ich sach jedes Mal Nein. Mana, allet klar da hinte‘?“

Ich hörte keine Antwort, aber scheinbar gab es eine, denn das Gespräch ging nahtlos weiter.

„Ah, bevor ick’s verjesse – kannstema eine Extraschicht mach’n, diese Dienstach?“

„Klar.“

„Dafür mack ick dein Herzblatt billijer, sachma bis zur Hundertastelle.“

„Danke, Mann. Dann kann ich sie mir nächste Woche leisten. Ein Traum wird wahr.“

„Jaja, nu hör emal uff mit der Säuselei hier, det kannichnich leide‘. Und nu‘ packt zusamme‘ und raus mit euch. Ich hab ooch zahljende Kunden.“

Ich wandte mich um und stieg die Treppe hastig doch lautlos wieder hinauf, stahl mich zu einer Ladenecke und betrachtete angestrengt ein Piano, da wohl weit über meiner Einkommensmarke lag. Erst als ich die Ladentür hörte drehte ich mich wieder um, und ging nach vorne, um nach meinen Saiten zu fragen.

Fünf Minuten später verließ ich den Laden wieder.

Während ich das Päckchen in meiner Tasche verstaute, drehten sich meine Gedanken im Kreis. Ich erfuhr am laufenden Band irgendwelche Dinge, die ich eigentlich nicht hören sollte.

Was interessierte mich Koji? Ihn interessierte an mir ja auch nur, wann er mich am unauffälligsten verdreschen konnte. Wieso begegnete ich denen denn überhaupt andauernd? Konnte ich nicht EINMAL jemand anderen treffen?

„Hey, Gackt! Kamui, wart mal!“

Und wieder einmal beweist uns das Leben, dass man aufpassen sollte, was man sich wünscht. Danke, Leben! Ein Schatten mit einer Einkaufstüte schob sich neben mich. Sie verfolgte mich. Sie musste mich einfach verfolgen! Das war doch nicht mehr normal!

„Hallo Aiko...“

Sie grinste mich an. „Was für ein Zufall! Und, wie geht’s? Ist dein Gesicht wieder ok?“

„Ja, ja ich denk schon…“ Ich drehte mich zu dem Schaufenster hinter mir, um nachzusehen. Ja, ich würde keinen Oscar gewinnen für mein Aussehen, aber es näherte sich wieder dem Normalbereich an. Wieder zurück zu meiner neusten Begegnung.

„Hast du irgendwas Bestimmtes vor? Weil da läuft ein neuer Film im Kino und-“

Seht ihr, die Sache mit solchen Fragen ist – sobald sie einmal raus sind, kann man nicht mehr Nein sagen, ohne dazustehen wie ein Riesenarsch. Die Kunst ist also, Nein zu sagen, schon bevor die Frage im Raum steht. Ich fiel ihr also kurzerhand ins Wort.

„Äh, furchtbar gern, wirklich, aber ich, ähm, ich muss meinem Vater helfen.“

Sie sah mich enttäuscht an. „Oh. Schade. Wobei denn?“

„Ich, ähm, also er…. Streicht das Wohnzimmer. Und äh, deswegen muss ich jetzt auch noch äh… wo anders vorbeigehen, ja.“

„Na gut… Dann ein andermal?“

„Klar…“

Zwei Lügen zur gleichen Person innerhalb von zehn Sekunden. Gute Leistung, Kamui.

„Soll ich dich noch ein Stück begleiten? Also, weil du kennst dich noch nicht so aus-“

„Nene, is ok, wirklich. Mach’s gut.“

Ich winkte, lächelte und sah zu, dass ich Land gewann.

Also wirklich, wer war ich denn?

Sah ich wirklich so aus, als bräuchte ich einen Babysitter? Nein, brauchte ich nicht! Ich war groß, gut aussehend und äh… Wort mit G, ähm… ach, drauf geschissen: fotogen.

Ok, und wo war ich noch gleich?

Ratlos drehte ich mich einmal im Kreis. Super, wie die Realität meinen Worten immer so schön Nachdruck verlieh. Seufzend machte ich mich daran, meinen Weg fortzusetzen. Diese Stadt war nicht groß und hatte auf einer Seite Wasser, irgendwann würde ich wieder irgendwo rauskommen, wo ich mich auskannte. Ich schlenderte weiter die Straße runter, erkannte eine Kreuzung und bog in die richtige Richtung ab. Schließlich kam ich an einem Kinderspielplatz vorbei. Er war leer, was mich nicht wunderte: der Himmel hatte zugezogen und ein Wind, der deutlich den Herbst ankündigte, wehte vom Meer her. Nur ein einziges Mädchen schaukelte vor sich hin. Ich ging hinüber und setzte mich neben sie in die andere Schaukel. Mann, das letzte Mal als ich geschaukelt hatte, war sicher sieben Jahre her.

„He“, sagte ich nach einiger Zeit. Ich war mir inzwischen sicher.

„Hallo“, sagte sie und schaute mich überrascht an.

„Ich bin Kamui. Und wie heißt du?"

Sie schaukelte ein bisschen langsamer und hielt schließlich an.

„Natsu."

„Was machst du denn hier so ganz alleine?“, fragte ich.

Natsu deutete in Richtung Rutsche.

„Ich bin da drüben gestorben.“

„Oh. Das tut mir leid.“

„Ist schon ok. War niemandes Schuld.“

„Wieso bist du denn dann noch hier?“

„Ich schaukel so gern.“

Ich schaute sie ein wenig genauer an. Sie trug die geflochtenen Freundschaftsbänder am Handgelenk, die bei mir daheim vor zwei Jahren in gewesen waren. Selbst wenn ich davon ausging, dass in diesem Kaff hier die Bomben später einschlugen, war das ziemlich viel Schaukeln.

„Magst du denn nicht mal nach Hause?“

Sie druckste herum. „Vielleicht… aber ich hab auch meine Haarspange verloren. Die schöne mit dem Kätzchen. Ich mag nicht ohne die…“

Unwillkürlich suchte ich von meinem Warte aus den Boden ab.

„Ach, mach dir keine Mühe“, sagte sie traurig. „Ich such schon ewig.“

Wir schaukelten noch ein wenig.

Dann ging ich nach Hause.

Ich brauchte dringend Erholung von meinem Wochenende.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Echtes Mystery beginnt demnächst dann.
Ich freue mich über alle, die es lesen (´∇ノ`*)ノ Komplett anzeigen

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