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Neue böse Wesen und so

Mit Liebe und viel Alkohol gegen Dämonen und andere böse Wesen 2
von

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(K)eine ruhige Minute

„...Aufgrund dieser Ungleichheit gründeten die Nixen vor einigen Jahrzehnten ihre eigene vom Rat unabhängige Verwaltung. Sie fordern bis heute eine Eingliederung und damit bessere Überwachung der Dämonen...“

„Das klingt als wäre es aus einem Fantasyroman“, warf Emil ein, der Lilian bis zu diesem Punkt aufmerksam zugehört hatte.

„Ist es aber nicht. Es ist unsere Geschichte. Zumindest die offizielle Version“, entgegnete Lilian und Emil bemerkte die Gereiztheit in ihrer Stimme. Rasch setzte er dazu an, sich zu entschuldigen.

„Schon gut.“ Lilian legte beruhigend die Hand auf seine Wange. „Für dich muss das alles merkwürdig klingen.“

„Nein, ich finde nicht, dass es merkwürdig klingt!“, betonte Emil. „Tut mir Leid, dass ich das so gesagt habe.“

„Schon gut“, erwiderte Lilian beschwichtigend und legte lächelnd den Kopf auf seine Schulter.

Sie lagen auf seinem Bett. Die letzten Wochen war Lilian öfter bei ihm gewesen. Sie hatten viel Zeit mit Küssen verbracht und nur wenig damit, darüber zu reden, was eigentlich passiert war.

Es war erst einige Wochen her gewesen, dass Emil überhaupt erfahren hatte, dass die Welt voll war mit Übernatürlichem, das normale Menschen nicht erkennen konnten.

Marie, ein hübsches und unnahbares Mädchen, in das Emil verliebt gewesen war und das ihn bis dato nicht einmal wahr genommen hatte, hatte plötzlich Interesse an ihm gehegt. Denn Emil besaß eine Fähigkeit, die sie „Quelle“ nannten. Was eigentlich falsch war, es war eher eine Art Katalysator, der Magie verstärkte. Marie als Hexe wollte Emils Quelle benutzen, um ein Schulprojekt auf der Hexenschule fertig zu bekommen, bei dem sie sich in den Kopf gesetzt hatte einen Stein der Weisen herzustellen. Doch ihr Plan Emil zu bezirzen schlug fehl, als Lilian sich einmischte.

Sie war eine Succubus, ein Dämon, der Männern die Lebensenergie entziehen konnte und deshalb bei anderen als Männerhasserin bekannt war. Doch sie versuchte mit allen Mitteln Marie davon abzuhalten Emils Quelle zu bekommen. Und es gelang ihr durch „Abmachungskausalität“ Emils Quelle zu versiegeln und sie damit für Marie unantastbar zu machen. Auch Emils starke Anfälligkeit für Lilians Succubuskräfte waren mit der Versiegelung verschwunden und er wurde praktisch immun gegen ihre Anziehungskraft.

Erst dann hatte Emil bemerkt, wie sehr er sie auch ohne ihre magischen Reize mochte. Sie war ein tolles Mädchen, hübsch, hatte langes dunkelblondes Haar und einen perfekten, kurvigen Körper.

Spätestens als Lilian beim Anblick von Emils Rechner gefragt hatte, was er denn für eine Grafikkarte darin hätte, hatte Emils Herz für einen Moment ausgesetzt. Als er dann auch noch erfuhr, dass sie noch bis vor einigen Monaten World of Warcraft gespielt hatte, Half Life nicht nur vom Hören her kannte, und einen schnellen Rechner besaß, kam Emil nicht mehr aus dem Staunen raus, über dieses Mädchen, das er vorher nicht einmal gekannt hatte und das beinahe mehr mit ihm gemein hatte, als sein bester Freund.

„Du hast nie gefragt!“, hatte sie gesagt und ihn angelächelt. Genau so wie sie es gerade getan hatte, während ihre dunkelblauen Augen glänzten.

Lilian hob den Kopf und küsste seine Wange, wobei sie fast an seiner Brille hängengeblieben wäre. „Kommst du denn damit klar?“

„Womit?“, fragte Emil und legte den Arm um sie.

„Damit, dass du so wenig weißt. Über unsere Welt, Magie und das alles.“

„Ich dachte, du erzählst mir einfach alles.“

„Das ist soviel, das kannst du dir gar nicht alles auf einmal merken!“

„Du könntest es versuchen?“, schlug Emil vor.

„Wenn ich wirklich alles wissen würde ...“ Lilian drehte sich zu ihm und legte den Arm um seine Brust. „Und ich glaube, das Meiste lernst du noch früh genug.“

Kaum einen Augenblick später berührten ihre weichen Lippen seine. Sie küsste ihn sanft und vorsichtig und während sich ihre Zungen berührten, schmiegte sie sich an ihn. Emil spürte jede Rundung ihres Körpers an seinem eigenen. Sie war unglaublich weich.

Er verlor sich beinahe in ihrem Kuss, als sie ihn plötzlich fest packte und mit aller Kraft aufs Bett drückte. Im gleichen Moment hörte Emil das Splittern von Glas und Lilian aufschreien.

Danach war alles still. Emil öffnete vorsichtig die Augen. Lilian lag über ihm und ihr Gesicht war Schmerz verzerrt. Sie versuchte etwas zu sagen, kippte aber zur Seite, weil ihre Arme sie nicht mehr trugen. Emil griff nach ihrem Arm und verhinderte, dass sie vom Bett fiel. Dann fuhr er zum Fenster herum. Die Scheibe war vollständig zerborsten. Die Splitter lagen überall auf dem Bett und im Zimmer verteilt. Doch hinter dem Fenster war nichts.

Im gleichen Moment wurde Emil nach hinten auf die Matratze gepresst und etwas schweres schnürte ihm die Kehle zu. Er versuchte Luft zu holen, sich zu bewegen. Doch etwas hielt ihn so fest umschlungen, dass seine Muskeln brannten bei den Versuchen sich loszureißen. Vor seinen Augen war nichts. Nur die Zimmerdecke. Der Schmerz im Hals wurde unerträglich. Sein Kopf drehte sich.

Ein lautes Knacken hallte in seinen Ohren und mit einem Mal ließ der Druck los und seine Lungen füllten sich schlagartig wieder mit Luft. Er hörte einen dumpfen Aufprall. Dann beugte Lilian sich über ihn.

„Emil?“, sagte sie mit atemloser Stimme. „Alles ok?“

Trotz seiner verrutschten Brille konnte Emil die Leere in ihren Augen erkennen, mit der sie ihn ansah. Er schaffte es nur zu nicken. Daraufhin huschte ein schwaches Lächeln über ihr Gesicht, bevor ihre Arme nachgaben und sie auf seiner Brust zusammenbrach.

Das erst löst Emil aus seiner Schockstarre. Sein Blick fiel erst jetzt auf ihren Rücken, aus dem vergilbte Bolzen herausragten, deren Oberfläche im Licht merkwürdig schimmerte.

Emil wusste sofort, was zu tun war. Er richtete sich hastig auf und griff mit den Händen nach dem ersten Bolzen. Doch auch wenn er mit aller Kraft daran zog, der Bolzen bewegten sich nur einige Zentimeter. Seine Finger verkrampften sich, doch er ignorierte den Schmerz, denn er wusste, er musste sie um jeden Preis herausholen.

Nur langsam löste sich der Bolzen aus Lilians Rücken. Dass damit auch ein Rinnsal Blut herauskam, ignorierte Emil, denn kaum war der Erste gezogen, begann die Wunde darunter, sich zu schließen.

Als Emil endlich den letzten Bolzen herauszog, spürte er, wie Lilians Körper sich deutlich entspannte. Auch er fiel erschöpft auf das Bett zurück. Der letzte Bolzen rollte ihm aus der Hand.

Für einige Augenblicke lagen sie beide einfach nur da. Emil spürte erst jetzt bewusst, wie Lilians Brust sich nun auf seiner eigenen hob und senkte und hörte wie ihr Atem an seinem Ohr ruhiger wurde.

„Danke“, flüsterte sie schwach und küsste seine Wange.

„Nein, ich muss dir danken!“ Emil realisierte immer noch nicht, was da gerade passiert war.

Stöhnend erhob Lilian sich vom Bett. „Das ist ja gerade nochmal gut gegangen“, sagte sie in einem Tonfall, als wäre gerade nichts weltbewegend geschehen. Emil beobachtete sie, wie sie im Raum stand und den Kopf zur linken Seite gelegt hatte, als würde sie etwas auf dem Boden eindringlich betrachten. Emil richtete sich auf, sah aber nichts, das für Lilian irgendwie interessant sein könnte. Überall lagen Scherben, auch auf dem Bett und Emil schob eine besonders nahe liegende ein paar Zentimeter zur Seite, um sich nicht daran zu schneiden.

„Ist irgendwas?“, fragte er, während er seine Brille richtete.

Lilian stieß einen Seufzlaut aus und schob den Fuß knapp über dem Boden durch die Luft. Er schien an etwas unsichtbarem hängen zu bleiben. „Verdammter Ghul!“

Als sie aufsah, fing sie Emils verständnislosen Blick auf und einige Sekunden starrten sie sich gegenseitig an, bevor Lilian mit einem Mal die Einsicht kam:

„Du kannst ihn nicht sehen, oder?“

Emil schüttelte den Kopf.

Lilian grinste. „Ah. Achso ja. Also das ist ein Ghul.“ Sie deutete auf den Boden unter ihr.

Diese Erklärung half Emil wenig weiter, sah er doch nicht einmal einen Körper.

„Du kannst ihn nicht sehen“, fuhr sie fort. „wie du auch meine wahre Gestalt als Succubus nicht siehst. Ghule sind Untote, die sich von menschlichen Leichen ernähren. Dieser hier hatte wohl beschlossen, seine Leichen selbst zu machen.“

Langsam erinnerte sich Emil an die Ghule in Spielen und ein Bild tauchte in seinem Kopf auf, von einem dürren Wesen mit fader über die Knochen gespannter Haut und einer verzerrten Fresse mit einer Reihe scharfer Reißzähne und mit einem Mal war er froh nichts zu sehen.

„Zum Glück sind die Knochen von Ghulen so schwach, dass man ihnen trotz durchlöchertem Rücken noch leicht das Genick brechen kann.“ Sie klang amüsiert und grinste.

Das Knacken schoss Emil durch den Kopf. Das war also das Geräusch, wenn Knochen brachen. Bei dem Gedanken daran wurde ihm ganz anders.

„Danke dafür.“ Er spürte wie trocken seine Stimme war.

„Kein Problem. Das war trotzdem sehr knapp. Ich frage mich was er wollte ...“

Emil zuckte die Schultern: „Dich töten?“

„Ghule verlassen für gewöhnlich nie ihre Friedhöfe. Was, wenn ein Nekromant...“ Lilian sagte das mehr zu sich, als würde sie nachdenken.

„Sag mal, lässt dich das vollkommen kalt?“, fragte Emil verdutzt und Lilian sah auf.

„Ehrlich gesagt, schon. Auch wenn das mit den Schmerzen immer nervig ist.“ Sie hielt kurz inne. „Es tut mir nur Leid, dass du da mit rein gezogen wurdest.“ Lilian lächelte aufmunternd und kam dann auf Emil zu. Die Hände stützte sie links und rechts neben ihm auf dem Bett ab und küsste ihn sanft auf die Lippen.

„Mach dir um mich keine Sorgen. Mich kriegt man so schnell nicht klein.“ Das Lächeln war immer noch nicht von ihrem Gesicht gewichen und Emil hatte das Gefühl bereits alles vergessen zu haben, zumindest fast alles.

„Hast du eine Idee, wie wir die Leiche jetzt hier raus schaffen?“, fragte Lilian plötzlich und nickte zu dem für Emil leeren Fleck am Boden hinüber.

„Raus schaffen?“, wiederholte Emil. „Löst die sich nicht einfach nach einiger Zeit auf?“

Lilian sah ihn kurz verwundert an. „Jein. Du denkst an World of Warcraft, oder? Der Körper despawnt, also verschwindet, wirklich irgendwann. Das nennt man Verwesung, dauert lange und ist ekelig. Irgendein Ort, wo wir ihn lagern können?“

„Vielleicht in unserer Garage?“, sagte Emil nach kurzem Überlegen. „Meine Eltern gehen da eigentlich nie rein, weil da zu viel Chaos drin ist.“

„Schaffen wir das zu zweit?“

„Glaub' schon“ Nachdem Lilian sich bereits aufgerichtet hatte, stand Emil vorsichtig vom Bett auf, um nicht in eine der Scherben zu treten oder zu greifen. Lilian nahm seine Hand und führte sie hinunter zum Boden.

„Nicht erschrecken“, sagte sie, bevor Emils Hände etwas Kaltes und seiner Meinung nach arg Schleimiges berührten. Der Geruch von Verfaultem drang in seine Nase und er musste stark gegen den Drang ankämpfen nicht zurück zu zucken.

„Du musst hier anpacken“, wies Lilian ihn an und Emil schloss seine Hand. „Jetzt anheben.“

Emil hatte gerade erst angesetzt, das unsichtbare Etwas aufzuheben, da hatte Lilian ihre Seite bereits auf Brusthöhe und die Leiche rutschte erst einmal in Emils Richtung. Mit dem vollen Gewicht drückte sie seinen Magen ein. Er stöhnte auf und Lilian ließ die Hände schnell ein Stück tiefer sinken, während sie sich mehrmals bei Emil dafür entschuldigte.

Es dauerte, bis sie den Ghul die Treppe hinuntergetragen hatten, weil Emil die Gliedmaßen immer wieder nach unten weg rutschten und er nicht wusste wohin er greifen sollte, um sie wieder zu fassen zu kriegen.

„Habt ihr eine direkte Tür zur Garage?“, fragte Lilian, als sie auf dem Treppenabsatz angekommen war.

„Ja, rechts 'rum. Nein, das andere rechts.“

Etwas unbeholfen bugsierten sie die Leiche um die Ecke und schließlich durch die schmale Tür in die Garage hinein. Der Ghul war doch massiger, als Emil ihn sich nach Lilians Beschreibung vorgestellt hatte. Er hatte damit gerechnet, dass er filigraner wäre.

Als er endlich die unsichtbare Last fallen lassen konnte, war es wie ein Segen. Er konnte wieder frei atmen, nur seine Hände fühlten sich ekelig nass an.

„Hast du ein Taschentuch?“, fragte er Lilian und fuhr erschrocken herum, als das Garagentor plötzlich aufging und ihm Martins Stimme antwortete:

„Ich hab eins!“

„Was machst du hier?“, fragte Emil verwirrt und beobachtete wie sein bester Freund gelassen das Garagentor hinter sich schloss und auf sie zukam.

„Sorry. Ich bin wohl etwas zu spät.“ Martin grinste und besah sich dann den Boden vor Emils Füßen. „Meine Vorhersagen sind nicht mehr so zielsicher, seit ich nicht mehr primär für dich zuständig bin. Ich hatte gehofft euch wenigstens beim Entsorgen der Leiche zu helfen.“

„Wie? Du hast davon gewusst?“, platze es aus Emil heraus, doch noch während er sprach, wurde ihm schon klar, dass diese Frage unnötig war. Martin war ein Seher. Er wusste immer, was passieren würde. Nur nicht immer sofort, wenn er selbst nicht dabei war. Daran hatte Emil sich in den letzten Wochen immer noch nicht gewöhnt. Besonders da Martin jetzt manchmal vergaß so zu tun, als wüsste er nicht wissen, was als nächstes passierte.

Emil seufzte. „Schon gut.“

„Den hast du ganz schön zugerichtet, Lilian“, bemerkte Martin und Lilian verdrehte daraufhin nur die Augen. „Aber viel wichtiger ist: Was wollte er eigentlich hier?“

„Keine Ahnung“, seufzte Lilian schulterzuckend. „Sag du es mir.“

„Wenn ich es wüsste, würde ich nicht fragen“, erwiderte Martin kalt. Emil bemerkte die angespannte Stimmung zwischen den beiden.

Martin und Lilian konnten sich noch nie leiden. Zumindest solange Emil Martin kannte. Das hatte er zwar auch erst letztens heraus gefunden, aber es war wohl etwas, das vor langer Zeit zwischen den beiden vorgefallen war, dass zumindest Martin Lilian immer noch nicht verziehen hatte. Emil glaubte sich daran zu erinnern, dass Ina oder Sonia gesagt hatte, dass es mit Lilians Succubuskräften zusammen hing.

„Aber ...“, fügte Martin hinzu. „Es gibt nicht so viele registrierte Nekromanten, die in Frage kämen.“

„Ein bekannter Nekromant würde nicht riskieren mit einem fremdgesteurten Ghul zu töten. Er würde sofort verdächtig sein.“

„Vielleicht war es nicht einmal ein Nekromant.“

Emils Blick wanderte zu dem leeren Fleck am Boden.

„Ghuls verirren sich aber nicht alleine von Friedhöfen in anderer Leute Schlafzimmer“, konterte Lilian verärgert.

„Es könnte genauso gut ein dunkler Magier gewesen sein. Die sind genauso unberechenbar. Vielleicht ...“ Martin hielt im Satz inne und wandte sich Emil zu. „Dich beschäftigt der Ghul, oder?“

„Naja, ich kann ihn ja nicht einmal sehen“, erwiderte Emil mit trockener Stimme. Es war ein dummes Gefühl, dass Lilian und Martin beide viel mehr wussten und dann auch noch das Ding sehen konnten. Nur er war dafür blind.

„Ein Bier auf Ex und du siehst ihn auch!“ Martin hielt Emil eine Flasche Bier hin. „Alternativ auch andere alkoholische Getränke.“ Martin klang ermutigend, doch Emil starrte immer noch misstrauisch die Bierflasche an.

„Wo kommt die denn jetzt her?“, fragte er mit zusammen gekniffenden Augen.

„Ich dachte, dich würde der Anblick des Ghuls vielleicht interessieren.“

„Ach egal. Gib her.“ Emil fischte die Flasche aus Martins Händen und öffnete sie an einer Regalkante. „Na dann mal Prost.“ Er leerte die Flasche so schnell es möglich war. Schon während des Trinkens merkte er, wie sein Kopf leicht schummrig wurde. Doch das konnte genauso gut der Placeboeffekt sein. Mehrmals musste er absetzen, bevor der letzte Schluck getrunken war. Dann gab er sie Martin zurück mit der Erklärung: „Hier bitte. 8 Cent Pfand.“

Danach passierte erst einmal überhaupt nichts mehr.

„Wie lange dauert das jetzt?“, fragte Emil, der auf den Boden vor sich sah.

„So lange wie es dauert.“ Martin las gerade den Flaschenrücken. „Oh. Da steht drauf du sollst das Bier bewusst genießen.“

„Habe ich das nicht getan? Bewusst zum Selbstzweck genossen.“

Emil hörte Lilian glucksen und sah zu ihr auf. Ihre versteifte Miene hatte sich gelöst und jetzt lächelte sie. Es war das Lächeln, was Emil an ihr so schön fand und dass leider immer dann auf ihrem Gesicht auftauchte, wenn sie eigentlich über ihn lachte.

„Jetzt will ich auch ein Bier!“ Lilian warf Martin einen Blick zu. „Du hast nicht zufällig noch mehr mitgebracht? Ich meine, das hier kann noch etwas länger dauern.“

„Nein. Aber dahinten steht eine Kiste.“

Es dauerte über 10 Minuten bis Emil anfing, etwas Verschwommenes auf dem Boden zu erkennen. Der Ghul sah, abgesehen von seiner deutlich größeren Masse, in etwas so aus, wie Emil ihn sich vorgestellt hatte, nur seine Haut war nicht fleischfarben, sondern grau und von einer bräunlichen Schicht überzogen. Den Kopf konnte Emil nicht richtig erkennen, da er aufgrund des Genickbruchs merkwürdig abstand. Dieser war im Verhältnis zum restlichen Körper sehr groß und schien überhaupt nicht zu den langen Gliedmaßen zu passen. Der Kiefer hing schlaff herunter und entblößte scharfe Reißzähne.

„Und?“, fragte Lilian, die Emil interessiert über die Schulter sah. „Was siehst du?“

„Einen Ghul.“ Emil drehte sich zu ihr um und zuckte erschrocken zusammen. Statt ihrer dunkelblauen Augen, sahen ihn nun leuchtend grüne an. Er zuckte erschrocken zusammen. Auch wenn er eigentlich wusste, wie sie als Succubus aussah, war er in diesem Moment nicht darauf vorbereitet gewesen. Ihr Haar war pechschwarz geworden und sie sah in seinen Augen noch attraktiver aus als sonst. Auch wenn das ebenso am Bier liegen konnte. Genauso hatte sie an dem Abend ausgesehen, als er sie das erste Mal gesehen hatte.

„Ekelig oder?“, sagte sie und nickte kurz zu dem Ghul hinüber.

„Nein, sind sie wirklich nicht.“ Er konnte den Blick einfach nicht von ihren Augen abwenden. Sein Magen wurde flau und er merkte nicht, wie er sich zu ihr hinüber beugte. Es war genauso wie damals. Er spürte es, als sich ihre Lippen berührten, doch diesmal erwiderte sie seinen Kuss.

„Bin schon weg!“, hörte Emil Martin plötzlich sagen. Emil beendet erschrocken den Kuss und ignorierte Lilians beleidigtes Gesicht.

„Warte“, rief Emil.

„Ist in Ordnung. Wir seh'n uns doch morgen wieder.“ Martin hatte bereits das Garagentor geöffnet „Denk dran. 13 Uhr bei mir.“

„Was? So früh?“, protestierte Emil.

„Das schaffst du schon.“

„Schaffe ich nicht.“

„Doch! Ich weiß das!“, scherzte Martin und Emil gab klein bei:

„Okay ... Bis morgen.“

„Bis morgen“, rief auch Lilian aus Reflex. „Nein, bis irgendwann ... mal ...“ Ihre Stimme verebbte, als Martin das Garagentor schloss.

„Er hasst mich immer noch, oder?“, fragte Lilian an Emil gewandt und Enttäuschung schwang in ihrer Stimme mit.

„Ach Unsinn. Er fühlt sich nur als fünftes Rad.“

„Er toleriert mich nur, weil ich mit dir zusammen bin.“

„Wir sind zusammen?“, fragte Emil in verblüfftem Ton.

Woraufhin Lilian ihn entgeistert ansah, bevor sie Emils unterdrücktes Grinsen bemerkte.

„Du ...“ Da ihr scheinbar kein passender Fluch einfiel, küsste sie ihn einfach.
 

(Macht das mit dem Bierexen nicht Zuhause nach. Für die Autorin hatte der Selbstversuch schwere Auswirkungen auf den vorliegenden Text.)

Beste Freunde

„Wie ist das eigentlich?“, fragte Sonia, die vom Kleiderständer zu Lilian aufsah.

„Abgestochen zu werden?“, erwiderte diese ungläubig.

„Quatsch. Mit einem Jungen zusammen zu sein.“ Sonias braune Augen fixierten sie.

Lilian wich unmerklich vor ihrem durchdringenden Blick zurück: „Was fragst du mich? Du bist die von uns beiden, die schon einmal mit einem Jungen zusammen war.“

„Ist es anders als mit einem Mädchen?“, bohrte Sonia weiter nach und machte sich auf, die weiteren Ständer zu begutachten. Lilian eilte ihr nach.

„Schon...“

Mittlerweile hatte Sonia sich ein dunkelblaues T-Shirt von der Stange genommen und hielt es sich vor: „Wie findest du das?“

Während Lilian noch grübelte, was ihre beste Freundin mit der Fragerei erreichen wollte, sagten ihre Mädcheninstinkte, dass das Dunkelblau überhaupt nicht zu den blonden Haaren ihrer Freundin passen wollte.

Lilian schüttelte den Kopf „Würde dir nicht stehen.“

Lächelnd ließ sie das T-Shirt sinken. „Manchmal denke ich, wenn ich nicht auf Kerle stehen würde, wärst du meine Traumfrau.“ Sie hielt Lilian das T-Shirt vor. „Deinen Körper hätte ich gerne.“

Lilian hüstelte. „Du hast wenigstens nicht so ein breites Becken.“

„Ich finde es gut so wie es ist. Und die langen Beine...“, schwärmte Sonia weiter.

Lilian spürte wie sie rot wurde. Sie selbst war doch überhaupt nicht das Thema gewesen.

„Wir hatten doch gerade noch darüber geredet, das etwas versucht hat Emil umzubringen.“ Lilian musste Sonia schon wieder folgen, die dabei war quer durch den Laden zu stapfen.

„Gerade sagtest du nur, dass euch etwas angegriffen hat.“

„Ja, bevor du mich anfingst mich zu löchern...“

„Entschuldige.“ Sonia setzte ihr liebstes Lächeln auf. „Du weißt wie Frauen sind. Wir wollen immer alles wissen... Habt ihr schon miteinander geschlafen? Wie küsst er?“

Rot werden war nicht länger Lilians einziges Problem, bei Sonias Fragen drehte sich ihr Magen um. Allein der Gedanke daran machte Lilian verrückt. Und so beschloss sie Sonia lieber zu übergehen. Sie wollte nicht darüber reden.

„Der Ghul hat versucht Emil umzubringen. Kaum an mir vorbei, hat er sich sofort auf ihn gestürzt. Wäre ich das Ziel gewesen hätte er sichergestellt, dass ich sterbe.“

„Und wenn er euch einfach so angegriffen hat?“, fragte Sonia, die ihre Fragen scheinbar schon wieder vergessen hatte.

„Ghule verlassen nicht einfach ihr Territorium. Dieser wurde geschickt.“

„Du weißt was das bedeutet, oder?“

„Ja. Ein Nekromant hat es auf Emil abgesehen. Und das heißt ich muss noch besser auf ihn aufpassen.“

„Aber du hast trotzdem noch Zeit mit mir Shoppen zu gehen!“, bemerkte Sonia.

„Ja, er ist gerade bei deinem Cousin Martin. Der sollte eigentlich auch aufpassen können, aber er nimmt das irgendwie nicht mehr besonders ernst, seit er suspendiert wurde.“

„Vielleicht brauch er auch mal eine Auszeit.“

Lilian seufzte. „Warum kann er mir das eigentlich nicht verzeihen?“

„Den Vorfall damals?“

„Erstens war das keine Absicht, dass ich ihm die Lebenskraft entzogen hatte und zweitens ist das Jahre her! Ich kann nicht mal mehr sagen, wie alt ich war!“

„Dreizehn“, ergänzte Sonia. „Aber ja. Er sollte froh sein, dass du ihm den Hickhack von letztens verzeihst.“

„Ja! Sollte er!“

„Martin ist ein Idiot“, sagte Sonia. „Aber gar kein so übler Kerl. Er will sich nur nicht eingestehen, dass du total nett bist.“

Sonia lächelte und Lilian fiel es schwer, ihrem Optimismus nicht zu verfallen. Sie war sich sicher, dass Sonia das nur sagte, um sie aufzuheitern.

Diesmal griff Sonia die Ghulproblematik wieder auf:

„Bist du schon alle bekannten Nekromanten durchgegangen?“

„Nein, aber ich glaube auch nicht, dass ich etwas finden werde. Kein Bekannter würde die Spuren so leicht zu sich führen lassen.“

„Vielleicht ist es genau das, was er uns glauben machen möchte?“

„Welches Motiv sollte er überhaupt haben, Emil umbringen zu wollen?“

Sonia zuckte die Schultern: „Seine Quelle? Die eignet sich nicht nur für Maries Schulprojekt.“

„Tod nützt seine Quelle niemanden was. Dann wäre ich das Ziel gewesen. Die Quelle ist wegen mir versiegelt worden. Ich bin der Schlüssel.“

Sonias Miene wurde plötzlich ernst. „Hast du darüber nachgedacht, was ich dir gesagt habe?“

„Dass Martin meinte, das Siegel könnte brechen, wenn Emil meiner Präsenz zu lange ausgesetzt ist?“ Ungläubigkeit schwang Lilians Stimme mit.

„Ich weiß, dass das von diesem Idioten kommt. Es hat aber einen wahren Kern. Ich hoffe für dich, dass es Unfug ist. Ihr seid so süß zusammen.“

Lilian erröte bei Sonias Lächeln erneut. So viele Komplimente auf einmal von ihrer Freundin, vertrug sie nicht.

„Wo wir dabei sind. Weißt du eigentlich, was aus Richard und Ina geworden ist?“

„Keine Ahnung. Ich weiß auch nicht ob seine Familie eine Beziehung zu einer Normalen überhaupt erlauben würde.“

„Glaubst du? Mittlerweile ist es doch ziemlich egal, wer mit wem.“

„Maries Eltern bekleiden beide sehr hohe Ämter. Ich hatte gedacht, dass Marie deshalb keinen Freund hat.“

„Vielleicht ist sie einfach wählerisch. Ihr Freund muss sicher hohe Standards erfüllen.“

„Kann ich mir sehr gut vorstellen...“ Der Sarkasmus in Lilians Stimme war nicht zu überhören.

„Aus welcher Familie stammt Richard eigentlich?“

„Du meinst welche Kräfte er hat?“, hakte Lilian nach.

„Ja, genau. Ich hab's vergessen. Es war irgendwas...“

„Da überfragst du mich...“

„Ach verdammt.“ Sonia ballte die Faust. „Ich krieg das noch raus!“
 


 

Emil nickte auf Martins Frage. „Natürlich habe ich von Crysis gehört. Das Spiel soll irgendwann dieses Jahr rauskommen und es sieht richtig geil aus!“

„Meinst du dein Rechner schafft das?“

„Ich hoffe doch, schließlich...“ Emil verstummte, als die Tür zur Küche aufging und eine junge Frau herein kam. Sie bemerkte die beiden Jungen und lächelte:

„Hallo Emil, wusste gar nicht, dass du hier bist.“

Emil erkannte sie erst auf den zweiten Blick: es war Isabel, Martins ältere Schwester. Sie war älter geworden, seitdem Emil sie das letzte Mal gesehen hatte. Er hätte gesagt, dass es eine Ewigkeit gewesen war, vielleicht war es aber nur ein knappes halbes Jahr. Ihre rotbraunen Haare hatte sie locker zu einem Dutt hochgesteckt.

Kaum hatte Emil sie zurück begrüßt, war sie bereits hinter der Kühlschranktür verschwunden.

„Ich wusste auch nicht, dass deine Schwester hier ist“, sagte Emil verwirrt zu Martin.

„Sie hat Semesterferien und macht deshalb mal wieder das Haus unsicher...“

„Gar nicht wahr!“, hörte man es vom Kühlschrank aus rufen.

„Wohl wahr!“, rief Martin zurück.

Die Kühlschranktür fiel klatschend wieder zu.

„Na dann will ich euch nicht länger stören“, trällerte Isabel, als sie mit leeren Händen wieder auf dem Weg zur Tür war. „Ach und Emil, grüß Lilian von mir!“ Sie winkte kurz, bevor sie schon wieder draußen war.

Emil sah Martin an. „Du hast ihr erzählt, dass ich mit Lilian zusammen bin?“

„Nein...“, sagte Martin langsam.

„Woher- ?“

„Muss einer ihrer Anfälle sein“, tat Martin die Sache ab.

Er konnte jedoch Emils Unverständnis in dessen Gesicht ablesen; dafür musste er nicht hellsehen können und so fuhr er fort:

„Isabel hat wie ich hellseherische Fähigkeiten. Allerdings sind diese bei ihr viel schwächer, weshalb sie es nicht bewusst wahrnimmt. Wahrscheinlich dachte sie, ich hätte ihr davon erzählt.“

Emil nickte bedächtig. „Kommt das von deiner Mutter oder deinem Vater?“

„Vater. Er ist auch als Seher tätig. Meine Mutter ist eine Normale.“

„Und wie bist du dann mit Sonia verwandt?“

„Der Bruder meiner Mutter hat Sonias Mutter geheiratet. Er war auch ein Normaler. Er hat sie durch meinen Vater kennengelernt.“

Emil nickte immer noch. Aber eins verstand er nicht: „Und woher kennt Isabel Lilian?“

Martin hielt für einen Moment inne. „Die beiden waren mal befreundet. Aber sie haben sich zerstritten und danach lange nicht mehr miteinander geredet. Dann ist Isabel ja auch noch zum Studieren weggegangen.“

„Was studiert sie nochmal?“

„Jura.“

„Das ist sicher schwierig“, bemerkte Emil.

„Wenn sie einen ihrer Anfälle hat sicher gar nicht so sehr.“

„Wird das nicht zum Problem, wenn sie später arbeitet? So als Anwalt?“

Martin zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht, kann da nicht einschätzen, wie das ist nur halb Hellsehen zu können.“

„Darf sie das überhaupt als Anwältin? Darfst du das überhaupt in deinem späteren Job?“

„Wenn ich doch noch ausgebildeter Seher werde, arbeite ich ohnehin für den Rat und brauche keinen normalen Job.“

„Wirst du denn wieder Seher?“

„Ja, ich wurde wegen letztens nur zurück gestuft. Vielleicht muss ich aber auch etwas länger warten. Dann könnten wir erst einmal zusammen studieren gehen“, schlug Martin vor.

„Das wäre cool!“

„Wolltest du nicht Informatik studieren?“

Das hatte Emil vor Jahren mal überlegt. Bevor er gemerkt hatte, dass Mathe ihm überhaupt nicht lag.

„Ich mag Computer, aber für Info ist auch Mathe wichtig und das packe ich niemals. Vielleicht würde ich eher Medizin, Chemie oder Spielentwicklung studieren wollen.“

„Okay, mir egal, ich studiere das dann einfach auch. Es ist ohnehin egal, was ich studiere.“ Ein Grinsen breitete sich auf Martins Gesicht aus. „Vielleicht könnten wir dann eine WG gründen und -“

„Dann zocken wir den ganzen Tag!“, unterbrach Emil ihn.

„Genau, aber nicht den ganzen Tag. Muss auch zwischendurch Zeit für ein Bier sein.“

„Und du darfst mich auch ab und an auf die ein oder andere Party schleppen...“

„Ich wäre für ein 1:1 Verhältnis von Raiden und Rausgehen.“

„Da komme ich momentan eh nicht mehr oft zu...“

„Lilian lenkt dich zu sehr ab, was?“, feigste Martin.

„Ja und dieses ganze magische Zeugs und so. Ich war bestimmt 2 Wochen nicht mehr online.“

„Vermissen die dich nicht?“

„Doch schon, aber als ich die SMS bekommen habe, war ich gerade mit Marie unterwegs und habe geschrieben, dass ich keine Zeit habe... und Lilian spielt ja auch nicht mehr.“

„Herzlichen Glückwunsch und Willkommen zurück in der Realität!“

„Hey, es macht wirklich Spaß zu spielen.“

„Aber dein Leben macht momentan mehr Spaß.“

„Ich weiß nicht, ob ein Ghul in meinem Zimmer unter meine Definition von Spaß fällt.“ Emil zog eine Grimasse. „War schon schwierig genug, meinen Eltern beizubringen, dass schon wieder, irgendein Greifvogel durch die Scheibe geschlagen ist.“

„Wieso, was haben sie denn gesagt?“

„Sie haben gefragt, ob es diesmal der Gleiche gewesen war.“

Martin lachte auf. „Und was hast du gesagt?“

„Dass das möglich wäre... Mir gehen einfach langsam die Ausreden aus.“

„Du bist doch erst bei Ausrede Nr. 1.“

Emil sah ihn ungläubig an. „Na super... ich bin einfach nicht dafür gemacht.“

„Keiner ist dafür gemacht“, sagte Martin ernst, doch als er weiter sprach klang seine Stimme amüsiert. „Du hättest dir nicht Lilian aussuchen sollen. Dann hätten wir das Problem nicht.“

Emil überging seine Bemerkung. „Was ist eigentlich mit Nicki? Weiß sie von deinen Fähigkeiten?“

„Nein.“ Martin schwieg für einen Moment. „Sie muss es auch nicht wissen. Das ist sicherer für sie.“

„Wie geht es ihr eigentlich?“

„Gut. Ihr gefällt's im Ausland.“

„Vermisst du sie?“

„Schon. Aber ich weiß ja, immer wie es ihr geht und wir telefonieren auch öfter.“

Emil hatte Martin seit langem nicht mehr nach Nicki gefragt und die ehrlichen Antworten überraschten ihn.

„Sie kommt doch schon in weniger als drei Monaten wieder. Das sind kaum mehr 10 Wochen.“

„Wie sollen wir ihr dann das Ganze hier beibringen?“

„Gar nicht“, sagte Martin bestimmt. „Sie muss es nicht wissen. Ich habe dich durch diese dummen Machenschaften, in die ich mich eingemischt habe, in Gefahr gebracht. Das wird mir bei Nicole nicht passieren.“

Emil schwieg daraufhin. Er wusste nicht wie schwierig es war eine Beziehung mit einer Normalen zu führen. Er war selbst der Normale und wusste durch die Begebenheiten bereits einiges über die magische Welt. Eigentlich wollte er sich überhaupt nicht vorstellen, wie es sein mochte, wenn Lilian ihm nichts sagen würde, nichts sagen dürfte um ihn zu schützen. Verschwieg sie ihm nicht vielleicht sogar schon einiges?

„Wo waren wir stehen geblieben?“, sagte Martin in die Stille hinein. „Genau, wann soll „Crysises“ noch einmal erscheinen?“

„Crysis“, verbesserte Emil ihn. „irgendwann diese Jahr.“ Mit diesem Satz hatte er seine zweifelnden Gedanken schon wieder verworfen.

Gefährliches Pflaster

Die Autos rauschten über den Stadtring, während Sonia und Lilian an der Ampel warteten. Wind pfiff ihnen um die Ohren, bis die Ampel umsprang und die Autos hielten.

„Ich bin so fertig“, stöhnte Sonia, als sie über die Straße schlenderten.

„Ja, du hättest vielleicht nicht auch noch in den zwanzigsten Schuhladen -“ Lilian schrie vor Schreck auf, als silbernes Blech knapp an ihr vorbei rauschte und stolperte rückwärts. Ihre Füße verhedderten sich und sie wäre beinahe rücklings auf die Straße gefallen, hätte Sonia sie nicht aufgefangen. Das Auto hingegen rauschte weiter um die Kurve und beschleunigte mit röhrendem Motor auf der Geraden.

Sonia stellte Lilian rasch zurück auf die Füße, bevor sie dem Auto noch beleidigende Worte hinterher rief: „Idiot! Nur weil du einen scheiß BMW fährst, glaubst du die Straße gehört dir?“

„Lass gut sein, Sonia.“ Lilian, die sich wieder gefangen hatte, zog Sonias Arm hinunter und schleifte sie über die Straße. „Mir ist nichts passiert.“

„Aber das war knapp!“, protestierte Sonia.

„Ist egal. Ich war einfach in Gedanken und habe nicht aufgepasst.“

„Er ist bei Rot gefahren!“

„Ja. Ein richtiges Arschloch. Aber dadurch lassen wir uns doch nicht den Tag verderben.“

Lilian sah Sonia durchdringend an, die sich dadurch schnell erweichen ließ. Sie trotteten weiter.

„Ich möchte jetzt ein Eis!“ Lilian streckte sich. Im Gegensatz zu Sonia musste sie keine Tüten tragen, hatte sie doch nur eine Kette gekauft, die auch in ihre Umhängetasche passte.

Sonias schlechte Laune war wie weggeblasen. Sie brummte entzückt „Eis klingt gut!“

„Eis klingt sogar sehr gut!“, ergänzte Lilian sie grinsend.

„In Ordnung. Die übliche Eisdiele am Brüggchenpark?“

„Au ja. Wie früher immer nach der Schule.“

„Wie früher ... ich bin erst seit nicht einmal zwei Wochen weg. Und in der Zeit hatten wir ohnehin Ferien.“

„Das ist schon eine Ewigkeit! Besonders wenn ich bedenke, dass wir nie wieder zusammen auf eine Schule gehen werden“, klagte Sonia wehmütig.

„Ach, hör auf.“

Sie bogen in die Straße ein und Sonia überkam plötzlich ein merkwürdiges Gefühl. „Lilian?“, fragte sie aus dem Nichts heraus. „Warum bist du gestolpert?“

„Wieso?“

„Du landest immer auf deinen Füßen. Egal was passiert.“

Lilian lachte leicht. „Unsinn. Ich kann genauso stolpern wir jeder Andere. Jeden Morgen stolpere ich aus dem Bett!“

„Aber nicht in solchen Situationen. Da meldet sich sonst immer dein Überlebensdrang an.“

„Ich bin einfach müde.“

„In wie fern müde?“

„Wie meinst du das?“, fragte Lilian verwirrt.

„Brauchst du Lebensenergie?“ Sonias Stimme klang besorgt. „Es muss deinen Körper kaputt machen, so lange Emil ausgesetzt zu sein, ohne ihm die Kraft entziehen zu können.“

„Es ist in Ordnung“, erwiderte Lilian zögernd.

Sonia blieb plötzlich stehen und packte Lilian am Arm. Lilian wandte sich erstaunt zu ihr.

„Wenn du irgendetwas brauchst ...“, fing Sonia vorsichtig an, doch Lilian war schneller.

„Alles in Ordnung“, wiederholte Lilian lächelnd. „Ich brauche einfach etwas zu essen. Zum Beispiel ein Eis!“

Sonia ließ nur widerwillig von Lilian ab. „Okay. Dann musst du aber einen großen Eisbecher essen!“

„Kein Problem. Mindestens 6 Kugeln“, versuchte Lilian zu überzeugen, doch Sonias Miene blieb ernst. Da Lilian auch nicht mehr wusste, was sie sagen sollte, gingen sie einige Zeit schweigend nebeneinander her, bis sie die Eisdiele erreichten. Der Anblick von Eis ließ Sonias Laune schlagartig besser werden. Es war als hätte sie das alles schon wieder vergessen.

Während Sonia sich auf die Theke stürzte und in einem Monolog versank, welche Sorten sie nun wollte, fiel Lilians Blick auf das Mädchen, das schräg vor ihnen in der Schlange stand.

Sie hatte den Kopf weggedreht, doch Lilian musste ihr Gesicht nicht sehen, um zu erkennen, wer sie war. Ihr rotblondes Haar war mit Schleifen und Blumen im Haar hochgesteckt und sie trug ein weißes knielanges Kleid, darunter weiße Kniestrümpfe und Schuhe. Auf den ersten Blick wirkte sie fast wie eine zu Mensch gewordene Schneeflocke. Ihr Name war Hanna und sie und Lilian hatten als sie klein waren viel zusammen unternommen; war Hanna doch auch verflucht, ein magisches Wesen zu sein. Genaugenommen eine Banshee.

Das Mädchen bemerkte scheinbar, dass Lilian sie beobachtete und als sie sich umwandte, trafen sich ihr und Lilians Blick. Lilian lächelte:

„Hey.“

„Lilian?“, fragte Hanna überrascht und erwiderte ihr Lächeln. „Das ist ja mal ein Zufall. Was machst du?“

„Eis essen.“

„Cool. Ich auch!“

„Echt?“

„Echt.“ Hanna lachte leicht. „Auch wenn ich mit dem Fruchteis immer höllisch aufpassen muss!“

„Kann ich mir vorstellen. Hübsch siehst du aus.“ Lilian musterte Hannas Kleid, dessen Rüschen ihre Beine umspielten.

„Danke. Oh.“ Hanna wandte sich um als sie an der Reihe war und bestellte. Danach wandte sie sich wieder Lilian zu: „Wie läuft's bei dir momentan?“

„Gut, gut“, erwiderte Lilian nickend. „Ich mache endlich mein Abitur und dann mal schaun.“

Hanna lächelte. „Ich bin jetzt auf der höheren Handelsschule und deshalb endlich wieder zurück in der Stadt.“ Sie wandte sich wieder der Theke zu, als ihr Eis fertig war und zahlte.

„So“, sagte sie als sie das Eis in den Händen hielt. „Ich hoffe, wir sehen uns mal wieder. Einen schönen Tag wünsche ich euch.“

„Ja, ich dir auch“, sagte Lilian zum Abschied und Hanna verschwand mit dem Eis zwischen den Tischen, wo sie sich weiter an einem niederließ an dem 3 andere Mädchen saßen, die ebenfalls sehr schick aussahen in ihren Kleider.

„Sie war süß“, bemerkte Sonia, nachdem Lilian zwei große Spagettieisbecher bestellt hatte. „Wer ist sie? Eine alte Freundin, von der ich nichts weiß?“ Sie stieß Lilian sanft in die Seite. „Oder doch eine Verflossene?“

„Sonia“, fuhr Lilian sie entgeistert an. „Du weißt genau, dass ich ...“

„Schon gut, schon gut!“ Sonia hatte sich bereits mit erhobenen Händen ergeben. „Also wer ist sie?“

„Wir waren befreundet als wir Kinder waren. Sieben oder Acht vielleicht. Dann musste sie wegziehen. Ich weiß nicht mehr warum, aber danach habe ich sie nur einmal wiedergesehen und das ist jetzt auch schon drei Jahre her.“

Sie nahmen das Eis mit zu einem kleinen Tisch etwas weiter am Rand der Stuhllandschaft.

„Dass du sie überhaupt erkannt hast. Ich hab ein Gedächtnis wie ein Sieb“, staunte Sonia.

„Ja, das hat mich auch erstaunt“, bemerkte Lilian und setzte sich. „Besonders sie mich. Meinst du es gibt so etwas wie eine Art Vorhersehung zwischen magischen Wesen?“

„Nicht das ich wüsste. Es sei denn sie oder du, ihr wärt Hexen. Aber das seid ihr beide nicht.“

Lilian nickte nachdenklich. „Warum können dunkle Wesen keine Hexen werden?“ Dann sah sie zu Sonia auf, die nicht genau wusste, wie sie darauf antworten sollte. Normalerweise wusste sie viel mehr als Lilian, gerade was die Regeln und Sachverhalte der magischen Welt anging. Aber diesmal war sie wirklich überfragt.

„Keine Ahnung“, gab sie zu.

„Ich meine, du kannst als Nixe auch Magie wirken. Nixen gehörten auch einst zu den dunklen Wesen.“

„Ihr Ursprung war aber immer noch ein anderer. Sie waren eine Abspaltung von den Wassergeistern und keine direkten Wesen der Dunkelheit.“

Lilian seufzte. „Du darfst mir das Geheimnis nicht verraten, weil es gegen das Gesetz ist, oder?“

„Das Geheimnis würde dir nichts helfen. Wirklich nicht.“ Sonia sah sie traurig an. „Deine Kräfte sind viel stärker als einfache Magie. Du bist viel stärker, als ich es jemals sein werde.“

Lilian sah erst sie an und dann ihr Eis, das bereits dabei war an den Seiten weg zu schmelzen. „Das Eis!“, rief sie entsetzt aus.

„Das Eis!“, stimmte Sonia mit ein, stopfte sich schnell einen Löffel in den Mund und zuckte zusammen. Lilian beobachtete wie ihre Gesichtszüge sich schmerzlich verzogen. Sie schluckte hastig. „Kalt!“

„Ich glaube, das hat Eis so an sich“, bemerkte Lilian, während sie darauf achtete, dass ihr Bissen nicht so groß sein würde, wie der von Sonia.

Diese hielt den Kopf immer noch in den Händen und sah dann erstaunt auf. „Ist das nicht Ina?“

Lilian sah zur Seite und erkannte Ina, die mit einem anderen Mädchen vielleicht drei Tische von ihnen entfernt saß. Es war eine der Sekunden in denen plötzlich alle anderen Gespräche um einen herum in einem Atemzug verstummten und nur ein kurzer Gesprächsfetzen, der von Ina kam, klar und deutlich zu hören war. „... gut aus und seine Haut schimmert in der Sonne, wie ...“

„Golem!“, rief Sonia plötzlich aus und übertönte damit alles, was Ina vielleicht noch gesagt hätte.

„Was?“, fragte Lilian verwirrt, die so vertieft gewesen war Ina zu lauschen, dass Sonia sie nun vollständig aus dem Konzept gebracht hatte.

„Richards Herkunft“, sagte Sonia aufgeregt.

„Er ist ein Vampir?“, fragte Lilian, die das Bild aus diesem Roman vor sich hatte.

„Nein! Wie kommst du darauf?“

„Ach nur so ...“

„Jemand in seiner Familie war ein Erdgeist, ein Golem. Das erklärt seine Kraft und die schimmernde Haut. Sie kann hart wie Stein werden und damit nahezu unzerstörbar.“

„Deshalb konnte er es mit mir aufnehmen ...“, murmelte Lilian.

„Und da er sonst kaum magische Eigenschaften aufweist und zudem zu Maries sonst ziemlich reinblütigen Magierfamilie gehört, denke ich, dass es mindestens eine Weitergabe der zweiten Generation ist, also von seinen Großeltern oder Urgroßeltern.“

„Gut kombiniert, Watson“, entgegnete Lilian grinsend. „Lass das nur nicht Ina hören.“

„Warum?“

„Liest du keine Bücher?“, fragte Lilian.

„Ich schaue lieber Fernsehen ...“, gab Sonia zu.

Das Seufzen war kaum zu überhören. Es wurde Zeit, dass Lilian Sonia endlich zum Lesen zwang. So konnte das doch nicht weiter gehen.

„Na egal“, fuhr Lilian schließlich fort. „Ina glaubt sicher, dass Richard ein Vampir ist und wir sollten ihre Illusion nicht unbedingt mutwillig zerstören. Bis er es ihr selbst sagt.“

„In Ordnung.“ Sonia zuckte mit den Schultern und löffelte ihr Eis weiter.

Lilian lächelte erleichtert. „Danke.“

„Warum jetzt eigentlich?“, bohrte Sonia nach und Lilian erklärte ihr nur widerwillig die Umstände.

Lilian war es unangenehm, dass Sonia lachte, als sie ihre Erklärungen hörte und so schweiften ihre Gedanken ab, während Sonia es noch urkomisch fand, wie man mit den Vermutungen über die magische Welt so falsch liegen konnte. Dabei war Sonia eher diejenige, die Liebesgeschichten zu schätzen wusste.

Erst als Sonia plötzlich ihren Namen rief, horchte Lilian wieder auf. Sie spürte den Zug nahe an ihrem Ohr und etwas Weißes. Ihr Arm schnellte zur Seite hoch und sie bekam die schwere, metallene Schirmstange gerade noch zu packen, sodass sie ihren Kopf knapp verfehlte. Das Gewicht der Stange war allerdings so groß, dass es sie seitlich vom Stuhl zu Boden riss und sie sehr unsanft auf den Asphalt schlug. Der Schirm knallte auf ihre Schulter und hinterließ einen dumpfen Schmerz, der bereits nachließ, als Sonia sich hektisch über sie beugte:

„Alles okay?“

Lilian rollte den Schirm zur Seite und sah nach oben, wo sie neben Sonia noch Ina sah und auch Hanna war aufgesprungen und hinüber geeilt. In ihren Augen war der ganze Trubel um sie herum übertrieben, tat ihr doch bereits überhaupt nichts mehr weh. Die ganze Aufmerksamkeit war ihr mehr als unangenehm.

Ein Mitarbeiter des Eiscafes half ihr auf die Beine, fragte, ob ihr nichts passiert war und entschuldigte sich mehrmals für den umgefallenen Schirm.

Lilian war froh, dass die schaulustigen Leute sich langsam wieder ihrem Eis zuwandten, als Lilian dem Mitarbeiter beinahe genauso oft, wie er er sich entschuldigte, erklärt hatte, dass es ihr gut ginge und ihr rein gar nichts fehlte.

„Ich glaube, ich habe heute einfach einen schlechten Tag ...“, murmelte Lilian, die sich den umgefallenen Schirm besah, der eine dicke Beule im leeren Nachbartisch hinterlassen hatte.

„Das ist sicher meine Schuld“, sagte Hanna, die immer noch bei ihnen stand und sah Lilian besorgt an.

„Was sollst du denn dafür können?“, fragte Lilian ohne darüber nachzudenken, doch als sie Hannas Blick auffing, fiel es ihr wieder ein. „Nein, damit hat es nichts zu tun! Ich bin auch vorher schon fast von einem Auto platt gefahren wurden. Ist einfach nicht mein Tag.“

Hanna nickte. „Okay, man wird nur mit der Zeit vorsichtig.“ Sie lächelte wieder. „Es ist unglaublich, wie schnell du wieder fit bist.“

Lilian wollte ihr gerade antworten, als Ina schneller als sie war. „War das Magie?“, fragte sie neugierig.

„Was? Dass meine Wunden schnell heilen? Du weißt doch, dass meine Kräfte dafür verantwortlich sind.“

„Nein, das mit dem Schirm. Ich meine es war vorher fast windstill. Und plötzlich fällt der Schirm auf dich! Das ist doch nicht normal.“ Ihre Augen glänzten. Ihr gefiel es, dass ihrer Meinung nach wieder etwas magisches am Werk war.

„Sicher nur eine Böe. Nicht alles ist Magie musst du wissen“, antwortete Lilian ihr.

„Okay ...“, grummelte Ina, die von ihrer Idee zwar immer noch überzeugt war, aber keine Diskussion anfangen wollte, von der sie keine Ahnung hatte.

Lilian fiel auf, wie Hanna etwas geschockt dreinblickte, da Ina etwas von Magie wusste. „Es ist in Ordnung, Hanna. Sie ist letztens aus Versehen zwischen die Fronten geraten. Jetzt weiß sie über uns Bescheid. Aber das ist in Ordnung. Alles abgesegnet.“

Hanna nickte leicht.

„Woher kennt ihr euch eigentlich?“, fragte Ina und ihr Blick wanderte von Lilian zu Hanna und zurück.

„Wir?“, fragten Lilian und Hanna gleichzeitig und sahen sich an. Da sie beide gleichzeitig mit einer Erklärung anfangen wollten, ließ Lilian Hanna mit einer Handbewegung den Vortritt.

„Lilian ist eine alte Freundin von mir.“

„Bist du auch magisch?“, fragte Ina und sah Hanna misstrauisch an. Der Eindruck der Schneeprinzessin schien auch bei ihr haften zu bleiben.

„Ja“, antwortete Hanna höflich, ohne näher darauf einzugehen, was Ina auch nicht besonders störte. „Du siehst übrigens total hübsch aus!“, stieß sie entzückt aus. „Dein Kleid ist der Wahnsinn!“

„Danke“, erwiderte Hanna deutlich geschmeichelt, das heute schon mindestens zum zweiten Mal zu hören.

„Euer Eis schmilzt übrigens“, erinnerte Sonia, die hinter ihnen stand. Ihren Eisbecher hatte sie in die Hand genommen und da dieser jetzt endgültig leer war, hatte sie das Interesse daran verloren, den Anderen bei ihrem Gespräch zuzuhören.

Ina sprang ziemlich schnell darauf an und kehrte nach einer kurzen Verabschiedung zu ihren Freundinnen zurück. „Pass auf Emil auf“, mahnte sie Lilian noch.

Und auch Hanna verabschiedete sich mit den Worten, dass sie hoffte Lilian nochmal zu treffen, sodass Lilian wieder in Ruhe nur mit Sonia ihr Eis austrinken konnte.

Mädchen und andere Ungeheuer

„Die mit Sourcream sind die besten!“ Mit glänzenden Augen liebäugelte sie mit der Chipstüte in ihren Händen und griff dann genüsslich hinein.

Sie saß im Schneidersitz auf Emils Bett, während er vor seinem DVD-Regal stand und grübelte, welchen Film sie schauen sollten.

Lilian gab einen Laut der Erkenntnis von sich, und schluckte schnell die Chips herunter: „Dead or Alive.“

Emil sah sie fragend an. „Der Film nach dem Spiel?“

„Genau den!“

„Den hab ich nicht.“

„Ich sag ja, wir sollten mal bei mir gucken!“ Lilian wedelte mit dem Chip durch die Luft die sie gerade in den Fingern hielt, bemerkte, dass er krümelte und aß ihn schnell. Nachdem sie aufgekaut hatte, sprach sie weiter: „Warum warst du bis jetzt eigentlich noch nie bei mir?“

„Du hast mich bis jetzt nie zu dir eingeladen.“

„Dann lade ich dich jetzt offiziell ein, morgen zu mir zu kommen. Oder noch besser: Du kommst heute Abend zu mir und übernachtest da.“

Es dauerte etwas bis diese Information in Emils Kopf eingetroffen war. Er hatte sich eigentlich schon wieder dem DVD-Regal zugewandt, als er sich schlagartig wieder umdrehte. „Bei dir übernachten?“

Er musste so ungläubig geklungen haben, dass Lilian ihn mit sehr langsamer Stimme antwortete:

„Ja. Praktisch bei mir eine Nacht verbringen.“

„Klar.“ Emils merkte wie seine Stimme schwächelte. Warum schlug sein Herz ihm gerade jetzt bis zum Hals? Es war nichts dabei. Ob er nun am Tag oder in der Nacht bei ihr war würde nichts ändern. Es war egal. Es bedeutete rein gar nichts. Das war ein Abend wie jeder andere.

„Oh man, langsam nervt es...“, wechselte Lilian urplötzlich das Thema und erlöste Emil aus seiner Starre.

„Was meinst du?“ Emil war sich noch unsicher, ob sie wirklich das Thema gewechselt hatte. Das konnte man nie so genau wissen, aber sie neigte dazu.

„Marie. Der Bund mit ihr. Immer diese leise Ahnung zu haben, was sie gerade tut.“

„Kannst du den Bund nicht auch wieder auflösen?“

„Das ist etwas komplizierter. Außerdem brauche ich diesen Bund, damit ich dich beschützen kann.“ Sie legte die Chipstüte zur Seite und sah Emil eindringlich an. Auch ihre Stimme wurde ruhiger und nahm einen ernsten Tonfall an. „Solange ich mit ihr verbunden bin, kann ich nicht durch eine Dämonenwaffe eines anderen getötet werden, noch durch andere Mittel. Dennoch hat sie eine gewisse Macht über mich, was mir absolut nicht gefällt.“

Emil nickte nur, da er nicht wusste, was er darauf erwidern sollte. Er verstand nicht, denn er konnte sich nicht im entferntesten vorstellen, was dieser Bund für Lilian bedeutete.

„Alles in Ordnung?“, fragte Lilian vorsichtig und riss ihn damit aus seinen Gedanken. Sie musste seinen betrübten Blick aufgefangen haben.

„Ja, alles in Ordnung“, wiederholte Emil und versuchte zu lächeln. „Danke, dass du mich beschützen möchtest, aber ich glaube nicht, dass ich Schutz brauchen. Du solltest lieber auf dich selbst aufpassen.“

„Das werde ich. Aber...“ Sie hielt für einen Moment inne, bevor sie weitersprach. „du bist möglicherweise bedeutender für die magische Welt, als du denkst. Deine Quelle ist stark. Unglaublich stark sogar.“ Ihre tiefblauen Augen ruhten durchdringend auf ihm.

„Vielleicht sollte ich dann lieber selbst ein Magier werden“, schlug Emil vor.

Lilian sah ihn für eine Sekunde entgeistert an.

„Ich dachte nur...“, stammelte Emil die ersten Worte die ihm einfielen, doch Lilian begann zu kichern.

„Nein, Emil, entschuldige. Dein Gedankengang hat mich nur überrascht. Wenn das gehen würde, wäre die Idee gar nicht so dumm.“

„Aber es geht nicht?“, brachte Emil enttäuscht hervor.

„Leider nein.“ Lilian rutschte vom Bett und kniete sich vor ihn. „Du wärst aber ein toller Magier!“

Vorsichtig beugte sie sich zu ihm vor und berührte seine Lippen mit ihren. Ihre Lippen waren so unglaublich weich, dass ein Schauer Emils Körper durchfuhr. Kurz berührte ihre Zunge seine. Dann sah sie ihn wieder an und grinste.

Emil sah in ihre Augen, die ihn liebevoll ansahen. Sie war unglaublich hübsch.

Lilians Blick wanderte mit einem Mal zur Seite und blieb am Regal hängen. „Warum sagst du mir nicht, dass du 'The Punisher' hast?“, rief sie aus, rutschte über ihn und griff nach der DVD im Regal. Dabei kam ihr Körper ihm so nahe, dass er ihre Wärme spüren konnte.

Nachdem sie sich die DVD erangelt hatte ließ sie sich auf seinem Schoß nieder. Ihre linke Hand ruhte auf seiner Schulter. Alles an ihr schien zu passen. Emil konnte sich nicht vorstellen, wie sie noch schöner sein könnte.

Ihre Hand wanderte vorsichtig seine Schulter zum Hals hinauf und fasste vorsichtig seinen Kopf. Mit leichtem Druck schob sie seinen Kopf zu ihrem hinüber und er folgte.

Emil schloss die Augen, als sie ihn küsste. Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals und er merkte, wie sie sich reckte, um noch näher an seinen Lippen zu sein, ihn noch intensiver zu küssen.

Sie ließ ihm kaum Luft zum atmen, doch das hatte Emil schon fast vergessen. Ihr ganzer Körper lag nahe an seinem und ihre Finger fuhren durch sein Haar.

Als Lilian den Kuss langsam beendet, merkte Emil erst wie sehr sein Herz raste und sein Atem zitterte. Sie sah ihm für einen kurzen Moment in die Augen, bevor sie ihn sanft nach hinten drückte. Emil gehorchte und sie beugte sich über ihm. Bevor er sich noch darüber Gedanken machen konnte, was sie da tat, hatte sie ihn schon wieder geküsst. Ihre Hand fuhr seine Seite hinauf unter sein T-Shirt.

Vielleicht hatte er sich geirrt. Es brauchte nicht Nacht zu sein, um mit ihr zu schlafen. Es konnte genauso gut jetzt passieren.
 

„Emil?“, fragte Lilian, als sie und Emil die Straße hinunter liefen, auf dem Weg zu ihr. Ihre Hand umfasste seine, was ein schönes Gefühl war, aber so wenig zu ihr zu passen schien.

Lilian schien immer noch müde zu sein und gähnte einmal ausgiebig, obwohl sie gerade noch zwei Stunden tief geschlafen hatte. „Tust du mir einen Gefallen?“

„Was für einen Gefallen?“, hakte Emil vorsichtshalber nach.

„Ich würde gerne noch an der Bibliothek vorbei und es wäre lieb, wenn du Martin davon nichts erzählst.“

„Warum denn?“ Emil konnte sich nicht vorstellen, was so schlimm an einem Besuch in einer Bibliothek sein sollte.

„Ich habe als Dämon eigentlich keinen Zutritt zu den magischen Bibliotheken, deshalb wäre es besser, wenn wir das für uns behalten könnten.“

„Wir gehen in die Winkelgasse?“, fragte Emil entzückt.

„Unsinn!“ Lilian war plötzlich hellwach und drückte sein Hand, wahrscheinlich für sie leicht, doch für Emil so stark, dass er sie unter Schmerzen loslassen musste. „Tut mir Leid! Tut mir Leid!“

Sie fasst vorsichtig seine Hand und pustetet. Auch wenn es dadurch nicht besser wurde, machte es Emil doch deutlich ruhiger.

„Was brauchst du denn aus der Bibliothek?“

„Ich hoffe, dass ich dort herausfinde, wie ich den Bund wieder löse, den ich mir eingebrockt habe. Oder zumindest lockere.“

„Martin erfährt nichts von mir. Zumindest nicht bewusst.“

Lilian lächelte dankend. „Du wirst es nicht bereuen. Als Normaler die Bibliothek gesehen zu haben; das können nicht viele von sich behaupten. Genau genommen: Keiner.“

Emil lachte, als ihm im selben Moment etwas einfiel. „Ich sollte dir übrigens noch Grüße von Isabel ausrichten.“

„Von Martins Schwester?“, fragte Lilian erstaunt.

„Ja, sie ist momentan zu Hause und ich hab sie getroffen, als ich bei Martin war.“

„Oh“ Lilian schien sich nicht wie erwartet über die Grüße zu freuen. „Dann grüß sie zurück, wenn du sie siehst.“

„Werdet ihr euch nicht sehen?“

„Hat Martin irgendwas gesagt, woher wir uns kennen?“ Die Frage hätte Emil schon misstrauisch werden lassen müssen.

„Er sagte ihr wart befreundet gewesen und der Kontakt hätte sich verlaufen.“

Lilian seufzte. Emil bemerkte wie sie anfing nervös mit ihren Lippen zu spielen. „Es ist vielleicht nicht der beste Zeitpunkt...“, fing sie vorsichtig an.

Ihre Stimme war schwach, sie druckste. Es war wie damals, als sie ihm gesagt hatte, dass sie eine Succubus war. Es schien eine ähnlich wichtige Bedeutung für sie zu haben.

Doch dieses Mal war Emil nicht abgelenkt, was die Zeit bis sie ihren Satz endlich beendete unendlich lang erschienen ließ. Was konnte so wichtig sein, dass sie so Schwierigkeiten hatte es endlich auszusprechen? Noch schlimmer, als dass sie eine Succubus war?

„Sie ist meine Exfreundin.“

Damit hatte Emil nicht gerechnet.

„Du? Und Isabel?“, kam es ihm über die Lippen und erst danach war ihm bewusst, sie plump das geklungen haben musste.

Lilian lief rot an. „Ja, du wusstest doch, dass ich mit Mädchen zusammen war.“

„Schon...“ Das Bild wollte nicht mehr aus Emils Kopf:

„Das ist aber jetzt auch schon fast 3 Jahre her“, fügte sie rasch hinzu und hielt dann inne. „Du scheinst das ziemlich locker aufzunehmen.“

Emil nickte geistesabwesend.

„Oder denkst du gerade an etwas anderes...?“

„Was?“ Emil horchte auf und sah sie an. Sie sauer aus. Ihre Stirn lag in Falten. Doch kaum fing sie Emils Blick auf, konnte sie ihm nicht mehr böse sein. Lachend schloss sie ihn in ihre Arme und drückte ihn an sich.

Sanft küsste sie seinen Hals und vergrub dann das Gesicht an seiner Schulter.

„Danke, dass du das so locker nimmst“, murmelte sie.

Emil schloss die Arme um sie. „Warum denn auch nicht?“, fragte er irritiert.

So hielten sie für einige Zeit inne, bis Lilian sich ruckartig wieder aufrichtete. Sie sah erschrocken in die Richtung die in Emils Rücken lag. Mit einer schnellen Bewegung war sie aus Emils Umarmung und bereits an ihm vorbei. Sie hielt wieder inne und sah in alle Richtungen. Ihre Haltung verriet, dass sie etwas suchte, aber nicht fand.

„Was ist los?“

Sie sah sich zu ihm um und in ihrem Blick war noch immer die Verwirrung zu erkennen. „Ich dachte, ich hätte etwas gesehen.“ Sie rieb sich die Augen. Ihre Haltung wurde entspannter. „Ich bin wohl doch noch sehr müde.“

Das Lächeln auf ihrem Gesicht war ehrlich dann gähnte sie erneut. „Wir müssen nur noch zwei Straßen weiter“, sagte sie und setzte sich mit diesen Worten wieder in Bewegung.

Emil folgte ihr und warf dennoch einen Blick zurück, auf den Ort, an dem sie gerade gestanden hatte. Die Straße lag still da, doch wenn er sich vorstellte, dass Lilian gerade wirklich etwas gesehen hatte, dann schien etwas in der Luft zu liegen, das man mit den Augen nicht sehen konnte.
 

Sie stiegen die Stufen zu der schweren Haustür eines Altbaus hinauf. Lilian klopfte zweimal kurz an die Glasscheibe in der Tür, bevor sie sich nach einiger Zeit einen Spalt weit öffnete und das Gesicht eines Mädchens in etwa seinem Alter im Zwischenraum erschien.

Ihre Miene erhellte sich sofort, als sie Lilian erblickte, doch dann fiel ihr Blick auf Emil.

„Es ist in Ordnung. Er ist mein Freund“, sagte Lilian und zeigte dabei auf ihn.

„Okay“ Die Stimme des Mädchens war merkwürdig rau und öffnete die Türe. Erst jetzt konnte Emil erkennen, das das Mädchen blondes Haar hatte, dass sie fest zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Sie trug einen kariertes Hemd, T-Shirt und eine lockere Jeans. Keines ihrer Kleidungsstücke schien ihr richtig zu passen.

Sie ging in den dunklen Raum hinein, in dem Emil zunächst nichts erkennen konnte.

„Ich mache das Licht an“, sagte das Mädchen. Ihre Stimme war merkwürdig. Sie wollte einfach nicht zu dem schmalen Mädchen passen, zu der sie gehörte.

Flackernd ging die Deckenbeleuchtung an und tauchte den großen Raum in dem sie standen in warmes gelbes Licht. Das Licht offenbarte mehreren Gänge mit hohen Buchregalen aus dunklem Holz. Genau so hatte Emil sich eine magische Bibliothek vorgestellt.

Lilian folgte dem Mädchen zum Pult auf dem ein uralter Rechner stand und jede Menge Ordner ausgebreitet waren. Eine Tischlampe brannte. Es war scheinbar der Platz an dem das Mädchen bis gerade eben noch gearbeitet hatte.

„Was brauchst du?“, fragte sie an Lilian gewandt.

„Namensmagie. Deine Idee mit dem Bund war zwar für den Moment wirklich gut gewesen, aber...“ Ihr Blick schweifte ab und blieb auf Emil hängen. „Ach, ich hab euch noch überhaupt nicht vorgestellt. Cornelius, das ist Emil -“

„Cornelius?“ Emil unterbrach sie ohne darüber nach zu denken.

„Ja, Cornelius.“ Das Mädchen lächelte und plötzlich fuhr etwas über ihr Gesicht, dass es für Emil nicht mehr scharf erkennbar machte und nahm deutlich männlichere Züge an. Auch wenn die blauen Augen gleich blieben, blickte Emil in das Gesicht einer völlig anderen Person. Sekunden später sah ihn wieder das Mädchen an. Emil blickte verwirrt zu Lilian. Er hatte doch dieses mal überhaupt nichts getrunken.

„Cornelius ist ein Gestaltwandler“, erklärte Lilian leicht amüsiert. „Er nimmt diese Form immer an, wenn ich da bin, um sich vor meinen Kräften zu schützen. Klappt auch ganz gut.“

Emil nickte verdattert. „Wie sieht er dann aus, wenn ich getrunken hätte?“

„Normal“, beantwortete Cornelius seine Frage und jetzt wo er Cornelius' richtiges Gesicht gesehen hatte, passte die Stimme deutlich besser zu ihm. Vollständig daran gewöhnt hatte Emil sich jedoch noch lange nicht.

„Meine Kräfte funktionieren leider nicht bei betrunkenen Menschen. Sie lassen sich nicht mehr so leicht täuschen.“

„Kannst du jede Gestalt annehmen?“

„Jede menschliche zumindest. Andere können auch tierische Gestalten annehmen.“

„Nimm meine an!“

„Wenn Lilian zu den Büchern geht.“ Cornelius hielt inne und sah sich nach Lilian um, die bereits auf ein Regal am hinteren Ende zusteuerte.

„Lasst euch nicht stören!“, rief sie ihnen zu. „Ich melde mich schon, wenn ich etwas nicht finde.“

Cornelius zuckte die Schultern und wieder verschwamm sein Gesicht und dann sah Emil sein eigenes. Zwar war Cornelius etwas kleiner als er, aber es war wie in einen Spiegel zu Blicken, nur dass die Mimik nicht ganz passen wollte.

Es war das beeindruckendste magische Kunststück, das Emil bis jetzt gesehen hatte. Es dauerte nur einen Moment, dann stand ein Junge vor ihm, den Emil zwar nicht kannte, von dem er aber wusste, dass es Cornelius richtiges Äußeres war. Er musste etwas älter als Emil selbst sein.

„Und woher kennst du Lilian?“, fragte Cornelius.

Emil überlegte, wie er das erklären sollte. „Wir sind uns praktisch über den Weg gelaufen.“

„Weiter?“

„Sie war plötzlich da und hat mich vor Marie gerettet, die mich um den Finger wickeln wollte.“

„Dann haben wir etwas gemeinsam. Lilian hat auch mein Leben gerettet.“

Emil kam nicht dazu nachzufragen, wie die genauen Umstände waren, denn in dem Moment kam Lilian unerwartet früh mit einem Stapel Bücher zurück und Cornelius wechselte augenblicklich sein Äußeres.

„Funktioniert dieser Übersetzungskopierer wieder?“, fragte Lilian.

„Der Entkrypter?“, antwortet Cornelius ihr.

„Genau das Ding.“

„Ja, nimm meine Karte.“ Cornelius zog eine Chipkarte aus der Tasche und legte sie oben auf den Bücherstapel in Lilians Armen.

„Soll ich dir vielleicht helfen?“, fragte Emil mit dem Blick auf die dicken Bände.

„Ne, ne, geht schon.“ Mit den Worten wankte sie in Richtung Kopierer.

„Warum Entkrypter?“, fragte Emil verwundert.

„Die Bücher sind zum größten Teil in Runen geschrieben, die nur wenige lesen können. Deshalb der Übersetzer. Es gibt in größeren Bibliotheken auch Lesegeräte für so etwas.“

„Wie ist das technisch möglich?“

„Gar nicht. Die funktionieren magisch.“

Sich das vorzustellen überstieg in diesem Moment Emils Vorstellungskraft. Er hatte sich gefreut langsam die physikalischen Zusammenhänge von Elektrizität zu begreifen, aber dass das auch noch magisch gehen sollte, wollte nicht in seinen Kopf. Die ganze Magie war etwas, das er nicht verstand und immer noch manchmal für einen dummen Scherz hielt. Außer wenn sie ihm direkt ins Gesicht sprang, wie im Falle von Cornelius.

„Und du hast überhaupt keine magischen Fähigkeiten?“, fragte Cornelius.

Emil stockte. Das er seine verschlossene Quelle erwähnte war sicherlich keine gute Idee, nicht einmal vor einem von Lilians Bekannten.

„Nein leider nicht. Total normal.“

„Hast du ein Glück.“

„Wieso? Du kannst dich in eine Frau verwandeln!“

Cornelius lachte. „Ja, das hat schon Vorteile.“

„Ich würde das so sehr ausnutzen.“

„Ich auch.“

Es folgte eine kurze Stille, die beide nicht lange aushielten und sich angrinsten.

„Was mich interessieren würde. Wie funktioniert das eigentlich mit dir und Lilian? Wie kannst du dich in ihrer nähe Aufhalten ohne tot umzufallen?“, fragte Cornelius schließlich.

„Ich scheine irgendwie dagegen immun zu sein“, log Emil, auch wenn es ihm schwer fiel. „Keine Ahnung warum.“

„Gilt das auch für andere magische Kräfte?“

„Das habe ich jetzt nicht ausprobiert und möchte das eigentlich auch nicht tun.“

„Kann ich nachvollziehen.“

„Gegen Zukunftsvorhersagen bin ich es auf jeden Fall nicht“, scherzte Emil und dachte an Martin, der ihm immer häufiger bereits antwortete, wenn Emil es überhaupt noch nicht angesprochen hatte.

„Dem kannst du dich ja auch nicht entziehen, denke ich. Das heißt du kennst Seher?“

Emil nickte.

„War Martin nicht für deinen Bereich zuständig?“

Emil nickte erneut.

„Dann richte ihm bitte aus, dass er endlich das Buch zurück bringen soll, dass er sich vor sechs Wochen ausgeliehen hat.“

„Was für ein Buch?“, fragte Emil erstaunt, während sich eine Erinnerung in ihm regte und er Cornelius Antwort überhaupt nicht hören musste.

„Ein Lexikon für moderne magische Geschichte, 14. Auflage, Druckjahr 2004“, ratterte Cornelius die Daten runter.

Es war das Buch, dass Martin Emil in der Schulbibliothek gezeigt hatte, um ihn auf die Idee mit den Sehern zu bringen. Er musste es dorthin geschafft haben, um keinen Verdacht zu erregen. Eine clevere Idee. Und Emil war natürlich darauf herein gefallen.

„Wieso kannst du das einfach so auswendig?“

„Ich lerne viel für mein Studium, wenn ich hier arbeite. Da bleiben automatisch auch die Buchtitel hängen.“

„Was studierst du denn?“

„Geschichte, normale und magische.“

„Gefällt's dir?“

„Ja, es ist total interessant. Und das ist eigentlich der perfekte Nebenjob dafür.“

„Stimmt.“

Lilian kam vom Kopierer zurück und hielt Cornelius ein Buch vor die Nase. Auf dem dunkelgrünen Band konnte Emil Runen erkennen. „Ich blicke da überhaupt nicht durch. Kannst du das Buch kurz anlesen und mir sagen, ob es relevante Stellen beinhaltet?“

„Bezüglich was?“, fragte Cornelius. „Es geht in dem ganzen Buch nur um Namensmagie.“

„Ob man einen einmal geschlossener Bund mit Namensmagie wieder lösen kann...“, murmelte Lilian, sodass man sie kaum verstehen konnte. Ihr Blick wanderte unsicher zur Seite.

„Das könnte etwas länger dauern.“ Cornelius warf ihr einen nichtssagenden Blick zu, während er ihr das Buch aus der Hand nahm. „Am besten ihr wartet kurz und schaut euch die Bücher an. Kaffee?“

„Nein, danke“, antworteten Lilian und Emil, wie aus einem Mund.

„In Ordnung.“

Ernste Angelegenheiten

Die letzte halbe Stunde hatten Emil und Lilian damit herumgebracht in neuerer Literatur herumzublättern und sich Bilder anzusehen, weil sie beide zu faul waren den Text dazu zu lesen. Die Artikel thematisierten meist Strukturen, Regelen, allgemeine Magie, sowie magische Gegenstände und Vorgehensweisen, aber die Bilder reichten Emil vorerst auch erstmal. Zum einen oder anderen Bild erklärt Lilian ihm etwas mehr, wenn sie es selbst wusste, und meinte, dass es Emil interessieren würde. So erzählte sie Emil zum Beispiel, dass jeder Seher eine bestimmte Gruppe an magischen Wesen überwachen muss und sich mit Hilfe von magischen Amuletten auf bestimmte Personen spezialisieren konnte. Ohnehin gab es unglaublich viele magische Utensilien, von denen sie selbst nicht einmal ein Drittel kannte.

Sie waren gerade bei einem Artikel über Kerzenrituale, als Cornelius sich ihrem Tisch näherte. Lilian richtete sich auf und sah das blonde Mädchen erwartungsvoll an:

„Und? Hast du was gefunden?“

„Kommst du kurz mit rüber?“ Cornelius nickte zu den hinteren Reihen hinüber. Während sie gewartet hatten, hatte es zweimal an der Tür geklopft und nun geisterten drei weitere Personen in den Reihen herum. Sie waren nicht mehr allein.

Die Geheimniskrämerei hinterließ ein unangenehmes Gefühl bei Lilian, doch als sie Emil einen Blick zuwarf versicherte er ihr lächelnd: „Ich kann warten.“

Das bestärkte sie und sie folgte Cornelius zurück zu seinem Pult.

Darauf lagen nur noch seine Lernutensilien, das Buch hatte er bereits verschwinden lassen.

„Also, ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für dich“, begann Cornelius mit ruhiger Stimme.

„Jetzt rück endlich mit der Sprache raus“, entfuhr es Lilian vielleicht etwas zu laut, sodass Cornelius ihr einen erschrockenen Blick zu warf.

Lilian atmete tief durch und fuhr mit gesenkter Stimme fort: „Bitte die Gute zuerst.“

Cornelius lächelte. „Es ist einfach den Bund zu lösen. Da du ihn initiiert hast, kannst du ihn auch jeder Zeit wieder aufheben. Das ist überhaupt kein Problem.“

„Aber...?“

„Es wird dich sehr viel Kraft kosten; und mit sehr viel meine ich wirklich viel. Praktisch deine ganze angesammelte Lebensenergie.“ Lilian hatte das Gefühl, dass in seinen Augen der gleiche Ausdruck lag, wie in Sonias vor einigen Tagen.

„Das heißt ich wäre in diesem Moment extrem verwundbar...“, sprach Lilian langsam ihren Gedanken aus. Sie hatte schlimmeres erwartet. „Aber wenn ich Marie loswerden will...“

„Ich wusste, dass du das sagen würdest. Aber das kannst du dir einfach nicht leisten!“

„Warum?“

„Du hast dich in zu viele Angelegenheiten eingemischt, die dich nichts angingen.“

„Es war jedes Mal richtig sich einzumischen!“ Lilian hatte überhaupt nicht gemerkt, dass ihre Stimme wieder zu laut geworden war. Erst als sie Cornelius' Blick auffing, verstummte sie augenblicklich. „Ich werde einen Weg finden“, fügte sie flüsternd hinzu.

„Und dann hast du auch noch ihn.“ Cornelius nickte nach rechts und Lilian folgte seinem Blick. In der Richtung saß Emil immer noch am Tisch saß und starrte Löcher in die Gegend; vielleicht war er einfach nur gelangweilt war oder viel zu fasziniert.

„Er ist genauso sterblich wie ich“, fuhr Cornelius leise fort. „Dazu noch ohne magische Fähigkeiten. Du lieferst ihn ans Messer, wenn du schwächelst. Wir sind sterblicher als du es jemals sein wirst. Wenn du dich einmischt, kommst du heil davon, weil du auf deine Kräfte vertraust. Aber die hast du dann nicht mehr.“

„Das weiß ich selbst.“ Lilian merkte wie ihr ein Seufzer entfuhr. Emil hatte es nicht verdient da mit herein gezogen zu werden, aber genau das tat sie gerade. Sie hätte vielleicht doch auf Martin hören sollen. „Ich muss diesen blöden Bund aufrecht erhalten. Gerade jetzt...“

„Er könnte dir das Leben retten.“

„Verdammt!“, brach es schließlich aus Lilian heraus. „Warum ist das nur so kompliziert?“ Diesmal hatte sie beinahe geschrieben, sodass sogar Emil zu den beiden hinüber sah.

Lilian zuckte sofort zusammen und sah zu Cornelius hinüber der ihr zum Glück diesmal keinen bösen Blick zu warf. Das beruhigte sie.

„Danke für Übersetzen“, flüsterte Lilian. „Ich werde deinen Rat berücksichtigen.“ Sie versuchte zu lächeln, doch sie glaubte Cornelius würde merken, dass es nicht echt war. „Gibst du mir jetzt die Übersetzung?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

Cornelius lachte auf. „Ich weiß, was du tust, wenn ich sie dir gebe.“

Wie Recht er doch hatte. Sie würde es trotzdem versuchen den Bund zu lösen, im Zweifel wäre es ihr egal, was mit ihr dabei passierte.

„Kann ich sonst irgendetwas für dich tun?“, unterbrach Cornelius ihre Gedanken. Sie musste es aufgeben. Heute würde sie nichts aus ihm heraus bekommen.

Lilian schüttelte den Kopf. „Sonia bitte nichts davon erzählen. Auf keinen Fall!“

„Kein Problem. Wer bist du?“

Das lies Lilian diesmal wirklich lachen. „Danke nochmal und viel Erfolg beim Lernen.“

„Bitte und mach keine Dummheiten.“

„Wie dich zu retten?“, feixte Lilian.

„Wie mich zu retten.“
 

Als Lilian zurück kam erwartete sie Emil bereits erwartungsvoll: „Was hat er gesagt?“

„Dass es möglich ist... sogar recht einfach, aber das ich es nicht machen soll.“

„Warum nicht?“

Lilian lächelte. Die Reaktion von Emil hatte sie erwartet. „Weil es recht gefährlich für mich sein könnte und ich damit deinen Schutz aufs Spiel setze.“

„Du kannst aber doch nicht dein Leben nach mir richten.“

„Ist schon in Ordnung. Außerdem fühlt es sich schon ziemlich gut an, unbesiegbar zu sein.“ Sie setzte sich auf einen Stuhl und streckte sich.

„Ich weiß gar nicht warum du das überhaupt loswerden willst?“

„Weil Marie alles über mich weiß. Sie weiß theoretisch auch, dass wir gerade hier sind.“

„Meinst du sie wird das weitererzählen?“ Emil sah sie besorgt an.

Lilian schüttelte lächelnd den Kopf. Emil lernte doch schneller, als sie dachte. „Ihre magischen Fähigkeiten sind nicht stark genug, um genau lokalisieren zu können. Sie könnte es ahnen, aber nicht beweisen. Aber sie weiß dass wir momentan zusammen sind und dass ich vielleicht etwas im Schilde führe.“

Erst jetzt fiel ihr auf, wo sie beide saßen und schlagartig stand sie auf. „Wir sollten uns hier nicht länger als nötig aufhalten.“ Sie versuchte ihren plötzlichen Sinneswandel mit einem Lächeln bei Emil wieder gut zu machen. „Gehen wir lieber zu mir.“

Er nickte und stand ebenfalls auf. Zunächst konnte er seinen Blick nicht von der Einrichtung lösen, doch schl<ießlich schaffte er es. Im Hinausgehen nahm Emil ihre Hand und Lilian umschloss diese irritiert. Es erstaunte sie, dass er es von sich aus tat und noch erstaunlicher war es, dass sie wirklich zu ihr gingen. Sie hoffte, dass es nicht schwierig werden würde Emils Anwesenheit zu erklären. Bis jetzt hatte sie bei ihren Eltern nur angedeutete, dass sie jetzt einen Freund hatte. Was Emil wohl zu ihrem Zimmer sagen würde?

„Du musst sagen, dass du mein Zimmer schön findest!“, sagte Lilian lächelnd.

„Dein Zimmer ist schön“, antwortete ihr Emil prompt.

„Nicht jetzt! Gleich, wenn du's siehst.“

„Warum sagst du das nicht?“, fragte Emil irritiert und lachte.

„Das ist doch klar!“ Lilian knuffte Emil in die Seite. „Dann sagst du es gleich eben nochmal.“

Was Emil dann auch brav tat, als sie bei ihr waren.
 

Am nächsten Morgen wachte Emil quer liegend im Bett auf, mit Lilian, die es sich auf seiner Brust bequem gemacht hatte und gerade den Angriff startete ihn wie ein Kraken auch mit Händen und Füßen in ihren Griff zu nehmen. Ihr Körper war warm und ihr Atem ruhig.

Es war in diesem Moment überhaupt nicht vorstellbar, dass dieses Mädchen ein gefährlicher Dämon war.

Emil versuchte sich vorsichtig aus ihren Griff zu lösen, was ihm aber nicht gelang, weil sie ihn nur noch fester umwickelt hielt. Und so beschloss er einfach liegen zu bleiben. Vorsichtig schaffte er es zumindest einen Arm freizubekommen.

Lilians Haar war weich und lag ausnahmsweise nicht in seinem Gesicht herum, was er sehr zu schätzen wusste. Sie war ihm so nah, doch wenn er daran dachte, dass sie jemand ganz anderes war, als er, schien sie ihm gleichzeitig wieder so fremd. Er sagte zwar immer, dass es ihm nichts ausmachte, doch nichts zu wissen und nichts zu können, fühlte sich doch irgendwie falsch an. Das hatte der letzte Abend ihm bewiesen.

Er lag noch eine knappe halbe Stunde in Gedanken da, als Lilian wach wurde und begann ihn auf andere Art anzugreifen. Diesmal mit mehr Liebe.

Eine weitere halbe Stunde später saßen sie beim Frühstück. Lilians Eltern waren bereits bei der Arbeit. Emil hatte ihre Eltern nur kurz kennen lernen können, da er und Lilian gestern erst so spät hierher gekommen waren. Sie schienen sehr nett zu sein und gleichzeitig überrascht, dass ihre Tochter einen Jungen mit nach Hause brachte. Wobei hier das merkwürdige beim Jungen lag, nicht bei dem nach Hause.

Lilian hatte ihn dann heute morgen gefragt, ob er Pfannkuchen mag. Emils Augen hatten daraufhin angefangen zu leuchten. „Pfannkuchen? Mit Sirup und Zimt und Zucker?“

„Zum Beispiel“ Lilian hatte gegrinst und hatte ihn dann an der Hand mit in die Küche genommen. Jetzt stand sie am Herd und wendete fachmännisch die Pfannkuchen.

„Welchen Tag haben wir heute eigentlich?“, fragte Emil noch schlaftrunken. Auch wenn er schon so lange 'wach' war konnte er noch nicht besonders klar denken.

„Samstag. Gestern war Freitag. Du hattest Schule. Vielleicht versuchst du es zu verdrängen, aber gestern hattet ihr Lichtspektren in Physik.“

Das hatte Emil wirklich verdrängt. „Kannst du eigentlich Physik?“

„Schon. Ich hab's schließlich im Abi“, antwortete Lilian als wäre es das selbstverständlichste der Welt.

„Physik?“, fragte Emil nach, als hätte er sie nicht deutlich verstanden.

„Ja, findest du das komisch für ein Mädchen? Ich bin die einzige in meinem Kurs.“

Schnell schüttelte Emil den Kopf. „Nicht für ein Mädchen. Nur, dass ich das generell nicht nachvollziehen kann, wie man Physik freiwillig schreiben kann.“

„Sagtest du nicht mal, du hast Physik auch schriftlich?“

„Unfreiwillig...“, murmelte Emil. „Hab den Zettel zu spät abgeben...“

Lilian lachte auf und legte den Pfannenwender zur Seite. Sie kam zu ihm hinüber und küsste ihn auf die Wange. „Du bist süß.“

Emil verstand zwar nicht, was daran süß war, nahm aber hin, dass es ein Kompliment gewesen sein sollte.

„Ich weiß nicht“, sprach Lilian weiter, als sie wieder beim Herd war. „Aber mir macht Physik unglaublich viel Spaß. Ich überlege sogar es zu studieren.“

„Wenn dir das Spaß macht, solltest du das machen.“

„Aber Chemie macht genauso viel Spaß.“

Emil brummte darauf nur.

„Was möchtest du denn mal studieren?“ Lilian war gerade fertig geworden und kam mit dem Teller voller Pfannkuchen zurück zum Tisch.

„Weiß nicht. Vielleicht Medizin, oder Chemie.“

„Na du hast ja auch noch ein Jahr Zeit dich zu entscheiden. Ich sollte mir langsam mal Gedanken machen.“

„Willst du für dein Studium wegziehen?“, fragte Emil. Er hatte sich vorher darüber noch überhaupt keine Gedanken gemacht, doch es war nur logisch, dass Lilian wenn sie studierte nicht hier blieb.

„Wahrscheinlich. Vielleicht. Ach, ich habe keine Ahnung.“ Sie stapfte zum Schrank und holte Sirup, Honig und Zucker heraus.

Sie musste auf dem Rückweg Emils Blick aufgefangen haben, denn sie fügte lächelnd hinzu: „Keine Sorge, ich werde trotzdem dafür Sorgen, dass dir nichts passiert.“

„Der Angriff letztens galt mir, oder?“

Lilian hielt in ihrer Bewegung inne.

„Wenn meine Quelle so wichtig ist, wäre es doch sinnvoll mich lebend zu bekommen. Und nicht mich zu töten? Warum also der Angriff?“ Emil sah zu ihr auf. Die Frage hatte schon den ganzen Morgen in seinem Kopf gebrannt und es tat gut sie auszusprechen.

„Ich weiß es nicht.“ Auch Lilians Miene wurde nun ernst. „Ich kann es mir genauso wenig erklären wie du. Aber hast du keine Angst?“

Emil schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin scheinbar von den ganzen Fantasybüchern zu sehr abgehärtet.“

„Wieso? Haben die dich auch angegriffen?“, scherzte Lilian mit einem Lächeln auf den Lippen, das die ernste Stimmung sofort vertrieb. Emil erwiderte es.

„Ja, mit ihren scharfen Zähnen und einmal hat mich eins versucht mit dem Lesezeichen zu erwürgen.“

„Die Stadt der träumenden Bücher.“

„Wie bitte?“

„Das Buch, das du gerade zitiert hast.“ Lilian grinste stolz, dass sie es erkannt hatte.

„Stimmt. Hast du es gelesen?“

„Dreimal sogar.“

Auf einmal sprudelten alle Bücher aus Emils Mund, die er mochte und erstaunlicher Weise kannte Lilian die meisten davon.

So verbrachten sie das Frühstück damit über Bücher zu reden anstatt über die doch sehr betrübenden Tatsache, dass jemand versuchte Emil umzubringen. Es war für einen Moment vollkommen vergessen.

Die Welt der Geschichten war Emil deutlich sympathischer als die reale, obwohl beide Welten gerade dabei waren zu verwischen, sodass er Traum und Wirklichkeit noch unterscheiden konnte. Aber das wichtigste war, dass Lilian bei ihm war. Dieses hübsche Mädchen, in derer Augen eine unvorstellbare Kraft lag.

Irgendwas zwischen Action und Romanze

Der Bus hatte mal wieder Verspätung. Auch wenn Emil mit Lilian gestern Abend das Stück zu ihr quer durch die Stadt gelaufen war, hatte er nach dem Frühstück doch beschlossen aus Bequemlichkeit und da es in Strömen regnete, den Bus zu nehmen. Einziges Problem war nur, dass dieser nicht kam.

So standen er und Lilian eng aneinander geschmiegt, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, an der Bushaltestelle und warteten. Lilian hatte die Arme samt ihrer kalten Hände unter seine Jacke geschoben und umarmte ihn fröstelnd. Ihr Körper war warm und sie hatte den Kopf auf seine Schulter gelegt. Kälte schien auch vor Dämonen nicht halt zu machen. Sie jammerte nicht, aber Emil spürte wie sie zitterte. Sie hatte wohl auch damit gerechnet, dass der Bus früher kommen würde.

In solchen Situationen vergaß er manchmal, dass sie eine Succubus war. Doch daran sollte er noch früh genug erinnert werden.

Als Emil Motorgeräusche hörte, sah er auf. Doch zu seiner Enttäuschung war es nur ein quietschgrüner Corsa, der die Straße entlang heizte. Er wollte schon den Blick abwenden, als der Wagen plötzlich eine Vollbremsung machte und vor ihnen zum stehen kam.

Während Lilian sich verwirrt umblickte und Emil sich nocht fragte, woher er den Wagen kannte, wurde die Fahrertür aufgestoßen und Martin kletterte hastig heraus.

„Hallo, Emil. Ich glaube, was gleich passiert wird dir nicht gefallen“, war alles, was er sagte, bevor er um das Auto herum eilte.

Lilian starrte ihn unverständlich an: „Was tust du da? Gepäck einladen?“

„Nein. Wir laufen!“

„Was?“

Das war auch das, was Emil in diesem Moment dachte. Warum war Martin dann mit dem Auto hier? Warum war er überhaupt hier?

„Keine Zeit für Erklärungen!“ Martin hatte Emil bereits am Arm gepackt und versuchte ihn mit sich zu ziehen.

„Warte!“ Emil riss sich von ihm los. „Erst will ich wissen, was hier los ist!“

Martin wollte gerade etwas erwidern, als er von einem Knall auf der gegenüberliegenden Straßenseite unterbrochen wurde. Emil spürte die Druckwelle noch bis zu ihnen hinüber. Glas splitterte.

Alle drei wandten sich um und erstarrten augenblicklich. Das Schaufenster der gegenüberliegenden Metzgerei war geborsten und daraus übergab sich eine rosarote, pampige Masse auf die nasse Straße.

Emil wollte weglaufen, doch er war einfach zu fasziniert von dem, was er gerade sah, noch wollten ihm seine Beine gehorchten. Er stand einfach nur da und beobachtete wie die Masse Form annahm.

Aus dem Brei wuchsen Arme, vier Stück an der Zahl und Beine dick wie Baumstämme. Es war ein riesiges Monstrum aus totem Fleisch. Innerhalb von Sekunden hatte es Haushöhe erreicht.

„Das sieht nicht gut aus“, hörte Emil Lilian dicht an einem Ohr mehr zu sich, als zu ihm sagen.

Noch im selben Moment setzte sich der Koloss in Bewegung und das Bein landete direkt gezielt auf dem kleinen Corsa und zerquetschte ihn unter sich. Das große Ding war unglaublich wendig für seine Größe.

„Ich hab es euch gesagt“, rief Martin. „Wir müssen hier weg!“

„Dann tut das jetzt.“ Lilans Stimme war ruhig. „Ich kümmere mich drum.“

Emil sah ihr in die Augen. Er sah die Entschlossenheit darin. Ihr war es egal sich in den Kampf zu werfen, denn sie konnte nicht sterben. Der Bund mit Marie machte sie unverwundbar.

Bevor Emil sich versah, hatte sie ihn geküsst. Ihre Lippen waren feucht und schmeckten nach Regen.

„Jetzt haut schon ab!“

Sie schubste ihn leicht in Martins Richtung, bevor sie sich umwandte und lossprintete. Der Koloss kümmerte sich wenig um Lilian, sondern steuerte weiter auf Emil und Martin zu.

Das war der Punkt an dem Emil wusste, dass er laufen musste. Er und Martin beschlossen das beinahe im selben Moment. Auch wenn Martin das sicher vorher gewusst hatte.

Beide stürmten los. Auch wenn Emil nicht wusste wohin er rannte, folgte er einfach seinem Instinkt. Hinter sich hörte er wie das Fleisch des Monstrums auf dem Asphalt bei jedem Schritt klatschend aufschlug.

Sie hatten es dem verregneten Sonntag zu verdanken, dass ihnen weder auf der Straße jemand entgegen kam, noch irgend eine Menschenseele auf der Straße zu erblicken war. Zwar hatte sicher eine aufmerksame Rentnerin bereits die Polizei wegen des Einbruchs in der Metzgerei angerufen, doch ihren Augen wollte sie dennnoch nicht trauen, würden sie die anderen doch für verrückt halten.

Die Straßen waren wie ausgestorben. Beinahe zu ausgestorben. Emil wollte überhaupt nicht wissen, was passierte, wenn das Ding sie einholen würde. Und so rannte er, auch wenn seine Lungen nach kürzester Zeit brannten und seine Beine schwer wurden. Diese Anstrengung war er einfach nicht gewohnt.

Ein Auto musste stark bremsen, als sie ohne zu gucken über die Straße sprinteten. Emil hörte noch eine Hupe und dann setzte der Fahrer lieber schnell den Rückwärtsgang ein, als er den Koloss aus Fleisch vorbei laufen sah.

Emil nahm die Geräusche um sich herum nur noch spärlich whar. Er hörte nur noch seinen eigenen, schweren Atem. Die Stille verunsicherte ihn. Im Rennen wagte er einen Blick zurück.

Er erkannte Lilian, die es auf die Schultern des Monstrums geschafft hatte und verzweifelt auf ihn einschlug, ohne dass er ihre Schläge überhaupt bemerkte.

Schnell sah Emil wieder nach vorne und gerade noch rechtzeitig. Beinahe wäre er gegen eine Straßenlaterne gelaufen, hätte Martin ihn nicht zur Seite gezogen.

„Wie soll das weitergehen?“, keuchte Emil. Er konnte langsam nicht mehr und er wollte auch nicht weiter rennen.

„Sie sollte es fast geschafft haben!“, rief Martin zurück. An seiner Stimme merkte Emil, dass es ihm weniger ausmachte in dem Tempo zu rennen.

Bei jedem Schritt ermahnte Emil sich weiter zu laufen. Seine Beine wurden weich und seine Füße stolperten bei jedem Schritt beinahe. Er würde das nicht mehr lange durchhalten.

Noch einmal wandte er den Blick ab. Lilians Schläge wurden schwächer. Oder Emil bildete sich das ein, weil alles um ihn herum langsamer zu laufen schien. Doch dann holte Lilian aus und ihre Hand fuhr durch das Fleisch in den Kopf des Riesen.

Zunächst passierte nichts. Emil hatte überhaupt nicht bemerkt, wie er stehen geblieben war und die Szene starr beobachtete.

Es passierte wirklich nichts, bis auf das die Aufmerksamkeit den Riesen mit einem Mal nicht mehr Emil und Martin galt, sondern Lilian, die immer noch auf seiner Schulter stand. Ihr Oberkörper war eingesunken. Sie war genauso erschöpft wie Emil selbst.

Das Monstrum schwang seine Arme unkontrolliert um sich herum. Dem ersten konnte Lilian noch ausweichen der zweite traf sie frontal und schleuderte sie vier Meter weit in die Tiefe.

Ein dumpfer Schlag folgte, als Lilian auf dem Boden aufschlug. Dann trat das Monstrum nach. Noch bevor Emil überhaupt etwas tun konnte, verschwand Lilians Körper unter einem Berg aus Fleisch.

Emil starrte auf die Stelle wo sie gerade noch gelegen hatte. Das konnte Lilian nicht getötet haben. Zumindest hoffte Emil das inständig. Der Koloss nahm das Bein weg.

Einige schmerzliche Sekunden beobachtete Emil Lilian, wie sie still auf dem nassen Asphalt lag und sich nicht mehr bewegte. Keiner wagte etwas zu tun, selbst das Monstrum wartete einen Moment. Dann beschloss es schlussendlich, dass das nervige Ding von seiner Schulter doch schlussendlich tot war und er sich wieder Emil und Martin zuwenden konnte, als Lilian sich wieder rührte. Sie rappelte sich auf, rannte dem Monstrum hinterher und schlug mit den Fäusten auf das Bein des Kolosses ein. Ihr Arm durchdrang das Fleisch, doch das störte den Riesen wenig. Er schleuderte Lilian zurück und ließ sich nicht darin beirren, weiter auf Emil und Martin zuzukommen.

Auch wenn Lilian eine Succubus war, wusste Emil nicht, wie lange sie das noch aushalten würde. Lilan mochte Regenerationskräfte haben, doch das schien zu groß für sie zu sein. Er musste ihr helfen, egal wie. Er sah sie nicht mehr.

Noch bevor Emil selbst bemerkte, dass er losrennen wollte hielt Martin ihn mit beiden Händen zurück.

Eine Sekunde später wusste Emil warum. Mit einem Schrei von Lilian trennte sich der untere Teil des Beins des Riesen vom Rest der Masse. Er geriet ins Wanken und noch in der Bewegung fiel er vorn über und landete mit einem lauten Platschen keinen Meter vor Emil und bliebt regeungslos liegen.

Erst dachte Emil, es wäre vorbei, doch dann zog Martin ihn um den Riesen herum zu Lilian.

Schon von weitem bemerkte Emil, das etwas nicht stimmte. Lilian lag keuchend neben dem abgetrennten Bein auf dem Boden. Sie rührte sie sich nicht, auch nicht, als sich Emil über sie beugte. Ihr Blick war leer. Das einzige Lebenszeichen war ihre Brust, die sich schwer hob und senkte.

„Was ist mit ihr?“ Emil merkte wie seine Stimme sich überschlug. So hatte er sie noch nicht gesehen. Sie konnte nicht doch nicht wirklich sterben. Marie war die Einzige, die sie töten konnte.

Doch anstelle einer Antwort bekam Emil nur einen Blick von Martin, dessen Bedrücktheit ihm Angst machte: „Es gibt nur einen Weg. Emil, versprich mir, dass du mich nicht dafür hassen wirst.“

Emil verstand nicht. „Wofür sollte ich dich denn hassen?“

Ein schleifendes Geräusch war von hinten zu hören. Das Monstrum begann gerade damit sich wieder aufzurichten. Anstatt auf Emils Frage einzugehen, schob Martin seinen Arm unter Lilian, hob ihren Oberkörper hoch, beugte sich über sie und küsste sie.

Hitze stieg in Emil auf. Er wusste nicht ob aus Scharm oder aus Eifersucht, doch als Lilians Brust sich hob, als würde sie etwas tief in sich einsaugen, begriff Emil. Sie saugte Martins Lebenskraft aus.

Doch so wie Lilian an Kraft gewann, so verlor Martin seine. Wenn Emil nichts unternahm würde sie ihn vollständig aussaugen. Zu allem Übel regte sich das Monstrum auch noch wieder.

Dann beendete Martin den Kuss und sah zu Emil hinüber. Die Situation war mehr als merkwürdig. Vor ihm sein bester Freund, der seine Freundin in den Armen hielt und dahinter die Masse aus Fleisch, die sich im strömenden Regen langsam erhob.

Mit einem Mal riss Lilian erschrocken die Augen auf und zog Luft in großen Zügen ein. Hastig schob sie Martin zur Seite und richtete sich auf. Der Koloss hatte sich zu seiner vollen Größe erhoben. Etwas schief stand er da, weil das kaputte Bein sich nicht vollständig wieder zusammen gesetzt hatte, doch er stand, allerdings nicht für lange.

Lilian preschte vor, sprang ab und ihre Finger gruben sich blitzschnell in das Fleisch. Der erste Brocken fiel, weitere folgten im Sekundentakt. Lilian nahm den ganzen Koloss innerhalb kürzester Zeit einzeln auseinander, bevor dieser überhaupt eine Chance gehabt hätte, irgendetwas zu tun.

Als Lilian schließlich die letzte Verbindung der Gliedmaßen voneinander getrennt hatte, fiel die Masse aus Fleisch einfach in sich zusammen.

Lilian sprang geschickt ab und landete auf dem Boden, während Fleisch neben ihr in Stücken herabfiel. Der ehemalige Kopf schlug neben ihr auf und sie bohrte ihre Hand hinein. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt doch sie ruckelte und zog an etwas im Inneren. Dann zischte es und der letzte Anschein eines Körpers verschwand. Zurück blieb eine Straße voller Fleischreste, die aussahen als wäre hier ein Laster umgekippt.

Lilian wandte den Kopf und sah zu Emil. Er erkannte, dass sie grinste und erwiderte es. Freude und Erleichterung machten sich jetzt auch in ihm breit.

Dann wandte Emil den Kopf, um nach Martin zu sehen, doch dieser rannte gerade überstürtzt in eine Nebenstraße.

„Wohin willst du?“, rief Emil.

„Ihn finden!“, rief Martin zurück und verschwand hinter der Ecke.

Emil sah fragend zu Lilian hinüber die zu ihm durch die Reste hinüber watete. Kaum bei ihm angekommen, hatte Lilian schon die Arme um ihn gelegt und drückte ihn an sich.

„Vielleicht meint er den Nekromanten, der dafür verantwortlich ist“, antwortete sie ihm mit ruhiger Stimme, wollte ihn aber auf keinen Fall dafür loslassen.

„Das war der Nekromant?“, hörte Emil sich sagen und wusste direkt, wie blöd die Frage war.

„Totes Fleisch durch Magie zu einem monströsen Monster zusammengesetzt. Ja, das klingt schon ziemlich nach Nekromant.“ Lilians Antwort klang sarkastisch, doch als ihre Hände über seinen Rücken strichen, hatte Emil schon wieder vergessen, dass sie ihn damit neckte. Er spürte ihre Lippen an seinem Hals, dann hörte er sie flüstern:

„Ich hatte Angst. Angst für immer von dir getrennt zu werden.“ Sie schwieg für einen Moment. „Angst zu sterben.“

„Ich dachte, du könntest nicht sterben.“

„Das dachte ich auch. Aber meine Kräfte waren fast verbraucht. Scheinbar kann ich trotz des Bundes immer noch an Erschöpfung sterben. Ich habe wirklich keine Ahnung, was mit mir los ist. Ich fühle mich einfach so kaputt in letzter Zeit.“

„Seit du mit mir zusammen bist, oder?“, fragte Emil ohne sich vorher dessen bewusst zu sein. Sie war oft müde gewesen. Besonders wenn sie länger mit ihm Zeit verbracht hatte. Seine Anwesenheit schwächte sie.

Lilian antwortete nicht und küsste schnell seine Lippen, doch Emil merkte, dass sie ablenkte und schob sie sanft von sich weg.

„Ich habe Recht?“ Er sah sie eindringlich an.

Lilian suchte nach Worten. „Möglicherweise“, fing sie langsam an. „Vielleicht bist du der Grund. Früher hielten meine Reserven mehrere Monate.“

„Woher nimmst du denn sonst deine Reserven?“, fragte Emil und merkte wie sich ihre Finger in seine Jacke krallten.

„Unterschiedlich. Immer wenn ich einen Spender hatte oder eine Erlaubnis jemand fremdem seine Kraft zu stehlen. Das ist unangenehm, aber war selten nötig. Ich bin oft genug in Schwierigkeiten geraten um meinen Vorrat aufzufüllen. Aber jetzt...?“ Sie sah ungläubig zu ihm hoch, dann stockte sie. „Ich habe eine Vermutung.“

Ihre Lippen berührten erneut seine, doch dieses mal wehrte er sich nicht. Ihre Zunge war schneller in seinem Mund, als dass er nein sagen konnte. Sie küsste ihn sanft und berührte vorsichtig mit ihren kalten Fingern seinen kalten Hals. Ihr Atem war warm, beinahe heiß und ihre Lippen schmeckten immer noch nach Regen. Die gleichen Lippen die Martin eben noch geküsst hatte. Emil wich ein Stückchen zurück und beendete damit ihren Kuss. Lilian merkte das überhaupt nicht, sie war zu sehr in Gedanken verloren, als Emil plötzlich Martins Stimme hinter sich hörte:

„Also schön war das nicht. Und ja, Lilian hat Recht.“

Martin gesellte sich zu den beiden, als wäre nichts gewesen.

„Und?“, fragte Emil. Trotz des Regens bemerkte er, dass Martin geschwitzt hatte.

Doch Martin schüttelte den Kopf. „Er ist mir leider entwischt. Dabei wusste ich genau, wo er sich aufhält. Ich war so nah dran! Tut mir Leid.“

„So ein Mist.“ Emil seufzte. „Das heißt, der Nekromant läuft immer noch frei herum und versucht mich umzubringen?“

„Sollte er es noch einmal versuchen, werde ich früher hier sein.“

Dann unterbrach Lilian Martin: „Was meintest du gerade? Womit habe ich Recht?“

„Dass Emil dich indirekt aussaugt.“ Martin sah erst zu Lilian dann zu Emil, der ihn total perplex ansah. Da er auf Unverständnis stieß, fuhr er fort: „Deine Kräfte versuchen das Siegel, das Emils Quelle schützt, zu brechen. Dadurch verlierst du in letzter Zeit so viel Kraft. Gleichzeitig scheint das Siegel aber auch der Belastung nicht wirklich stand zu halten. Ich sage das ausnahmsweise nicht, weil ich dich nicht mag, sondern weil es die Wahrheit ist und ich keinen von euch beiden tot sehen möchte. Sollte das Siegel brechen, würdest du Emil innerhalb von Minuten töten. Bis dahin sollten wir uns etwas anderes überlegen. Besonders wegen deines Kraftproblems.“

Alle drei schwiegen, bis Martin einfiel: „Brauchst du eigentlich noch welche?“

„Nein ich denke nicht. Das gerade hat mir gereicht“, antworte Lilian mit düsterer Miene.

„Sehr gut. Mir auch.“ Im Gegensatz zu Lilian grinste Martin. „Wir finden sicher eine Lösung“, fügte er mit dem Blick auf Emil hinzu. „Bis dahin... darf ich dich mit nach Hause nehmen?“

„Warum?“

„Ich brauche jemand, der bezeugen kann, dass ich nichts damit zu tun habe, dass der Corsa meiner Schwester aussieht, wie in eine Presse geraten.“

„Aber du hast doch...“, warf Emil ein.

„Das muss sie ja nicht wissen.“

„Grüß Isabel“, bemerkte Lilian. „Sag ihr, dass ich mich wirklich gerne mit ihr treffen würde, wenn sie das will.“

„Sag es ihr selbst.“ Aus Martins Stimme war nicht zu erkennen, wie er das meinte, doch Lilian nickte nur.

Emil besah sich das Chaos um sie herum. „Wer räumt das jetzt eigentlich weg?“

Doch weder Lilian noch Martin gingen auf seine Frage ein. Lilian küsste Emil nur auf die Wange und umarmte ihn. „Komm gut nach Hause. Ich ruf dich heute Abend an.“

Dann löste sie sich von ihm und lächelte, bevor sie sich zum gehen wandte.

Emil sah ihr nach und musste erst einmal verarbeiten, was er gesehen hatte. Die Lilian die den Riesen erlegt hatte schien überhaupt nicht zu der Lilian zu passen, die gerade noch vor ihm gestanden hatte. Sie war eine Succubus, aber gleichzeitig auch ein ganz normales Mädchen. In diesem Moment wünschte Emil sich, dass sie nur zweiteres wäre und sein Leben dadurch weniger kompliziert.
 

„So kann das nicht funktionieren.“ Die Stimme kam aus dem Dunkeln. Ich wirbelte herum, doch ich konnte in der Schwärze nichts erkennen. Sich in der Dunkelheit zu verstecken, war nicht ungewöhnlich für dunkle Wesen. „Solange der Seher ein Auge auf den Jungen hat, wirst du es nicht schaffen ihm nur ein Haar zu krümmen. Du könntest eine ganze Armee von Untoten beschwören und du würdest versagen.“

Ich schluckte. Er versuchte mich zu provozieren. Woher wusste er, dass ich hier war?

„Du hast dich verausgabt. Mit welchem Resultat? Du solltest aufhören ihn zu hassen und anfangen ihn zu lieben. Das würde ihn schneller umbringen.“

Am liebsten hätte ich etwas erwidert, doch ich wusste nicht was. Meine Lippen waren trocken und meine Zunge lahm. Ich fühlte mich auf frischer Tat ertappt. Doch er kam nicht, um mich aufzuhalten. Das spürte ich.

„Ich bin hier um dir einen Tipp zu geben. Wenn du den Jungen nicht bekommen kannst. Nimm das Mädchen.“

„Sie will ich aber nicht!“, erwiderte ich eiskalt. Was bildet er sich ein, sich in meine Angelegenheiten einzumischen? Wut stieg in mir auf.

„Du musst sie nicht töten. Entführe sie und er wird dir wie eine Maus in die Falle gehen.“

Mein Herz raste. Ich wusste nicht, ob ich demjenigen der in den Schatten zu mir kam, vertrauen konnte. Doch sein Vorschlag klang plausibel. Ich hatte mich mit der Magie übernommen und einen weiteren Schlag würde der Seher mit Leichtigkeit abblocken können. Ich war ihm nur um ein Haar entkommen und das war nichts als Glück gewesen. Er war mein wirklicher Gegner. Ich konnte mich seinem Fokus nur entziehen, indem ich mein Ziel änderte. Das missfiel mir, aber es klang so verlockend.

„Ich habe dich beobachtete“, sagte die Stimme aus dem Dunkeln. „Du bist naiv, aber du bist nicht dumm. Ich denke, dass wir gut zusammenarbeiten werden. Ich bin mir sicher: Du wirst deine Rache erhalten.“

Ich lächelte. Langsam wollte ich der Stimme aus den Schatten glauben. Der Plan war viel besser durchdacht, als alles, was ich hätte entsinnen können. Ich würde Rache nehmen. Das war alles was ich in diesem Moment wollte.

„Einverstanden“, hörte ich mich selbst sagen und griff nach der Gestalt, die irgendwo dort im Schatten stehen muss. Doch meine Hände griffen bereits ins Leere.
 

(Ich-Perspektive? Warum macht die Autorin denn so etwas? - Weil sie es kann!)

Sind denn alle um mich herum verrückt geworden?

„Okay, können wir?“ Emil wandte sich Martin zu, doch dieser machte keine Anstalten zu gehen.

„Einen Moment noch. Ich muss den Vorfall noch melden, damit jemand aufräumen kommt.“

Emil fragte sich, wie Martin das machen würde. Ob er Magie dafür benutzte?

Etwas enttäuscht musste Emil dann allerdings feststellen, dass Martin nur sein Handy herausholte und eine SMS tippte.

„Sie sollten gleich da sein“, sagte dieser, als er fertig war und das Telefon wieder in seiner Tasche verstaute.

„Das war alles?“, fragte Emil verdutzt.

„Ja das war alles.“ Martin lachte. „Einfache, unspektakuläre SMS. Aber wir müssen denke ich noch kurz warten. Sie werden mir sicher einige Fragen stellen wollen.“

„Wenn wir nicht gehen wollen, warum hast du dann Lilian weggeschickt?“ Emil war irritiert, hatte er sich eigentlich bereits darauf eingestellt jetzt zu Martin zu gehen.

„Meinst du es sieht gut aus, wenn sie als Dämon hier dran beteiligt war? Selbst wenn sie uns gerettet hat, sollte sie solange es geht unbeachtet bleiben. Die da oben wissen zwar vom Vorfall mit Marie, aber sie glauben, es wäre nur eine Kabbelei zwischen Jugendlichen gewesen.“ Martin senkte seine Stimme. „Genauso wenig wissen sie von deiner Quelle. Doch das hier ist leider ernst. Wenn ein Nekromant auf dich Jagd macht, dann geht er zu weit und muss gesucht werden.“

Emil verstand nicht viel davon, wie die Organisation bei allem magischem funktionierte, aber dennoch wusste Emil, was Martin damit meinte.

„Dass du darin involviert bist, müssen sie aber jetzt nicht direkt erfahren“, fuhr Martin fort. „Stell dich einfach so, als hätte ich dein Gedächtnis bereits gelöscht.“

Emil versuchte möglichst unauffällig drein zu gucken, doch es gelang ihm scheinbar nicht, denn Martin fügte grinsend hinzu: „Ach schau einfach wie sonst und reagiere nicht, wenn sie dich direkt ansprechen. Das sind Seher, also leg dir deine Antworten am besten direkt zurecht.“

Emil nickte, auch wenn er sich fragte, wie er das anstellen sollte. Kaum hatte Martin den Satz beendet, tauchten aus der Nebenstraße eine Gruppe aus drei Personen auf. Zwei Männer und eine Frau, von denen der Eine einen schwarzen Anzug und eine getönte Sonnenbrille trug. Die anderen Beiden waren in Straßenkleidung gekleidet, was den Anblick des Dritten nur noch ungewöhnlicher machte.

Sie kamen zu ihnen hinüber, die Frau ging voran. Sie hatte ein schmales Gesicht und dunkle, kurze Haare, die sie hinter den Ohren trug. Emil vermutet, anhand ihres Auftretens, dass sie die Leiterin war. Als sie angekommen war, sprach sie Martin an: „Die Nachricht kam aber reichlich spät.“ Mit diesen Worten sah sie sich auf der Straße um und betrachtete mit einem mitleidigen Blick den Fleischberg auf dem Asphalt. „Das wird mal wieder Arbeit“, seufzte sie und nickte dann dem Mann ohne Anzug zu. Er wandte sich um, zog sein Handy aus der Tasche und begann zu telefonieren.

Emil verfolgte interessiert das merkwürdige Geschehen mit den Augen, wagte es aber nicht sich auch nur einen Millimeter zu bewegen und stand wie angewurzelt da.

„Gut, also Martin.“, fragte die Frau und für eine kurze Zeit starrte sie Martin einfach an. „Ach so ist das“, murmelte sie schließlich und Emil fragte sich, was hier gerade vor sich ging, bis ihm einfiel, dass er hier zwei Seher hatte, die sich scheinbar fast telepathisch unterhalten konnten, was es ihm schwermachte, dem Ganzen zu folgen.

Dann nickte Martin und darauf folgte wieder Stille, als würden die beiden überhaupt nicht bemerken, dass keiner von ihnen redete. Das machte Emil nervös. Was wenn sie ihn plötzlich etwas fragen würde und er sich verplapperte? Er war froh gewesen, dass sie an ihm nicht solche Gedächtnisregulationen wie an Ina durchgeführt hatten und dabei wollte er das ganze auch belassen.

„Ja gut“, sagte die Frau abschließend, aber so urplötzlich in die Stille hinein, dass Emil zusammenzuckte. Zum Glück bemerkte sie das nicht. „Wir kümmern uns drum. Sag das nächste Mal früher Bescheid, wenn du etwas Ungewöhnliches mitbekommst.“ Ihr Blick wanderte zu Emil und blieb auf ihm ruhen. Er schluckte. Dann fuhrt sie fort: „Vielleicht hätten wir den Nekromanten dann auch direkt gehabt“, vollendete sie einfach ihren Gedankengang ohne auf Emil einzugehen und wandte sich dann kopfschüttelnd ab. „Seit diesen ganzen Zombiefilmen...“

Der Typ mit dem Anzug stand immer noch vor Emil und Martin in Position, bis die Frau bemerkte, dass er nicht folgte. „Komm schon!“, rief sie. „Arbeit ruft!“

Emil konnte den Ausdruck seiner Augen nicht erkennen, doch der Mann schien ihn noch einmal prüfend anzusehen, bevor er sich ebenfalls umwandte.

Sie ließen Martin und Emil einfach dort stehen, bis Emil Martins Hand an seinem Arm spürte. Gerne ließ Emil sich mitziehen, denn so faszinierend der Anblick auch war, genauso schnell wollte er weg davon. Weg von diesen komischen Leuten, die er nicht einschätzen konnte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie ihn überhaupt nichts gefragt hatten.

Martin wagte es erst wieder mit Emil zu sprechen, als sie weit genug von den Sehern weg waren. „Gruselig Typen, oder?“, sprach er das aus, was Emil dachte.

„Ja...“, war alles was Emil herausbekam. Seine Stimme war ungewöhnlich belegt.

„Das sind Seher, die den ganzen Tag nichts anderes tun, als den Müll aufzuräumen. Kein Wunder, dass man dann irgendwann verrückt wird. Ich meine vollkommen ohne menschliche Konversation. Meistens reden sie nur noch in abgehakten Sätzen. Elisa gehört wenigstens noch zu der Sorte die einen immerhin ansieht, wenn sie mit einem redet.“

„Gehörte das auch mal zu deinen Aufgaben?“, fragte Emil, der darüber nachdachte, was Martin wohl gemacht hatte, bevor er zurück in den Status des Seher Lehrlings gestuft wurde.

„In meinem Bereich ist zum Glück nie etwas passiert. Das sind die Seher unserer Spezialeinheit, die nur kommen, wenn etwas gewaltig schief läuft. Sie sind sehr starke Magier, weshalb sie die ganze Drecksarbeit machen. Eigentlich hätten sie auch deine Erinnerungen löschen müssen, aber ich habe sie überreden können, das du deine Erinnerungen brauchen wirst, wenn wir den Nekromanten der das hier verursacht hat finden wollen.“

„Dann hätte ich alles vergessen?“, fragte Emil ungläubig. Der Gedanke daran bereitete ihm unbehagen.

„Keine Sorge. Sie werden deine Erinnerungen nicht verändern. Das wäre viel zu viel Arbeit, so viel wie du schon weist.“ Martin zwinkerte ihm zu, dann nahm seine Stimme einen ernsteren Ton an. „Aber es wird wirklich immer häufiger, dass etwas passiert. Und die Seher deshalb immer jünger, wenn sie in den Dienst gehen. Der jüngste ist gerade mal 15.“

„15? War das nicht vor 3 Jahren?“

Martin musste über Emils dummen Spruch lachen. „Der Junge hat aber jetzt schon ein bisschen ein Rad ab. Wird als Wunderkind gehandelt und schleimt sich beim Rat ein. Der wird bestimmt mal ein guter Politiker.“

„Heißt das, dass die Mitglieder des Rats alle Seher sind?“

„Die meisten zumindest. Alle auf jeden Fall aus den alt eingesessenen Magierfamilien. Da kommen nur die rein, die den richtigen Namen haben.“

„Ziemlich Elitär… und der Rat kontrolliert die gesamte magische Welt?“

„Im Prinzip alles inklusive der dunklen Wesen. Zum Glück haben sie nicht überall ihre Finger drin, sonst würden wir heute noch wie im Mittelalter leben.“

Emil nickte, aber wirklich vorstellen konnte er sich das nicht. Das klang für ihn viel eher, als wäre es einem Fantasyroman entsprungen.

„Aber du hast das wirklich gut gemacht!“, warf Martin ein, um das Thema zu wechseln und Emil vergaß die Grübelei.

„Was? Das Dumm-Rumstehen?“

„Ja. Genau das. Ich dachte wirklich sie fragt dich gleich irgendwas, doch dann hat sie dir das vollständig abgekauft. Ich bin beeindruckt.“

„Scheint wohl meine Stärke zu sein“, scherzte Emil und blieb stehen, als Martin keine Anstalten machte abzubiegen. „Müssen wir nicht hier lang?“

„Ach. Hab ich dir vergessen zu sagen. Ich muss vorher nochmal wo vorbei.“

„Wieso?“, fragte Emil verwundert. „Wo vorbei?“

„Mich hat es stutzig gemacht, dass der Nekromant einfach so sein Unwesen treiben kann“, fing Martin seine Erklärung an. „Er ist nirgendwo registriert und ist vorher auch nie auffällig geworden. Selbst jetzt fällt er niemandem auf. Es muss ein Sterblicher sein, der es geschafft hat, sich Wissen über die Wege zum Reich der Toten anzueignen. Die Seher haben einen Blick auf alle die irgendetwas magisches an sich haben. Er ist...“ Martin hielt einen Moment inne und überlegte. „..genau wie du.“

Mit den Worten sah Martin Emil eindringlich an. „Jemand der für die Seher völlig uninteressant zu sein scheint und dessen Kräfte somit im Verborgenen bleiben. Er fällt nicht in die Zielgruppe, weil es nicht für möglich scheint, dass er Nekromantie hätte erlernen können...“ Seine Stimme wurde nachdenklicher, als er das aussprach, was durch seinen Kopf schwirrte. „Es ist eine Theorie, aber wenn es wahr wäre, dann hätte da jemand gründlich in der Recherche geschlampt und deshalb müssen wir jemanden fragen, der sich mit magischer Literatur auskennt.“

Das Wort „magische Literatur“ löste in Emil sofort eine Assoziation aus, die Martin sogleich bestätigte:

„Wir gehen in die magische Bibliothek.“

Emil hatte es geahnt und sog die Luft tief ein. Das konnte nicht gut ausgehen. Dieses Gehemnis konnte er so nicht wahren. Doch Martin schien sein Entsetzten mit Erstaunen misszudeuten.

„Das könnte dir gefallen. Es ist fast wie in deinen Büchern.“ Martin grinste und Emil erwiderte es zögernd. Er wollte etwas antworten, doch in seinem Kopf hing nur ein großes Loch.

„Wie in meinen Büchern?“, erwiderte Emil stumpf.

„Ja, Fantasybüchern.“

„Ach die meinst du.“
 

Die Prodzedur war etwas anders, als bei Emils letzten Besuch. Da es noch Tag war, musste Martin nicht klopfen sondern trat einfach durch die schwere Tür. Hatte die Bibliothek Emil schon beim ersten Mal nur kurzweilig zum Staunen gebracht, so tat sie es noch weniger beim zweiten Mal.

Emil versuchte so beeindruckt auszusehen wie möglich und ein paar Worte des Erstaunes zu verlieren, doch Martin durchschaute das ziemlich schnell.

„Du musst nicht so tun, als wärst du begeistert. Ich habe wohl einfach zu viel versprochen.“

Emil schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Vielleicht nächstes Mal.“

Dann gingen sie zu dem Pult hinüber und zu Emils Erleichterung stellte er fest, dass es nicht Cornelius war, der dahinter saß, zumindest sah es so aus, bei einem Gestaltwandler konnte man sich ja nie so sicher sein.

Als der junge Mann hinter dem Pult aufblickte, meinte Emil sogar zu wissen, dass er es nicht sein konnte. Auch wenn er jetzt gerne eine Flasche Bier dabei gehabt hätte, um sich sicher zu sein.

Der Mann war vielleicht Mitte zwanzig und hatte dunkle Augen, die Emil jetzt von oben bis unten musterten. Emil hielt dem Blick stand und fragte sich nur, was der junge Mann suchte. Hatten Lilian und Martin ihm etwas verschwiegen? War er unangemessen gekleidet? Sah man ihm an, dass er ein ganz normaler Mensch war?

Doch dann wandte der Mann wieder seinen Blick ab und nahm das Buch von Martin entgegen, das dieser aus seiner Tasche gezogen hatte. Es war das Buch, das Martin in die Schulbibliothek geschmuggelt hatte.

„Dankeschön“, sagte der Mann in einer tiefen, aber unglaublich angenehmen Stimme. Es war eine dieser Stimme, denen man gerne länger zuhören würde, auch wenn er gerade nur ein Wort gesagt hatte. Einer von Emils alten Raidleitern hatte so eine Stimme gehabt. Emil hätte ihm die ganze Nacht zuhören können.

Während Emil also noch hoffte, der Mann würde noch etwas sagen, schob Martin ihn schon weiter in Richtung der Bücherregale.

„Gut das ich das Buch dabei hatte“, flüsterte Martin Emil zu. „Man könnte meinen, ich hätte gewusst, dass wir heute hier noch vorbei kommen.“

Für einen Moment erstarrte Emil. Wusste Martin etwas von gestern Abend? Hatte er durch Cornelius' Bitte, das Buch zurück zu bringen etwas davon geahnt? Emil verstand immer noch nicht wie weit Martins Kräfte reichten und wie sie überhaupt funktionieren. Doch als Martin es nur lächelnd auf diesem Satz beruhen ließ, verstand Emil, dass es nur ein einfacher Scherz war und lachte leicht. An diese Art von Witzen hatte er sich immer noch nicht gewöhnen können.

Schließlich blieben sie vor einem Regal stehen und Martin begann nach Büchern zu suchen.

Es dauerte nicht lang, da hatte er scheinbar das Richtige gefunden. Er schlug das Buch auf und überflog ein paar Seiten. Emil warf einen Blick auf den Einband und stellte fest, dass er in diesen komischen Runen geschrieben war.

„Du kannst das lesen?“, sprach Emil seinen ersten Gedanken aus.

Martin sah auf und grinste: „Ein Bisschen. Den Rest rate ich.“

„Du rätst?“, fragte Emil trocken und starrte Martin an. „Ich wünschte ich könnte mir den Rest in Latein einfach so raten.“

„Wenn du ein Seher wärst, könntest du das auch.“

Martin lächelte leicht und wandte sich dann wieder dem Buch zu. Es hatte also doch etwas mit Martins Fähigkeiten zu tun. Was sich ihm für Möglichkeiten dadurch boten:

Keine Probleme mit Fremdsprachen, Klausuren, sowie nie wieder den Bus verpassen und bei Spielen konnte er auch mit Leichtigkeit gewinnen, wenn er wollte.

„Ja, wenn ich ein Seher wäre....“, begann Emil. „Bin ich aber dummerweise leider nicht. Sondern ich habe -“

Schon bereits als Emil den Satz angefangen hatte, hatte sich Martin erschrocken zu ihm umgewandt und heftig den Kopf geschüttelt. Erst einen Moment später hatte Emil verstanden, dass er aufhören sollte zu reden.

„Oh. Entschuldige“, flüsterte er Martin zu.

„Kein Problem. Aber wir sind nicht allein.“

Gerade als Martin das gesagt hatte, bog der junge Mann vom Pult um die Ecke: „Kann ich euch helfen?“

„Nicht nötig“, winkte Martin ab. „Ich suche noch.“ Er schob das Buch zurück ins Regal und zog ein anderes hinaus.

Der junge Mann zuckte die Schultern und verschwand dann wieder. Als er die Reihe verlassen hatte, lehnte sich Martin zu Emil hinüber und flüsterte:

„Ich habe was gefunden. Wenn wir bei mir sind erkläre ich dir alles.“
 

„Also?“, fragte Emil und sah Martin auffordernd an, nachdem Martin die Tür zu seinem Zimmer geschlossen hatte. Isabell war zur Erleichterung der Beiden noch unterwegs und die Erklärung, wo ihr Auto abgeblieben war, blieb ihnen vorerst erspart. Martin hoffte scheinbar noch darauf, dass die Seher den Wagen wieder hinbiegen konnten. Doch nach allem, was Emil über Magie erfahren hatte, hielt er das für unwahrscheinlich. Vorrausgsetzt Magie war überhaupt logisch, woran Emil langsam zu zweifeln begann.

„Was wolltest du mir erklären?“, fragte Emil erneut und sah, dass Martin ihm nur nich antwortete, weil dieser nach den richtigen Worten suchte.

„In Ordnung.“ Martin holte tief Luft. „Was weißt du darüber wie Magie gewirkt wird?“

„Ich weiß nicht...“ Emil überegte kurz. „Lilian hat mir etwas darüber gesagt. Aber daran erinnere ich mich nicht mehr genau. Irgendwas über ein Geheimnis.“

„Ja so ungefähr“, pflichtigte Martin ihm bei. „Hexenmeister, Hexen, Magier, Zauberinnen, wie du das ganze auch nennen magst, erlangen die Magie durch ein Ritual, dass von Familie zu Familie weitergegeben wird. Das ist eine uralte Magieform die auch nur innerhalb der Familien funktioniert und auch nur bei denen, die eine angeborene magische Fähigkeiten haben, beziehungsweise noch etwas von Naturgeistern in sich tragen, wie zum Beispiel Sonia. Wie stark und in welcher Ausprägung die Magie dann ausgeübt werden kann, hängt stark vom magischen Talent ab. Wobei magisches Taent wiederrum unabhängig davon ist, ob man Magie überhaupt erlernen kann. Lilian hat zum Beispiel unglaubliches magisches Talent, doch da sie niemals eine Magierin werden kann, powert sich das alles in ihren Dämonenfähigkeiten aus.“

„Und wie sieht es mit den magischen Fähigkeiten bei dir aus?“

Martin sah Emil erstaunt an und fuhr dann mit leicht berührter Stimme fort: „Ehrlich gesagt weiß ich das nicht. Ich habe das nie ausgereizt, da ich viel zu beschäftigt war, irgendwie mit dem Hellseherkram klar zu kommen.“

Emil nickte nur. Er war zwar überrascht zu hören, dass Martin kein unglaublich cooler Magier war, aber Emil hatte sich ja noch nicht einmal mit dem Hellsehen abgefunden. Noch mehr wäre auch zu viel für einen Monat gewesen.

„Auf jeden Fall“, fuhr Martin fort. „Ich dachte immer Nekromantie sei eine Unterform der schwarzen Magie und damit nur von jemandem benutzbar, der erstens Magie benutzen kann und zweitens auch besonders gut darin ist. Aber Nekromantie ist völlig losgelöst von anderen Formen der Magie. Zwar musst du das Geheimnis kennen, um sie benutzen zu können, wobei ich mir nicht sicher bin, ob es das gleiche Geheimnis wie bei uns ist. Zusätzlich benötigt Nekromantie scheinbar keine magische Energie, wie die, die man aus Quellen ziehen kann, sondern entzieht dem Nekromanten stattdessen direkt Lebensenergie. Man muss also kein besonders talentierte Magier sein, um Toten heraufzubeschwören. Es verbraucht nur Lebensenergie und das in so großen Mengen, dass der Körper diese nicht so einfach wiederherstellen kann und langsam aber sicher stirbst du daran. Es ist fast so, als würde das Reich der Toten es als Pfand nehmen, um seine Tore zu öffnen.“

Emil saß mit offenem Mund da.

„Das bedeutet, dass ich Recht hatte. Es ist jemand, der über keine besonderen Fähigkeiten verfügt. Er braucht keine magische Energie, denn er bezahlt mit seinem Leben. Das erklärt auch die Zeitspanne zwischen den Angriffen. Er muss Kraft regenerieren. Und ich bin mir sicher, dass er auch jetzt vorerst viel Kraft regenerieren muss, um es erneut zu versuchen. Wenn wir Glück haben, hat ihn dieser Schlag sogar umgebracht.“

„Umgebracht?“ Emils Stimme klang entsetzt.

„Du hast Mitleid?“, fragte Martin irritiert. „Er hat zweimal versucht dich umzubringen.“

„Aber er hat es nicht geschafft.“

„Das schon, aber nur weil ich und Lilian auf dich aufpassen.“ Martin lehnte sich zurück und starrte an die Decke. „Ich dachte die ganze Zeit er sei hinter deiner Quelle her...“

„...aber er kann sie ohnehin nicht benutzten?“, beendete Emil den Satz und Martin nickte gedankenverloren, bevor ihm scheinbar auffiel, dass Emil zur Abwechslung mitgedacht hatte.

„Richtig.“ Er versuchte das möglichst neutral klingen zu lassen.

„Das heißt, wenn ich Glück habe, weiß immer noch niemand von der Quelle und solange sie versiegelt ist, kommt da auch niemand ran, oder?“

Martin nickte nur zustimmend.

„Aber was will dieser Nekromant dann von mir?“

„Keine Ahnung. Das ergibt irgendwie keinen Sinn. Es wäre der einzige Grund, dass jemand, der Magie kennt, an dir interessiert sein könnte.“

„Vielleicht hat es ja mit mir direkt zu tun?“, schoss es Emil durch den Kopf und er sprach es direkt aus. Das Nächste, an das er dachte, war Evelyn; das Mädchen, das einmal auf ihn gestanden hatte. Sie war immer nur in schwarz mit unglaublich viel Kajal unter den Augen rumgelaufen. Das würde zu ihr passen, dass sie auf Nekromantie zurück griff.

„Evelyn?“, fragte Martin lachend, als könnte er Gedanken lesen. Konnte er nicht, aber er wusste, dass Emil ihm sicher gleich seinen Gedanken mitgeteilt hätte.

„Ich dachte nur...“, murmelte Emil verlegen, als Martin immer noch leicht lachte. Nur langsam beruhigte er sich und sah Emil wieder ernst an.

„Sorry. Wie ich schon sagte, wäre es durchaus denkbar, dass es jemand ist, mit dem wir überhaupt nicht rechnen. Ich glaub ich lass Evelyn überprüfen. Wie hieß sie noch gleich mit Nachnamen?“

„Woher soll ich das wissen? Hatte sie überhaupt einen Nachnamen?“

„Ich glaube jeder hat einen Nachnamen...“ Martin warf Emil einen unbeeindruckten Blick zu.

„Hast du einen?“

„Natürlich habe ich einen!“

„Da wäre ich mir nicht so sicher... schließlich benutzt du den nie.“

„Er steht unten auf dem Klingelschild.“

„Okay. Stimmt...“

Telefone und andere Probleme

Einige Zeit hatte Lilian jetzt bereits die Anzeige des Telefons in ihrer Hand angestarrt. Die Nummer war bereits gewählt, doch sie schaffte es einfach nicht den grünen Knopf zu drücken.

Lilian schloss die Augen und atmete tief ein. Wie schlimm konnte es denn schon sein? Ihre Exfreundin Isabel hatte das sicher schon lange abgehakt.

Aber wollte Lilian Isabel überhaupt wiedersehen? Sie hatten schließlich bereits seit Ewigkeiten nicht mehr miteinander geredet. Was wenn Isabel sich geändert hatte? Was wäre wenn sie sich selbst so sehr verändert hätte, dass sie sich nicht mehr verstanden? Nach allem, was passiert war. Würden sie überhaupt Freundinnen sein können? In Lilians Kopf war das alles ganz einfach gewesen: Sie rief Isabel an, sie trafen sich und alles wäre so wie früher. Bis auf, dass Lilian jetzt mit Emil zusammen war. Was konnte denn daran nur so schwer sein? Jetzt saß sie hier in ihrem Zimmer und schaffte es einfach nicht diesen einen blöden Knopf zu drücken.

Ach was sollte das Gejammer. Lilian öffnete die Augen und ihr Daumen war schneller auf der Taste, als das sie noch einen Gedanken daran verschwenden konnte, es nicht zu tun. Doch im selben Moment hallte das Schellen der Türklingel durch das Haus und vor Schreck drückte Lilian sofort wieder auf Auflegen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie konnte es nicht tun. Warum konnte sie das nicht?

Erst als es das zweite Mal schellte, bemerkte Lilian, dass sie vielleicht aufmachen sollte. Ihre Eltern hatten gesagt, dass sie sich heute Nachmittag mit Freunden treffen würden, also konnten sie nicht die Tür aufmachen. Mit zitternden Beinen erhob Lilian sich und ging zur Tür.

Da sie niemanden erwartete, war sie umso erstaunter, als Sonia vor der Tür vorfand:

„Was machst du denn hier?“

„Wir waren verabredet. Schon vergessen?“

Lilian starrte sie etwas irritiert an. Doch auf Sonias Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. „Du hast mich vergessen! Dafür kann es nur einen Grund geben!“

„Sag mal, sprecht ihr euch ab?“, fragte Lilian ohne auf Sonias Andeutung einzugehen, wenn es denn eine gewesen sein sollte und machte Sonia Platz, dass diese eintreten konnte.

„Wer spricht sich ab?“, fragte Sonia.

„Du und Martin. Er nimmt mir Emil ab, du kommst auf mich aufpassen.“

„Also lag ich richtig!“

„Womit?“

„Dass Emil bei dir war.“

Ohne es verhindern zu können lief Lilian rot an. In ihrem Kopf erinnerte sie sich an gestern Abend, an heute morgen und als wüsste sie, dass Sonia das fragen würde, gab sie ihr damit bereits die Antwort.

Sonia lächelte verschmitzt und hängt ihre regennasse Jacke auf. „Schon okay. Lass mich erst einmal reinkommen. Dann darfst du mir alles erzählen!“

Nachdem Sonia die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, grinste sie nur noch breiter. „Sag! Was ist passiert, dass du unsere Verabredung vergessen hast?“

Lilian überlegte wirklich für einen Moment, ob sie Sonia das wirklich erzählen sollte, doch irgendwie schien ihr eine Antwort die richtigere für die Frage zu sein: „Mich hat ein riesiges Fleischmonstrum angegriffen.“

Das war nicht die Sonia sich erhofft hatte. „Was ist passiert?“, fragte sie verwirrt.

„Als ich Emil zum Bus gebracht habe, war das plötzlich dieses riesige Ding, dass uns angegriffen hat. Ich habe es erledigen können. Aber es war ziemlich knapp. Der Nekromant macht scheinbar immer noch Jagd auf Emil und ich hoffe, dass war das Beste, was er hinbekommt. Sonst haben wir nämlich ein Problem.“

Sonia sah wirklich besorgt aus. „Und wo ist Emil jetzt?“

„Dein netter Cousin, der mal wieder zu spät war, hat ihn sich einverleibt. Also mitgenommen. Ich meine, die beiden sind zusammen nach Hause.“ Da alles in ihren Ohren zweideutig klang, ließ sie es darauf beruhen. Ihr Puls raste immer noch, auch wenn sie eigentlich jetzt wieder ruhig sein müsste.

„Ich weiß schon was du meinst“, beruhigte Sonia sie, bis sie Lilians Hand bemerkte. „Warum trägst du eigentlich das Telefon mit dir herum?“

Lilian sah erstaunt an ihr hinunter und stellte fest, dass sie das Telefon immer noch fest umschlossen in ihrer rechten Hand hielt.

„Oh, das habe ich wohl irgendwie vergessen wegzulegen“, stotterte sie und legte den Hörer auf dem Schreibtisch ab.

„Wen hattest du denn angerufen?“ Sonia machte es sich auf dem Bett bequem.

Lilian warf einen kurzen Blick zur Seite. „Niemanden. War nicht da.“

Sonia legte den Kopf schief. „Du bist komisch. Sicher das alles okay mit dir ist? Klar, wenn mich ein Monstrum angreift, würde ich sicher auch total durch den Wind sein. Aber du hast dich noch nie von so etwas auch nur ansatzweise aus der Ruhe bringen lassen. Also was ist passiert?“

Lilian atmete tief durch. Sonia anzulügen funktionierte nicht besonders gut. Sie hatten in den letzten zwei Jahren einfach zu viel Zeit miteinander verbracht, als das Sonia nicht jede ihrer Ausflüchte durchschauen konnte. Sonia hatte sofort bemerkt, dass Lilian Emil seit ihrer ersten Begegnung nicht mehr aus dem Kopf bekommen hatte und sie bemerkte auch jetzt, dass mit ihr etwas nicht stimmte.

„Isabel ist wieder hier“, brachte Lilian schließlich hervor.

„Ja stimmt, aber was ist daran...“, begann Sonia ihre Frage, bevor es ihr wieder einfiel. „Oh, stimmt.“

„Ich überlege, ob ich mich mit ihr Treffen soll. Wir waren schließlich einmal sehr gut befreundet. Und ich weiß einfach nicht, ob ich sie sehen will oder nicht.“

„Wieso? Was kann daran so schlimm sein?“

„Mit fallen tausend Dinge ein, die daran so schlimm sein könnten!“

„Je länger du darüber nachdenkst, desto schlimmer wird es.“

„Ich weiß...“ Lilian seufzte. „Meinst du ich sollte sie anrufen?“

Sonia nickte. „Ja, das solltest du.“

Lilian warf dem Telefon einen flüchtigen Blick zu. Es war ihr immer noch nicht geheuer. „Ich will nicht!“, quengelte sie.

„Keine Ausreden!“ Sonia stand beherzt auf und drückte Lilian das Telefon in die Hand. „Ruf sie an!“

Lilian nahm den Hörer zögernd in die Hand, fing an die Nummer zu tippen, doch dann rettete sie abermals die Türklingel.

Sonia sah verwirrt zur Tür. „Wer könnte das denn sein? Ich bin doch schon da!“

Lilian zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Ich geh mal schauen. Vielleicht Post?“

„Am Sonntag?“, fragte Sonia ungläubig, doch Lilian hatte bereits die Chance genutzt nicht telefonieren zu müssen und war aus dem Zimmer geschlüpft.

Lilian hatte mit jedem gerechnet, sogar mit Martin, doch nicht mit Cornelius, der vor ihrer Tür stand. Vielleicht nicht mit jedem, denn viele kannten nicht einmal ihre Adresse. Cornelius kannte diese eigentlich auch nicht.

„Was machst du hier?“, fuhr Lilian ihn etwas harscher an als beabsichtigt, bevor die Tür überhaupt vollständig offen war.

Cornelius, der seine Gestalt als Mädchen angenommen hatte, blinzelte sie etwas verwirrt an. Lilian hätte ihn in seiner richtigen Gestalt wahrscheinlich nicht einmal mehr erkannt. Sie hatte ihn seit Jahren nicht mehr in seiner richtigen Gestalt gesehen, da er für sie immer das Aussehen eines Mädchens annahm, um sich vor ihren Kräften zu schützen. Doch niemals hatten sie sich am Tag getroffen und noch weniger vor ihrer Haustüre.

„Ich wollte mich entschuldigen“, sagte Cornelius ruhig. „Es war falsch, dir die Übersetzung des Buches nicht zugeben. Du musst schließlich selbst entscheiden, was du damit anstellst.“

„Dafür hättest du nicht kommen müssen...“, murmelte Lilian.

„Stimmt. Hätte ich nicht. Habe ich aber.“

Cornelius zog ein dutzend Blätter aus seinem Rucksack, während Lilian ihm verdattert dabei zusah und drückte sie ihr in die Hand.

„Stell nur bloß nichts dummes damit an“, betonte er.

Ein schwaches „Danke“ kam über Lilian Lippen, als Sonia plötzlich hinter ihr im Türrahmen stand. Erschrocken faltete Lilian schnell de Stapel Blätter so gut es ging zusammen, bevor Sonia lesen konnte, was drauf stand.

„Wer ist es denn?“, fragte Sonia und schob sich an Lilian vorbei. Sie lächelte das fremde Mädchen vor der Tür an und winkte. „Hallo“

„Hallo“ Corenlius' Stimme war ungewöhnlich hoch. Wahrscheinlich versuchte er seine Tarnung aufrecht zu erhalten. Er starrte sie an wie eine Erscheinung.

„Das ist Corni. Sie macht mit mir Abi und hat mir grad noch Unterlagen gebracht.“ Das war die erste Lüge, die Lilian spontan einfiel, um Cornelius' Identität zu wahren. Sonia musste nicht wissen, dass Cornelius ein Gesaltwandler war und noch weniger, dass sie ihn aus der Bibliothek kannte.

„Welches Fach?“, fragte Sonia interessiert.

„Deutsch“, sagte Lilian schnell. „Dafür hättest du wirklich nicht bis hier her kommen müssen, Corni.“

„Kein Problem“, erwiderte Cornelius, der Lilian dabei an Lilian vorbei sah. Sein Blick blieb an Sonia kleben. Den Blick kannte Lilian.

„Musst du nicht auch noch lernen heute, solltest du nicht mal langsam los?“, fragte sie mit deutlichem Unterton.

„Wieso?“ Corenelius starrte immer noch Sonia an.

„Sag mal, Corni.“ Lilian versuchte dabei jede Silbe zu betonen. „Kannst du mir das eben nochmal mit Nietzsche erzählen?“

Damit hatte Lilian genau das erreicht, was sie wollte, kaum hatte sie Nietzsche erwähnt, hatte Sonia beschlossen, lieber in Lilians Zimmer zu warten: „Ich warte Innen auf dich.“

„Okay.“ Lilian wartete, bis Sonia aus der Hörreichweite war, bevor sie sich laut räusperte.

„Was ist?“ Cornelius erwachte aus seiner Starre und sah sie fragend an. Seine Stimme war wieder normal geworden.

Lilian nickte mit dem Kopf in die Richtung in die Sonia gegangen war. „Schlag dir das direkt aus dem Kopf!“

„Du hast immer nur von ihr erzählt. Ich wusste nicht, dass...“

„Sie ist fünf Jahre jünger als du.“

„Fünf?“, fragte Cornelius ehrlich erstaunt.

„Ja, fünf“, wiederholte Lilian.

„Oh. Na dann....“ Cornelius Blick fiel auf Lilians Hand, in der sie nicht nur die Blätter, sondern immer noch das Telefon hielt. „Wen wolltest du anrufen?“

Lilian sah verwirrt auf das Telefon und ein Seufzer entfuhr ihr. „Ja, Isabel.“

„Deine Exfreundin?“

„Ja, aber dann kam Sonia vorbei und jetzt du.“

„Worüber wolltest du denn mit ihr reden?“

„Keine Ahnung. Ich habe nur das Gefühl, dass ich ihr irgendwie wieder mit ihr reden möchte. Wir haben so lange nicht mehr gesprochen. Wir sind irgendwie so unglücklich auseinander gegangen.“

„Das Gefühl kenne ich“, gab Cornelius zu.

„Von Anna?“, fragte Lilian und dachte an Cornelius Exfreundin.

„Von jeder meiner Beziehungen.“ Cornelius klang dabei keineswegs traurig, sondern lächelte. „Also ruf sie an.“

„Meinst du?“ Lilian beäuft das Telefon misstrauisch.

„Auf jeden Fall. Ich mach mich auf dem Weg.“ Dann deutete er noch auf die Blätter in Lilians Hand. „Mach einfach keine Dummheiten.“

„Das musst du gerade sagen“, feigste Lilian, als das Telefon mit einem Mal laut anfing zu klingeln.

Erschrocken starrte sie aufs Display. Isabel. Mit einem kurzen Blickaustausch, gab sie Cornelius zu verstehen, dass sie dran gehen müsste und zeigte ihm das Display. Er nickte nur und wandte sich mit einem Winken zum gehen. Lilian murmelte ein kurzes „Tschüss“ und schloss schnell die Tür, bevor sie das Gespräch annahm.

„Ja?“ Lilian Herz raste. Sie hatte Angst. Angst, was Isabel sagen würde.

Isabels Stimme am anderen Ende der Leitung klang immer noch so wie früher. „Lilian? Hallo. Ich hatte gerade an dich gedacht, und dann sah ich, dass du angerufen hattest. Wie geht’s dir?“

Lilian fiel sofort ein Stein vom Herzen. Alles war noch so wie früher. „Gut“, sagte sie und lächelte. „Und dir? Du studierst jetzt, oder?“
 

Isabel fischte sich eine rotbraune Strähne aus dem Gesicht und grinste:

„Manchmal denke ich, dass sich hier irgendwie nichts geändert hat. Es gibt sogar immer noch Milchshakes mit Minze!“

Sie saß Lilian in dem kleinen Café an der Ecke zur Hauptstraße gegenüber und nippte an dem grünen Milchshake mit Schokoladentopping.

„Ich war auch ewig nicht mehr hier“, pflichtige Lilian ihr bei.

Nachdem die beiden telefoniert hatte, hatten sie sich für heute in der Stadt verabredet. Erst war es für Lilian merkwürdig gewesen, Isabel wiederzusehen. Sie war älter geworden und damit um einiges hübscher. Sie hatte diese selbstbewusste Ausstrahlung bekommen. Ansonsten war sie innerlich die Gleiche geblieben.

„Witzig eigentlich“, wechselte Isabel zurück zu ihrem vorherigen Gesprächsthema. Ihre Stimme war ruhig und es schwang keinerlei Häme darin mit. „Du und Emil. Dabei hast du doch damals Schluss gemacht, weil du meintest, dass ich nicht dazu stehen würde, lesbisch zu sein. Dass ich nicht zu dir stehen würde. Und jetzt bist du mit einem Jungen zusammen.“

Ihre Worte trafen Lilian wie ein Schlag. Alles in ihrem Körper zog sich unangenehm zusammen. Hatte Isabel ihr das doch immer noch nicht verziehen?

„Aber das ist Schnee von gestern“, fügte sie fröhlich hinzu. „Ich freue mich für dich. Wirklich! Ich weiß zwar nicht, wie du das machst, dass du ihn nicht umbringst. Aber weißt du, was noch witzig ist?“

Lilian schüttelte den Kopf.

„Dass du und Emil euch vielleicht schon viel früher begegnet wärt, wenn das Martin nicht passiert wäre damals.“

Das ließ Lilian schmunzeln, da sie sich darüber noch nie so genau Gedanken gemacht hatte. „Stimmt. Ich war glaube ich nur zweimal bei dir.“

„Und dann haben mir meine Eltern verboten, mich mit dir zu treffen“, fuhr Isabel fort. „Ich musste immer neue Freundinnen erfinden, um zu dir zu kommen.“

„Waren deine Eltern da nie stutzig? Dein Vater hat das wirklich nicht mitbekommen?“

„Ne. Der war zu beschäftigt damit zu arbeiten. Ihm war nur wichtig, dass mir nichts passiert auf dem Weg und das ist es ja auch nie. Ich glaube sogar Martin, hat das ganze nie ganz durchschaut. Er wusste zwar, dass wir befreundet waren, aber dass wir zusammen waren...“

„Ihr hattet doch damals einen Deal, oder?“

Isabel grinste breit. „Ja, der Deal! Ich gebe ihm jeden Monat fünf Mark, später Euro, von meinem Taschengeld und er sagt meinen Eltern nicht, dass wir uns weiterhin treffen. Er hat das wirklich mitgemacht und keine Fragen gestellt. Dafür liebe ich kleine Brüder. Sie sind bestechlich!“

„Aber jetzt weiß er schon davon oder?“

Isabel musst einen Moment überlegen. „Ich bin mir nicht sicher, spätestens als ich zwei Wochen nach unserer Trennung meinen Eltern erzählt habe, dass ich lesbisch bin, sollte er eigentlich die richtigen Schlüsse gezogen haben.“

„Das hast du?“, fragte Lilian verwundet.

„Ja. Du hast mir klar gemacht, dass ich das loswerden wollte. Aber unsere Beziehung habe ich nicht erwähnt. Ich hoffe du nimmst mir das nicht übel, du kennst meine Eltern...“

„Kein Problem. Ich möchte nicht wissen, was Emils Eltern sagen würde, wenn sie wüssten, dass ich eine Succubus bin. Sie sind so nett...“

„Sie werden es sicher gut aufnehmen“, versicherte Isabel ihr und fügte dann hinzu; „Solange du Emil nicht umbringst.“

Lilian zuckte unmerklich zusammen. Gerade jetzt, wo Emils Leben nicht nur durch den Nekromanten, sondern auch noch durch sie selbst bedroht war. Wenn sie sich nicht irgendetwas überlegen würde, wusste sie nicht, was ihn schneller töten würde. Das Einzige, das sie wusste, war, dass sie das nicht zulassen würde.

„Na zum Glück tust du das ja nicht“, sagte Isabel und holte Lilian damit zurück aus ihren Gedanken. „Gibt es eigentlich Neues wegen dem Nekromanten?“

Für einen Moment setzte Lilians Herz einen Schlag aus. Woher wusste Isabel das? Hatte Martin ihr davon erzählt? Nun er musste es getan haben, schließlich hatte er ihr Auto zerstört. Aber das sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Er weihte nie Unbeteiligte mit ein, wenn es nicht sein musste. Zumindest nie mit der Wahrheit

„Wenn Martin nichts herausgefunden hat...“ Lilian merkte dass ihre Stimme leicht zitterte.

„Hängt Martin da auch drin?“, fragte Isabel verwundert, bevor sie ihre Frage selbst beantwortete. „Natürlich hängt er da drin, er ist schon ewig mit Emil befreundet...“

„Woher weißt du das?“ Lilian sah sie eindringlich ein. Konnte es sein? Würde Isabel wirklich Nekromantie erlernen? Ein Mädchen aus einer Seher Familie?

In Isabels Gesichtszügen zeichnete sich ab, dass sie über die Antwort nachdachte. Etwas zu lange, fand Lilian, doch dann biss sich Isabel auf die Lippe und sah Lilian mit einem Blick an, den diese nicht deuten konnte.

„Keine Ahnung. Vielleicht eine dieser Vorahnungen?“ Isabel lächelte leicht. „Ich finde die Verknüpfung zwischen den Informationen einfach nicht in meinem Kopf. Sogar das mit Emil glaube ich schon mal vorher gehört zu haben.“

Lilian starrte Isabel an. Sie wollte ihr glauben. Es klang plausibel. Aber was, wenn es nicht so war, was wenn Isabel ihr nur etwas vorspielte? Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie direkt darauf ansprechen? Hätte Martin sie nicht als Erste überprüft?

„Alles in Ordnung, Lilian?“, fragte Isabel besorgt. „Ich bin nicht der Nekromant, falls du das sagen möchtest.“

Endlich einmal kamen ihre Vorhersehungen im richtigen Moment. Möglicherweise kannte sie Lilian aber einfach auch nur zu gut. „Ich würde bestimmt nicht mein eigenes Auto zerstören lassen. Ich habe den kleinen geliebt!“

Lilian entspannte sich nun wieder etwas. „Hast du etwas dagegen, wenn ich kurz telefoniere?“

„Martin anrufen?“

„Etwas in der Art“, erwiderte Lilian zögernd.

„Nö, wieso? Mach ruhig und bleib dabei ruhig sitzen.“

Nach einem kurzen prüfenden Blick, wählte Lilian schließlich Emils Nummer.

Nekromantie ist illegal?!

„Ist Martin bei dir?“, war das Erste, das Lilian sagte, nachdem Emil abgenommen hatte. Die Begrüßung, die Emil erwartet hatte, hatte sie direkt übersprungen. Ihre Stimme klang aufgeregt; als könnte sie keine Sekunde länger warten und so gab Emil etwas enttäuscht das Handy an Martin weiter, weil seine Freundin scheinbar überhaupt nicht ihn anrufen wollte, sondern lieber seinen besten Freund.

Dieser nahm das Telefon ohne Zögern entgegen. Er wusste ja bereits, dass sie mit ihm reden wollte und scheinbar auch, was sie sagen würde.

„Das kann nicht sein!“, stieß er aus, kaum hatte er das Handy am Ohr.

Er klang ungewöhnlich aufgebracht. Emil wusste zwar, das hier ein wichtiger Gesprächsfetzten von Lilian fehlte, aber dennoch machte es für ihn keinen Sinn. Was war los, das beide in solche Unruhe versetzte?

Lilian schien etwas zu erwidern, denn Emil hörte ihre Stimme dumpf durch das Telefon.

„Nein“, antwortete Martin in den Hörer. „Das ist vollkommen normal. Sie hat damit nichts zu tun.“

Einen Moment Stille.

„Natürlich bin ich mir sicher!“

Wieder Stille.

„Nein, nicht so sicher...“

Martin seufzte:

„Okay. Wir kommen vorbei. Rühr' dich nicht vom Fleck.“

Emil sah Martin verwirrt an, als dieser mit dem Zusatz „Und sie natürlich auch nicht!“ auflegte und Emil einen mitleidigen Blick zuwarf. Etwas darin verursachte ein ungutes Gefühl bei Emil.

„Isabel... Sie weiß zu viel...“, war Martins einzige, nicht besonders hilfreiche Erklärung. Erst auf dem Weg zum dem Café, in dem sie Lilian und Isabel treffen wollten, erklärte Martin Emil die vollständige Begebenheiten.
 

Keine Viertelstunde später saßen Emil und Martin also bei Lilian und Isabel am Tisch. Martin wollte gerade den Mund aufmachen, als die Bedienung prompt am Tisch stand und sie erst einmal zwei Cola bestellen mussten, bevor die Kellnerin endlich wieder verschwand.

Doch noch bevor Martin ein zweites Mal ansetzten konnte, etwas zu sagen, hatte Isabel schon begonnen zu sprechen:

„Ich bin immer noch da. Reicht das nicht als Beweis?“

Sie strich sich die losen Strähnen hinter das Ohr und sah entspannt in die Runde. Sie schien damit auch die Einzige zu sein, die hier entspannt war.

„Du bist meine Schwester“, antwortete Martin ihr mit finsterer Miene. Er sah sie durchdringend an, als wollte er ihre Gedanken lesen. Das wäre fast noch eine besser Fähigkeit, als Hellsehen zu können, schoss es Emil durch den Kopf.

Über Martins Aussage, dachte Isabel scheinbar einen Moment nach, denn ihre Antwort kam verzögert:

„Ja, ich bin deine Schwester...Wie meinst du das?“

„Ich traue dir alles zu!“, erklärte Martin sich.

„Weil du das von dir selbst kennst?“, hakte Isabel mit einem Grinsen nach.

Martin ging darauf lieber nicht ein, was Emil nicht im geringsten verwunderlich fand. „Gib mir deine Hand“, forderte Martin seine Schwester stattdessen auf.

„Warum?“, fragte sie erstaunt, streckte aber sofort ihre Hand in Martins Richtung aus. „Wofür brauchst du die?“

Emil warf Lilian einen fragenden Blick zu, die diesen auffing und sich daraufhin zu Emil hinüberbeugte. „Er kann ihre Lebensenergie überprüfen“, flüsterte sie nahe Emils Ohr, ohne den Blick von Isabel abzuwenden. Emil spürte sie Wärme ihrer Wange an seiner, was ihn für einen Moment vergessen ließ, warum er hier war und was Lilian gerade eigentlich überhaupt gesagt hatte.

„Es gibt nur einen Weg sicher zu gehen, dass du nicht der Nekromant bist“, beantwortete Martin Isabels Frage und griff nach ihrer Hand. Er zog sie zu sich hinüber, sodass Isabels ganzer Arm jetzt quer über den Tisch lag. Für einen kurzen Moment legte Martin seine Hand flach auf Isabels, dann ließ er sie wieder los. „Sie ist es nicht.“

Emil konnte Isabels Erleichterung beinahe spüren, als diese seufzend auf den Tisch sank und einfach mit ausgestrecktem Arm liegen blieb: „Ich dachte schon, ich sei verrückt geworden.“

„Deine Lebensenergie ist noch vollständig. Aber...“ Martin hielt kurz inne. „Der Nekromant muss ja nicht zwangsläufig du sein.“

„Welchen Motiv sollte ich denn haben?“, warf Isabel ein und sah zu Martin hoch, doch dieses Mal antworte Lilian ihr:

„Eifersucht vielleicht?“

„Auf wen?“, fragte Isabel.

„Auf mich?“

„Weil du eine Succubus bist?“

„Nein, weil...“ Lilian hielt inne, doch Emil wusste, was sie sagen wollte. Weil Isabel eifersüchtig auf ihn war. Das war ein Motiv, das durchaus plausibel klang, doch überhaupt nicht zu Isabel passen wollte, wie sie dort auf dem Tisch lag und mit der ganzen Situation überfordert zu sein schien.

Dann merkte Emil Lilians flüchtigen Kuss auf seiner Wange. Bei Isabel löste das jedoch keine Reaktion aus.

„Okay, sie ist es nicht“, wiederholte Lilian Martins Aussage.

„Ihr glaubt mir?“, fragte Isabel, als könne sie es selbst noch nicht glauben.

„Wir könne nicht anders, als dir zu glauben.“ Lilian lächelte leicht, „Aber wehe, du lügst! Dann werde ich dich nämlich aufspießen!“

„Wirklich?“, entfuhr es Emil, ohne das er es hätte verhindern können.

Lilian war Emil einen verschmitzten Blick zu. „Vielleicht auch nicht...eigentlich mag ich Isabel.“

Emil grinste zurück. An Lilians Reaktion merkte er, dass die Sache zumindest für sie damit erledigt war. Man müsste extrem paranoid sein, um jetzt immer noch zu glauben, dass Isabel da mit drin steckte. Dennoch wollte das ungute Gefühl bei Emil nicht vollständig verschwinden.

„Du hast dich verändert in den letzten Jahren, Lilian“, entfuhr es Isabel, die immer noch auf dem Tisch lag, gedankenverloren und Lilian sah sie verwundert an:

„Wieso?“

„Du scheinst akzeptiert zu haben, dass du eine Succubus bist.“

„Ich bin kein Teenager mehr.“ War Lilians knappe Antwort.

„Also, genau genommen...“

„Ja, ja. Genau genommen bin ich mit 19 noch einer. Ich meinte, dass ich nicht mehr in der Pubertät bin. Ich bin raus aus der wilden Phasen.“

Auf Isabels Lippen breitete sich ein Grinsen aus und sie richtet sich auf: „Ich finde das gut. So lange wie du damit gehadert hast. Du hast immer gesagt, dass es ein Fluch sei. Und jetzt schau dich an, du hast einen Freund und weißt deine Kräfte richtig einzusetzen.“

„Stimmt...“ Lilian schien in Gedanken verloren zu sein, doch dann sah sie auf. „Ich habe letztens Hanna wiedergetroffen.“

„Wie kommst du jetzt darauf?“, fragte Martin, der ihren plötzlichen Gedankensprung nicht nachvollziehen konnte. Emil hatte sich daran gewöhnt, dass sie gerne mal das Thema wechselte.

„Dass es ein Fluch sei. Das haben Hanna und ich früher immer gesagt. Aber im positiven Sinne. Mehr als wäre es unser gemeinsames Geheimnis. Sie ist eine Banshee. Ein dunkles Wesen, genau wie ich.“

„Eine weiße Frau?“, fragte Martin sichtlich erstaunt nach. Das hatte er scheinbar nicht gewusst.

„Ja. Vielleicht kann sie uns helfen. Sie ist ein Wesen der Unterwelt. Sie kennt möglicherweise Wege zum Totenreich, die wir nicht kennen.“

„Eventuell könnte sie uns wirklich wichtige Hinweise geben“, räumte Martin ein. „Sie ist eine alte Schulfreundin von dir? Weißt du überhaupt wie du sie erreichst?“

„Wozu gibt’s das Internet?“

„Was willst du ihr dann erzählen, warum wir einen Nekromanten suchen?“

Lilian zuckte die Schultern. „Er hat unsere Schokolade gegessen?“

Emil musste daraufhin hüsteln. Blöderweise verschluckte er sich und musste erst einmal, laut husten, um wieder atmen zu können. Erst als er sich wieder eingekriegt hatte, bemerkte er die prüfenden Blicke der Nachbartische.

„Entschuldigt“, brachte er mit immer noch belegter Stimme hervor.

„Ich dachte Nekromantie wäre illegal?“, überlegte Isabel laut.

„Ja und?“, fragte Martin.

„Dann hättet ihr doch einen Grund ihn zu suchen. Du bist ein Seher und hast damit allen Grund ihn zu suchen!“

Martin räusperte sich leicht. „Also genau genommen, haben die mich letzten degradiert.“

„Was?!“, fragte Isabel im Tonfall der enttäuschten Schwester. „Weiß Papa davon?“

„Natürlich.“ Martin verzog das Gesicht „Wir haben ja nur die Familienregel, dass wir nicht über diese Dinge reden.“

Isabel funkelte Martin darauf böse an. „Aus gutem Grund. Mit euch beiden würde man ja sonst verrückt werden!“

„Ich finde den Vorschlag gut!“, rief Lilian laut, um den aufkommenden Streit damit zu unterbrechen und fuhr dann mit normaler Stimme fort. „Hanna weiß ja nicht, dass Martin eigentlich kein Seher mehr ist. Ich denke, diese Notlüge ist in Ordnung. Die da oben setzten ja momentan wirklich alles dran, den Nekromanten zu finden. Auch wenn sie nicht wissen, dass er nicht wahllos zuschlägt, sondern ein Ziel hat.“

„Welches denn?“, fragte Isabel.

„Geheimnis“, antworte Emil ihr und lächelte. Sonst war er immer derjenige, der keine Ahnung hatte. Heute war es Isabel. Das zu wissen tat gut. Über das was Lilian gesagt hatte, musste er nicht lange nachdenken: „Ich denke das klingt nach einem guten Plan.“
 

„Hast du jetzt endlich was rausbekommen?“ Emil legte die Arme von hinten um Lilian, die schon seit über einer Stunde am Computer saß. Blöderweise spielte sie nichts, sondern suchte immer noch nach Hanna im Internet.

„Fast... einen Moment noch...“

„Mir ist langweilig!“

Lilian wandte ihren Kopf zu Emil und küsste kurz seine Wange. Sie wollte sich gerade wieder abwenden, da hatte Emil die Chance ergriffen und ihre Lippen geküsst. Anstatt sich abzuwenden, erstarrte sie in der Bewegung und küsste ihn zärtlich zurück. Erst einige Zeit später, löste sie sich und lächelte ihn an. „Gib mir 5 Minuten, okay?“

„Okay“, flüsterte Emil, ließ es sich aber nicht nehmen sie noch einmal kurz zu küssen. Lilian wandte sich grinsend ab und Emil machte es sich wieder auf dem Bett bequem. Nach fünf Minuten Löcher in die Luft starren in denen Emil über alles mögliche nachdachte, auch darüber wie hübsch Lilians Nacken war, kam er wieder zu Lilian hinüber.

„Fertig?“, fragte er und beugte sich zu dem Bildschirm hinüber. Darauf war das Email Programm noch geöffnet.

„Ja. Ich hab ihr eine Email geschrieben. Hoffe sie antwortet...“ Mit diesen Worten legte Lilian die Hand auf Emils Arm. „Entschuldige, dass ich dich habe warten lassen.“

„Kein Problem. Es war ja wichtig. Auch wenn Martin vermutet, dass der Nekromant möglichweise schon tot sein könnte.“

„Tut er das?“, fragte Lilian erstaunt.

„Ja.“

„Und was denkst du?“

„Keine Ahnung.“ Emil zuckte die Schultern. Darüber hatte er noch nicht nachgedacht. Er wollte glauben, dass sie eigentlich umsonst suchten, denn das würde bedeuten, dass keinerlei Gefahr mehr bestand. Auch wenn er die Ernsthaftigkeit der Situation gerne vergaß, sie war immer noch da. Wenn der Nekromant noch lebte, würde er früher oder später wieder zuschlagen.

„Ich glaube nicht, dass er tot ist. Das fühlte sich nicht wie ein finaler Schlag an. Wie eine verzweifelte Tat, aber sicher nicht die letzte. Er konnte Martin entkommen und das will schon was heißen.“ Sie hielt kurz inne. „Und weißt du eigentlich, dass dein Arm weich ist?“ Sie begann mit ihren Finger seinen Arm hinauf zu fahren. Ein Schauder lief über Emils Rücken.

„Ich habe übrigens nicht vor, dich auch in der Schule zu stalken“, fuhr sie fort. „Aber da sollte dir eigentlich nichts passieren.“

Ihre Finger strichen jetzt über seinen Nacken hoch zu seinem Ohr. Emil fiel es schwer noch ihren Worten zu folgen. Sie war eine Succubus. Doch das war es nicht, was Emil so aus dem Konzept brachte. Es war ihr Lächeln.

Er wollte glauben, dass es nicht ihre Kräfte waren, die so einen Reiz auf ihn auswirkten, sondern wirklich sie. Lilian wusste einfach, wie sie sich verhalten und wie sie ihn berührten musste.

Sie kicherte leicht und sah ihn einen Moment verschmitzt an, bevor sie anfing sanft sein Ohr zu küssen.

„Ich mag dich“, flüsterte sie, bevor ihre Lippen weiter zu seinem Hals wanderte.

„Willst du mir mein Blut aussaugen?“, fragte Emil scherzhaft.

Das brachte Lilian zum lachen, sodass sie für einen Moment vergaß, was sie gerade tun wollte. „Nein, zu diesen Blutsaugern gehöre ich nicht.“

„Gibt es sie denn?“, fragte Emil, dem einfiel, dass das nicht so unwahrscheinlich war.

„Ja. Die gibt es. Aber nicht besonders viele und die sind meistens auch nicht so von der freundlichen Sorte Menschen.“ Wieder berührten ihre Lippen die Haut an seinem Hals, doch das Thema ließ Emil nicht mehr los:

„Wieso? Bist du schon einmal einem begegnet?“

Lilian hielt erneut inne und an ihrem Tonfall bemerkte, Emil dass etwas nicht stimmt. „Nun, es war kein besonders schönes Treffen.“

„Was ist passiert?“

Lilian richtete sich seufzend auf und sah ihm dann lange in die Augen, bevor sie antwortete. „Ich habe mich mal mit einem geprügelt. Er wollte Unschuldige verletzten, nicht weil er Blut saugen wollte, sondern weil er es nicht einsehen wollte, dass sein Bruder mit einer Sterblichen zusammen war. Da bin ich dazwischen gegangen.“

Emil starrte sie an. „Du hast dich mit einem Vampir angelegt?“ Er konnte nicht glauben, dass Lilian mit einem Vampir gekämpft hatte.

„Aber ich wollte das damals auch. Also mich prügeln. Eigentlich nichts, auf das man stolz sein sollte.“

„Du hast damit wahrscheinlich jemanden das Leben gerettet.“

„Das stimmt.“ Lilians Miene hellte sich etwas auf. „Es gibt aber nicht nur schlechte Vampire. Sie brauchen nur in regelmäßigen Abständen Blut. Eigentlich unterscheiden sie sich wenig von mir.“

„Aber sie sind untot, oder?“

„Ja. Und?“

„Aber du bist hoffentlich noch sehr lebendig.“

„Stimmt. Das bin ich, und deshalb möchte ich jetzt lieber nicht an die magische Welt denken müssen.“

„Wollen wir noch einen Film gucken?“

„Wann hast du morgen Schule?“, fragte Lilian mit einem Blick zu Uhr.

„Um zehn. Glaube ich zumindest.“

„Sehr gut! Dann haben wir ja noch etwas Zeit.“ Lilian richtete sich auf und küsste Emil sanft auf die Lippen.

Das ist so romantisch

Immer wieder fielen Emil die Augen zu. Er konnte sie einfach nicht mehr offen halten. Seine Sicht verschwamm und eine beruhigende Schwärze umfing ihn.Alle Geräusche wurden mit einem Mal stumm. Für einen Moment gab Emil sich dieser unglaublichen Ruhe hin, bis Martin ihn in den Arm piekste und Emil aufschreckte. Fast wäre er im Unterricht eingeschlafen. Aber leider nur fast.

„Physik morgens um 8 Uhr sollte verboten werden“, murmelte Emil Martin zu und unterdrückte ein Gähnen.

„Allgemein Unterricht so früh, sollte verboten werden. So früh kann doch niemand freiwillig aufstehen wollen.“

Emil nickte zustimmend, als Ina sich zischend einmischte: „Also, ich stehe gerne so früh auf.“

Sowohl Martin als auch Emil sahen sie irritiert an. Das war das erste Mal, dass sie seit der Sache mit Marie, wieder mit ihnen sprach. Was jedoch viel erstaunlicher war, dass sie es scheinbar wirklich ernst meinte.

„Guckt nicht so! Das ist mein voller Ernst.“ Ina setzte eine leicht beleidigte Miene auf.

„Ja, und du redest wieder mit uns“, fügte Martin hinzu.

„Jenny ist krank.“ Ina deutete auf den Platz neben ihr, als würde das die Situation erklären.. „Falls es euch noch nicht aufgefallen ist.“

„Oh! Ich dachte sie wäre unsichtbar geworden...“

Ina verdrehte die Augen. „Stattdessen muss ich mich mit euch zwei Idioten unterhalten.“

Emil spürte das Handy in seiner Tasche vibrieren und zog es heraus. Das Display zeigte eine SMS von Lilian. Emil las Martin die Nachricht flüsternd vor:

„Sie hat zugesagt.“

„Wer hat zugesagt?“, fragte Ina neugierig und beugte sich über den Tisch, um auf Emils Handy sehen zu können. Er zog es weg.

Jetzt bereute Emil es, nicht auf Martins Fähigkeiten vertraut zu haben, dass er ohne Emils Worte wusste, was in der SMS stand. Sondern so blöd gewesen war, es laut vorzulesen.

„Sagt schon“, quengelte Ina. „Ihr erzählt mir überhaupt nichts mehr, seit wir Emil gerettet haben.“

„Und das fällt dir jetzt auf?“, fragte Martin ungläubig. „Jetzt wo Jenny krank ist?“

„Ja!“

Als weder Martin noch Emil darauf eine Reaktion zeigten, räumte sie ein: „Außerdem brauchte ich etwas Abstand. Man bekommt nicht alle Tage einen Korb. Aber jetzt ist alles vergessen.“ Ina lächelte versöhnend und fuhr erklärend fort: „Ich habe wen anderes kennen gelernt. Er ist viel netter und sieht auch noch besser aus!“

„Richard?“, rutschte es Emil raus. Inas Sticheleien hatte er nicht einmal bemerkt.

„Woher weißt du das?“ Sie starrte ihn wie eine Erscheinung an und Emil musste sich erklären:

„Er ist Maries Cousin.“

Ina bliebt der Mund offen stehen und Emil musste zugeben, dass ihn der Anblick amüsierte.

„Er ist was?“, stieß Ina verärgert aus. „Das hat er mir nicht gesagt.“

Martin schischte sie schnell auf eine normale Lautstärke hinunter.

„Du solltest ihn vielleicht mal darauf ansprechen. Das ist nicht so üblich in seiner Familie...“, schlug Martin vor, als Ina anfing leise zu quietschen.

„Was ist los?“, fragte Martin irritiert.

„Er darf nicht mit mir zusammen sein? Das ist so romantisch!“

„Könnte ich mir romantischere Dinge vorstellen“, murmelte Emil, aber zum Glück hörte sie ihn nicht.

„Ach übrigens“, fügte Ina hinzu, als ihr Freudenstrom plötzlich versiegte. „Wie geht es Lilian?“

„Wieso?“ Emil verstand nicht,worauf sie hinaus wollte, noch wie sie darauf kam.

„Als ich Lilian vor etlichen Wochen getroffen hatte, ist sie von einem Sonnenschirm attackiert worden. Ich wollte nur fragen, ob sich das nicht vielleicht doch als gefährliche Sache entpuppt hat. Also, wahrscheinlich nicht. Aber ich dachte, fragen kostet nichts...“

„Von einem Sonnenschirm?“ Emil musste ein Lachen unterdrücken. „Davon hat sie sich sicher schnell erholt.“

Doch als er Martins Blick auffing, verstummte er. Martin schien die Sache im Gegensatz zu ihm ernst zu nehmen. „Sonia hat mir davon erzählt“, erklärte er Emil. „Ich dachte auch erst, dass es nicht wichtig ist, aber...“

Erst jetzt bemerkte er scheinbar, dass Ina zuhörte und fügte lachend hinzu: „Da hast du hervorragende Detektivarbeit geleistet, Ina,“

Ina verzog die Lippen. „Verarschen kann ich mich selbst.“

Für einen Moment schwiegen alle Drei. Emil wollte nichts sagen, weil er wusste, dass er sich verplappern würde. Martin schien da der gleichen Meinung zu sein und Ina war auf mysteriöse Weise verstummt, was sehr ungewöhnlich für sie war. Nur noch das Kratzen von Kreide auf der Tafel und die Stimme des Lehrers war zu hören, Bis Ina in ruhigem Ton fort fuhr:

„Ihr dürft mich trotzdem jeder Zeit um Hilfe bitte, wenn was sein sollte. Monster und Vampire jagen gehört nämlich zu meinen Spezialgebieten.“ Sie zwinkerte.

„Danke, Ina“, antwortete Emil ihr perplex. „Ich werde ich drauf zurück kommen.“

Oder doch lieber nicht, dachte er.
 

„Es hat auf jeden Fall etwas mit der Sache zu tun“, sagte Martin im Hinausgehen aus dem Klassenraum, als hätte er die ganze Zeit darauf gewartet.

„Aber das ergibt keine Sinn“, warf Emil ein. „Er ist hinter mir her, nicht hinter Lilian.“

„Was aber, wenn wir diese Kleinigkeit wegen...“ Martin wollte das Wort Nekromant nicht in der Öffentlichkeit aussprechen und behalf sich daher der sprachlichen Anführungszeichen, indem er das Wort unnötig lang zog. „wegen 'ihm' übersehen sollen. Was, wenn du nur das Ablenkungsmanöver bist?“

„Ziemlich aufwendiges Ablenkungsmanöver, meinst du nicht?“

„Wahrscheinlich“, räumte Martin ein und überlegte für einen Moment: „Es ist eine zweite Person, die aber mit Lilian abrechnen möchte, sich dabei nur dumm anstellt.“

„Dann ist sie doch in Sicherheit. Sonnenschirme sind wirklich Lilians kleinste Problem.“ Emil lächelte, doch das verging ihm ziemlich schnell, als er daran dachte, was für Lilian wirklich ein Problem darstellen konnte. „Ihr Problem ist es, dass sie mich um jeden Preis beschützen möchte.“

„Das wird sie.“

„Aber nicht, wenn sie dabei drauf geht.“ Emil spürte wie sein Mund trocken wurde. Er wollte daran eigentlich überhaupt nicht denken. Sie war so gut wie unbesiegbar. Niemand konnte es mit ihr aufnehmen, versuchte er sich einzureden. Nicht mal ein Vampir.

Er wollte es Martin erzählen, hielt sich dann aber doch zurück. Lilian hatte Geheimnisse und Emil konnte froh sein, dass sie sie mit ihm teilte. Trotzdem wäre es manchmal deutlich einfacher, wenn sie dabei sagen würde, welche er für sich behalten musste und welche nicht.

„Was mich aber viel brennender interessiert, was mit Hanna ist“, drängte Martin. „Na los, ruf Lilian an!“
 

Emil und Lilian warteten am Busbahnhof auf Hanna. Lilian hatte sich hier mit ihr verabredet und Emil gefragt, ob er mitkommen wollte. Zunächst hatte Emil es vorgezogen, zu Hause zu bleiben. Doch die Aussicht eine Banshee kennen zu lernen, hatte ihn dann doch überzeugt mitzukommen. Außerdem war es Leid keine Ahnung zu haben, von dem was vor sich ging.

Genau wie Lilian sah er sich nun zu allen Seiten um, um herauszufinden, mit welchem Bus Hanna kommen würde. Bis Lilian mit einem Mal ausrief: „Das ist sie!“

Emil folgte ihrem Blick. Etwas zehn Meter neben ihnen hatte ein Bus gehalten und die Fahrgäste drängten sich auf dem Bürgersteig. Er erkannte unter den Aussteigenden nur ein Mädchen, dass das richtige Alter gehabt hätte. Sie trug ein knielanges dunkelblaues Kleid, das weit abstand und mit jedem Schritt wippte. Sie sah unter den anderen Leuten aus wie eine Prinzessin, die aus Versehen im falschen Jahrhundert gelandet war. Das Mädchen hatte rotblonde Locken und bleiche Haut. Genau so hätte Emil sich eine Banshee vorgestellt, nur ohne das poofige Kleid.

Als Lilian ihr zuwinkte, war Emil sich sicher, dass er Hanna richtig identifiziert hatte. Sie kam zu ihnen hinüber und blieb dann etwas verschüchtert in etwas Abstand von ihnen stehen.

„Hallo“, begrüßte sie die beiden lächelnd. Dann blieb ihr Blick bei Emil hängen. „Du bist Emil?“, fragte sie erstaunt.

„Ja...“, murmelte Emil.

„Hi, ich bin Hanna.“ Sie lächelte jetzt breiter und sah zu Lilian hinüber. „Du brauchst Hilfe mit einem Nekromanten?“

„Genau“, antwortete Lilian ihr. „Aber lass uns erstmal ein wenig laufen, wir müssen nicht unbedingt hier darüber reden.“

„Klar. Auf geht’s!“, rief Hanna scherzend aus und sie setzten sich in Bewegung.

„Also Hanna“, begann Lilian. „Es ist eine schwierige Situation. Die Seher haben mich gefragt, ob ich ihnen bei der Suche nach einem Nekromanten helfen könnte. Er scheint wohl schon seit einige Zeit aktiv zu sein und auch einige zivile Opfer gab es bereits. Aber da ich wenig Ahnung von Nekromanten habe, dachte ich, dass du da sicherlich besser könntest.“

„Ja, das ist naheliegend.“ Hanna nickte und setzte eine nachdenkliche Miene auf. „Ich sollte am ehesten wissen, wenn etwas mit den Toten nicht stimmt. Ich höre sie leider immer noch manchmal mit mir sprechen...“

„Die Toten? Etwa deine Eltern?“, fragte Lilian im ruhigen, mitfühlendem Ton.

„Ja. Manchmal. Aber es sind nur Erinnerungen.“ Hanna zuckte mit den Schultern und fuhr dann mit dem eigentlichen Thema fort, als wäre nichts gewesen: „Irgendwelche Schwankungen oder Veränderungen im Reich der Toten, habe ich eigentlich nicht bemerkt. Kann es sein, dass die Seher sich irren?“

„Ich denke nicht“, antwortete Emil. „Sie hätten Lilian nicht damit beauftragt, wenn sie sich nicht sicher wären.“

„Ich hoffe trotzdem, dass sie sich irren, denn jemandem, der das Reich der Toten durcheinanderbringt könnte ich nicht verzeihen. Es ist ein Ort der Ruhe“, sagte Hanna mit fester Stimme. „Nekromantie bringt nur Chaos und Zerstörung.“

Emil war froh, dass er die Geschichte, die sie Hanna erzählten, vorher mit Lilian mehrmals durchgesprochen hatte: „Die Seher meinten, dass der Nekromant sich eines Ghuls bemächtigt hat.“

Hanna schwieg daraufhin für einen Moment. „Das heißt, er hat keine Achtung, weder vor dem Tod noch vor seinem Geschöpfen. Wenn ich das bis jetzt nicht gemerkt habe, dann wird es länger dauern, bis ich etwas Genaueres dazu sagen kann.“

„Das heißt du hilfst uns?“, fragte Lilian entzückt. „Danke!“

„Unter einer Bedingung.“

„Welcher?“

„Die Seher erfahren nichts davon, dass ich dir helfe. Das ist deine Angelegenheit. Auch wenn es mich sehr wundert, dass sie dich fragen...“

Emil stockte. Erkannte sie etwa die Lüge? Doch dann fuhr sie hastig fort:

„Nicht dass ich denke, dass du nicht dafür geeignet wärst! Aber...“ Ihre Stimme wurde wieder ruhig. „Wir waren immer die Außenseiter. Verfluchte Kinder mit denen niemand spielen wollte. Und jetzt arbeitest du für die Seher.“

„Nur dieses eine Mal!“, beteuerte Lilian. „Früher habe ich genug Unsinn gemacht. Ich habe auch ein paar Schufte für dich mit verprügelt.“ Sie knuffte Hanna leicht in den Arm, was Hannas ernste Miene etwas auflockerte.

„Das ist lieb von dir.“

„Glaub mir, sobald ich den Nekromanten gefunden habe, können die mich mal.“

„Und was bekommst du dafür?“, fragte Hanna und versuchte dabei den misstrauischen Unterton zu unterdrücken indem sie lächelte. „Wenn du den Nekromanten gefunden hast? Darfst du du dann mit Emil zusammen sein?“

Lilian hielt inne und auch Emils zuckte innerlich zusammen. Das hatten die beiden vorher nicht durchgesprochen. Verzweifelt überlegte Emil sich eine Lüge, die Hanna glauben würde. Hannas Theorie klang gar nicht so schlecht. Das war etwas, wo er ansetzten konnte.

„Genau. Wenn sie ihnen hilft, dann darf sie weiterhin mit mir zusammen sein. Außerdem vergessen sie ihr dann das Chaos das sie letztens bei einer Klassenkameradin von mir angerichtet hat.“

Lilian sah Emil entgeistert an. Doch er ließ sich davon nicht irritieren. Hanna schluckte scheinbar die Mischung aus Wahrheit und Lüge. Denn sie fragte erstaunt:

„Wieso? Was ist passiert?“

„Ach, so eine Hexe hat versucht mich zu verzaubern“, winkte Emil locker ab. „Lilian hat mich gerettet.“

„Das ist so romantisch“, sagte Hanna auf ihre ruhige Art und bei ihr klang der Satz deutlich überzeugender als bei Ina.

„Nun“, mischte Lilian sich ein. „Auf jeden Fall kam mir das Angebot sehr gelegen. Ich hoffe deshalb, dass du mir helfen kannst.“

Doch statt Lilians Frage zu beantworten stellte Hanna lieber selbst eine: „Wie kommt es eigentlich, dass du mit ihm zusammen sein kannst?“

Weil Lilian für einen Moment nicht wusste, was sie darauf antworten sollte, übernahm Emil das, der darin mittlerweile deutlich routinierter im Lügen war:

„Ich bin wohl irgendwie immun dagegen. Scheint genetisch bedingt zu sein.“

„Das ist ungewöhnlich“, staunte Hanna.

Emil zuckte die Schultern und sah zu Lilian hinüber, deren Miene jetzt ernst geworden war:

„Versteh mich nicht falsch, Hanna. Ich danke dir vielmals, dass du mir helfen möchtest. Aber die Seher haben mir etwas mitgegeben, um zu überprüfen, ob du nicht vielleicht der Nekromant bist.“ Lilian war stehen geblieben und sah Hanna eindringlich an. „Erlaubst du mir einen Test zu machen?“

Hanna sah Lilian erstaunt an und nickte dann. „Klar, warum nicht? Was muss ich tun?“

Emil erinnerte sich daran, dass Martin ihm gestern den Stein in die Hand gedrückt, um diesen Test durchzuführen. Er hatte gesagt, es wäre der gleiche Test, wie bei seiner Schwester nur das es dieses Mal ein magisches Artefakt war, dass prüfen konnte, wie stark die Lebensenergie war.

„Halt deine Hand auf“, erklärte Lilian und kramte den Stein aus ihrer Tasche. Behutsam legte sie ihn auf Hannas offene Handfläche. Gegen Hannas helle Haut sah der Stein noch schwarzer aus. Kein Licht spiegelte sich auf der glatten, rund geschliffenen Oberfläche, sodass es fast so wirkte, als würde der Stein alles Licht in seiner Umgebung absorbieren.

„Einmal fest drücken“, sagte Lilian und Hanna folgte ihrer Anweisung. „Reicht schon.“

Als Hanna die Hand öffnete, hatten Stellen des Steins ihre Farbe verändert. Sie schimmerten jetzt in einem dunklen Grün und reflektierten das Licht aus der Umgebung. Martin hatte Emil erklärt, dass der Stein einen Teil von Hannas Lebensenergie speicherte und damit ein Indikator dafür war, wie viel sie noch hatte. Wie bei einem ph-Papier. Wenn sie der Nekromant gewesen wäre, hätte sich der Stein nur leicht verfärbt oder wäre schwarz geblieben.

Innerlich atmete Emil auf. Auch Lilian schien es nicht anders zu gehen, denn sie lächelte erleichtert.

„Danke, Hanna!“ Lilian nahm den Stein wieder an sich. „Hast du schon eine Idee, wie wir am besten vorgehen sollen?“

Knochen und Erde

Was Hannas Herangehensweise betraf, war Emil sehr erstaunt darüber, wie pragmatisch magische Wesen waren. Hanna hatte ihm und Lilian erklärt, dass sie ein einfaches Ritual durchführen wollte, um einen direkten Kontakt mit den Toten aufzunehmen. Was sie dafür bräuchte, waren Erde und Knochen.

Beide Dingen waren nicht direkt zur Hand gewesen, doch Hanna hatte gemeint, dass das es auch mit jeder Form von Knochen und Erde funktionieren würde. Dafür bräuchte man nicht unbedingt Friedhofserde.

Also saß Hanna nun mit einem Blumentopf aus dem sie zweckmäßig, aber etwas lieblos das Stiefmütterchen heraus gepflückt hatte auf der Parkbank, während Lilian und Emil damit beschäftigt waren, die Knochen aus den Chicken Wings zu pulen. Die mühselige Kleinarbeit war es wert, denn sie brauchten nur die Knochen, was bedeutete, dass Emil den Rest wenigstens essen konnte. Die Knochen sammelten sie in einer leeren Tüte.

Emil konnte den Blick nicht von Hanna abwenden, die nun anfing mit dem Finger Kreise in der Blumenerde zu ziehen. Die Vorstellung, dass sie wirklich mit den Toten reden konnte, wollte nicht in seinen Kopf. Dass überhaupt irgendjemand mit den Toten reden konnte, schien so unwirklich.

Nekromantie war für ihn die eine Sache gewesen. Kraft aus dem Reich der Toten zu ziehen, konnte Emil sich vorstellen, vorausgesetzt, es gab Magie, in der Form, wie er es sich vorstellte. Aber wirklich mit einer Person reden zu können, die gestorben war, verunsicherte ihn. Lilian schien das durchaus gelassener zu sehen, dennoch brannte ihr dabei scheinbar eine ähnliche Frage auf der Seele, denn anstatt den nächsten Chicken Wing zu nehmen fragte sie:

„Kannst du dir bei dem Ritual aussuchen, mit wem du redest?“

Hanna lächelte, schüttelte dann aber verneinend den Kopf. „Leider nein. Die Toten suchen sich aus, wer mit mir redet. Meistens sind es die kürzlich Verstorbenen, die viel zu erzählen haben.“ Sie sagte das mit einer Leichtigkeit, die Emil erschauern ließ. Für Hanna musste das ganz normal sein. Emil empfand es als Wunder, dass sie damit noch nicht durchgedreht war.

„Macht nicht solche Gesichter“, fügte Hanna amüsiert hinzu. „Das ist nicht so gruselig, wie es klingt.“

Lilian lachte trocken auf. „Du sagst das, als wäre ich ein Angsthase.“

„Warst du doch früher auch.“ Hanna grinste breit, was bei ihr nicht gemein, sondern unglaublich süß aussah. „Du konntest nicht einmal Disney-Filme bis zum Ende schauen, weil sie zu gruselig wurden.“

„Dornröschen war auch ziemlich gruselig!“, protestiere Lilian und fügte für Emil als Erklärung grinsend hinzu: „Ich war wirklich empfindlich als Kind.“

Emil erwiderte ihr Lächeln instinktiv, auch wenn er nicht glaubte, dass Lilian jemals ängstlich gewesen war. Letztens hatte sie ihm erzählt, dass sie es mit einem Vampir aufgenommen hatte.

Was ein Vampir genau war, wusste Emil nur von dem, was Lilian ihm erzählt hatte. Sie waren untot und angeblich nicht gut auf Lebende zu sprechen. Wahrscheinlich so, wie man sie aus der Literatur kannte. Das Bild kam ja nicht von ungefähr. Ob sie wirklich Blut tranken, hatte Lilian ihm allerdings nicht verraten und wenn ja, ob sie es zum Überleben brauchten? Den Punkt hatte Emil noch nie verstanden. Vampire waren untot, wozu tranken sie Blut? Es gab einige Erklärungen dafür, aber die hatten ihn nie wirklich überzeugt.

Emil starrte den Chicken Wing in seiner Hand an und erinnerte sich daran, was sie hier gerade taten. Wenn Vampire untot waren. Wie hingen sie dann mit dem Reich der Toten zusammen? Waren sie diesem nur entronnen?

Was war Hanna dann eigentlich? Er wusste, dass sie eine Banshee, eine weiße Frau war. Doch waren das nicht Geister? Erscheinungen, die den Tod ankündigten? Und wenn überhaupt real existierend, dann doch auf jeden Fall untot.

Dennoch saß Hanna vor ihm, wie ein Mädchen, das normal gealtert war. Zwar sah sie durch ihre zierliche Figur, die großen Augen und die Sommersprossen im Gesicht, etwas jünger aus als Lilian. Aber Emil hätte schwören können, dass das eine nicht magische Ursache hatte. Auch hatte der Stein bei Hanna bestens funktioniert. Das heiß sie hatte genauso viel Lebensenergie wie jeder andere. Warum aber konnte sie mit den Toten sprechen, ohne diese zu verlieren?

Es half nichts. Der einzige Weg herauszufinden, was es damit auf sich hatte, war zu fragen. Aber nicht, ob Hanna wirklich 19 war, sondern eher:

„Was hat es eigentlich mit deinen Fähigkeiten auf sich?“, sprach Emil laut aus. „Eine Banshee ist doch eigentlich...“ Er musste es aussprechen, auch wenn es ihm schwer fiel, weil er es immer noch für absurd hielt. „untot.“

„Eigentlich schon“ Hanna nickte zustimmend, sah aber nicht auf. „Die Bezeichnung Banshee habe ich zwar wegen meiner Fähigkeiten bekommen, aber ich bin nicht untot, wie man es vielleicht erwarten würde. Noch schreie ich besonders schrill.“ Sie hob den Kopf und sah Emil an. „Ich sehe mich eher als eine Verbindung zu den Toten.“

„Hat der Stein deshalb bei dir funktioniert?“

Hanna überlegte für einen Moment. „Wahrscheinlich ja.“ Dann warf sie einen kurzen Blick in die Tüte und verkündete:

„Das sollte reichen.“

Lilian hielt in der Bewegung inne, biss dann noch das letzte Stück ab und legte die Knöchelchen noch schnell zu den anderen. Sie reichte die Hanna die Tüte und diese schüttete den Inhalt über der Blumenerde aus. Dann begann Hanna säuberlich die schmalen Knochen hinein zu drücken und sie dann wieder mit Erde zu bedecken.

Emil musste innerlich auflachen. Die Situation war zu absurd. Sie vergrub gerade Hühnchenknochen in Blumenerde, um mit den Toten reden zu können. Doch als Hanna fertig war und die Hand in auf die Erde legte, merkte Emil, wie sich sein Körper anspannte. Sein Kopf sagte ihm, dass sicher nichts passieren würde, aber seine Augen starrten wissbegierig auf Hannas Hände. Diese schloss die Augen und murmelte etwas.

Es klang nicht wie die Sprache, die Marie schon einmal bei ihm angewendet hatte, auch wenn er das bei einem Murmeln schwer unterscheiden konnte. Sicher war das hier auch eine ganz andere Form von Magie, wenn es überhaupt Magie war.

Mehrere Sekunden oder sogar Minuten verstrichen, in denen Emil und Lilian beide Hanna einfach nur anstarrten. Es passierte nichts.

Dann sah Hanna mit einem Mal auf und ihre Augen glänzten. „Ich hab was!“

Emil und Lilian starrten sie abwartend an.

„Sie reden von einem Mädchen“, antworte Hanna im ruhigen Ton.

Von einem Mädchen? War der Nekromant ein Mädchen? Emil ging in seinem Kopf alle Mädchen durch die er kannte.

Lilian. Sie war seine Freundin. Sie hätte Hanna nicht gefragt, wenn sie es wäre. Sie wäre nicht da gewesen, um ihn zu beschützen.

Marie. Sie war eine Person, der man nicht trauen konnte, aber Nekromantie, war nicht ihr Stil. Sie hätte sich eine raffiniertere Methode ausgedacht. Außerdem war sie sich selbst zu wichtig.

Ina. Sie hatte gesagt, dass sie ihm verzeihen würde und ihm sogar ihre Hilfe angeboten.

Martin hatte Evelyn bereits ausgeschlossen. Viel mehr Mädchen kannte Emil gar nicht.

Aber bedeutete, was Hanna sagte überhaupt, dass es sein Mädchen war?

„Was hat das mit dem Nekromanten zu tun?“, fragte Lilian.

„Ein Mädchen soll wohl dem Nekromanten geholfen haben“ Hanna zog die Hand wieder aus der Erde und seufzte. „Tut mir Leid, die stimmen sind heute sehr wirr.“

„Aber“, fuhr Hanna fort. „Ich glaube, dass die Nekromantin bald dafür bezahlen muss, dass sie die Toten gestört hat. Ihr könnt eure Suche aufgeben.“ Sie sah auf und Emil glaubte zu erkennen, dass ihre Augen feucht waren. Auch ihr Lächeln erschien gezwungen.

Lilian schien das nicht zu bemerken.

Als Hanna bemerkte, dass Emil sie ansah, wandte sie ihren Blick rasch ab und wischte sich vorsichtig mit dem Handrücken über die Augen. „Ich würde euch gerne helfen, aber das ist alles, was ich tun kann.“ Dann hielt sie inne und starrte auf einen Punkt, etwas hinter Emil und Lilian.

Emil folgte ihrem Blick und erkannte Martin, der auf sie zu kam. Er kam mal wieder wie gerufen. Was ja eigentlich nicht verwunderlich war, wusste er, wann der richtige Moment war.

Martin schob sich zwischen Emil und Lilian, legte die Hand auf Emils Schulter und zog ihn etwas zu sich heran. Kaum merklich flüsterte er ihm zu: „Wir haben eine Spur.“

Emils Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Was sollte diese Heimlichtuerei? Warum sagte Martin das nicht einfach offen? Er starrte erst Martin verwirrt an, dann sah er zu Lilian, die keine Miene verzog; und erst da wurde Emil bewusst, dass keiner Hanna gesagt hatte, dass Martin der Seher war, für den sie arbeiteten. Die beiden hatten sich nie getroffen.

„Hallo“, sagte Martin dann laut.

„Was machst du hier Martin?“, fragte Lilian stattdessen, als hätte sie keine Ahnung.

„Nichts besonderes. Ich bin auf dem Weg in die Stadt und hab euch hier gesehen. Ich bin übrigens Martin.“, sagte er an Hanna gewandt.

„Hanna. Du bist ein Freund von Emil?“ Hanna lächelte freundlich. Scheinbar kannte sie Martin nicht und kaufte ihm die Situation ab.

Emil merkte wie er innerlich unruhiger wurde. Was hatte Martin damit gemeint? Was wollte er ihm sagen?

„Richtig. Wir sich sogar beste Freunde.“ Martin legte Emil den Arm um die Schulter. Emil zuckte daraufhin zusammen. Das tat Martin sonst nie. Dann fuhr er fort:

„Gut, dass ich dich hier treffe. Ich wollte ein Buch für meinen Bruder zum Geburtstag kaufen. Wie hieß das Buch nochmal, dass du so gut fandest? Irgendwas mit Schatten... Blut... König...“

Emil merkte, dass Martin nur Wörter aufzählte, die ihm zu Fantasybüchern einfielen, doch Emil bastelte schnell einen Titel daraus, der einigermaßen plausibel klang. Zumindest in seinem Kopf:

„König des Schattenblutes.“ Seine Stimme klang zum Glück ruhiger, als er sich fühlte.

„Genau!“

„Das habe ich gelesen“, warf Hanna ein. „Das ist gut. Besonders das Ende!“

Emil hasste sich dafür, dass es den Titel scheinbar wirklich gab und die einzige Möglichkeit, die ihm blieb, nur so zu tun war, als hätte er es auch gelesen.

„Das Ende war wirklich gut“, sagte Emil schnell. „Aber deinem Bruder würde „Der Weg der Schwerter“ bestimmt besser gefallen.“ Irgendwie musste er sich aus der Situation herausreden. Konnte Martin nicht endlich sagen, was er vor hatte?

„Zu viele Titel!“, rief Martin. „Ich komm nicht mehr mit. Jetzt nochmal für Menschen, die nicht so viel Fantasy lesen.“

„Vielleicht sollte Emil dich einfach in den Buchladen begleiten“, schlug Lilian vor und zuckte die Schultern. Sie warf Martin einen kurzen fragenden Blick zu.

„Eine sehr gute Idee! Du hast doch Zeit, oder?“ Martins Arm lag immer noch über Emils Schultern, als würde er ihn jeden Moment abführen wollen. Emil wusste, dass es darauf nur eine richtige Antwort gab.

„Klar. Kein Problem.“ Langsam nervte ihn dieses Theater. Er wollte einfach wissen, was Martin ihm sagen wollte.

„Na gut. Du kannst ihn haben“, sagte Lilian und warf Martin einen eindringlichen Blick zu, als könne er Emil in irgendeiner Weise schaden.

„Danke. Ich bring ihn dir heil zurück.“ Aus Martins Mund klang das zwar scherzhaft, aber Emil war sich nicht so sicher, ob das auch so gemeint war. Mit leichtem Druck auf seine Schulter, gab Martin Emil zu verstehen, dass sie gehen mussten.

„Bis dann!“, konnte Emil sich gerade noch verabschieden, dann hatte Martin ihn schon von den beiden Mädchen weggeschoben.

Erst als sie um die nächste Ecke waren, ließ Martin ihn endlich los und es brach aus Emil heraus: „Was soll das heißen „Wir haben eine Spur“? Weißt du wer der Nekromant ist?“

„Ssch. Nicht so laut.“ Martin sah sich besorgt in alle Richtungen um. Wenn Martin das tat, war er sich selbst nicht sicher, ob seine hellseherische Fähigkeit ihm die Sicherheit gab, die er brauchte. „Es ist nur eine Vermutung, aber ich glaube, dass Hanna nicht die Wahrheit gesagt hat.“

„Wie meinst du das?“

„Ich glaube -“ Doch in diesem Moment versagte Martin die Stimme. Er war wie erstarrt, nur seine Augen wanderten hektisch in alle Richtungen.

„Was ist los?“, fragte Emil mit zittriger Stimme. Sein Mund war trocken und sein Kopf konnte das alles gar nicht so schnell realisieren wie es passierte. Hinter Martin tauchten drei Personen auf, vorneweg die Seherin Elisa. Sie packte Martins Kopf und drückte seinen gesamten Oberkörper nach unten.

„Martin Rewalt“, sprach sie mit ruhiger Stimme, während sie Martin den Arm auf den Rücken drehte. „Sie sind hiermit wegen der Ausübung illegaler Magie festgenommen.“

Emil wich zurück. Jegliches Gefühl war aus seinen Armen und Beinen gewichen. Warum taten sie das? Martin hatte nichts getan.

„Ihnen wird Nekromantie in mindestens zwei Fällen vorgeworfen, sowie Bruch des Sehers Schwur.“

Das war nicht ihr Ernst. Martin konnte nicht der Nekromant sein. Niemals. Das wusste Emil. Egal wer es war. Es war nicht Martin. Warum sagte Martin nichts? Warum wehrte er sich nicht?

Er konnte es nicht, schoss es Emil durch den Kopf. Als hätte jemand in Emils Kopf einen Schalter umgelegt, verschwand die Angst mit einem Mal. Wenn Martin sich nicht verteidigen konnte, dann musste Emil das für ihn tun.

„Warum nehmt ihr ihn fest?“ Seine Stimme war nicht so bestimmt, wie Emil es gehofft hatte, doch Elisa sah daraufhin zu ihm auf.

„Dein Freund hat mehrmals versucht dich umzubringen.“

„Hat er nicht! Er ist kein Nekromant!“

„Und wieso bist du dir da so sicher? Er hat sich Bücher über Nekromantie in der Bibliothek gelesen. Er war der einzige, der nah genug an dich herankommen konnte, weil sein Vater nachlässig in seinem Bereich war.“ Elisa zog Martins Oberkörper wieder nach oben. Martin sah Emil an. Seine Lippen waren immer noch versiegelt, doch in seinen Augen konnte Emil die Panik erkennen.

„Er war es nicht. Wir haben die Bücher gemeinsam gelesen.“ Emil zweifelte gerade an seinen Worten. Wenn er es bedachte, so machten Elisas Argumente durchaus Sinn. Doch das durfte nicht sein. Das war Unsinn. „Er hat überhaupt kein Motiv!“

„Das wird der Rat entscheiden“, entgegnete Elisa ohne weitere Emotion.

„Ihr könnt mich fragen! Ich kann bezeugen, dass er unschuldig ist!“ Emil merkte wie seine Worte an ihr abprallten. Es machte keinen Unterschied, was er sagte. Trotzdem versuchte er es. Irgendwie musste er Martin helfen. Irgendwie.

„Dich wird der Rat auch noch hören. Aber bis dahin-“ Sie nickte den beiden Männern mit Sonnenbrillen zu. „wirst du dein Haus nicht verlassen.“

Einer der Männer packte Emil unsanft an der Schulter.

„Glaubt mir doch einfach!“, setzte Emil erneut an. „Ihr dürft ihn nicht mitnehmen.“

„Das ist ein Befehl von ganz oben. Noah wird ihn sehen wollen.“

„Wer ist Noah?“

„Bringt ihn nach Hause“, befahl Elisa den beiden Männern.

„Er ist unschul -“ Emils Lippen erstarrten mitten im Satz. Elisa hatte die Hand gehoben. Sein ganzer Körper gehorchte ihm nicht mehr. Sie hatte ihn mit dem gleichen Zauber wie Martin belegt.

Statt etwas weiteres zu sagen, tauschte sie nur stumme Blicke mit den beiden Männern aus, die Emil dann einen kleinen Schubs gaben. Emil spürte, wie seine Beine zu laufen anfingen. Aber er kontrollierte sie nicht, sie liefen von alleine. Im Augenwinkel sah er Elisa, wie sie Martin mit sich zog.

Emil wollte etwas tun. Er wollte die Lippen öffnen, sich umdrehen, irgendetwas tun. Doch stattdessen musste er zusehen, wie Elisa mit Martin verschwand.

In der Falle

Emil riss die Augen auf. Sein Herz hämmerte in seiner Brust.

Er lag auf dem Rücken und das über ihm war eindeutig seine Zimmerdecke. Er blickte sich um. Das war auf jeden Fall sein Zimmer. Immer noch etwas benommen richtete er sich auf, und versuchte sich daran zu erinnern, was er gerade noch gedacht oder viel mehr geträumt hatte. Warum war er so unruhig?

Mit beiden Händen fuhr er sich über das Gesicht, um seine Gedanken zu ordnen. Er war vollständig angezogen, trug immer noch Jeans und einen Hoodie. Warum hatte er sich nicht umgezogen? Nur langsam kamen die Erinnerungen zurück. Erst verschwommen, dann auf einen Schlag so klar, dass er hoch fuhr. Martin. Die Seher hatten ihn mitgenommen.

Hastig stieg er aus dem Bett und hastete nach unten. Die Seher hatten ihn gegen seinen Willen hergebracht. Sie hatten ihn aufs Bett gelegt und mit Magie zum Schlafen gebracht. Das hatte er nicht geträumt. Das war alles wirklich passiert. Er erinnerte sich wieder an alles.

Emil eilte an der Küche vorbei zur Haustür und griff nach der Klinke. Doch diese gab nicht nach. Ein paar mal rüttelte er daran, weil er nicht glauben konnte, dass sie wirklich zu war. Dann überlegte er fieberhaft. Wo war der Schlüssel?

Mehrmals atmete er tief ein um seinen rasselnden Atem zu beruhigen. Wovor hatte er Angst? Was würde er überhaupt machen wollen? Gegen die Seher hatte er keine Chance. Wie kamen sie überhaupt darauf, dass Martin der Nekromant sein könnte? Wer war dieser Noah?

Emil lehnte sich leicht gegen die geschlossene Tür. Martin hatte ihm etwas sagen wollen. Er hatte lange darüber nachgedacht, als er unter der magischen Kontrolle gestanden hatte. Aber was verdammt hatte Martin ihm sagen wollen? Er hatte gesagt, dass er glaubt, dass Hanna gelogen hatte. Aber womit? Hanna hatte gesagt, dass ein Mädchen dem Nekromanten geholfen hatte. Aber wo sollte sie da gelogen haben? Hatte Martin herausgefunden, wer der Nekromant war? Das alles ergab im Kopf keinen Sinn.

Aber, es war sicher kein Zufall gewesen, dass Elisa genau in diesem Moment aufgetaucht war. Da stimmte etwas nicht. Sie hatte ihn absichtlich zum Schweigen gebracht. Aber warum? Was bezweckte sie damit? War sie der Nekromant? Das konnte Emil sich nicht vorstellen. So falsch die Anschuldigungen gegen Martin gewesen waren, so plausibel hatten sie geklungen. Vielleicht hatte jemand Martin bei den Sehern angeschwärzt und Elisa tat nur ihren Job? Aber dann hätte sie ihn nicht zum schweigen gebracht. Das alles klang so sehr nach einem abgebrühten Plan.

Mit zittrigen Beinen ging er einige Schritte in die Küche und sah aus dem Fenster. Draußen erkannte er einen der Seher, der mit dem Rücken zu ihm stand. Emil erkannte ihn an seiner Statur, es war einer der beiden Männer von gestern und er bewachte scheinbar das Haus. Elisa hatte ihn hierher bringen lassen und der Typ draußen sollte scheinbar dafür sorgen, dass er das Haus auch erst einmal nicht verlassen würde.

Emil wich einige Schritte zurück und sah sich in der Küche um. Auf der Arbeitsplatte stand eine Schüssel und daneben eine Cornflakes-Packung. Unter der Schüssel klemmte ein Zettel. Emil trat einige Schritte näher, um ihn lesen zu können. „Bringe heute Abend Nachschub mit. Mama.“

Etwas enttäuscht stieß Emil die Luft aus. Das war nur eine ganz gewöhnliche Notiz. Seine Mutter musste schon bei der Arbeit sein. Deswegen war es auch so still im Haus. Beide seiner Eltern hatten scheinbar das Haus verlassen. Aber wie? War die Tür doch nicht von dem Seher verriegelt worden?

Mit schnellen Schritten hastete Emil zurück in sein Zimmer. Auf dem Boden fand er seinen Schlüssel. Dann zurück zur Haustür. Der Schlüssel passte. Aber er ließ sich nicht drehen.

Verärgert zog Emil den Schlüssel wieder aus dem Schloss. Sie hatten ihn wirklich hier eingesperrt.

Er hatte keine Ahnung, wohin er geben wollte oder viel mehr: wohin er gehen sollte, um den Sehern zu entkommen. Doch er wusste, dass er auf keinen Fall im Haus bleiben würde. Die Seher hatten ihn hier eingesperrt und er würde ihnen ganz sicher nicht den Gefallen tun, und hier bleiben. Irgendeinen Weg musste es doch raus geben. Wenn nicht die Tür, dann vielleicht die Fenster.

Doch auch die Fenstergriffe gaben keinen Zentimeter nach, als er daran rüttelte. Sie waren wie verklebt, auch wenn Emil mit aller Kraft an jedem einzelnen zog. Er hatte schon alle Fenster überprüft, sowohl im Erdgeschoss, als auch im ersten Stock.

Etwas verloren stand er nun in seinem Zimmer, vor der großen Fensterscheibe, die jetzt schon zweimal zu Bruch gegangen war. Warum nicht noch ein drittes Mal?, schoss es ihm durch den Kopf. Emil warf einen prüfenden Blick hinunter in den Garten. Von dem Seher war keine Spur zu erkennen. Scheinbar stand er vorne am Haus. Wenn Emil es geschickt anstellte, konnte er von hier vielleicht über das Vordach und die Garage entkommen. Doch er zögerte. Würde der Seher wissen, dass er gerade versuchte zu entkommen? Schließlich konnte er in die Zukunft sehen. Aber eine bessere Idee hatte Emil sowieso nicht.

Er betrachtete den Schreibtischstuhl, der neben dem Fenster stand. Die Wucht sollte ausreichen, um die Scheibe aufzubrechen. Doch ein Blick auf seine Füße verriet ihm eins: Er sollte erst einmal Schuhe anziehen.

Nachdem er seine Turnschuhe neben dem Bett eingesammelt und angezogen hatte stand er nun vor dem Fenster. Er atmete tief ein. Sowas hatte er noch nie gemacht und mittlerweile war er sich auch nicht mehr besonders sicher, ob das wirklich klappen könnte. Trotzdem hob er den Schreibtischstuhl an beiden Armlehnen hoch. Wenn das nicht klappte, dann hatte er auch keine Idee mehr. Dann holte er aus und schlug den Stuhl mit voller Kraft gegen das Fenster.

Der Aufprall war so heftig, dass er zurück geschleudert wurde. Sein Fall wurde nur von seinen Armen und dem Teppich etwas gedämpft. Es ging so schnell, das Emil kaum realisierte, was gerade passiert war. Seine Unterarme brannten, seine Hüfte schmerzte. Doch als er zum Fenster sah, war dieses immer noch vollständig intakt. Daneben lag der Schreibtischstuhl, dessen Lehne nun schief war und dem nun zwei Räder fehlten. Verdammt!, stieß er aus und rappelte sich auf. Er hatte überhaupt nichts erreicht. Rein gar nichts.

Vorsichtig schob er seine Ärmel nach oben und betrachtete die rote, geschürfte Haut darunter. Es fühlte sich schlimmer an, als es war. Doch wofür? Er war immer noch hier eingesperrt. Der Seher hatte ihn vollkommen in der Falle und es gab keinen Weg hinaus. Die Fenster waren versperrt, die Türe auch. Gegen so eine Magie konnte er niemals ankommen.

Das Geräusch einer Tür, die ins Schloss fiel, ließ ihn zusammen schrecken. Das war die Haustür. Waren das die Seher? Hatte der Seher seinen Fluchtversuch bemerkt? Hektisch sah Emil sich in seinem Zimmer um, nach einer Antwort, was er jetzt machen sollte, als er seinen Namen hörte.

„Emil?“ Die Stimme klang nicht, als würde sie einem der massigen Seher gehören. Emil hielt inne.

„Emil?“, rief die Stimme erneut und Emil hatte das Gefühl sie schon einmal gehört zu haben. Vorsichtig schlich er in den Flur, nah an die Wand gedrückt, um nicht gesehen zu werden und lugte die Treppe hinter. Am Treppenabsatz stand seine Mutter. Oder vielmehr, jemand der wie seine Mutter aussah. Sie trug ein zu großes, graues T-Shirt, dass sie in ihre Jeans gestopft hatte, was sie mindestens 10 Jahre jünger aussehen ließ. So etwas würde seine Mutter nie tragen. Für einen Moment starrte er hinunter und in dem Moment bemerkte die Person ihn.

Sie sahen sich für einen langen Moment an, bis die Person ein DIN-A4 Blatt hervorholte auf dem mit dickem Edding geschrieben stand:

Ich bin nicht deine Mutter.

„Das weiß ich auch“, entfuhr es Emil sofort.

Die Person verdrehte genervt die Augen und legte den Finger auf die Lippen. Dann winkte sie Emil zu sich heran.

Emil hatte keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hatte. Doch ihm fiel nur einer ein, den er kannte und der so tun könnte als wäre er seine Mutter. „Cornelius?“, flüsterte er.

Die Person nickte eindringlich und winkte nun nachdrücklicher. Nur langsam ging Emil die Treppe hinunter. Er war sich nicht ganz sicher, ob das eine Falle war. Woher sollte er wissen, ob es wirklich Cornelius war? Aber wenn er es genau betrachtete, gab es für ihn auch keine wirkliche Alternative. Er würde nicht in diesem Haus eingesperrt bleiben. Er musste Cornelius oder wem auch immer einfach vertrauen.

Als Emil nah genug war, streckte Cornelius die Hand aus und drückte ihm einen kleinen Zettel in die Hand. Emil nahm ihn und begann zu lesen:

Ich bitte dich den Text schnell zu lesen, denn der Seher ist auf dich fokussiert. Sobald du es weißt, wird er es verhindern wollen.

Mehr stand nicht auf dem Zettel, Emil sah verwirrt zur Cornelius hinüber, der einige Schritte zurück zur Tür gemacht hatte und nun die Klinke in der Hand hielt. Er fing Emils Blick auf und raunte ihm nur ein Wort zu: „Rückseite.“

Beim Klang seiner Stimme war Emil sich sicher, dass es Cornelius war. Etwas irritiert drehte Emil den Zettel um auf dessen Rückseite nur drei Wörter standen:

Du wirst fliehen.

Was meinte Cornelius damit? Doch bevor Emil fragen konnte, hatte Cornelius die Tür aufgestoßen. Emil sah sich selbst in der Tür stehen in der gleichen Kleidung die gerade noch seine angebliche Mutter getragen hatte. Dann rannte Cornelius plötzlich los.

Was sollte das heißen? Emil war wie gelähmt. Doch dann verstand er plötzlich. Eine Ablenkung. Das war alles eine Ablenkung für den Seher. Er durfte keine Zeit verlieren.

Bitte war zwischen ihm und der offenen Tür keine unsichtbare Wand, die ihn wieder zurück werfen würde. Er beschleunige seinen Schritt, kurz vor der Tür kniff er für einen Moment die Augen zusammen. Doch nichts passierte. Er konnte einfach hindurch treten. Emils Herz machte einen Sprung und er rannte los. So schnell er konnte.

Den Seher und Cornelius konnte er nirgendwo sehen. Sein Blick war stur nach vorne gerichtet. Doch er hörte ihre Stimmen.

„Wie hast du es da raus geschafft? Bleib stehen!“

Emil konnte sich nicht umblicken. Er musste hier weg. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Seher den Schwindel bemerken würde.

„Was ist das?“

Das Adrenalin trieb Emils Beine wie von selbst an. Er rannte, als würde es um sein Leben gehen. Die Seher durften ihn nicht kriegen. Er war bereits auf der Straße.

Ohne darauf zu achten, ob ein Auto kam, rannte er quer hinüber. Wohin er rannte, wusste er nicht.

Hinter sich hörte er den Seher immer noch rufen. „Bleib stehen!“

Jeden Moment rechnete er damit, dass seine Beine einfach aufhören würden zu laufen. Gestern hatte sie ihn noch vollkommen unter Kontrolle gehabt. Doch diesmal war es anders.

Er hatte keine Ahnung, was hinter ihm geschah. Sein Kopf war wie leer gefegt. Er musste hier weg, weg von dem Seher. Aber wie sollte er jemandem entkommen, der in die Zukunft sehen konnte? Wie sollte er ihn jemals zu Fuß abschütteln?

Emil keuchte vor Anstrengung. Lange würde er das Tempo nicht mitmachen können. Seine Brust fühlte sich an, als würde sie zerbersten.

Er hörte erneut ein Rufen, dann einen dumpfen Schlag.

Emil blickte nach hinten, konnte aber nichts erkennen. Er hatte keine Ahnung, ob der Seher direkt hinter ihm war oder nicht. Er schlug einen Haken nach rechts.

Die Angst gab ihm noch einmal einen Schub nach vorne. Aber er konnte nicht ewig rennen. Er musste einen Ausweg finden. Lange würde er das nicht durchhalten.

Der Asphalt knirschte unter seinen Schuhen. Er hörte Motorgeräusche. Dann sah er den Bus, der gerade auf der gegenüberliegenden Straßenseite anhielt.

Mehr oder weniger glückliche Zufälle

Der Bus hatte gerade erst gehalten. Doch Emil war viel zu weit entfernt, um den Bus zu erwischen. Das konnte er nicht schaffen.

Dennoch hastetet er über die Straße. Zu seinem Glück kam gerade kein Auto. Gleich würden sich die Türen des Busses wieder schließen und dann weiter fahren. Emil sah es schon kommen, als er schon das Piepen hörte. Die Türen schlossen sich. Emil wollte bereits anhalten, als er bemerkte, dass die Fahrertür noch aufstand. Mit einem Satz war er im Bus. Er musste sich an der Armatur festhalten, damit seine Beine nicht nachgaben. Hinter ihm schlossen sich die Türen.

„Na, nochmal Glück gehabt“, grummelte der Busfahrer.

„Ja“, keuchte Emil und richtete sich auf. Sein Atem ging unkontrolliert schnell und er glaubte fast zusammen zu brechen.

Der Bus setzte sich in Bewegung, während Emil immer noch vorne stand. Er warf einen Blick durch die Scheibe des Busses, um zu erkennen, ob der Seher noch hinter ihm war. Doch er konnte ihn nirgendwo erkennen.

„Ticket?“, fragte der Busfahrer.

„Was?“, stieß er aus, bevor sein Gehirn die Frage verarbeiten konnte. „Eh, ja.“ Er griff in seine Hosentasche. Er griff in seine Hosentaschen und fand nur ein benutztes Taschentuch und ein Snickers-Papier vom letzten Mittwoch darin. Sowohl sein Geld, als auch sein Handy und Schlüssel lagen noch in seinem Haus. Er griff in die andere Taschen und fand immerhin etwas Kleingeld, dass er dem Busfahrer hinlegte. Dann bahnte er sich an den Stangen entlang hangelnd seinen Weg in den hinteren Teil des Busses.

Es hatte wirklich funktioniert. Er war entkommen. Ein breites Grinsen breite sich auf seinem Gesicht aus, als er sich auf den harten Sitz fallen ließ. Jetzt wurde ihm erst recht schwindelig. Erst als sein Atem sich langsam wieder beruhigte, konnte er wieder einen klaren Gedanken fassen und Unruhe beschlich ihm. Das war fast zu glatt gelaufen. Was, wenn er dem Seher nicht entkommen war?

Er sah sich im Bus um. Außer ihm, waren nur fünf Personen dort. Eine alte Dame im vorderen Teil des Busses, zwei Studenten mit Kopfhörern in den Ohren, ein Mädchen, das viel zu stark geschminkt war, und eine Mutter mit Kinderwagen. Das Kind darin hatte er einfach mal nicht mitgezählt. Den Seher sah er nicht. Noch irgendjemand anderen, der irgendwie verdächtig schien. Es waren eine ganz normale Busfahrt.

Emil lehnte sich im Sitz zurück. Was sollte er jetzt nur tun? Wie sollte er nur beweisen, dass Martin nicht der Nekromant war?

Martin spielte zwar manchmal falsche Spiele, das wusste Emil seit Martin ihn in Maries Arme getrieben hatte, weil er glaubte, das wäre das Beste für Emil. Doch er würde dafür niemanden umbringen. Und selbst wenn, fielen Emil hunderte von Möglichkeiten ein, wie Martin ihn geschickter hätte umbringen können, als Nekromantie dafür zu benutzten.

Warum war er nur so machtlos? Er hatte keine Magie auf die er zurückgreifen konnte. Cornelius hatte gerade alles riskiert, um ihn aus dem Haus zu befreien. Und Emil konnte rein gar nichts mit der gewonnen Freiheit anfangen. Er wusste nicht einmal, ob er es wirklich geschafft hatte, dem Seher zu entkommen.

Wusste ein Seher nicht immer, was Emil als nächstes tun würde? Ewig konnte er ihm nicht weglaufen, aber zumindest konnte er Zeit schinden, bis der Seher ihn eingeholt hatte. Martin hatte mal gesagt, dass es ihm schwer fallen würde, genaue Zukunftsvorhersagen zu treffen, wenn Emil sich in großer Entfernung zu ihm befand. Vielleicht konnte der Bus Emil also die Zeit verschaffen, die er brauchte. Zumindest hoffe er das.

Die Ansage der nächsten Station tönte durch den Bus „Eckstraße“. In welchen Bus war er eigentlich eingestiegen? Er fuhr so gut wie nie Bus und hatte keine Ahnung in welche Richtung dieser unterwegs war. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihm auch nicht mehr. Die Gegend kam ihm nicht bekannt vor. Und ob und wie oft der Bus mittlerweile abgebogen war, hatte er in der Aufregung überhaupt nicht mitbekommen.

Kurz überlegte er auszusteigen, doch dann beschloss er einfach abzuwarten. Vielleicht kam er so weit genug weg kommen. Aber was würde ihm das bringen, wenn er keine Ahnung hatte wohin er sollte, noch was er tun konnte? Was konnte man schon machen, wenn der Verfolger jemand war, der in die Zukunft sehen konnte? An wen sollte er sich wenden? Er hatte nichts dabei. Wenn er Bus an seiner Endhaltestelle angekommen war, würde er nicht weiter kommen. Das war sein letztes Geld gewesen.

Sonst hatte Martin ihm immer aus solchen Situationen geholfen. Doch dieser brauchte jetzt seine Hilfe.

Was war mit Lilian? Vielleicht konnte er sie zu Hause erwischen. Sie konnte ihm vielleicht helfen. Ob sie wusste, dass Martin von den Sehern mitgenommen war? Dass sie ihn in seinem Haus eingesperrt hatten? Würde sie sich Sorgen um ihn machen? Suchte sie bereits nach ihn?

Wenn er nur wüsste, wohin der Bus fuhr. Dann könnte er wenigstens überlegen, was er als nächstes tun konnte. Wer in der Nähe wohnte, welchen Bus er als nächstes nehmen konnte. Erneut sah er nach draußen und glaubte die Gegend wiederzuerkennen. Er kannte diese weißen Hochhäuser. Er wusste nur nicht mehr genau, zu welchem Stadtteil er sie zuordnen sollte.

Der Bus hielt am „Karl-Heinz-Platz“ und Emil hatte immer noch keine Ahnung wo diese Haltestelle war. Emil lehnte sich etwas nach vorne, um durch die Frontscheibe vielleicht mehr erkennen zu können, als er vorne im Bus Ina erkannte. Sie war gerade eingestiegen und kam jetzt geradewegs auf ihn zu.

Zunächst glaubte er, dass ihm sein Kopf einen Streich spielte. So viele Zufälle gab es nicht. Er sah kurz weg, dann wieder nach vorne, doch Ina war immer noch da. Ihr Blick blieb bei Emil hängen. Das war zu gut um wahr zu sein.

Ina winkte aufgeregt, als sie ihn erkannte und kam direkt auf ihn zu. Der Bus setzte sich wieder in Bewegung.

„Emil?!“, rief sie erstaunt aus. „Was machst du hier?“ Ihre brauen Augen sahen ihn ungläubig hinter der dicken Brille an.

Emil hatte keine Ahnung, was er darauf entgegen sollte. Ich renne gerade vor den Sehern weg, war keine vernünftige Antwort auf die Frage. Noch dass er Beweise brauchte, um zu beweisen, dass Martin nicht der Nekromant war. Während er noch darüber nachdachte, was er erwidern sollte, übernahm Ina stattdessen das reden:

„Warum starrst du mich an, als wäre ich eine Erscheinung? Ich bin in deiner Klasse, schon vergessen? Ina?“ Sie deutete auf sich.

Das ließ Emil aus seiner Starre erwachen. „Ich war nur so verwundert dich hier zu treffen“

„Warum?“ Ina klimperte verwirrt mit den Augen. „Ich wohne doch direkt um die Ecke.“

Jetzt fiel Emil ein, warum erst ich an die Hochhäuser erinnert hatte. Vor zwei Jahren war er mal wegen einer Gruppenarbeit bei Ina gewesen. Deshalb kamen ihm die Gebäude bekannt vor. Natürlich wohnte sie hier. Aber wie sollte Ina ihm in so einer Situation helfen?

„Aha...“, murmelte Emil.

„Hast du getrunken?“, fragte Ina und musterte ihn nun von oben bis unten. „Du siehst ziemlich fertig aus.“

„Quatsch!“, protestierte Emil und fuhr sich durch das verschwitzte Haar. „Und danke auch.“ Doch als er es ausgesprochen hatte, fiel ihm auf, dass das gar keine so doofe Idee war. Ina quatschte trotzdem einfach weiter:

„Na, wenn du es mir nicht verraten willst, ist das auch in Ordnung. Ich bin auf dem Weg zur Tanzschule, falls du dich das gefragt hast.“

„Du tanzt?“, fragte Emil aus Reflex, während er eigentlich noch darüber nachdachte, ob Alkohol ihm in dieser Situation helfen würde. Alkohol konnte ihm die wahre Gestalt von magischen Wesen offenbaren. Doch das würde ihm hierbei nicht helfen. Seher konnte er damit auch nicht identifizieren und ob er Magie sehen würde, war noch eine ganz andere Frage.

„Ja, ich tanze. Was ist daran so komisch?“, antwortete Ina in leicht säuerlichem Ton auf Emils dämliche Nachfrage.

„Nichts. Ich wusste nur nicht, dass du tanzt.“

„Auch noch nicht so lange.“ Ina wurde plötzlich verlegen. Ihre Wangen liefen rosa an und sie senkte den Blick etwas. „Richard hat mich gefragt, ob ich mit ihm einen Tanzkurs mache.“

„Das ist … schön.“ Emil hatte keine Ahnung was er dazu sagen sollte. In seinem Kopf überlegte er immer noch, ob Ina ihm irgendwie helfen konnte. Konnte sie Richard kontaktieren?

„Er ist nicht so ein Emotions-Vollpfosten, wie du es bist.“ Das traf Emil doch mehr, als er gedacht hatte.

„Hey! Ich bin kein Emotions-Vollpfosten! Was immer das sein soll...“

„Sorry. Das war nicht so gemeint.“

Während Emil noch überlegte, wie sie es dann bitte gemeint hatte, fuhr sie fort:

„Und was hast du so vor?“ Sie sah ihn erwartungsvoll an.

Emil wusste nicht, ob er sie fragen sollte, ob sie Richard anrufen sollte. Was wenn Richard mit den Sehern zusammenarbeitete? Emil kannte ihn überhaupt nicht. Er wusste nicht, auf wessen Seite er stand. Am besten zog er da weder Ina noch ihn mit rein. Ina hatte genauso wenig wie er irgendwelche magischen Fähigkeiten, noch konnte sie ihm einen Hilfe sein. Er hatte es mit Kräften zu tun, die alles überstiegen. Aber was hatte er vor? Was konnte er überhaupt tun.

„Ich hab' keine Ahnung.“

„Wie keine Ahnung?“, fragte Ina erstaunt. „Bist du wirklich nicht betrunken?“

„Nein, Ina. Ich -“, begann Emil ohne wirklich zu wissen, was er sagen wollte. Wie sollte er ihr das erklären? Sie wusste zwar von der magischen Welt, aber egal was er sagen würde, sie würde es ihm eh nicht glauben.

Zu seiner Rettung vibriertes Inas Handy genau in diesem Moment lautstark und gab ein „Plop“ von sicht. Sie zog es sofort aus ihrer Jackentasche, um die SMS zu lesen, die gerade gekommen war. Emil atmete innerlich auf. Das verschaffte ihm Zeit darüber nachzudenken, wie er seinen Situation erklären sollte, als sie ihm plötzlich das Handy hinhielt.

„Ist scheinbar für dich?“, sagte sie zögerlich, als würde sie etwas neben sich stehen.

Emil sah sie unverständlich an. Wie kam sie darauf? Dann senkte er den Blick und las dem Text auf dem Display:

Gib Emil das Handy.

Der Text stand auf den Display so deutlich, als wäre er in Stein gemeißelt. Im ersten Moment dachte Emil, es sei ein Trick, als plötzlich das Handy erneut „plopte“ und ein weiterer Text darunter erschien.

Ich habe deine Freundin

Ina beugte sich nach vorne über das Handy. „Welche Freundin? Emil? Was ist passiert?“

Lilian, stellte das Handy klar. Das Teil hat die Nachricht zu früh abgeschickt!

Immer noch starrte Emil das Handy an. Wie konnte das sein? Wie konnte er Lilian haben. Lilian war niemand der sich entführen ließ. Außerdem war es unmöglich, dass jemand wissen konnte, dass Emil gerade hier war. Außer-

„Der Seher“, murmelte Emil. Seine Gedanken wirbelten durcheinander. Der Seher hatte ihn gefunden. Aber warum hatte er Lilian entführt? Er war doch gerade noch bei ihm Zuhause gewesen. Das ergab doch alles keinen Sinn.

„So wie Martin einer ist?“, fragte Ina erstaunt.

„Aber warum behauptet er Lilian zu haben?“ Noch bevor Emil die Frage ausgesprochen hatte, formte sich die Antwort in seinem Kopf und er sprach sie laut aus. „Der Nekromant arbeitet mit den Sehern zusammen.“

„Welcher Nekromant?“ Inas Augen wurden immer größer und sie starrte ihn mit offenem Mund an. „Warum habt ihr mir nichts davon gesagt?“

Emil ging überhaupt nicht auf ihre Frage ein und versuchte fieberhaft die Gedanken in seinem Kopf zu ordnen. Martin hatte gesagt, dass der Nekromant ein Normalsterblicher sein musste. Ein Seher brauchte keine nekromantischen Kräfte. Aber warum arbeitete er mit den Sehern zusammen? Wie konnten die Seher sich nur darauf einlassen? Was hatten sie davon? Das passt alles nicht zusammen.

„Was für ein Nekromant?“, wiederholte Ina ihre Frage. „Wovon redest du eigentlich?“

Erst jetzt wurde Emil bewusst, was das hier bedeutete. Der Seher wusste, wo er war. Emil war ihm noch lange nicht entkommen. Wenn der Seher in der Nähe war, dann musste Emil so schnell wie möglich aus diesem Bus raus. Es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis der Seher ihn vollständig aufgespürt hatte.

Emil drückte Ina ihr Handy wieder in die Hand und stand so abrupt auf, dass Ina zurück stolperte. „Ich muss die Nächste raus!“

„Wohin willst du denn? Was hat das alles zu bedeuten?“, rief Ina ihm nach „Was will dieser Nekromant denn?“

„Mich umbringen“, war Emils simple Antwort darauf.

„Lass den Quatsch! Das meinst du doch nicht ernst… Nein. Oder?!“

Der Bus bremste langsam und kam zum stehen.

„Emil?“ Ina hastete zu ihm. „Wie meinst du das?“

Emil antwortete nicht. Er dachte verzweifelt darüber nach, wie er dem Seher ein weiteres Mal entkommen sollte. Der Seher hatte ihn bereits lokalisiert. Würde es helfen einfach den nächsten Bus zu nehmen? Ohne Ahnung, wo er hinfuhr? Einfach so lange Busse wechseln bis der Seher nicht mehr mitkam. Und warum schickte ihm der Seher eine SMS, dass er Lilien hatte? Warum Lilian? Der Nekromant hatte es doch auf ihn abgesehen. Nicht auf Lilian. Warum entführte er also sie und nicht ihn?

Weil er unter dem Schutz der Seher stand, beantwortete er seine Frage selbst. An ihn kamen sie nicht heran. Also war Lilian das nächste Ziel. Sie wollten, dass er dadurch zu ihnen kam und ihnen dadurch in die Falle ging.

Der Bus kam zum stehen und kaum gingen die Türen auf, stieg Emil aus.

„Warte!“, rief Ina und stolperte hinter ihm her.

Mit einer raschen Bewegung wandte Emil sich um. Warum mischte sie sich ein? So würde er nie eine Lösung finden. Dass er dem Seher entkommen musste, war schlimm genug, jetzt hatte er auch noch Ina als Klotz am Ben. „Halt dich daraus!“

Ina zuckte augenblicklich zusammen und erstarrte in ihrer Bewegung. Der Bus fuhr davon.

Eine große Hilfe

Emil atmete mehrmals tief durch. Seine Worte halten in seinen eigenen Ohren wieder: „Halt dich da raus!“

Das war nicht fair, so gemein zu Ina zu sein, das wusste er. Doch er hatte gerade wirklich andere Sorgen und Ina konnte ihm dabei keine große Hilfe sein. Außerdem kannte Emil Ina. Sie war meist die Erste, die lachend in eine Kreissäge rannte, wenn es um mysteriöse Typen ging. Das hatte sie mehr als einmal bewiesen.

„Ich glaube einfach nicht, dass du eine große Hilfe sein kannst.“

„Wieso das denn nicht? Ich habe dir doch mehrmals -“ Inas Handy ploppte erneut und unterbrach sie. „Und das Ding hab ich auch!“ Sie hielt das Handy für einen kurzen Moment in Emils Gesicht, dann sah sie selbst drauf. „Da sind nur so komische Zahlen drauf.“

„Was?.“ Sofort beugte sich Emil zu ihr hinüber und sah die Zahlenfolge auf dem Display. Die SMS war von dem gleichen Absender wie zuvor. „Das sind Koordinaten.“

„Ha! So viel zu keine Hilfe sein. Du brauchst mich. Ich habe das Handy!“

Doch Emil überhörte Inas Triumpfruf. Seine Befürchtung hatte sich bestätigt. Der Nekromant spielte ihm die Koordinaten zu, damit Emil direkt zu ihm kommen würde. Er hatte es nicht auf Lilian abgesehen. Sie war nur der Vorwand, damit er freiwillig kommen würde. Jetzt wo Martin nicht mehr da war, fühlte sich Emil ihm hilflos ausgeliefert. Er seufzte. Egal, was er jetzt tat, er durfte da Ina nicht mit reinziehen.

„Wolltest du nicht zur Tanzschule?“, fragte Emil.

„Das ist jetzt egal!“ Ina wedelte mit den Händen vor Emils Gesicht herum. „Wenn sie wirklich Lilian entführt haben, dann müssen wir etwas tun.“

„Das ist nicht wie beim letzten Mal, Ina!“ Emils Stimme wurde härter. „Das hier ist ernst!“

„Warum? Meinst du das ernst, dass dieser Typ dich umbringen will? Was ist los?“ Inas Gesicht hatte einen Ausdruck angenommen, den er bei ihr so noch nie gesehen hatte. Sie schien wirklich besorgt.

„Zwei Mal wurde ich jetzt schon von untoten Monstern angegriffen. Und beide Male bin ich davon gekommen, weil Martin und Lilian da waren und jetzt? Jetzt ist Lilian entführt und Martin haben die Seher verhaftet.“ Emil ließ die Arme fallen. Was sollte er jetzt noch tun?

„Sie haben Martin verhaftet?! Warum sollten sie das tun?“ Ina starrte ihn immer noch mit großen Augen an.

„Der Nekromant. Sie glauben Martin hätte etwas damit zu tun. Aber er hätte niemals etwas damit zu tun gehabt. Ich glaube, dass sie Martin aus dem Weg schaffen wollten.“

„Warum sollten sie das tun?“

„Das würde ich auch gerne wissen. Dann wäre ich jetzt einen Schritt weiter!“

„Aber was wollen die von dir?“

„Mich tot sehen?“

„Vielleicht wollen sie deine Quelle?“ Ina schien nachdenklich zu werden und schob sie die Brille auf die Nase.

„Das hatten Martin und ich auch schon vermutet. Aber dann würde der Nekromant nicht versuchen mich umzubringen.“

„Ich hab's! Vielleicht will der Nekromant dich entführen.“

Emil verdrehte die Augen. „Er hat gerade Lilian entführt!“

„Warum sollte er?“ Dann blieb Ina der Mund offen stehen. „Ein Gefangenenaustusch!“

„Ja! Da bin ich auch schon drauf gekommen.Aber wieso das Ganze? Warum dieser Umweg?“

Emil stockte. Lilan zu entführen war sicher nicht einfach gewesen. Sie war stark und sicherlich niemand, der sich so einfach entführen lassen würde. Letztens hatte sie ihm noch erzählt, dass sie mit einem Vampir gekämpft hat. Doch es gab einen entscheidenen unterschied zwischen ihm und Lilian.

„Ich stehe unter der Beobachtung der Seher“, sprach Emil seinen Gedanken aus.

„Hä?“ Ina starrte ihn unverständlich an.

„Sie entführen Lilian, weil sie wissen, dass sie nicht direkt an mich kommen würden. Sie haben Martin verhaften lsasen, damit er nicht im Weg stehen kann. Doch scheinbar bin ich irgendwie trotzdem beschützt. Deshalb wollen sie, dass ich direkt zu ihnen komme.“

Wie als Antwort ertönte erneut Inas SMS-Ton. Ina und Emil starrten gemeinsam auf das Display:

Ein Bild von Lilian war daruaf zu sehen, wie sie etwas zusammengesunken auf dem Boden saß.

Sie lebt noch, war der Text der gleich darauf folgte. Es war wie in einem schlechten Film.

Emil ließ das Handy sinken. Jegliches Gefühl wich langsam aus seinem Körper. Es gab keinen Zweifel mehr. Das war eine Falle. Wer immer die Nachrichten schrieb, wollte, dass Emil zu ihm kam. Doch das schlimmste war, dass ihm wirklich nichts besseres einfiel, als geradewegs hinein zulaufen. Alle seine Verbindungen zur magischen Welt waren gekappt worden. Martin konnte ihm nicht helfen. Lilian war entführt. Er war auf sich allein gestellt.

„Du willst doch da jetzt nicht ernsthaft hingehen?“, frage Ina entstetzt.

„Was soll ich denn sonst tun?“

„Vielleicht kann uns jemand helfen. Martins Familie. Seine Eltern? Sind seine Eltern nicht auch Seher?“

Wieso war Emil da nicht selbst drauf gekommen. Martins Vater war doch auch ein Seher. Das war ein Punkt an dem er ansetzen konnte. Martins Vater musste irgendwas wissen. Doch was, wenn er mit den anderen Sehern zusammenarbeitete? Die, die ihn verfolgten. Aber vielleicht konnte wenigsten Isabell ihnen helfen oder Martins Mutter.

„Wir müssen zu Martin. Wann fährt der nächste Bus?“, fragte Emil Ina, die nur den Kopf wandte und auf den Bus deutete, der in der entgegengesetzten Richtung in einige Entfernung an der Ampel stand. „In etwa einer Minute. Aber auf der anderen Seite.“

So viele Zufälle konnte es doch überhaupt nicht geben. Spielte der Seher ihm hier direkt in die Hände?

Emil hatte das Gefühl, dass er immer noch beobachtete wurde. Sei es drum. Es brachte nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Er musste tun, was getan werden konnte.

Rasch sah Emil zu beiden Seiten, um zu schauen, ob ein Auto kam. Dann rannte er über die Straße zur gegenüberliegenden Bushaltestelle. Ina rannte hinter.

„Warte! Ich komme mit!“

Ina schaffte es gerade noch vor dem Bus über die Straße, als dieser bereits quietschend vor ihnen hielt.

„Ohne mich gehst du nirgendwohin!“ Ina schnappte nach Luft und packte Emils T-Shirtärmel. Der kurze Sprint hatte ihr sichtlich zugesetzt.

„Solange du mir folgst, bringst du dich in Gefahr.“

„Wer hat denn hier die guten Ideen gehabt?“

Die mittleren Türen des Busses öffneten sich vor ihnen. Emil trat einen Schritt hinein und Ina folgte ihm, immer noch sein T-Shirt fest umklammernd und schwer atmend.

„Sieh‘s ein! Du brauchst mich! Und wenn es nur für die Koordinaten ist.“

Sie hielt ihr Handy in die Höhe, auf dem die Zahlen leuchteten. Genau da, warteten sie auf Emil. Dort sollte er hinkommen.

Warum war Ina nur so verdammt hartnäckig? Lilian wurde entführt, irgendjemand wollte ihn umbringen und sie tat immer noch so, als wäre das ganze ein lustiger Wochenendausflug.

Das ungute Gefühl beobachtet zu werden, war immer noch da. Waren die Seher hier? Hastig sah er sich zu beiden Seiten um. Im vorderen Teil des Busses saßen zwei Rentnerinnen, die in ein Gespräch vertieft waren. Dahinter ein Vater mit Kinderwagen und Tochter. Im hinteren Teil des Busses saßen drei jüngere Leute, zwei mit Musik in den Ohren und eine mit Buch; und ein Rentner mit Gehstock. Nichts ungewöhnliches.

„Ich nehme dein Schweigen mal als Ja.“, schmollte Ina, Die Türen schlossen sich hinter ihnen.

Ina war eh nicht davon abzubringen. Sie wollte sich doch absichtlich mit in Gefahr bringen. Es war nicht seine Schuld, wenn ihr etwas passierte. Zumindest versuchte er sich das einzureden.

„Du hörst ja nicht auf mich“, zischte er ihr zu.

„Ist das ein richtiges Ja?“ Inas Gesicht hellte sich schlagartig auf. Sie grinste über das ganze Gesicht und hätte bestimmt freudensprünge durch den Bus gemacht. Sie verstand wirklich nicht, worum es hier ging. Wie auch? Sogar für Emil schien das ganze so unwirklich zu sein. Er konnte kaum glauben, dass er gerade eben noch in seinem eigenen Haus eingesperrt gewesen war. Noch dass sie Martin wirklich verhaftet hatten. Für Ina war das immer noch das lustige Abenteuer. Aber was war mit den anderen?

Was war mit Cornelius passiert? Ob es ihm gut ging? Er hatte alles riskiert, um Emil da raus zuholen

Hoffentlich war ihm nichts passieren. Nicht um Emil die Freiheit wiederzugeben, die er jetzt nicht einmal zunutzen wusste. Er musste sie nutzen.

Ina ließ sein T-Shirt los und beugte sich flüsternd zu ihm. „Siehst du den Mann dahinten? Ich habe das Gefühl der starrt uns an.“

Emil sah auf. Sie meinte den Rentner, der in ihre Richtung grinste und den Daumen hob, als er Emils Blick bemerkte.

„Behalt das Mädchen“, sagte er und wandte sich dann wieder dem Fenster zu.

Emil wusste nicht wohin er das zuordnen sollte. Bis ihm auffiel, dass das auch nur ein dummer Zufall war. Der Typ dachte, dass er und Ina zusammen wären. Er wurde langsam wirklich paranoid. Emil ließ sch gegen das Fenster sinken und fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht.

Irgendwo dumpf in seinem Kopf klangen immer noch die Fragen und Zweifel, die einfach nicht schweigen wollten. Er versuchte sie zu ignorieren. Er musste nach vorne schauen. Das hier war real und es war an ihm, alles zu geben, dass es nicht noch schlimmer wurde.

Aber was konnte er tun? Er hatte keine magischen Fähigkeiten, noch wusste er im entferntesten, was hier vor sich ging. Die einzige Option, die er momentan hatte, war direkt in die Falle zu laufen, von der er wusste, dass er da nicht mehr so einfach rauskommen würde. Bis jetzt hatte er alles glimpflich überstanden, weil Lilian dagewesen war und Martin ihn immer verteidigt hatte. Doch jetzt auf sich alleingestellt, wusste er nicht mehr, was passieren würde.

Er musste bei Martin zu Hause irgendwas herausfinden, irgendwas, dass ihm eine andere Möglichkeit gab, als sich sinnlos in Gefahr zu begeben. Irgendeine Spur, der er nachgehen konnte. Er wollte nicht so kopflos sein, wie er es jetzt war. Den Gefallen würde er den Sehern nicht tun.

Ina tippte ihm auf die Schulter. „Müssen wir nicht an der nächsten umsteigen?“

Emil drehte den Kopf und grummelte nur, weshalb Ina ihre Aussage wiederholte: „Wenn wir zu Martin wollen, sollten wir gleich in die 65 umsteigen.“

„Fährt die hier?“

„Klar. Wie wolltest du denn sonst fahren?“

Emil zuckte die Schultern. „Ich dachte, erst zurück in die Stadt und dann hätte ich geschaut, wo ich lang muss.“

„Was für ein Glück, dass du mich dabei hast. Sonst wärst du ja nie angekommen.“

Scheinbar hatte Ina doch Recht gehabt, so eine schlechte Hilfe war sie doch nicht. Und wenn es nur das Busnetz und ihre leichte, naive Art war, die ihm gerade half. Ein leichtes Lächeln zog über Emils Gesicht, dass Ina triumphierend zur Kenntnis nahm.
 

Der Umstieg verlief problemlos, doch als Emil an der Haltestelle in der Nähe von Martins Haus ausstieg, beschlich ihn ein unwohles Gefühl. War er gerade dabei einen Fehler zu machen? War das Teil des Plans, dass er hierher kam? Warteten sie bereits auf ihn?

Mit jedem Schritt wurde das Gefühl schlimmer und seine Beine weicher. Ina folgte ihm schweigend. Jetzt konnte er nicht mehr umkehren.

„Da ist jemand vor dem Haus!“, rief Ina aus und deutete auf die Treppe vor dem Haus.

Emil blieb abrupt stehen. Auf der Stufe vor dem Haus saß tatsächlich ein blondes Mädchen. Sie trug Jeans und ein graues T-Shirt. Den Kopf hatte sie auf die Hände gestützt und sah auf, als sie die beiden bemerkte und Emil starrte sie überrascht an. Wie kam Cornelius hierher? Wie war er dem Seher entkommen?

„Kennst du sie?“, fragte Ina, während Emil bereits schnellen Schrittes auf Cornelius zuging.

War das auch eine Falle? Woher wusste Cornelius, dass Emil hierher kommen würde?

Langsame Leitung

Das Mädchen erhob sich von der Stufe und wartete bis Ina und Emil nahe genug waren. Cornelius trug immer noch Shorts und ein schwarzes T-Shirt, das ihm nun, wo der die Gestalt eines Mädchens hatte, deutlich zu groß erschien.

„Wer ist das?“, fragte Cornelius.

„Wer ist sie?“, fragte Ina fast gleichzeitig.

Die beiden Mädchen starrten sich an. Wahrscheinlich hatte Cornelius Angst, Ina dürfte nicht vom Übernatürlichen erfahren und Ina war wahrscheinlich einfach nur so misstrauisch, weil sie es konnte.

„Das ist Cornelius“ Emil zeigte auf Cornelius und danach auf Ina. „Und das ist Ina. Sie weiß von dem ganzen Seherzuegs und ich bin sie einfach nur nicht losgeworden.“

„Hey!“ Ina boxte Emil leicht in den Arm. „Du kannst froh sein, dass ich -“ Sie unterbrach sich selbst. „Cornelius? Emil, ich weiß, dass du damit Probleme hast. Aber das ist eindeutig ein Mädchen.“

„Gestaltwandler“, korrigierte Cornelius sie und Ina klappte erst der Mund auf, dann lief sie rosa an.

„Was machst du hier?“, fragte Emil. Er war froh, dass es Cornelius gut ging. Doch Unruhe machte sich in ihm breit. Warum war er hier? Was war mit Martins‘ Familie?

Emil sah an Cornelius vorbei durch das kleine Küchenfenster des Hauses. Innen war es dunkel und nichts regte sich.

„Einerseits hatte ich gehofft, dass ich hier irgendwen von Martins Familie antreffe, andererseits hatte ich damit gerechnet, dass du früher oder später herkommst. Aber es scheint niemand da zu sein.“

„Niemand?“ Emil schob sich an Cornelius vorbei und drückte auf die Klingel. Das war mehr als komisch. Isabell musste doch eigentlich da sein. Er drehte sich um zur Einfahrt. Dort stand kein Auto. Wahrscheinlich hatte Cornelius Recht, doch Emil hatte gelernt misstrauisch zu sein. Auch wenn Cornelius ihm da wirklich aus der Patsche geholfen hatte. Ohne ihn würde er immer noch in seinem Haus festsitzen. Doch wie war er eigentlich dem Seher entkommen?

„Wie bist du eigentlich dem Seher entkommen?“

„Ich bin gerade weit genug weggekommen, dass ich meine Gestalt ändern konnte. Er hat nicht damit gerechnet und so konnte ich flüchten, bevor er es gemerkt hätte. Er war ja hinter dir her, und nicht hinter mir. Dich hat er zum Glück nicht gefunden. Aber irgendwann wird er sicher auch auf die Idee kommen, hier vorbei zu schauen, deshalb sollten wir irgendwo anders hin.“

Emil klopfte gegen die Haustüre. Das konnte doch nicht wahr sein. Er glaubte Cornelius, doch es wurmte ihn genauso.

„Wohin denn? Ich habe keine Ahnung, wie ich ihr helfen kann!“

„Wem?“ Cornelius sah ihn verwirrt an. „Ina?“

„Nein, Lilian.“ Erst jetzt dämmerte Emil, dass Cornelius nicht wissen konnte, was passiert war.

„Was ist mit Lilian?“

Emil bekam es nicht über die Lippen. Allein der konkrete Gedanke daran machte ihn verrückt. Deshalb sprach Ina es aus:

„Die Nekromantin hat scheinbar Lilian entführt und will Emil damit zu sich locken.“ Sie hielt Cornelius ihr Handy mit den Nachrichten hin. Dieser nahm das Handy und scrollte ungläubig durch die Nachrichten. „Warum sind die auf Inas Handy?“

Emil seufzte merklich. „Ich habe kein Handy dabei und Inas war in der Nähe.“

„Das kann nur eine Falle sein.“

„Das weiß ich doch! Aber wir können auch nicht untätig bleiben.“

„Ich verstehe das nicht.“ Cornelius schüttelte den Kopf und gab Ina das Handy zurück. „Wofür das alles?“

„Wenn ich das wüsste, dann wäre alles einfacher. Du kennst Lilian doch. Gibt es einen Grund, warum man sie entführen würde? Besonders, wie könnte man sie entführen?“

Für einen Moment überlegte Cornelius, dann sagte er langsam: „Lilian ist unvorsichitg, wenn sie jemanden kennt. Ein Grund fällt mir allerdings nicht ein. Sie war nie irgendwie auffällig, hatte nur kleinere Unfälle mit ihren Kräften, aber nichts größeres.“

„Dann könnte es doch wegen mir sein.“ Der Gedanke daran stach in Emils Brust. Wenn sie wegen ihm entführt worden war, machte es das ganze nur schlimmer. Er wollte nicht der Grund sein. Nicht schuld daran, dass sie in Gefahr war.

„Ich hab‘s doch gesagt! Dann wollen sie also doch deine -“ Doch Emil hielt Ina die Hand vor dem Mund, bevor sie mehr sagen konnte.

„Deine was?“ Cornelius runzelte die Stirn und sah zwischen den beiden hin und her.

„ Meine...“ Emil rang nach einer guten Antwort. „Ach weißt du, können wir das einfach überspringen? Ich kann dir das nicht sagen. Sagen wir einfach, es gibt Gründe, warum ich schonmal in Schwierigkeiten geraten bin und das könnte ein ähnlicher Grund sein.“

„Kann ich mit leben.“ Schulterzuckend setzte Cornelius dann aber eine grübelnde Miene auf. „Wir sollten lieber überlegen, was wir tun können. Ich sehe das ähnlich wie du. Das ist hunderprozentig eine Falle. Doch an die Seher können wir uns nicht wenden. Keine Ahnung, ob die nicht alle an einem Strang ziehen und wer uns glauben würde.“

„Wir müssen das also selbst erledigen.“

Ina wedelte mit ihrem Handy herum. „Vielleicht sollten wir erst einmal herausfinden, wo Lilian ist. Ich spreche kein Koordinatisch.“

Da musste Emil Ina recht geben – auch wen Koordinatisch kein Wort war. Allein mit den Kooridinaten konnten sie nichts anfangen. „Hast du Internet auf dem Handy?“

„Leider nicht. Wir könnten aber in die Stadtbibliothek gehen. Da gibt‘s ne halbe Stunde kostenlos.“

„Na dann los!“ Cornelius wandte sich zum Gehen. „Wir haben schon genug Zeit verplempert. Die Seher werden nicht tatenlos bleiben. Wir sollten rasch unter Leute, damit sie uns nicht finden.“
 

In der Stadtbibliothek waren alle Rechner bis auf einer belegt, sodass die drei sich darum quetschen mussten. Emil durfte hatte sich den Stuhl gesichert, während Ina und Cornelius sich hinter ihm drängten, um mit auf den winzigen Monitor schauen zu können, der noch aus dem letzten Jahrhundert zu sein schien.

Es dauerte fast zwei Minuten, bis sich der Browser mit der Suchmaschine geöffnet hatte. Zu lange, sodass Emil schon wieder die Zeit fand, sich Gedanken zu machen.

Er versuchte die einzelnen Puzzelstücke zusammen zu setzen und Erklärungen zu finden für alles, was gerade passierte. Auch, wenn er Cornelius mittlerweile alles erzählt hatte, konnte auch dieser sich darauf keinen Reim machen.

Emil hielt es mittlerweile für realistisch, dass der Schritt Lilian zu entführen dazu diente, ihn dazu zubringen, etwas Dummes zu tun. Den Gefallen würde er ihnen nicht tun.

Wenn er handelte, dann nur mit einem wirklich guten Plan. Immerhin hatte er noch Ina und Cornelius, die ihm helfen konnte. Vielleicht konnten sie einen Weg finden, sogar den Seher hinters Licht zu führen. Wusste der, was sie gerade taten? Wusste er dann auch, was sie sagten? Konnten sie sich überhaupt einen Plan ausdenken, der dem Seher verborgen bleiben würde?

Den einen Seher hatte Cornelius austricksen können. Dann würde es vielleicht auch ein zweites Mal funktionieren. Das musste es.

Das Fenster hatte endlich geladen und Emil tippte hastig die Zahlen von Inas Handy in das Suchfeld ab und drückte auf Enter. Der Bildschirm wurde weiß und in der einen Ecke lief ein kleiner Ladebalken.

Emil seufzte laut auf. Was hatte er erwartet? Dass der Rechner mit einem Mal zehnfach an Geschwindigkeit dazu gewonnen hatte? Entnervt starrte er den Bildschirm an, als jemand einen Namen rief und Cornelius darauf zu reagieren schien, indem er sich aufrichtete.

Emil wandte sich hastig um und blickte umher. Hatte sie jemand beobachtet? War da jemand? Dann erkannte Emil den jungen Mann, der auf sie zu kam. Er war vielleicht Anfang zwanzig, hatte braunes, wuscheliges Haar, strahlte über das ganze Gesicht und winkte zu ihnen hinüber. Emil hatte ihn noch nie gesehen. Das machte ihn noch misstrauischer.

Kurz bevor der junge Mann vor ihnen stehen blieb, fragte er erstaunt: „Cornelia?“ Er starrte Cornelius wie eine Erscheinung an. „Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen.“

Emil brauchte etwas, um zu verstehen, dass der Mann scheinbar nur die Cornelia kannte, das Mädchen, das so neben ihm stand.

Cornelius schien jedoch genauso verwirrt und erwiderte nur zögernd. „Eh. Ja.“

„Du erinnerst dich noch an mich?“

„Natürlich. Micha. Es ist lange her.“ Cornelius packte sich an den Kopf. Er schien nervös zu sein. Wer war der Typ, dass er ihn nervös machte? War er ein Seher?

„Ja, wirklich lange. Ich dachte schon, du hättest mich vergessen.“ Micha schien sichtlich erleichtert. „Was machst du jetzt so? Wie geht’s dir?“

Ina stach Emil schmerzhaft ihren Ellbogen in die Schulter, nur um sich ohnehin zu ihm hinter zu beugen und zu flüstern:

„Meinst du, die beiden hatten mal was?“

Emil zuckte nur die Schultern. Meinte Ina, dass die beiden mal zusammen gewesen waren? Woher sollte er das wissen? Wäre auf jeden Fall besser für sie, als wenn er etwas mit den Sehern oder sonst wem zu tun hatte, die nicht wissen durften, was sie hier gerade machte.

Cornelius fasste sich wieder und nahm bestimmt die Hand von seinem Kopf weg. „Ich studiere jetzt.“ Doch ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

Scheinbar erst jetzt bemerkte Micha Emil und Ina, obwohl sie direkt neben ihm standen oder saßen. Er fixierte Emil mit seinem Blick, dann fragte er an Cornelius gewandt:

„Ist das dein Freund?“

„Wer?“ Mit fragendem Blick drehte Cornelius sich um, sah Emil und als er ihm in die Augen saß, wurde Emil erst schlagartig klar, was Micha damit implizieren wollte. Vielleicht hatte Ina doch nicht so falsch gelegen.

„Nein“, erwiderte Cornelius bestimmt, lief aber rot an. „Das sind Freunde von mir. Emil und Ina.“

„Achso. Hallo.“ Micha hob die Hand, um die Beiden zu Grüßen, dann hatte er wieder nur Augen für Cornelius. „Wenn das so ist… hättest du Lust irgendwann mal wieder was zu machen? Wir könnten ins Kino gehen. Wie früher.“

Ina hüstelte leise. „Ich hab's doch gesagt.“

„Ja, warum nicht?“ Cornelius schob die Hände in die Hosentaschen.

„Gibst du mir deine Nummer? Dann können wir was verabreden.“

„Gerne. Gib mir dein Handy.“ Cornelius nahm Michas Handy und tippte seine Nummer ein. Er schien jetzt deutlich ruhiger, als im ersten Moment. Wahrscheinlich hatte Micha ihn einfach im ersten Moment überrumpelt. Die beiden hatten sich scheinbar lange nicht mehr gesehen.

Als Cornelius fertig war, steckte Micha das Handy wieder ein. „Danke. Ich muss leider los. Hab‘s eilig. Aber ich melde mich heute Abend, Cornelia. Versprochen.“ Dann wandte er sich an Emil und Ina. „Viel Erfolg bei dem, was ihr sucht.“

„Danke dir auch“, erwiderte Ina freudig.

„Bis dann“, sagte Cornelius noch. Denn so schnell wie Micha gekommen war, war er auch wieder verschwunden.

Als wäre nichts gewesen, wandte sich Cornelius wieder zum Rechner um und fixierte den Bildschirm. Dieser hatte zumindest die Suchergebnisse geladen, Emil klickte das erste an und es lud wieder. Ewig.

Dann lehnte Ina sich zu Cornelius hinüber:

„Sag mal, ward ihr mal zusammen?“

„So etwas in der Art“, war Cornelius‘ simple Antwort.

„Weiß er, dass du ein Junge bist?“

Cornelius wich deutlich ihrem Blick aus. „Nein.“

Ina quietschte so plötzlich und laut auf, dass es in Emils Ohren schmerzte und die Leute schon guckten. „Das ist so romantisch!“

„Nicht wirklich“, entgegnete Cornelius.

„Natürlich!“ Ina versuchte ihre Stimme zu dämpfen, doch diese erreichte immer wieder eine unangenehme Tonlage. „Eine alte Liebe, die ihn nie losgelassen hat. Er hat sie immer wieder gesucht, doch er konnte sie nicht finden, weil es Cornelia in Wirklichkeit nicht gibt. Und dann steht sie wieder vor ihm. Nach all den Jahren und er ist wieder so verliebt wie am ersten Tag. Doch das hübsche Mädchen hat ein Geheimnis. Sie ist ein Junge, doch er wird darüber hinweg sehen, denn er liebt sie so wie sie ist.“

„Das mit mir und Micha ist vorbei.“ Cornelius‘ Gesicht war hochrot angelaufen. „Wir haben uns getrennt und wenn wir uns nochmal treffen, dann als Freunde.“

„Entschuldige.“ Ina hob schnell die Hände vor sich und lachte gekünstelt. „Die Phantasie ist mal wieder mit mir durchgegangen.“

„Du solltest weniger Fanfictions lesen“, schlug Emil vor.

„Lesen?“, fragte Ina erstaunt. „Und was ist mit Schreiben?“

„Schreiben auch.“

„Er hat geladen!“, sagte Cornelius plötzlich und Emil drehte sich hastig um. Tatsächlich zeigte der Bildschirm nun endlich ein Satellitenaufnahme mit einer Markierung auf einem größeren Haus, vielleicht einer Lagerhalle.

„Ich weiß, wo das ist!“, rief Ina aus. „Das ist ganz in der Nähe, wo ich mal gewohnt habe!“

Emil war froh, dass er den Rechner nicht bemühen musste noch rauszuzoomen. Doch das ungute Kribbeln in seinem Bauch machte es nur schlimmer. Das war zu klischeehaft, das konnte nur eine Falle sein.

„Worauf warten wir noch?“ Ina hibbelte von einem Bein auf das andere.

Wie gebannt starrte Emil den Bildschirm an. Er schluckte. Da hielten sie also Lilian gefangen?

Das war alles so irreal, mehr wie in einem Film, als in der Realität.

Er hatte sich immer gefragt, warum die Leute in Filmen immer so dumme Dinge taten und in die offensichtlichsten Fallen hinein liefen, wenn sie genau wussten, dass ihnen nichts gutes erwartete. Doch jetzt spürte diesen Drang, sofort dahin zu gehen und nicht länger die Beine still zu halten. Aber wie sollte er das anstellen? Was konnte er schon tun? Er hatte keine magischen Fähigkeiten mit denen er irgendetwas bewirken konnte. Er wäre dem Nekromanten komplett ausgeliefert, sobald er dort ankam. Wie sollte er schon Lilian befreien können.

„Ich kann euch helfen“, sagte Cornelius plötzlich. „Wenn sie Emil wollen, dann habe ich eine Idee.“

„Nein!“ Emil wandte sich zu Cornelius um. „Du hast schon genug für mich getan! Ich muss das alleine schaffen.“

„Wie willst du das denn alleine schaffen?“

„Ich finde schon eine Möglichkeit.“

„Lilian ist auch meine Freundin.“ Cornelius stockte, als bemerkte, wie er das gesagt hatte. „Also, du weißt schon. Gute Freundin und ich bin ihr genauso etwas schuldig wie du. Also lass uns das zusammen machen.“

Das gab Emil etwas Hoffnung. „Okay, was ist dein Plan?“

„Sage ich dir draußen. Lass uns los.“

„Hey! Vergesst mich nicht!“ Ina stemmte die Arme in die Seiten. „Ihr wisst doch überhaupt nicht, wo das ist.“

„Dann führ‘ uns dahin“, sagte Cornelius und Ina tänzelte zufrieden los. Dann fragte er, als Ina aus der Hörreichweite war. „Ist sie immer so?“

„Ja, leider schon. Für sie ist das alles nur ein großes Abenteuer.“

„Dann sollten wir sie da nicht mit rein ziehen.“

Verrat

Das Lagerhaus lag etwas außerhalb der Stadt auf einem Gelände einer stillgelegten Firma. Das Firmenlogo war abgehangen worden, sodass nicht mehr zu erkennen war, was hier einmal hergestellt worden war.

Oberhalb der massiven Wände der Halle gab es Fenster, die teilweise durch Holzplatten ersetzt worden waren. Bei einigen hatte man sich sogar nicht einmal mehr die Mühe gemacht, die zerbrochenen Fenster zu verbarrikadieren und kleine Splitter vom vergilbten Glas lagen direkt darunter. Efeu hatte jahrelang auf den Backstein gewuchert und die Wand fast vollständig eingedeckt.

Die Halle schien vier Eingänge zu haben. Auf der Vorderseite ein eingerostetes Schiebetor, ein weiteres auf der rechten Seite und auf der Hinterseite zwei einfach Türen.

Emil, Cornelius und Ina knieten hinter einem wirren Gestrüpp von Ästen und Unkraut, dass vielleicht mal ein Busch gewesen war. Cornelius hatte Emils Aussehen angenommen und sogar Emil musste zugeben, dass die Illusion beinahe perfekt war. Bis auf, dass Cornelius etwas kleiner war, als er, glich er ihm nun wie ein Haar auf das andere. Er hatte sogar die Narbe am linken Oberarm, die Emil sich zugezogen hatte, als er als Kind beim Spielen aus dem Bett gefallen war – oder eher auf die Kante des Bettes.

„Ina, du bleibst hier und hältst Wache.“ Cornelius‘ Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. „Wenn jemand kommt, dann kreischt du laut.“

„Warum darf ich nicht mitkommen?“, zischte Ina.

Emil stieß die Luft aus. „Wir machen es so, wie abgesprochen.“

„Ihr macht mich fertig, Jungs.“ Ina verdrehte die Augen, machte aber keine weiteren Anstalten ihnen noch einmal zu widersprechen. „Viel Erfolg“, hauchte sie und krabbelte dann rückwärts hinter das nächstgelegene Gestrüpp.

Emil sah ein letzte Mal zu Cornelius. Sein Puls raste. Sie wollten es als wirklich probieren.

Zunächst war Emil vehement dagegen gewesen, doch je länger sie diskutiert haben, desto klarer war es ihm geworden, dass sie keine andere Möglichkeit hatten.

Emil hasste den Gedanke, dass Cornelius sein Leben an seiner Stelle riskierte und er klammerte sich an die kleine Hoffnung, dass schon alles so klappen würde wie geplant. Cornelius würde vorgehen, Lilian finden und Emil sollte die Verwirrung nutzen, um mit Lilian zu flüchten.

Das war verrückt. Das war komplett wahnsinnig. Aber es war ihre einzige Chance.

Cornelius nickte Emil zu und erhob sich. Emils Brust durchfuhr ein unangenehmes Stechen. Er würde das wirklich durchziehen.

Das Blut in seinen Fingern pulsierte und er versuchte seinen Kopf leer zu bekommen. Während Cornelius langsam zum Lagerhaus hinüber ging und die Tür inspizierte, starrte Emil auf seine Uhr und zählte die Sekunden mit.

Vier Minuten und dreizehn Sekunden sollte Emil warten, dann sollte er ihm unauffällig folgen. Einen Grund für die krumme Zahl gab es nicht. Cornelius meinte, das bringe Glück. Cornelius verschwand durch die unverschlossene Tür ins Lagerhaus verschwand und ließ diese dabei offen stehen.

Vier Minuten dreizehn war auf jeden Fall eine viel zu lange Zeit, wie Emil feststellen musste. In der Stille die daraufhin folgte, lauschte Emil angespannt, ob er irgendetwas hören würde, dass ihm sagte, was gerade passierte. Doch erst hörte er nur lange Zeit seinen eigenen Herzschlag und ein leises Rascheln von Ina aus dem Gebüsch neben ihm. Im Inneren der Lagerhalle war es totenstill. Das machte ihm Angst.

Irgendetwas musste er doch hören. Oder war die Halle so magisch abgeriegelt, dass kein Geräusch nach außen drang? Hätte er dann nicht trotzdem etwas durch die offene Tür hören müssen?

Er starrte zum Eingang. Noch 33 Sekunden. Dann folgte plötzlich der dumpfe Knall von innen, auf den er zwar irgendwie gewartet hatte, der ihn aber dennoch in Panik versetzte. Es musste etwas schief gegangen sein.

„Was war das?“, flüsterte Ina aufgeregt. Doch Emil antwortete nicht.

Er musste sich zwingen die letzten Sekunden zu warten. Vier Minuten dreizehn, nicht mehr, nicht weniger. Er hatte keine Ahnung, was ihn innen erwarten würde, doch daran zu denken machte es nur schlimmer.

Als der Sekundenzeiger die letzte Runde beendete, richtete er sich auf und eilte zur Tür hinüber. Schnellen Schrittes überwand er die Stufe und fand sich in einem Gang wieder.

Nachdem sich seine Augen recht schnell an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, erkannte er, an beiden Seiten mehrere geschlossene Türen.

Emil beschloss diese zu ignorieren und zwang sich selbst, weiter zugehen. Mit den Händen tastete er an den Wänden entlang, als wäre er nicht sicher, dass diese ihn wirklich von den Räumen dahinter trennen.

Seine Beine waren weich wie Gummi. Es wäre deutlich einfacher gewesen, wenn er nicht alleine gewesen wäre. Wenn er nicht das Gefühl gehabt hätte, beobachtet zu werden.

Emil lauschte, doch er hörte nur seinen eigenen rasselnden Atem in der Stille. Wohin war Cornelius gegangen? Die Türen waren alle geschlossen und Emil wagte es nicht, zu überprüfen, ob sie verschlossen war. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie die Klinke bei dem Versuch laut quietschen würde. Dann wäre er sofort geliefert.

Also schlich er einfach den Gang weiter entlang, bis es nicht mehr weiter ging. Alle Türen hier war geschlossen. Langsam dämmerte ihm, dass der dumpfe Knall von eben eine Tür gewesen sein könnte. Er hatte keine Ahnung, wo Cornelius jetzt war. Er konnte hier lang gegangen sein, oder auch nicht.

Das mulmige Gefühl in seinem Magen, zog diesen unangenehm zusammen. Was sollte er jetzt nur tun? War er auf dem richtigen Weg? Mit angehaltenem Atem lauschte er in die Stille hinein. Er hörte immer noch nichts und das beunruhigte ihn noch mehr.

Emil sah sich hektisch um und erblickte die rostene Metalltreppe neben ihm, die in ein erhöhtes Zwischenstockwerk führte. Es war der einzige Weg, der ihm blieb und das gefiel ihm gar nicht.

Wie in einem Computerspiel. Es gab nur einen Weg und der führte ihn direkt zum Boss. Emil schluckte, als ihm klar wurde, was ein gradliniger Weg bedeutete. War alles, was er tat geplant? Wusste jemand, dass er hier war? Wenn der Seher dem Nekromanten half, war ihr Ablenkungsmanöver vielleicht vollständig umsonst.

Doch dann meinte Emil von oben Stimmen zuhören. Es war nicht mehr als ein verzerrtes Flüstern. Doch es war wenigstens ein Anhaltspunkt. Vielleicht war er noch nicht entdeckt worden. Seher wussten vieles, aber es gab immer Lücken in ihren Vorhersagen, die man nutzen konnte. Alles hing von seinen Entscheidungen ab.

Emil stieg die Treppe hinauf. Bei jedem Schritt betete er, dass die Stufe unter seinem Fuß keine Geräusche von sich geben würde. Die meisten Stufen knarzten und quietschten bei seinen Schritten, jedoch nie lauter, als sein eigener Atem.

Oben angekommen wurde das Flüstern lauter und deutlicher und Licht fiel auf die Wand rechts von ihm. Eine Tür stand in einiger Entfernung einen winzigen Spalt offen.

Sein Herz schlug ihm mittlerweile unangenehm bis zur Kehle, doch Emil schlich weiter vorwärts. Neben der offenen Tür drückte er sich gegen die Wand. Er hielt den Atem an und lauschte.
 

Es war eine weiche Stimme an ihrem Ohr, die Lilian aus ihren wirren Träumen riss. Wie als würde sie aus einem lange Schlaf erwachen. Lilian hatte keine Ahnung, wo sie war. Noch wer die Stimme war.

Die Stimme flüsterte ihren Namen. Nur langsam drang sie in ihre Gedanken. Erst jetzt merkte Lilian, dass sie auf kaltem Boden lag. Sie versuchte sich zu bewegen, aber ihre Hände, waren auf ihrem Rücken gefesselt. Etwas dünnes mit scharfen Kanten schnitt ihr in die Haut, als sie versuchte, die Arme auseiander zu ziehen.

„Warte.“ Kalte Hände nahmen ihre Hände und sie hörte ein leises Klacken, als die Kabelbinder an ihren Handgelenken durchschnitten wurde.

Lilian hatte sofort den Drang ihre Arme bewegen zu müssen, als wären sie schon viel zu lang in dieser Position verharrt. Sie massierte sich Arme und Handgelenke Dann öffnete sie langsam die Augen.

Alles war grau und in schwaches Licht getaucht. Ihre Augen huschten durch den Raum und sie erkannte schnell, dass sie in einer Art Maschinenhalle lag. Überall standen schwere, große Maschinen in einigem Abstand zueinander. Alarmiert drehte sie sich zu ihrem Retter um und blickte in Emils Gesicht.

Lilian erschrak, als neben ihr eine Tür krachend ins Schloss fiel. Emil sah hastig zur Seite und murmelte einen Fluch. Alles in Lilian erstarrte zu Eis und presste instinktiv die Hände auf die Lippen. Etwas war falsch. Das war nicht Emils Stimme. Zumindest glaubte sie das.

Lilian beobachtete ihn genau. Als er ihren Blick bemerkte, sah er sich zu ihr um. Die Mimik passte nicht. Es war Emils Gesicht, aber nicht Emil. Cornelius? Er war der einzige Gastaltwandler, der ihr einfiel. Aber warum? Was machte Cornelius hier?

Doch bevor sie einen weiteren Gedanken daran verschwenden konnte, wurde Cornelius auf die Beine gezogen. Graue Hände schlangen sich um Cornelius Hals und Oberkörper. Ein leises Klirren neben ihr. Lilian erblickte das Messer und schob es rasch unter ihren Körper. Es war ein Reflex, doch Lilian wusste genau, was als nächstes passieren würde.

Hektisch wandte sie den Kopf, um ihren Entführer auszumachen. Doch statt dem Nekromanten trat Hanna in einem weißen Kleid zwischen den Maschinen hervor.

„Ich wusste, du würdest kommen.“ Über Hannas Gesicht zog ein Lächeln.

Erinnerungen rauschten durcheinander und zurück in Lilians Kopf. Genau. Zusammen mit Hanna war sie zum Friedhof gegangen. Sie hatten geredet und gescherzt wie in alten Zeiten. Hanna hatte ihr etwas erzählt. Aber was? Sie erinnerte sich nur noch daran, mit Hanna dort gestanden zu haben. Vor dem Grab von Hannas Eltern.

Was war los? Hatte man sie unter Drogen gesetzt. Die Gedanken wirbelten durch ihren Kopf und sie konnte sie nicht greifen. Lilian vergrub das Gesicht in den Händen, sie zu ordnen. Was war passiert? Was hatte Hanna erzählt? Doch die Erinnerung war nur ein verschwommener Nebel.

„Es ist also, wie er gesagt hat. Du bist hergekommen, um deine geliebte Lilian zu retten. Dabei wusstet du genau das es eine Falle ist.“

Ein Schauder lief über Lilians Rücken. Meinte Hanna das ernst? Was war in sie gefahren? Lilian tastete nach dem Messer und schob es hinunter in ihren Schuhschaft. Dann versuchte sich aufzurichten. Doch ihre Beine, wollten sie nicht richtig tragen und sie musste sich an dem Stahlträger neben ihr abstützen.

Hinter ihr würgte Cornelius und wand sich im Griff eines riesigen Ungetüms mit leeren Augenhöhlen, dessen Haut fahl und grau war. Es war ein Ghul, aber einer von der größeren Sorte. Lilian hatte keinen Zweifel daran. Hanna war die Nekromantin.

„Warum?“, entfuhr es ihr, dann wiederholte sie es lauter: „Warum, Hanna?“ Lilian ballte die Hände zu Fäusten und starrte Hanna an, die keine Reaktion zeigte. Sie stand einfach nur da, in dem Kleid, unschuldig wie ein Kind. Dann flüsterte sie mit dünner Stimme:

„Erinnerst du dich daran, was wir früher immer gesagt haben?“

„Dass wir verflucht sind.“ Lilian versuchte ihr Gewicht auf beide Beine zu stellen. War es das worüber sie geredet hatten? Ihr war, als hätte sie diesen Satz schon sooft gesagt. „Aber dass wir das gemeinsam durchstehen.“

„Ja. Ich war schon immer eine Banshee, denn ich bringe den Tod und mit den Jahren ist es schlimmer geworden.“ Hanna hob gedankenverloren ihre Hand und starrte auf das Messer das sie daran hielt. Seine Klinge war etwa so lang wie ihre Hand und glänzte im schwachen Licht.

„Du meinst, wegen deiner Eltern? Das war nicht deine Schuld. Das weißt du!“ Lilian behielt Hanna genaustens im Auge. Ihre Muskeln spannten sich an, aber sie musste ruhig bleiben. Der Ghul hatte Cornelius und Hanna kontrollierte ihn. Irgendwie musste sie Hanna beruhigen.

„Das haben alle immer gesagt. Weißt du, warum ich damals auf das Internat kam? Bei meinen Adoptiveltern ist die Küche abgebrannt. Sie kamen gerade so davon. Der Junge, den ich mochte, wurde von einem Bus erwischt und sitzt seitdem im Rollstuhl. Meine Lieblingslehrerin ist an Krebs gestorben. Sag mir, dass das keine Zufälle sind.“

„Das waren -“ Doch Hanna fuhr ihr ins Wort.

„Ich bringe denen die ich liebe den Tod! Unheil, Verderben!“ Hannas Züge verhärteten sich. „Als ich älter wurde, konnte ich die Toten überreden mir sie nicht ganz wegzunehmen, doch ich werde mich ihnen nie wieder näher können. Ist das fair?“

Hannas Stimme war ein Flüstern, dass an den blanken Wänden, der Halle widerhallte: „Ich höre die Toten flüstern. Sie scharen sich um mich. Doch ich konnte den Tod nicht kontrollieren. Er fand immer nur mich. Jetzt kontrolliere ich ihn.“

Aber das war Wahnsinn. Das sollte der Grund sein, dass Hanna sich auf die Nekromantie eingelassen hatte? Die Toten würden nach ihr greifen und ihr die letzte Lebensenergie rauben.

„Für welchen Preis? Es wird dich umbringen.“

Hannas Hände ballten sich zu Fäusten. „Du hast keine Ahnung, wie das ist!“

„Doch, die habe ich.“

„Woher?“, schnitt Hanna ihr scharf ins Wort. „Du hast doch alles, was du wolltest. Du kannst deine Kräfte kontrollieren und einen Freund, der gegen dich immun ist. Warum ist das bei dir so einfach? Du hast damals geschworen, dass wir zusammen halten. Mir wurde alles genommen!“

Hannas Worte trafen sie. Das war nicht richtig, das zu behaupten. Sie hatte für alles kämpfen müssen. Für ihr Glück, für das, was ihr wichtig war. Es war nie einfach gewesen. Sie hatte dafür nie auf dunkle Magie zurückgegriffen oder einen leichteren Weg gesucht.

Doch gleichzeitig spürte Lilian, die Traurigkeit, die in ihr aufstieg. Hanna hatte es wirklich härter getroffen. Lilian wollte sich überhaupt nicht vorstellen, dass ihren Eltern oder Freunden etwas zustoßen würde. Sie hatte Kompromisse eingehen müssen, doch wie es war, alle, die sie liebte zu verlieren, konnte sie sich nicht vorstellen.

„Es tut mir Leid.“ Lilian kämpfte gegen das leere Gefühl in ihrer Magengegend an. Je mehr sie Hanna verstand, beschlich sie die Angst, dass Hanna wirklich bereit war, etwas schreckliches zu tun, um die Sache in ihren Augen zu begleichen. „Wir waren immer Freunde. Auch wenn wir uns aus den Augen verloren haben. Mich kriegt man nicht so leicht tot.“

„Ich hasse dich! Aber ich will dich nicht tot sehen. Ich will nur, dass du leidest wie ich.“

„Bitte, Hanna. Wir finden eine Weg!“

„Zu spät.“ Ihre Stimme war nun kalt wie Eis. „Jetzt nehme ich dir ihn.“

Wie zur Antwort, hörte sie Cornelius' Würgen. Der Ghul verstärkte seinen Griff und Lilian war sich sicher, wenn sie ihn angriff, würde er Cornelius sofort das Genick brechen.

„STOPP!“, schrie Lilian verzweifelt auf. „Hör sofort auf! Du musst ihn nicht töten!“

„Sieh's ein. Du hast verloren. Wenn er tot ist, sind wir quitt.“

Cornelius‘ Gesicht war schmerzverzerrt. Nur noch wenige Sekunden. „Um ihn mir wegzunehmen, musst du ihn nicht töten!“

Kaum ausgesprochen fuhr Hanna mit der freien Hand durch die Luft und der Ghul stoppte sofort. Lilian blieb noch etwas Zeit.

Hanna hatte sich da schon zu lange in etwas hineingesteigert. Wenn Lilian sie nicht beruhigte, würde sie Cornelius töten. Auch wenn sie sicher immer noch glaubte, es sei Emil. Cornelius wollte sie genauso wenig verlieren und der Trost, dass Emil in Sicherheit war, half ihr nicht weiter.

In dem Zustand war Hanna unberechenbar. Ewige, einsame Stunden, in denen sie diesen Plan geschmiedet haben musste. Sie sah Lilian erwartend an.

Die Angst trieb Lilians Puls bis zum Hals und das Sprechen fiel ihr schwer:

„Er ist nur immun gegen mich, weil er eine Abmachung mit einer Hexe hat. Doch die Abmachung ist an meinen Namensbund mit der Hexe gekoppelt. Wird der Bund aufgelöst, so erlischt auch die Abmachung.“

Zum ersten Mal war Lilian wirklich war froh, dass sie diese Information in der Übersetzung gefunden hatte. Cornelius hatte nichts von der Abmachung noch von Emils Quelle wissen können. Er hatte nicht einschätzen können, das dieser Bund weitreichender war, als man meinte.

Doch gerade jetzt, war diese Information ihre Trumpfkarte. Ein Kompromiss, der ihr genug Zeit verschaffen würde, Cornelius zu retten. Es war ihr Druckmittel, um das schlimmste abzuwenden.

Je länger sie sprach, desto ruhiger wurde sie. Hanna hörte ihr gebannt zu. Das war ein Anfang.

Blutopfer

„Er ist nur immun gegen mich, weil er eine Abmachung mit einer Hexe hat. Doch die Abmachung ist an meinen Namensbund mit der Hexe gekoppelt. Wird der Bund aufgelöst, so erlischt auch die Abmachung.“

Lilians Worte, waren das erste, was Emil aus dem Raum hörte und er erstarrte.

„Ohne den Schutz des Zaubers wirken meine Kräfte wieder auf ihn. Ich würde ihm nie wieder nahe kommen können und ihn niemals mehr küssen können. Das ist es doch, was du willst? Aber dafür muss er nicht sterben!“

Emil durchzuckte es schmerzhaft. Der Bund war mit der Abmachung verknüpft? Aber warum? Wenn sie den Bund aufhob, würde sie – Er würde sie verlieren. Das tat Lilian nicht wirklich?!

Wie erstarrt blickte er einfach nur in die Dunkelheit vor sich. So viele Fragen waberten in seinem Kopf auf die er keine Antwort kannte. Er begriff nur zwei Dinge: Der Nekromant wollte ihn tot sehen und wenn er nichts unternahm, würde Cornelius an seiner Stelle sterben.

Auch wenn er keine Ahnung hatte, was dort drinnen da passierte. Irgendetwas musste er tun! Bevor Lilian wirklich noch den Bund auflöste und bevor sich der Nekromant es sich anders überlegte und nicht auf den Handel einging.

Doch so sehr ihn der Gedanke erschütterte, Lilian nicht mehr nahe kommen zu können, so hatte er auch noch Cornelius' Worte im Ohr: Es wird dich sehr viel Kraft kosten. Sie konnte dabei sterben. Er konnte sie verlieren. Das war es nicht wert!

Es musste einen anderen Weg geben! Martin hätte gewusst, was zu tun war. Der wusste doch sonst immer alles.

Doch Martin war nicht hier. Emil war auf sich allein gestellt und er musste in diesen Raum. Er atmete tief ein und schob dann die Finger in den Türspalt.

Cornelius' Stimme schallte durch den Raum und das Knarzen der Türscharniere ging in seinem Schrei unter:

„Tu's nicht!“

„Es ist in Ordnung“, erwiderte Lilian beschwichtigend und Emil schob sich durch den Türspalt.

Er stand auf einer Gitterplattform im hinteren Teil einer großen Halle. Im unteren Teil standen überall große Maschinen zwischen denen er drei Personen erkennen konnte.

Emil wollte seinen Augen nicht trauen, als er Hanna erkannte. Der weite Rock und die roten Haare war unverkennbar. Hastig suchte er den Raum nach einer vierten Person ab. Doch er sah nur Lilian, Cornelius und sie. Bedeutete das etwa, das sie dahinter steckte? Aber der Stein hatte bei ihr doch funktioniert. Sie hatte Details über den Nekromanten verraten. Wie konnte sie es sein?

Hanna hielt einen Moment inne, bevor sie mit ruhiger Stimme fragte: „Wie willst du den Bund lösen?“

Emil tat einige vorsichtige Schritte in Richtung der Treppe nach unten. Jeden Moment meinte er, dass seine Schritte ihn verraten würden, doch die Stimmen übertönten ihn. Er versuchte sich einfach nur auf sich zu konzentrieren. Keine falsche Bewegung. Mit versteiften Muskeln kam er nur langsam voran.

„Ein Blutopfer“, erklärte Lilian. „Ich habe den Bund initiiert. Ich kann ihn auch wieder lösen. Namensmagie bindet den Dämon an die Hexe und umgekehrt. Aber wenn ich es umkehre und mein Blut vergieße mit den richtigen Worten, dann verliert der Bund seine Wirkung. Ich bin dann wieder für alle Magier angreifbar und werde nie wieder Emil küssen können. Ich brauche dafür nur ein Messer.“

„Nein“, war Hannas simple Antwort. „Ich bin doch nicht blöd. Ich gebe dir kein Messer.“

„Das Blutopfer -“

„Komm rüber!“ Hanna winkte Lilian mit dem Messer zu ihr.

Erst jetzt erkannte Emil, dass Cornelius unnatürlich schief stand, sich aber kein Stück bewegte. Sofort musste er an den Ghul denken, der ihn in seinem Schlafzimmer angegriffen hatte. Das war also Hannas Druckmittel. Ein Ghul, der scheinbar so stark war, dass Cornelius sich keinen Zentimeter bewegen konnte.

Die Situation war absurd. Auch wenn er es genau wusste, er konnte die Gefahr ja nicht einmal sehen. Doch das hieß, dass er auch nicht wusste, ob mehr Ghule im Raum waren. Alles was er hoffen konnte, war dass sie ihn trotzdem nicht entdecken würden.

Es tat nicht gut, Cornelius so zu sehen. Er hätte an seiner Stelle sein können. Doch wusste Lilian, dass es nicht er war, den der Ghul da gefangen hielt? War ihr klar, dass sie das alles nicht tun musste? Dass es nicht nötig war, den Bund nicht lösen, weil es noch Hoffnung gab? Weil er noch hier war. Auch wenn er keine Ahnung hatte, was er tun sollte.

Emil bereute es, dass er sich vorher keine Gedanken gemacht hatte. Er hatte gehofft, dass alles irgendwie klappen würde. So wie sonst auch. Doch wie hatte er sich das vorgestellt? Wie sollte so etwas, einfach klappen?

„Ich muss das Blut selbst vergießen“, wiederholte Lilian, als sie einige Schritte auf Hanna zutrat. „Wenn du es machst, funktioniert es nicht.“

Hanna schnaubte. „Das glaube ich dir sogar.“

Panik stieg in Emil auf. Ihm blieb nicht viel Zeit. Er beschleunigte seinen Schritt. Kaum am Treppenabsatz angekommen, hastete er hinter den Maschinen in Deckung. Das durfte Lilian nicht tun! Es gab einen anderen Weg. Irgendeinen! Aber nicht den!

Langsame Schritte waren zu hören. Dann wurde es still.

„Eine falsche Bewegung, dann ist er tot!“, schnitt Hannas Stimme durch die Stille.

Emil hockte mit rasendem Herzen hinter der Maschine und sah sich fieberhaft zu allen Seiten um. Sein Blick fiel auf ein Metallrohr, dass einen Meter von ihm entfernt lag. Er hatte keine Ahnung, wie er das benutzen sollte, wenn er noch so weit von den den anderen entfernt war.

Er kniff die Augen zusammen. Denk nach! Was kannst du tun? Wie kannst du das verhindern?

Doch dann wurde ihm schmerzlich bewusst, dass alles, was er tun konnte, seinen sicheren Tod bedeutete. Resigniert ließ er den Kopf sinken. Er konnte nichts tun, nur hoffen.

Ein dumpfes Geräusch und ein hoher Aufschrei, ließen Emil die Augen aufreißen. Das Messer lag am Boden und Lilian drehte Hanna den Arm auf den Rücken. Diese wand sich in ihrem Griff, kämpfte gegen den Griff an, auch wenn sie sich selbst nur Schmerzen dabei bereitete. Sie schrie, erst aus Anstrengung, dann konkrete Worte:

„Das wirst du mir büßen! Töte ihn!“

Nein! Ohne Nachzudenken griff Emil nach der Stange. Im selben Moment ließ Lilian Hanna schlagartig los. Sie rannte zu Cornelius hinüber und war dort, bevor Emil sich überhaupt bewegen konnte. Erst traf ihre Faust auf etwas über Cornelius' Kopf. Dann langte nach ihren Fersen und zog sie etwas hervor. Damit hieb erneut auf den Ghul ein.

Es zeigte Wirkung. Ein tiefes Gurgeln ging durch den Raum. Cornelius japste auf und stolperte vorwärts. Lilian schob sich schützend vor ihn und ging dann erneut auf den Ghul los.

Emil war wie erstarrt, doch dann realisierte er, dass sich nun niemand mehr um Hanna kümmerte. Hektisch wandte er den Kopf und sah sie, wie sie perplex dastand und einfach nur zusah. Das musste er nutzen.

Die Stange in seiner Hand wollte er nicht benutzen und legte sie zurück auf den Boden. Dann schlich er in ihre Richtung.

Doch plötzlich wandte Hanna ihren Kopf. Sie sah genau in seiner Richtung. Entsetzen machte sich auf ihrem Gesicht breit. In den Sekunden, in denen sie noch realisierte, was gerade passierte, wusste Emil schon, dass er jetzt nur noch eins tun konnte. Rennen.

„Wusste ich es doch!“, rief Hanna und erhob langsam ihre rechte Hand mit ausgestreckten Fingern. „Ihr habt mich die ganze Zeit nur an der Nase herum geführt!“

So schnell er konnte, sprintete Emil zu Cornelius hinüber. Lilian hatte den Ghul soweit zurück getrieben, dass dieser in sicherem Abstand stand. Emil langte nach Cornelius' Arm und zog ihm mit sich.

Sie tauchten hinter den Maschinen unter. Doch weit würden sie nicht kommen, besonders nicht zu der oberen Tür.

„Wir müssen uns aufteilen“, keuchte Cornelius. Emil nickte. So konnten sie zumindest etwas Verwirrung stiften.

Während Cornelius in die eine Richtung rannte, hastete Emil in die andere und verschwand hinter der nächsten großen Maschine. Vielleicht konnten sie Hanna so lange ablenken, dass Lilian den Ghul besiegen und sich dann wieder um Hanna kümmern konnte.

Mit dem Rücken an das Metall gedrückt, konnte er nicht sehen, was passiert.

„Hanna!“, hörte er Lilian rufen. „Hör mir doch zu. Ich -“ Doch ihre Stimme brach ab. Ein unangenehmes Knacken ging durch den Raum.

Emil schluckte. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.

„Hanna!“, rief Lilians Stimme erneut und Emil atmete für einen Moment auf. Doch dann hatte er das Gefühl, dass sich etwas über ihn legte. Eine Sekunde später wusste er, warum.

Etwas packte ihn an den Schultern und zog ihn zu Boden. Krallen zerkratzen die Haut auf seinen Armen, als Emil sich wehrte und um sich schlug. Erst als seine Schläge auf Widerstand trafen, merkte er, dass der Griff sich löste. Emil zog das Bein zu sich heran und erwischte das unsichtbare Etwas mit dem Knie. Mit voller Kraft trat Emil mit dem anderen Fuß dagegen. Der Griff löste sich.

Hastig richtete er sich auf, doch das Vieh packte schon wieder zu. Der Ghul musste deutlich kleiner sein, als er andere, doch er war flink.

Aber Emil konnte ihn nicht sehen. Da war nichts außer Luft und seinen eigenen Beinen. Er stemmte sich gegen die Kraft, die ihn festhielt und versuchte es mit dem Fuß zu erwischen. Emil verlor beinahe sein Gleichgewicht, als sein Fuß tatsächlich traf. Das darunter gab knackend nach. Es war wie in etwas schleimige und matschiges zu treten.

Alleine das Geräusch reichte aus, um ihn erschaudern zu lassen. Er zitterte am ganzen Körper und starrte auf den Fleck, wo sein Fuß rein getreten war. War der Ghul erledigt? Das war egal, er musste hier weg.

Er wandte sich um und erstarrte, als Hanna mit dem Messer direkt vor ihm stand.

„Haben wir dich!“

Sie kam auf ihn zu und richtete das Messer auf seinen Hals. Ihr sonst so liebliches Gesicht war steif und ihre Augen sahen ihn kalt an. Trotz alle Bemühungen, saß er jetzt mehr in der Klemme als vorher. Sein Herz raste. Sie würde ihn nicht selbst töten und sich die Hände schmutzig machen, oder?.

Warum wollte sie ihn überhaupt töten? Warum das alles? Er konnte das immer noch nicht glauben.

Emil wich zurück, doch sie versperrte ihm sofort den Weg und drängte ihn mit dem Rücken gegen die Maschine, die kalte Klinge direkt an seinem Hals. Dann packte sie mit ihren schmalen Armen packte seine Schultern und zog ihn in ihrem Griff. Woher nahm sie diese Kraft? Er versuchte sich zu wehren, doch sie hielt dagegen.

„Du hast mein Spielzeug kaputt gemacht!“, rief Hanna und zog ihn hinter der Maschine hervor. Lilian, die den anderen Ghul scheinbar erledigt hatte, starrte erst sie, dann Emil entsetzt an. Hanna streckte die Hand mit dem Messer aus. „Soll ich dir dafür dein Spielzeug kaputt machen?“

Alle Alarmglocken gingen in Emil an und er stemmte sich gegen Hannas Griff. Doch sie hielt sogar mit einer Hand mühelos dagegen und sofort hatte er das Messer wieder an der Kehle. Sie wusste, dass sie den Richtigen hatte.

Ihre Hand zitterte, doch sie drückte die Klinge näher an seinen Hals. Ein unangenehmes Kribbeln fuhr über seine Haut. Das würde sie nicht tun. Nicht so!

„Nicht so schnell!“ Eine Stimme hallte durch den Raum und Hanna hielt augenblicklich inne.

Die Seher!, schoss es Emil durch den Kopf. Irgendwann musste sie kommen, um das ganze zu beenden. Doch dann hörte er die langsamen Schritte.

Lililan wandte hektisch den Kopf zu allen Seiten und als ihr Blick auf etwas hängen blieb, folgte Emil ihrem Blick.

Erst trat Corenlius immer noch in Emils Gestalt zwischen den Maschinen hervor, dann folgte ein dunkelhaariger Junge, der mit einer gespannten Armbrust direkt auf Cornelius Kopf zielte.

Emil kannte den Jungen nicht. Aber er sah jung aus, vielleicht sogar jünger als Emil. Erst als der Junge erneut sprach war seine Stimme tief und hatte eine Härte, die ihn deutlich älter machte.

„Na los, nimm deine richtige Gestalt an“, forderte er Cornelius auf. Er griff nach Cornelius Schulter und drückte diesen ohne Gegenwehr auf die Knie.

Die Illusion des zweiten Emils verblasste. Doch anstatt Cornelius‘ richtiger Gestalt, hockte dort nun das blondes Mädchen, das Emil als Cornelius kannte.

Doch was wahrscheinlich eine gute Idee gewesen war, führte bei dem Jungen zu einer Reaktion, mit der Emil nicht gerechnet hatte.

„Ach du bist das.“ Der Junge grinste schelmisch und Cornelius‘ Gesicht verriet, dass er genauso perplex über die Reaktion war. „Ich wusste, dass du auch noch auftauchen würdest.“

Bedeutete das? Emil hatte es vermutet, doch war das die Bestätigung? War der Junge ein Seher? Der Seher, dem das Ganzen hier in die Karten gespielt hatte?

Emil wagte es nicht, sich in Hannas Griff zu bewegen. Er spürte das kalte Metall der Klinge an seinem Hals und das Kribbeln der verletzten Haut darunter. Er wollte sich nicht ausmalen, was passierte, wenn sie damit wirklich in seinen Hals schnitt. Er konnte nichts tun und konnte nur versuchen einen klaren Kopf zu bewahren.

„Wer bist du?“, fragte Lilian scharf und nahm eine Kampfstellung ein, während sie den Jungen genausten im Auge behielt.

„Wir haben doch noch eine Rechnung offen. Erinnerst du dich nicht mehr?“, fragte er ruhig und behielt Cornelius im Auge.

„Woher soll ich dich kennen?“ Lilians Stimme zitterte leicht und Emil fragte sich, ob sie log. Kannte sie ihn nicht? Warum war er dann so überzeugt davon?

„So lange ist das jetzt auch nicht her.“ Er schnaubte und trat Cornelius in den Rücken, der nur zusammen zuckte. „Du hast dich auch nicht geändert.“

Er packte Cornelius‘ Kopf, doch dieser schlug zurück und erwischte den Jungen im Bauchraum. Nur kurz zuckte er in sich zusammen, dann überwältigte er Cornelius wieder, drückte ihn nach unten und trat noch einmal nach. Lilian hatte es in der Zeit nur ein kurzer Stück näher herangeschafft. Der Junge zückte wieder die Armbrust und fixierte Cornelius damit auf dem Boden.

„Was willst du von ihr?“, rief Lilian.

„Ihm meinst du. Ich weiß sehr wohl, dass er ein Gestaltwandler ist. Ich weiß, wer du bist. Schließlich habe ich jahrelang nach euch gesucht.“

„Wer bist du?“

„Muss ich dein Gedächtnis erst auffrischen?“ Er drückte mit dem Fuß gegen Cornelius‘ Brust. Dann wurde plötzlich alles schwarz um Emil.

Schmerzhafte Erinnerungen

Michas Lachen war ansteckend. Er drückte Cornelius‘ Hand fester, bevor sich ihre Blicke trafen.

Ein flaues Gefühl ging Cornelius durch den Magen. Sein Herz schlug schneller.

Jeder Moment dieses Tages war so angenehm leicht gewesen. Beinahe hatte Cornelius vergessen, dass er nicht in seinem eigenen Körper steckte, sondern in dem eines Mädchens. Seinem Ebenbild.

War das der Moment? Cornelius versuchte in Michas Blick zu lesen, was er dachte. Sollte er ihn küssen? War das der richtige Zeitpunkt?

Einige Zeit sahen sie sich einfach nur an, während Cornelius‘ Gedanken sich überschlugen. Wenn jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, wann dann?

Doch Micha ging einige Schritte rückwärts zwischen die Häuser und nahm Cornelius an der Hand mit sich.

„Ist das nicht etwas klischeehaft?“ Cornelius merkte, dass seine Stimme zitterte.

Micha war stehen geblieben. Seine Augen glänzten im schwachen Licht.

„Klischeehaft wäre es erst, wenn ich dich küsse.“

„Worauf wartest du dann noch?“

Cornelius‘ lief ein angenehmer Schauer über den Rücken, als Micha seine Hand in seinen Nacken legte. Michas Gesicht kam ihm immer näher, während er mit leiser Stimme flüsterte: „Darauf, dass es weniger klischeehaft wird.“

Dann spürte er Michas Lippen auf seinen und die warme Zunge an seiner.

Das Blut rauschte in Cornelius‘ Ohren und die Welt um ihn verschwand vollends.

Erst die Stimme, die die Stille zerschnitt, holte ihn härter zurück, als ihm lieb war.

„Hier treibst du dich also rum.“

Micha zuckte zusammen und drehte hastig den Kopf. Cornelius folgte seinem Blick. Aus dem Dämmerlicht trat der Schatten eines Mannes. Er hatte extrem kurzes, dunkles Haar und eine breite Statur. Er war Micha wie aus dem Gesicht geschnitten. War das Michas Bruder? Er kam locker auf sie zu. Fast zu locker.

„Daniel“, flüsterte Micha und löste seine Hände von Cornelius Armen. „Ich wollte -“

Doch weiter kam er nicht. Daniel schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Das knacken von Knochen durchschnitt die Luft.

Micha stolperte rückwärts, die Hände vor Schmerz ins Gesicht gedrückt. Kein Blut floss, als er die Hände wieder weg nahm, doch seine künstliche Atmung sorgte für ein merkwürdig klingendes Pfeifen durch die kaputte Nase, als er sprach:

„Was ist in dich gefahren?“

„Dein Ernst?“ Daniel kam einige Schritte auf Micha zu. „Ich suche dich schon die ganze Zeit und dann finde ich dich mit einem Menschen? Ein Mensch?! Und du fragst mich, was in mich gefahren ist?!“

Noch bevor Micha darauf antworten konnte, hastete Cornelius an Daniel vorbei und schob sich zwischen die Beiden.

„Es ist meine Schuld!“ Cornelius zitterte am ganzen Körper. Doch es war das Einzige, was ihm einfiel, was er tun konnte, damit Daniel nicht wieder auf Micha losging.

Jedoch hielt das Daniel nicht auf. Er packte Cornelius am Hals mit einer Kraft, die ihn von den Füßen hob und schleuderte ihn gegen die Hauswand.

Sein Kopf knallte gegen den Stein, dann schlug sein gesamter Körper auf dem harten Boden auf.

Ein einziger Schmerz durchzog ihn. Er presste die Zähne aufeinander, um nicht schreien zu müssen. Vollkommen orientierungslos tastete nach dem Boden unter sich und versuchte er sich aufzurichten. Seine Atem raste. Jede Bewegung schmerzte und sein Körper gehorchte ihm nicht, wie er sollte. Sein rechter Arm war beinahe unbeweglich vor Schmerz.

Schritte knarzten auf dem Asphalt. Gerade ein Stück aufgerichtet, war Daniel bei ihm und drückte ihn mit dem Fuß zurück auf den Boden. Er lehnte sich mit seinem Gewicht auf Cornelius‘ Brust, sodass dieser nach Luft schnappte.

„Dummes Ding. Du solltest dich nicht einmischen, wenn Männer reden.“

Daniel war über ihm und verlagerte das Gewicht noch weiter auf seinen Fuß. Der Druck wurde für Cornelius unerträglich.

„Lass sie in Ruhe!“ Das war Micha, doch er griff nicht ein. Vielleicht wusste er auch nicht wie.

„Ich könnte sie zu meiner Beute machen. Hübsches Blondchen, dass du dir da gefangen hast.“

Cornelius wusste nicht, was er tun sollte. Er konnte sich nicht bewegen. Wenn er zur Beute eines Vampirs wurde, dann war das wohl so. Was konnte er schon tun?

Etwas knacke und ein beißender Schmerz schoss durch Cornelius‘ Körper. Seine linke Seite brannte. Er schrie auf, doch bekam nicht einmal dafür genug Luft.

Daniel nahm den Fuß von ihm herunter. Doch der Schmerz verschwand nicht, jeder Atemzug war eine Qual.

Daniel zog Cornelius auf die Füße und zu sich heran. Cornelius spürte Daniels Atem auf seinem Gesicht, so nah war er ihm. Im Augenwinkel sah, Cornelius Micha, der neben ihm stand und auf Daniel einschrie:

„Hör auf! Das ist nicht mehr witzig!“

„Wie verweichlicht bist du eigentlich? Ich habe nie verstanden, warum sich alle immer um dich bemüht haben. Du bist eine Schande für unsere ganze Familie.“

Cornelius rang nach Luft. Er wollte, dass es einfach aufhörte, doch alles dröhnte.

„Es tut mir Leid!“, schrie Micha. „Aber bitte lass sie los. Ich komme mit dir.“

Daniel packte Cornelius Kopf. „Wenn ich ihr das Genick breche, kommst du dann immer noch mit?“

Panik schoss in Cornelius hoch. Das würde er nicht tun?

„Such dir doch lieber jemanden in deiner Größe, wenn du Ärger suchst!“ Das war eine weibliche Stimme, die näher kam. Wer war das? Cornelius kannte sie nicht.

Daniel ließ von Cornelius ab. Cornelius' Beine brachen unter ihm weg und er sackte auf dem Boden zusammen. Er war zu schwach sich zu bewegen und konnte nur seinen Kopf drehen. Der Mangel an Sauerstoff und die Schmerzen vernebelten seine Gedanken.

Durch den Schleier vor seinen Augen sah Cornelius die Umrisse eines recht großen Mädchens, dessen Gesicht jedoch noch jung war. Vielleicht war sie gerade erst dreizehn oder vierzehn. Sie hatte dunkles Haar und grinste Daniel feindseelig an. Was machte sie hier? Und was sollte das?

„Was hast du zu melden?“ Daniel baute sich vor ihr auf, doch sie wich nicht zurück.

Das Grinsen auf ihrem Gesicht wurde nur breiter. „Ich bin hier, um mit dir zu kämpfen. Das willst du doch. Also such dir einen Gegner, der dir nicht meilenweit unterlegen ist. Das ist ja lächerlich.“

Kaum ausgesprochen, flog bereits Daniels Faust in ihre Richtung, doch sie wich ihm so schnell aus, dass er ins Leere traf.

Sie war kein Mensch, das wusste Cornelius spätestens jetzt, sondern ein Wesen der Dunkelheit.

Ihr Konter traf Daniel direkt gegen die Schläfe. Damit hatte er nicht gerechnet und stolperte orientierungslos rückwärts. Sie preschte vor und schob ihn gegen die Häuserwand. Die Erschütterung, als Daniel dagegen prallte, war noch im Boden zu spüren. Sie war unglaublich stark, vielleicht sogar Daniel ebenbürtig.

„Entschuldige dich gefälligst!“ Sie packte seinen Kopf und schmetterte ihn ein zweites Mal gegen die Wand.

Bei Daniel zeigte das keine Reaktion, doch er wand sich in ihrem Griff und schob seinen Kopf zurück, als sie ihm näher kam.

„Witzig“, sagte sie tonlos. „Du bist nicht immun gegen meine Kräfte? Ich dachte, dass ihr Vampire mehr drauf hättet.“

Etwas an ihr sorgte dafür, dass Daniel schwitzte und zitterte. Dennoch bekam er schließlich ihre Arme zu packen. Mit aller Kraft stieß er sie von sich weg und verpasste ihr noch einen Schlag ins Gesicht. Auch wenn sie zurück wich, folgte er ihr schwer atmend. Aus ihrer Nase floss rotes Blut, was Daniel noch wütender machte.

Sie wischte es rasch mit ihrem Ärmel weg, doch jetzt hatte sie Daniel provoziert und was immer ihr Vorteil gewesen war, war augenblicklich verschwunden.

Micha hastete zu Cornelius hinüber, beugte sich über ihn und versperrte die Sicht auf die beiden Kämpfenden. Sanft legte Micha seine Hand auf Cornelius‘ Wange.

„Bist du in Ordnung?“

Cornelius schnappte nach Luft. Er bekam kaum die Worte heraus, da jeder Atemzug schmerzte. „Ja, mach dir -“

Er zuckte zusammen, als Micha die Hand auf seine Seite legte und der Schmerz schlimmer wurde.

„Du bist nicht in Ordnung.“ Micha zog Cornelius' Oberkörper auf seine Oberschenkel und drehte ihn auf die schmerzendeSeite. Cornelius biss die Zähne aufeinander, doch kaum dass er lag, ließ der Schmerz beim Luftholen etwas nach. Er konnte wieder freier atmen.

Vor seinen Augen ging der Kampf weiter. Daniel brachte das Mädchen zu Boden und schlug auf sie ein, doch sie lenkte einige seiner Schläge um, sodass sie auf den Asphalt trafen. Doch seine Hände bluteten nicht. Denn in ihm war kein Blut, dass hätte fließen können.

Das Mädchen wand sich in seinem Griff, versuchte auszubrechen, doch sie schaffte es nicht dagegen anzukommen. Egal wie sehr sie kämpfte. Sie schaffte es gerademal, ihre Beine und Arme für einen kurzen Moment freizubekommen.

Erst als sie es schaffte sich für einen Moment aufzurichten, erstarrte Daniel mit einem Mal. Sie schob sich näher zu ihm und presste ihre Lippen auf seine.

Sie war eine Succubus und stahl ihm gerade die geliehene Energie, die Vampire am Leben hielt. Dann schubste sie ihn von sich weg.

„Recycelte Energie. Wie ekelhaft.“

Daniel lag auf dem Rücken und wand sich orientierungslos von links nach rechts, als sie sich neben ihn kniete. „Ohne die, bist du scheinbar nicht so großkotzig.“

Doch da hatte Daniel bereits ihren Arm gepackt und biss hinein. Ihr Schrei hallte an den Hauswänden wieder und sie schlug mehrmals gegen Daniels Kopf, damit er loslassen würde. Dann ging es so schnell, dass Cornelius erst langsam verstand, was gerade passiert war.

Das Mädchen hatte seine ausgestreckten Finger in Daniels Brust gerammt. Einige Sekunden verharrten beide, dann zog sie ihren Arm aus Daniels Mund und sein Kopf sackte zurück.

Micha zuckte erschrocken zusammen. „Was hast du getan?“

Sie richtete sich auf und kam zu den beiden hinüber. Ein müdes Lächeln zog über ihr Gesicht.„Eure Leben gerettet.“ Dann blieb ihr Blick an Micha hängen. Sie sah ihn einige Zeit an, dann runzelte sie die Stirn. „Du bist auch ein Vampir?“

„Er ist mein Bruder.“ In Michas Stimme schwang Verbitterung mit. Cornelius' merkte, wie Michas Muskeln sich anspannten. „Ich hätte das regeln können.“

„Das habe ich gesehen. Ich brauche kein Danke.“ Sie wandte den Blick ab und sah Cornelius direkt in die Augen. „Tut mir Leid, dass ich nicht früher hier war.“

„Ich habe gesagt, ich hätte das -“

Doch das Mädchen unterbrach Micha einfach. „Sie werden sicherlich gleich hier sein. Wenn du keinen Ärger möchtest, solltest du abhauen. Du kannst nichts dafür.“

„Ich werde Cornelia hier nicht alleine lassen.“

„Sie werden ihr helfen können. Sie werden sogar ihm helfen.“ Mit dem Kopf nickte sie in Daniels Richtung. „Du scheinst für einen Vampir echt in Ordnung. Riskier' den Ärger nicht.“

Cornelius wusste genau, dass sie von den Sehern sprach. Das Geschehen war sicher nicht lange unbemerkt geblieben.

Micha strich sanft über Cornelius' Kopf und erwiderte nichts. Wahrscheinlich wog er gerade seine Möglichkeiten ab.

„Wahrscheinlich werden sie ohnehin ihr Gedächtnis löschen.“

Würden sie nicht. Doch weder Micha noch das Mädchen wussten, dass er ein Gastaltwandler war. Er hob die Hand, um nach Michas Arm zu greifen und merkte direkt wie es wieder schmerzhaft über seine Brust zog. Wie lange würde er unter diesen Bedingungen es noch schaffen die Gestalt aufrecht zu erhalten?

„Ja“, erwiderte Micha tonlos. „Es tut mir Leid. Das wollte ich nicht.“ Er griff Cornelius' Hand und drückte diese.

„Geh“, war das einzige, das Cornelius heraus bekam. Es war besser so. Wenn er hier blieb, würden sie nur Fragen stellen. Fragen, die Michas sonst so friedliches Leben auf die Kippe stellen würden.

„Bleibst du in der Nähe, bis sie kommen?“ Micha ließ langsam seine Hand los, hob Cornelius' Oberkörper an und ließ ihn sanft auf den Boden sinken. Schwindel schoss in Coreleius' Kopf. Es wurde schlimmer.

„Ja, das kann ich machen. Na los! Es wird schon alles wieder gut.“

„Pass auf sie auf!“ Dann wandte Micha sich um und eilte rasend schnell davon.

Cornelius schloss die Augen. Das war es also. Er würde Micha nie wieder sehen. Ein Stechen fuhr durch seine Brust. Er wusste nicht, ob durch den körperlichen oder seelischen Schmerz. Aber es wurde schlimmer.

„Tut mir wirklich Leid, dass du es so erfahren musstest. Du hast dir scheinbar den falschen Freund ausgesucht.“ Die Stimme des Mädchens war nah an seinem Ohr.

Cornelius öffnete die Augen und sah, dass sie neben ihm kniete.

Zum Sprechen musste er all seine verbliebene Kraft sammeln. „Du musst auch gehen. Ich schaffe das schon.“

Ohne das Cornelius es verhindern konnte, spürte er wie der Zauber von ihm abfiel und er seine Gestalt verlor. Sein Haar wurde kürzer, sein Körper breiter. An seiner Verletzung änderte dies jedoch leider nichts, es war nur eine Illusion. Seinen richtigen Körper durchzogen die gleichen Schmerzen. Doch etwas änderte sich. Sein Blick auf dieses Mädchen änderte sich.

Ein warmes Gefühl machte sich in seiner Brust breit. Mit einem Mal wollte er ihr näher sein. Das waren also ihre Succubuskräfte.

Erschrocken sprang das Mädchen auf und wich zurück. Das Gefühl war sofort verschwunden. „Du bist ein Gestaltwandler? „Aber wieso -?“

Weiter kam sie nicht, denn in der Stille war ein Surren zu hören. Die Seher kamen.

„Geh!“, raunte Cornelius ihr zu und ohne zu zögern, wandte sie sich um und war so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht war.

Das Surren wurde lauter. Er schloss erschöpft die Augen. Wenn die Seher da waren, würde sie ihm helfen können.

Dann hörte er Schritte auf dem Asphalt. Stimmen, die durcheinander redeten. Jemand, der sich zu ihm hinunter beugte und ihn ansprach. Und diesen einen Satz, den er nie vergessen würde.

„Der Vampir ist tot.“

Vom Aufgeben und Hingeben

Emil rang nach Atem. Nur langsam kehrte er in die Realität zurück.

Zurück in die eigene, verzwickte Situation, in der Hanna ihn mit einem Messer bedrohte und der komische Typ Cornelius einen Bolzen durch den Kopf jagen wollte, während Lilian verzweifelt dazwischen stand und nichts tun konnte, um beiden gleichzeitig zu helfen.

Sein Körper fühlte sich immer noch ganz genommen an. Alles was er gerade gesehen und gefühlt hatte, hatte sich so real angefühlt. So als hätte er das alles selbst erlebt. Dass der Vampir ihn angegriffen hatte und die Schmerzen. Doch Emil wusste, das es nur eine Vision gewesen war, jedoch hatte er keine Ahnung, wie diese funktioniert hatte. Warum hatte er das gesehen? Und war er der einzige? Waren das Cornelius' Erinnerungen gewesen?

In Lilians Augen sah er die Verwirrung, als wäre sie ebenfalls aus einem Traum erwacht und Emil wusste, dass auch sie es gesehen haben mussten. Der Junge musste ein starker Magier sein, wenn er so Erinnerungen manipulieren konnte. Wer war dieser Typ? Und was hatte er mit Hanna zu tun?

„Das sind meine Erinnerungen!“, schire Cornelius und langte mit seiner Hand in die Armbrust. Noch bevor er diese packen konnte, zog der Junge sie zurück. Sein Fuß schnellte vor und drückte Cornelius‘ Kehle, sodass dieser wieder zu Boden sank. Unter röcheln verstummte er.

Lilians Blick hastete von links nach rechts. Ihre Hände fuhren über ihre Schläfen und ihre Stimme klang heiser als sie sprach. „Aber warum hast es mir nicht gesagt?“ Ihre Frage ging scheinbar an Cornelius, der ihr nicht antworten konnte.

Doch die Frage machte für Emil so einiges klar. Lilian hatte bis gerade eben nicht gewusst, was passiert war, nachdem sie gegangen war. Sie hatte ihm von dem Vampir erzählt, aber nicht dass sie ihn umgebracht hatte, weil sie das nicht gewusst hatte. Und Cornelius‘ Reaktion ließ keinen Zweifel daran, dass es genauso passiert war.

„Ich bin beeindruckt“, stellte der Junge nun grinsend fest und sah zu Cornelius hinunter. „Dass die Seher, deine Lüge einfach geschluckt haben. Die hätten einfach nur deine Erinnerungen durchforsten müssen. Es hat ewig gedauert, bis ich dahinter gekommen bin, was passiert ist. Das Ende ist sogar noch besser. Hätte ich gewusst, dass du ein Gasaltwandler bist, wäre das sicher viel einfacher gewesen.“

Lilian hatte die Hände zu Fäusten geballt. „Das hat nichts mit ihm zu tun. Was willst du also von mir?“

Der Junge sah auf und fixierte sie mit seinem Blick. „Du hast damals meine Pläne durchkreuzt. Ich muss sicher gehen, dass das kein zweites Mal passiert.“

„Pläne?! Wovon redest du?“

„Jetzt tu nicht so unschuldig!“, mischte Hanna sich ein. „Sag mir nicht, es war Zufall, dass du genau zur richtigen Zeit aufgetaucht bist und aus Versehen Daniel umgebracht hast!“

„Wer hat dich geschickt?“, fragte der Junge. „Was habt ihr -“ Doch als er Lilians immer noch fragendes Gesicht sah, unterbrach er sich selbst und begann zu lachen. „Es war wirklich Zufall? Na umso besser.“

Das war gar nicht gut. Emil wurde schmerzlich bewusst, dass ihnen damit gerade alle Trumpfkarten verloren gegangen waren. Die Lage war aussichtslos. Er wusste nicht einmal warum das alles passierte und er würde es jetzt auch nicht mehr herauszufinden können. Nur eins war klar, dass dieser Junge das alles hier von langer Hand geplant hatte. Er hatte geglaubt, dass Lilian eine Gefahr für seine Pläne darstellen würde. Aber was sollte das für ein Plan sein und was sollte der Vampir damit zu tun haben sollen?“

„Kommen wir zum Wesentlichen.“ Der Junge strich sich eine Strähne seines Ponys aus dem Gesicht. „Ich bin ein Seher und ich habe euer Spielchen nur so lange mit angesehen, bis ich euch alle in der Falle hatte.“

Das erklärte so viel. Wie Schuppen fiel es Emil von den Augen. Er hatte genau gewusst, dass Emil die Nachricht erhalten würde. Er hatte gewusst, dass Emil sich nicht anders zu helfen wusste, als herzukommen und dass er Cornelius mitbringen würde.

„Komm nicht auf die Idee“, fuhr er fort. „Irgendwas zu versuchen oder mich hinters Licht zu führen. Sonst sind beide tot.“

Emil schluckte. Damit meinte der Junge ihn und Cornelius. Das würden sie nicht tun, versuchte Emil sich immer wieder zu sagen. Doch er wusste genau, dass es nicht so war. Und Lilian konnte nichts tun. Wenn sie etwas versuchen würde, müsste sie einen der beiden opfern.

Nur für einen Moment erwischte Emil sich dabei, darüber nachzudenken, dass sie dann lieber ihn opfern sollte. Doch dann merkte er, dass er weder sich noch Cornelius tot sehen wollte. Das war auch keine Lösung. Er musste einen Weg finden, zu entkommen. Doch das kalte Metall des Messers an seiner Haut, erinnerte seinen Körper daran, sich auf keinen Fall zu bewegen.

„Schon kapiert.“ Lilian versuchte möglichst gelassen zu klingen, doch Emil wusste, wie sehr sie unter Strom stand. „Was willst du?“

„Ich will, dass du den Bund auflöst.“

„Warum sollte ich?“, fuhr Lilian ihn an, doch der harte Ausdruck auf ihrem Gesicht wich für einen Augenblick der Sorge.

„Ich bin Hanna das schuldig. Sie wird sicher auch gut mit dieser Lösung leben können, dass du bis zu deinem Lebensende eine Gefahr für Emil darstellen wirst. Das ist alles. Du löst den Bund auf, und ich lass Emil und den hier gehen.“

Lilian hob den Kopf und sah zu Emil hinüber. Ihr Blick wirkte hilflos und hatte nichts von ihrer sonstigen Stärke. Das beunruhigte ihn nur noch mehr. Seine Beine spürte er kaum noch. Wenn Lilian keinen Ausweg kannte, wie sollte er dann einen finden.

„Hanna“, begann Lilian zögernd. „Warum hast du dich mit ihm eingelassen?“

„Er hat mir geholfen.“ Hanna zog ihren Griff um Emil fester und das Messer kam gefährlich nahe. „Ich kam unter den Augen der Seher nicht an Emil heran. Er hat sie aus dem Weg geräumt.“

„Aber warum Emil? Warum willst du dich an mir rächen? Wir waren mal Freunde.“ Lilian kam einen Schritt auf Hanna zu. Diese wich augenblicklich zurück.

„Das ist vorbei!“ Hanna löste ihre Hand mit dem Messer. Jedoch nur, um es wieder niedersausen zu lassen. Ein plötzlich brennender Schmerz durchzog Emils Schulter und er schrie auf. Die Schmerzen in Cornelius' Erinnerung waren schlimm gewesen, doch das hier war schlimmer. Sein ganzer Körper befahl ihm wegzurennen. Doch er konnte nicht weg, Er biss die Zähne aufeinander.

Hanna zog das Messer wieder aus seiner Schulter und hielt es an seinen Hals. Emil schloss die Augen und versuchte sich auf etwas anderes, als den Schmerz zu konzentrieren, der in seinem Kopf Alarm schlug.

„Ich meine es ernst. Lös' diesen blöden Bund, Lilian! Oder ich töte ihn noch hier und jetzt!“

„Hör besser auf sie“, mischte der Junge sich gelassen ein. „Lös' den Bund und wir haben die Sache hinter uns.“

Emil öffnete die Augen und sah, wie Lilian das Messer vom Boden fischte, dass sie beim Kampf mit dem Ghul verloren hatte. Sie warf einen letzten Blick auf Cornelius und dann auf Emil. Er fing ihren Blick auf, wusste darauf allerdings nichts zu erwidern. Er wusste auch keinen anderen Weg.

Mit der Zunge fuhr sie sich über die Lippen und hob das Messer an ihren linken Unterarm.

Emil konnte nichts tun, um sie davon abzuhalten, wusste aber auch nicht mehr, ob er das überhaupt wollte. Dann war es eben so. Das war also der Zeitpunkt, wo er sich von dem Gedanken verabschieden konnte, sich Lilian jemals wieder nahe zu sein. Der Zeitpunkt, an dem er seine Freundin verlor, weil diese ein Dämon war. Wahrscheinlich würde sie ihm wegen seiner Quelle nicht einmal nahe kommen können.

Die Quelle. Wusste der Junge davon? War das der Grund? Wenn Lilian den Bund löste, lag die magische Quelle auch wieder offen. Würde er versuchen sie zu holen? Das ganze Theater nur wegen der versiegelten Quellen?

Das durfte jetzt einfach nicht passieren. Emil hatte, keine Ahnung, wie stark die Quelle war. Aber der Typ sollte sie auf keinen Fall bekommen. Lilian durfte den Bund nicht lösen. Emil versuchte sich zu bewegen. Der Schmerz schoss direkt in seinen Kopf und machte ihn orientierungslos. Er konnte nicht tun. Rein gar nichts. Über seine Lippen kam kein Wort. Lilian hätte es ohnehin nicht umgestimmt.

„Violetta“, sprach Lilian in die Stimme hinein. „Dein Name soll nicht mehr mir gehören. Du sollst frei sein, so wie ich es bin.“

Wo blieben die Seher? Warum kamen sie nicht wie sonst? Irgendwas musste passieren. Irgendwas.

Mit einer raschen Bewegung führte sie das Messer über ihre Haut. Langsam färbte sich die Stelle rot und Lilian streckte den Arm aus.

„Violetta“, wiederholte sie und zögerte. Hoffte sie auch noch auf Rettung? Hatte sie etwas bemerkt? Doch die Antwort darauf war nur eine gefühlt endlos lange Stille. Mit einem letzten verzweifelten Blick auf Emil, sprach sie die magischen Worte zuende. „Hiermit löse ich den Bund.“

Kaum hatte sie es ausgesprochen, sackte Lilian in sich zusammen. Auf dem Boden kauernd, begann sie zu husten und das Husten wurde zu einem Würgen. Das Blut aus ihrem Handgelenk verteilte sich langsam auf dem Betonboden. Sie war nicht tot. Noch nicht.

Das metallischen Klicken der Armbrust. Emil fuhr mit dem Kopf herum. Cornelius' umklammerte die Armbrust und zog sie Richtung Boden. Der Bolzen knallte nur einige Meter vor ihnen auf den Boden. Schnaubend riss der Junge die Armbrust aus Cornelius‘ Griff, zog einen weiteren Bolzen und zielte scheinbar erneut auf die am Boden hockende Lilian.

Doch bevor er erneut abdrücken konnte, entzog Cornelius seinen Beinen den Boden und brachte ihn zu Fall. Die Armbrust schlitterte aus seiner Hand über den Boden.

Cornelius' Äußeres flackerte und er nahm die Gestalt des Vampirs aus der Erinnerung ein. Mit der neuen Statur schien Cornelius dem Jungen nun deutlich körperlich überlegen. Er beugte sich über ihn und mit der Faust schlug er auf dessen Gesicht ein.

Einige Schläge musste der Junge einstecken, bevor er Cornelius‘ Fäuste zu packen bekam und diesen aus dem Gleichgewicht brachte.

Emil merkte, wie Hannas Hände und damit auch das Messer zitterten. Sie war sich scheinbar unsicher, was sie jetzt tun sollte. Dass sie in diesem Moment zögerte, rettete Emil wahrscheinlich das Leben.

Denn Lilian war schneller. Bevor Hanna dazu kam, ihren Plan doch umzusetzen und Emil die Kehle aufzuschlitzen, hatte Lilian bereits ihre Hände gegriffen. Mit einem Schmerzensschrei ließ Hanna Emil los. Lilian schubste Emil zur Seite und nahm sich Hanna vor.

Es war eine kurze Rangelei, die schlagartig beendet wurde, als Lilian kaum später Hannas Messer in den Händen hielt. Sie zog das zweite Messer und richtete beide auf Hanna.

Emil starrte sie an.. Wie war das möglich? Sie war doch gerade noch komplett entkräftet gewesen. Jetzt stand sie hier. Doch sie schwankte leicht und ihr Atem ging merklich schwer. „Reicht dir das nicht Hanna?“

Diese presste die Lippen aufeinander. Hass loderte in ihren Augen auf. „Ich kann euch auch einfach beide töten“, flüsterte sie. In Emil zog sich alles zusammen. Hanna hob beide Hände und murmelte fremde Worte.

Noch passierte nichts, doch Emil wusste, dass das sie Magie wirkte. Er musste weg. Bloß weg von ihr. Doch seine Beine funktionierten nicht, wie er es wollte.

Dann spürte er es. Es wurde kalt. Eiskalt. Unsichtbare Hände griffen nach ihm und drohten ihn zu Boden zu reißen. Die Schmerzen in seiner Schulter wurden wieder schlimmer.

„Tu das nicht!“, rief Lilian und schob sich mit ausgestreckten Armen schützend vor ihn. „Es gibt einen anderen Weg!“

„Das ist mir egal! Ich will das es aufhört!“ Hannas Stimme klang merkwürdig verzerrt. Als sie aufsah, schimmerten Tränen in ihren Augenwinkeln.

Die unsichtbaren Hände zogen Emil auf die Knie und hielten ihn gefangen. Seine Ohren rauschten in einer unerträglich hohen Frequenz. Sein ganzer Körper gehorchte ihm nicht mehr. Eine erdrückende Schwere drückte ihn langsam aber sicher nach unten, während der Boden unter ihm nachgab.

„Stirb endlich verdammt!“, schrie Hanna.

Es raubte Emil augenblicklich den Atem. Japsend rang er nach Luft, doch bekam keine. Sein ganzer Oberkörper wurde schmerzhaft zusammen gepresst. Die einkalten Hände waren überall.

Das war‘s. Da war er sich sicher.

Doch dann kam die Wärme wieder. Lilian schlang ihre Arme schützend um ihn. Emil konnte Hanna nicht mehr sehen. Dann kam schlagartig die Realität zurück.

Lilian fiel nach vorne und das Gewicht ihres Körpers ließ ihn rückwärts auf den Boden fallen. Alles in Emils Kopf drehte sich. Er schnappte zweimal unwillkürlich nach Luft. Er war noch am Leben, die Schwerkraft war normal und drückte ihn auf den Boden. Erst dann begriff er, dass Lilian regungslos auf ihm lag.

Panisch tastete er nach ihrem Hals, Noch in der Bewegung spürte er das warme Gefühl, dass durch seine Finger floss. Seine Schmerzen waren weg. Auch die Angst um Lilian war wie weggeblasen. Da war nur noch das zufriedene Gefühl. Statt zu ihren Hals fuhr seine Hand über ihre Wange.

Er war wie benebelt und das Gefühl kannte er bereits. Das waren ihre Kräfte. Zufrieden lächelnd sah er in ihr Gesicht. Sie konnte nicht tot sein. Wie schlafend lag sie da, während ihre Kräfte ihm befahlen, das einzig richtige zu tun. Er schloss die Augen. Seine Lippen legten sich auf ihre und er öffnete leicht den Mund.

Augenblicklich erschlafften seine Arme und Beine. Sein Magen begann sich zu drehen und er hatte das Gefühl etwas hochwürgen zu wollen. Hitzewellen durchzogen ihn, während sein ganzer Körper unkontrolliert zitterte.

In seiner Trance war er kaum noch in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen. Doch er war sich vollkommen bewusst, dass sein Körper dagegen rebellierte. Jedoch es war ihm jedoch egal. Während jegliche Kraft aus seinem Körper wich, war er in einem Zustand vollständiger Glückseligkeit.

Mit einem Mal brach der Kontakt zu Lilians Lippen ab. Hände packten ihn unter den Schultern und zogen ihn unsanft über den Boden weg von ihr. Sein Atem ging schwer und das warme Gefühl schwand langsam, während der Schmerz und die Übelkeit stärker wurden.

Als er die Augen öffnete, lag er auf dem Rücken. Der Raum um ihn herum drehte sich. Seine Schulter schmerzte unerträglich und seine Haut glühte.

„Bist du verrückt?“, fuhr Cornelius ihn an. Er hatte immer noch das Äußere des Vampirs, was in Emils Kopf nicht zusammen passen wollte. Erst jetzt nahm er flackernd wieder seine normale Gestalt an.

Er wollte ihm antworten, doch so genau, konnte er sich selbst noch nicht erklären, was passiert war. Alles in ihm zog sich immer wieder zusammen und er glaubte sich gleich übergeben zu müssen.

Cornelius ließ einen Stapel Bolzen scheppernd vor sich auf den Boden fallen und drückte dann seine Hand auf Emils Schulter, um die Blutung zu stoppen.

„Das hätte dich umbringen können!“

Hinter ihnen ertönte ein Husten. Cornelius fuhr herum. Lilian hatte sich aufgerichtet, und stemmte sich unsicher auf ihre Hände. Als sie sich aufgsetzte hatte, strich sie sich mehrmals übers Gesicht, bevor sie entsetzt Emil erblickte und einen Meter zurück rutschte.

„Sag nicht, ich habe - „ Dann blickte sie sich hektisch um. „Was ist mit Hanna?“

Hektisch fuhr Lilians Blick herum und blieb an Hanna hängen, die dort lag, wo sie vorher noch gestanden hatte. Sie lag mit dem Gesicht zuerst und rührte sich nicht mehr. Lilian sprang auf und mit schenllen Schritten war sie bei ihr. Hastig ließ sie sich neben ihr auf die Knie sinken und tastest ihren Körper ab. Ihre Bewegungen wurden immer langsamer, bis sich schließlich ruhten.

Lilians Schultern fielen ein, ihre Arme sanken neben ihrem Körper zu Boden. Ein plötzliches Schluchzen zog durch den Raum und Lilian versuchte das nächste zu unterdrücken. „Hanna ist tot“, erklärte sie mit brüchiger Stimme. „Sie ist einfach tot.“

Schlagartig wich jegliches Gefühl aus Emil. Das war nicht real. Das konnte nicht real sein. Allein beim Anblick von Hannas totem Körper, zog sich alles in ihm zusammen. Sie lag einfach nur da und bewegte sich nicht mehr. War das alles? War sie einfach tot?

Ein Klicken und ein Surren durchschnitt die Luft. Bevor Emil überhaupt verstand, was passierte, sprang Lilian auf und hielt den Bolzen in den Händen. Ihre Augen waren voller Tränen, doch ihre Züge versteiften sich nun vor Wut. Der Bolzen brach, als sie die Finger zusammenpresste.

Als Emil den Kopf wand, ahnte er bereits, was sich hinter ihm befand. Hinter ihnen stand der Junge mit gezogener Armbrust. Scheinbar war das sein letzter Schuss gewesen, denn er zog keinen zweiten Bolzen.

Doch anstatt anzugreifen, verweilte Lilian starr. „Reicht dir nicht, was du angerichtet hast?!“, schrie sie und unterdrückte ein weiteres Schluchzen.

Mit wutentbrannter Miene ließ der Junge die Armbrust sinken, machte kehrt und stürmte aus der Halle. Lilian sah ihm nach, machte aber immer noch keine Anstalten ihn zu verfolgen.

Emil wollte aufspringen und zu ihr rennen, doch nicht nur seine verletzte Schulter hielt ihn zurück, sondern auch die Gewissheit, dass er das eventuell nicht überleben würde. Auch wenn es schmerzte, suche Emil Lilians Blick und sah in ihre traurigen, leeren Augen.

Die Tür sprang auf. „Keiner bewegt sich!“, schallte einen Stimme durch die Halle. Etwas in Emil atmete in diesem Moment auf. Das mussten die Seher sein. Sie waren endlich hier.

Keine Sekunde später strömten mehrere Männer und Frauen in den Raum. Sie hatten Ina im Schlepptau, die zwischen zwei Sehern stand und keinen Mucks von sich gab. Irgendetwas hatte sie mit ihr angestellt.

Die Seher schwärmten aus und durchforsteten den Raum, während zwei Männer auf ihn und Cornelius zukamen. Der eine beugte sich über Emil und betrachtete ihn mit leicht zusammengekniffenen Augen.

„Ein Mensch“, wandte er sich sichtlich überrascht an seinen Kollegen.

„Da werden wir einiges korrigieren müssen“, war die simple Antwort des zweiten Sehers, während dieser bereits Cornelius abführte.

Der Seher der neben Emil kniete rempelte sich bereits die Arme hoch. Panik überfiel Emil.

Nicht das! Alles nur nicht das!

Doch sein Körper war zu sehr geschwächt, als der er sich hätte wehren können. Der Mann legte die Hand auf Emils Stirn. Im Augenwinkel sah er, wie sich die anderen Seher Lilian und Cornelius, sowie Hannas toten Körper vornahmen.

Emil wollte nicht vergessen. Das hier durfte er nicht vergessen! Mit letzte Kraft schlug er die Hand des Sehers zur Seite. Sie durften ihm die Erinnerungen nicht löschen. Sein Blick verschwamm. Das durften sie nicht tun. Er durfte das alles nicht vergessen.

Die Hand des Sehers drückte sich auf sein Gesicht. Dann wurde alles schwarz.

Das Gefühl zu vergessen

„Wie meinst du das? Merkwürdig?“, fragte Martin verdutzt, als er und Emil im Ankunftsbereich des Flughafens standen und auf Martins Freundin Nici warteten.

„Weiß nicht.“ Emil rang nach Worten. „Manchmal sitze ich da und habe einfach das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Dazu kommt, dass Dinge wirklich merkwürdig sind. Wie, dass mein Fenster in den letzten Monaten zweimal ausgetauscht wurde, oder das ich in den letzten Wochen scheinbar bei kaum einen Raid dabei war.“

„Raid?“, fragte Martin verwirrt.

„Schlachtzug. Gruppe in WoW.“

Martin nickte, als hätte er verstanden.

„Auf jeden Fall finde ich das im Endeffekt ziemlich bescheurt, dass ich mir die DKP habe entgehen lassen. CoD macht zwar schon Spaß, aber mit den DKP hätte ich mir in den letzten zwei Raids wirklich tolle Sachen holen können.“

„Das ist echt merkwürdig.“ Martins Ton verriet, dass er das ganz und gar nicht merkwürdig fand.

„Vielleicht ist es auch der Schlafmangel.“ Emil gähnte hinter vorgehaltener Hand. Gestern hatte er mal wieder viel zu lange gezockt.

„Dahinten ist sie.“ Martin hatten den Kopf umgewandt und sah zu einem der Eingänge. Emil sah ebenfalls in die Richtung, sah aber niemanden, der Nici ähnlich sah. Erst einige Sekunden später tauchten ihre dunkelbraunen Haare zwischen den Leute auf, die müde ihre Koffer über den Gang zogen. Wie hatte Martin sie so früh sehen können?

Nici sah sich suchend um und ihr Blick erhellte sich schlagartig, als sie Martin sah. Eilig hastete sie zu ihnen hinüber.

Als Nici Martin in die Arme fiel und sie sich küssten, sah Emil lieber in eine andere Richtung und sah sich in der Ankunftshalle um. Es fühlte sich wirklich irgendwie komisch an. Er sollte mehr schlafen.

„Schön, dich auch wieder zusehen, Emil.“ Emil wandte sich ihr zu und sie umarmte ihn freudig. „Wie geht es dir?“

„Gut?“ Emil wusste nicht wirklich, wie er auf die Frage sonst antworten sollte.

„Wie ist es bei euch? Erzählt mal, was ist passiert während ich weg war?“

„Nicht großartiges“, winkte Martin ab. „Wir schlagen uns durch.“

Nici umarmte Martin daraufhin erneut. Er legte ihr die Hand auf den Rücken und erwiderte ihre Umarmung. „Ich habe das Gefühl euch ewig nicht mehr gesehen zu haben“, nuschelte Nici in Martins Schulter.

Das hatte Emil allerdings auch, es war ewig her, dass Nici da gewesen war.

Sie fuhren mit der Bahn zurück in die Stadt. Nici erzählte von ihren Erlebnissen in Amerika und Martin und sie hatten fast nur Augen für einander. Emil starrte stattdessen lieber aus dem Fenster. Draußen zogen vor dem grauen Himmel leere Wiesen und einzelne Häuser entlang. Dann vermehrten sich die Häuser wieder.

Es fühlte sich wirklich merkwürdig an. Als würde das, was er da vorm Fenster sah, nicht seine Welt sein, als wäre er hier falsch. So etwas hatte er doch wirklich noch nie gehabt. Er musste wirklich dringend schlafen.

Angekommen vor Nicis Haus blieb Martin mit Emil draußen stehen, während sie ihre Eltern freudig begrüßte.

„Hast du das Gefühl immer noch?“, fragte Martin.

„Was?“

„Dass irgendetwas merkwürdig ist?“

„Ja, aber ich bin total fertig. Daran liegt‘s bestimmt.“ Emil musste erneut gähnen.

„Kommt dir einiges merkwürdig fremd vor, auch wenn es dir vertraut erscheinen sollte?“

„Kann ich so nicht sagen.“

„War das ein ja?“

„Schon in Ordnung. Ich bin einfach übermüdet und deshalb komisch drauf. Geh rein und ich geh nach Hause.“

„Endlich wieder zurück ins Bett?“

„Genau, du hast mich ja auch mitten in der Nacht heraussgeholt.“ Emil unterdrückte den nächsten Gähner. Neun Uhr morgens am Flughafen an einem Sonntag war eindeutig viel zu früh.

„Danke, dass du mit gekommen bist.“

„Kein Problem.“ Emil wandte sich zum gehen. „Wir sehen uns morgen in der Schule.“ Er hob die Hand zum Abschied, als Martin ihn aufhielt.

„Warte. Seit wann hast du das Gefühl?“

„Keine Ahnung, ich glaube schon länger.“

„Du verhältst dich erst seit dieser Woche komisch.“

„Wieso verhalte ich mich komisch?“

Martin runzelte leicht die Stirn, dachte kurz nach und sah Emil dann mit ernstem Blick an. „Ich habe eine Vermutung. Darf ich eben?“

Er hob die Hand auf Höhe von Emils Kopf. Emil sah verdutzt zu Martin und dann zu seiner Hand. Emil fragte sich noch was Martin vorhatte. Doch dieser tippte nur kurz mit den Fingern an Emils Schläfe. Für einen Moment hielt er innen, dann änderte sich Martins Gesichtsausdruck schlagartig. Die Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

„Was ist los?“ Emil ließ sich für einen Moment von Martins Verwirrung anstecken, doch dann realisierte er, dass die ganze Situation total unnormal war. „Verarschen kann ich mich selbst. Mit mir ist alles in Ordnung.“

„Nein“, antwortete Martin nur.

„Wie nein?“

„Da stimmt was nicht. Du hast das wirklich erst seit einer Woche.“

„Was habe ich seit einer Woche?“

„Das Gefühl, dass etwas nicht stimmt.“

„Woher willst du das wissen?“ Langsam war Emil sich sicher, dass Martin ihn auf den Arm nahm. So komisch, wie er sich verhielt. Doch anstatt auf Emils frage einzugehen, überlegte Martin für einen Moment und sagte dann:

„Ich wollte heute noch etwas in der Stadt besorgen. Könntest du noch eben mitkommen?“

„Wie kommst du jetzt darauf? Aber nee, ich hab nichts mehr vor.“

„Sehr gut! Ich verabschiede mich eben noch von Nici. Warte kurz.“

Martin eilte zur Tür, sprach ein paar Worte mit Nici und ihren Eltern, küsste sie zum Abschied lange und eilte dann zurück zu Emil. „Wir können.“

Erst als Emil und Martin bereits ein ganzes Stück mit dem Bus gefahren waren, der definitiv nicht in die Stadt fuhr, dämmerte es Emil, das „etwas in der Stadt besorgen“ nur ein Vorwand von Martin gewesen war.

„Wohin fahren wir?“, fragte Emil und Martins Antwort klang, als wäre das die ganze Zeit bereits klar gewesen:

„Zu Marie.“

Emils Magen zog sich bei Erwähnung ihres Namens einmal kurz zusammen und Hitze schoss in seine Wangen.

„Die Marie?“, hakte er lieber noch einmal nach.

„Genau, die Marie.“

„Warum sagst du mir das erst jetzt?!“

„Wärst du sonst mitgekommen?“

„Wahrscheinlich nicht.“ Emil merkte erst jetzt, wie er immer wieder selbst über seine Hände fuhr und zwang sich dazu die Hände still zu halten. „Und warum fahren wir zu Marie?“

„Das wäre jetzt zu lang, um es zu erklären.“

„Geht es auch in kurz?“

Martin verzog etwas das Gesicht. „Du magst sie, oder?“

Emil hielt ertappt inne und merkte, wie er rot anlief. „Ja, und das weißt du auch.“

„Warst du schonmal bei ihr Zuhause?“

„Natürlich nicht.“

„Dann holen wir das jetzt nach.“

Kurz drifteten Emils Gedanken ab, bis ihm auffiel, dass das alles zu Martins Taktik gehörte, als stellte er die Frage noch einmal:

„Warum fahren wir jetzt zu Marie?“

„Gut gemerkt“, stellte Martin grinsend fest. „Du glaubst mir wahrscheinlich nicht, dass ich mir die Mathehausaufgaben von ihr abholen möchte, oder?“

Emil musste lachen. „Nein. Das glaube ich dir nicht. Da musst du schon eine bessere Ausrede finden.“

„Also gut. Es gibt etwas, das ich mit Marie klären möchte und das ist zu verrückt, als das ich es erklären könnte.“

„Du könntest es versuchen.“

Martin ließ den Blick nach rechts und links wandern. „Nicht hier. Wenn wir angekommen sind.“

Damit konnte Emil sich vorerst zufrieden geben.
 

Maries Haus war wie Emil es erwartet hatte, nur war die freistehende Villa sogar etwas größer als er sich ausgemalt hatte: modern, mit schmalen Fenstern und komplett in weiß. Sie mussten am Tor klingen. Es klingelte einmal, dann folgte Stille.

„Du hast mir immer noch nicht gesagt, warum wir hier sind“, erinnerte Emil Martin.

„Das stimmt. Also, was würdest du sagen, wenn -“

Ein Knacken ging durch den Lautsprecher an der Klingel und Maries Stimme erklang, zwar etwas verzerrt aber klar verständlich:

„Hallo, wer ist denn da?“

Emil Herz machte einen kleinen Sprung und begann schneller zu schlagen.

„Ich bin‘s, Martin“, sagte Martin in die Klingel hinein. „Und Emil ist auch hier.“

„Wartet einen Moment.“ Das Geräusch eines auflegenden Hörers erklang. Dann surrte das Schloss des Tors und Martin schob es auf.

„Du hattest die Erklärung angefangen“, setzt Emil noch einmal an, als sie über das Grundstück zur Villa gingen. „Was willst du mit Marie klären?“

„Warum dieses komische Gefühl seit einer Woche hast.“

„Und wie soll Marie dabei helfen können?“ Emil glaubte

„Sie ist eine Hexe.“

Emil starrte Martin an, als wäre dieser verrückt geworden. Vielleicht war dieser es auch. Doch bevor Emil etwas erwidern könnte, öffnete sich die Tür der Villa und Marie stand dahinter. In Emil zog sich direkt alles zusammen, als er sie sah.

Maries Blick ging irritiert von Martin zu Emil und zurück zu Martin: „Was macht ihr hier?“

In Emils Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Hatte Martin das wirklich ernst gemeint? War sie eine Hexe? Doch dieser Gedanke wurde schnell verdrängt, als Emil bewusst wurde, dass er gerade wirklich bei Marie Zuhause war. Bei ihr. Zuhause!

„Ich möchte dich um deine Hilfe bitten“, sagte Martin kurz angebunden. „Können wir reinkommen?“

„Natürlich“, erwiderte Marie freundlich, doch ein leichtes Zittern lag in ihrer Stimme. Sie ging ein Stück zur Seite und ließ die beiden Eintreten. „Zieht aber bitte die Schuhe aus.“

Mit einem ehrfürchtigem Gefühl trat Emil in das Haus ein. Er zog seine Jacke aus und seine Turnschuhe von den Füßen, während er sich nach links und nach rechts umsah. Das war also ihr Haus. Links von ihm ging eine Treppe in die oberen Stockwerke, rechts von ihm führte ein Durchbruch in das offene Esszimmer. Sein Herz pochte ihm bis zum Hals.

„Setzt euch doch“, wies Marie sie mit einer Handbewegung Richtung Esszimmer an.

Emil tat wie ihm geheißen und setzte sich mit zitternden Beinen auf den Stuhl am Kopf der Tafel.

Martin bliebt stattdessen lieber neben dem Tisch stehen und sagte scheinbar an Marie gewandt: „Du kennst dich mit Erinnerungsmagie aus, oder?“

Das Wort „Magie“ holte Emil zurück aus seiner Schwärmerei. Es war scheinbar kein Scherz. Martin zog das gerade mit voller Überzeugung durch. Was ging hier nur vor?

Marie sah Martin ebenso entsetzt an, sah dann zu Emil und wieder zu ihm zurück. „Weiß er Bescheid?“

„Noch nicht.“

Die Sache wurde immer merkwürdiger. In welchem Film war Emil gelandet? Was hatte Martin mit Marie zu tun? Und warum verhielten sie sich beide, als würden sie wirklich ein Geheimnis haben, das mit Magie zu tun hatte?

„Wie kann ich dir dann helfen, Martin?“, fragte Marie und stellte sich Martin gegenüber an den Tisch. „Gerade du solltest dich damit doch am besten auskennen. Und warum bringst du ihn mit?“

„Ich vermute unsere Erinnerungen wurden gelöscht und alleine kann ich sie nicht abrufen.“

„Und deshalb kommst du hierher? Wegen einer Vermutung?“

„Du bist die talentierteste Hexe im Umkreis, die ich kenne.“

Marie schwieg daraufhin einen Moment und Emil hoffte innerlich, dass es doch nur ein dummes Spiel war, dass die beiden spielte. Verloren saß er zwischen den beiden die sich über etwas so irrwitziges wie Magie unterhielten.

Doch schließlich brach Marie ihr schweigen, „Du weißt wirklich, was du sagen musst. Also gut.“ Sie schob die Ärmel ihrer Bluse ein Stück hoch.

Emil wich zurück als ihre Hand nach seiner Stirn langte, doch stieß nur gegen die Lehnte des Stuhls hinter sich. Er wollte protestieren, doch seine Arme und Beine wären wie gelähmt.

„Er hat eine starke Quelle“, merkte Marie an. „Das sollte einfach sein.“

Martin legte seine Hand auf Maries.

Emil gelangte endlich seine Stimme zurück: „Wartet mal -“

Als Marie plötzlich aufschrie und ihre Hand panisch zurück zog und hielt als hätte sie sich verbrannt. In ihrem Gesicht war das bloße Entsetzten geschrieben. Martins Gesicht war ebenso eingefroren. Nur Emil hatte überhaupt nichts bemerkt. Das Theater wurde immer merkwürdiger.

„Was ist das für ein blöder Trick, Martin?“, blaffte Marie. „Was waren das für Erinnerungen?“

„Die richtigen...“ Martins Blick fuhr unruhig über Emil. „Ich hatte also Recht. Jemand hat all unsere Erinnerungen gelöscht.“

„Und weißt du auch wer?!“ Maries Stimme war immer noch aufgebracht und ihre Körper bebte. „Die Seher. Und sie hatten sicher einen guten Grund dafür! So ein starkes Siegel legt man nicht zum Spaß darauf!“

„Warum sollten sie unsere Erinnerungen löschen?“

„Das ist mir so egal! Wenn sie rauskriegen, dass wir dahinter gekommen sind, dann wird das Konsequenzen haben!“

„Wovon redet ihr eigentlich?“, begann Emil zögerlich.

„Sei still!“, kam die Antwort fast gleichzeitig von beiden Seiten.

„Marie, du scheinst etwas damit zu tun zu haben. Willst du nicht wissen, was passiert ist?“

„Frag doch die anderen, die in der Erinnerung vorkamen. Ich will damit nichts zu tun haben!“

„Aber es ist die Wahrheit die wir gesehen habe. Das was wirklich geschehen ist.“

„Verlasst jetzt mein Haus.“ Maries Stimme war wie Eis.

„Marie -“, setzte Martin erneut an.

„Verschwindet!“

„Komm, Emil!“ Martin zog Emil auf die Beine und in den Flur. Emil zitterte immer noch am ganzen Körper, als er sich die Schuhe anzog und die Jacke wieder überwarf. Er spürte Maries scharfen Blick in seinem Nacken. So hatte er sich den Besuch in ihrem Haus nicht vorgestellt. Doch viel wichtiger war, dass er langsam sogar selbst daran glaubte, dass das gerade alles so passierte.

Als die Tür hinter ihm und Martin zufiel, ohne dass Marie noch ein weiteres Wort mit ihnen sprach. Brach alles aus ihm heraus.

Ein Hauch von Erinnerung

„Was zum Teufel ist hier los? Woher kennst du Marie so gut? Ist sie wirklich eine Hexe? Was für Erinnerungen? Was für Seher? Was hab ich damit zu tun?“ Emil hatte so schnell gesprochen, dass er nun nach Luft rang. Er hatte noch nicht mal alle Fragen ausgesprochen.

„Erkläre ich dir gleich“ Martin zog Emil am Ärmel von Maries Grundstück und um die nächste Hausecke. Mehrmals sah er zu allen Seiten, als hätte er Sorge belauscht zu werden. Dann atmete er tief ein und aus, bevor er endlich mit der Sprache rausrückte:

„Ich bin ein Seher. Oder eher: Ich war es. Ich kann in die Zukunft sehen und werde deshalb dafür ausgebildet die magische Welt vor der menschlichen zu schützen und umgekehrt.

Genau genommen habe ich dir das schon alle erzählt, aber jemand hat deine und meine Erinnerungen gelöscht. Ich weiß nur nicht warum.“

„Und Marie?“

„Marie ist eine Hexe. Scheinbar hattest du mal etwas mit ihr zu tun. Ich weiß allerdings nicht genau warum. Die Erinnerungen die wir gesehen haben, waren wahrscheinlich nur ein Bruchteil deren, die noch in deinem Kopf sind.“

„Erinnerungen in meinem Kopf?“, fragte Emil und kam sich dabei ziemlich dämlich vor.

„Magie kann deine Erinnerungen manipulieren. Jemand hat unsere richtigen Erinnerungen in unseren Köpfen eingeschlossen und durch neue ersetzt. Deshalb hast du die ganze Zeit das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Wie in Matrix“

„In Matrix haben sie genau genommen nur falsche Erinnerungen, das sie in einer -“

„Jaja, war ja auch nur ein Beispiel.“

„Und das heißt?“

„Das heißt, wir müssen herausfinden, warum man unsere Erinnerungen manipuliert hat.“

„Du kannst wirklich in die Zukunft sehen?“

„Ja, du wolltest als nächstes sagen: 'Gib mir ein Beispiel.' Beispiel ist hiermit erfüllt.“

Emil starrte Martin an, weil es genau der Satz war, den er im Kopf gehabt hatte.

„Was wird nächste Woche passieren?“

„Die Zukunft ist verschwommen. Sachen die unmittelbar geschehen, kann ich sehr gut vorhersagen. Die weite Zukunft ist viel zu verworren um genaue Aussagen zu treffen. Ich sehe mehrere Zukunftsversionen und diese ändern sich auch immer wieder.“

„Kannst du mir eine nennen?“

„Wir werden wahrscheinlich Lilian treffen.“

„Wer ist Lilian?“, fragte Emil verdutzt, da Martin den Namen wie eine Selbstverständlichkeit benutzte.

„Wirst du dann sehen.“

„Okay… aber wie hast du nicht sehen können, dass unsere Erinnerungen manipuliert worden sind?“

„Manchmal öffnen sich Zukunftsversionen erst, wenn sie kurz davor sind wirklich einzutreten. Ich kann nicht immer alles voraussehen.“

Vollkommen verstanden hatte Emil Martins Erklärung nicht, er nickte aber trotzdem zustimmend.

„Und jetzt sollten wir schnellstens zu mir kommen.“

„Warum zu dir?“, fragte Emil.

„Ich hoffe, dass uns mein Vater helfen kann.“ Dann hielt Martin inne. „Oh, verdammt. Er ist nicht Zuhause. Gib mir einen Moment.“

„Was ist passiert?“

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass er nicht nach Hause kommen wird heute. Aber ich habe keine Ahnung, wo er ist.“

„Ist er auch ein Seher?“

„Ja.“

Volltreffer. Die Aussage gab Emil endlich das Gefühl etwas verstanden zu haben.

„Ina wird uns auch nicht weiterhelfen können...“, murmelte Martin vor sich hin.

„Ina? Aus unserer Klasse? Was hat sie damit zu tun?“

„Scheinbar nicht genug.“

„Wer ist da noch darin involviert?“ Emil beschlich langsam die Vermutung, dass jeder aus seiner Klasse darin verwickelt war.

„Ich habe nicht alles in dem Erinnerungsfetzen sehen können. Kennst du Sonia?“

Emil schüttelte den Kopf.

„Habe ich mir gedacht.“

„Aber Ina kenne ich und was hat sie damit zu tun?“

„Wenn ich klare Antworten hätte, dann würden wir hier nicht stehen.“ Martin klopfte nervös mit der Faust auf seine Hand. „Ich weiß nur, dass sie auch da war.“

„Wo ist da?“

„Das wüsste ich auch gerne. Ich habe einen Raum gesehen. Mit dir, Sonia, Lilian und Ina und einen Haufen anderer Erinnerungen, die ich nicht zuordnen kann. Auch wenn ich genauso da gewesen bin wie du scheinbar.“

„Aber das ist doch verrückt. Wie soll das passiert sein, wenn wir uns nicht erinnern? Magie hin oder her, man weiß doch, wenn man an etwas erinnert wird, was passiert ist.“

„So einfach ist das nicht. Leichte Vergessenszauber können schnell durch bestimmte Trigger ausgehoben werden. Aber bei dir hat jemand ganz ordentlich dafür gesorgt, dass man an die Erinnerungen nie wieder dran kommt. Sie sind versiegelt und ich vermute, dass wir nur einen Blick darauf erhaschen konnten, weil Marie die magische Kraft deiner Quelle nutzen konnte.“

„Magische… Quelle? Was soll das sein?“

„Manchmal gibt es Menschen, die selbst Magie in sich tragen. Du scheinst davon einer zu sein. Eine Hexe oder ein Hexer kann diese Magie nutzen. Deshalb nennen wir es Quelle.“

„Kannst du diese Quelle auch nutzen?“

„Keine Ahnung. Habe ich nie ausprobiert.“

„Du wusstest also, dass ich eine Quelle bin?“

„Quelle habe“, korrigierte Martin hin. „Ja, das wusste ich. Bislang hatte es aber keiner außer mir bemerkt. Es ist aber nicht auszuschließen, dass unser Gedächtnisverlust nun doch etwas damit zu tun hat.“

„Mit mir?“ Emil deutete auf sich und konnte es selbst kaum glauben. Nie hatte es sich mal um ihn gedreht? Und plötzlich war er in diese verrückte Geschichte gestolpert, wo jeder um ihn herum mit einmal mal magische Fähigkeiten hatte und er eine magische Quelle besaß. Das war vielleicht doch die Matrix.

„Ich weiß jetzt, wo wir hin müssen“, sagte Martin mit einem Mal. „Hast du festes Schuhwerk dabei?“

Emil saß zu seinen Füßen herunter, wo er wie erwartet nur seine schwarzen, etwas zerrissenen Turnschuhe fand. Sein einziges Paar. „Müsste gehen.“

„Dann los! Ich kann dir den Rest auch auf dem Weg erklären!“
 

Je länger Martin erklärte, wurde Emil so einiges aus der Vergangenheit klar, was an Martin schon immer merkwürdig gewesen war. Langsam wunderte er sich, wie er das so lange hatte ignorieren können, dass Martin in die Zukunft sehen konnte. Martin hatte so gut wie jede Partie Magic gegen ihn gewonnen, als hätte er gewusst welche Karten als nächstes kommen würden. Emil wusste nun, dass Martin es wirklich gewusst hatte.

So viele Erinnerungen an ihre Schulzeit hatten er und Martin selten hervorgeholt und sie ließen Emil beinahe vergessen, was gerade um ihn herum passierte. Doch irgendwann stoppte der Bus, in dem sie saßen mitten im nirgendwo und Martin sagte, dass sie aussteigen mussten.

Es dämmerte bereits und nachdem die Rücklichter des Busses in der Ferne verschwunden waren, stand sie an der einsamen Landstraße. Im Tal unter ihnen lugte der Stausee zwischen den dichten Bäumen hervor.

„Was genau wollen wir hier?“, fragte Emil mit dem Blick auf die orange Sonne, die tief über dem Horizont stand. „Es wird bald dunkel.“

„Wir treffen meinen Vater.“ Martin schwang sich über die Straßenabsperrung und Emil folgte ihm etwas ungelenkt.

„Und wo soll dein Vater sein?“

Martin deutete auf den Staudamm am Ende des Sees. „Ich weiß, dass wir ihn dort treffen werde.“

„Was macht dein Vater hier draußen?“

„Wenn ich das wüsste… aber wenn wir uns hier draußen treffen, dann stimmt etwas nicht.“

Martin trat einige Schritte an den Hang heran, und teste, ob seine Schuhe darin einsanken. Dann begann er herunter zu krackseln. Emil blieb nichts anderes über, als ihm zu folgen.

„Was soll das heißen? Etwas stimmt nicht?“

„Mein Vater ist ein sehr hochgestellt Seher. Er muss sich eigentlich vor niemandem verstecken. Wenn er sich hier treffen will, dann muss irgendwas passiert sein.“

„Aber was soll passiert sein?“ Emil versuchte Martin zu folgen, doch immer wieder musste er sich in der feuchten Erde abstützten.

„Dass werden wir wissen wenn wir angekommen sind.“

Schlitternd erreichte Emil irgendwie das Ende des Abhangs. Seine Hände waren voller Erde. Nur kurz konnte er diese abklopfen, bevor Martin ihn tiefer in den Wald führte.

Mit der untergehende Sonne wurde auch der Wald immer dunkler und dichter. Sie schlugen sich durch Dickicht.

„Kommt irgendwann auch mal ein Weg?“, fragte Emil der über den blätterbedeckten Waldboden stapfte und darauf bedacht war, nicht über eine hervorstehende Wurzel zu stolpern.

„Da müsste gleich ein Weg kommen.“

„Das hast du vor 10 Minuten auch schon gesagt!“

„Ich bin mir immer noch sicher, dass der Weg gleich kommt.“ Mit einem Mal fuhr Martin herum. „Pass auf!“

Emil stolperte vorwärts, als sein Fuß hängen blieb. Gerade noch konnte er sich fangen. Im ersten Moment glaubte er, er wäre über eine Wurzel gestolpert. Doch als er den Fuß erneut anheben wollte, bewegte dieser sich keinen Zentimeter weiter.

Emil fuhr herum, als ihm der Fuß bereits weggezogen wurde und er unsanft auf dem Waldboden landete. Der Aufschlag drückte ihm jegliche Luft aus dem Lungen. Noch etwas neben sich, versuchte er sich aufzurichten, doch etwas zog ihn direkt wieder zurück. Blätter wirbelten um ihn herum und er glaubte ein Flüstern zu hören. „So viel Magie...“

Martin war neben ihm und zerrte an etwas, über ihm. Der Druck, der Emil am Boden hielt, verschwand und er richtete sich rasch auf. Er sah Martin an, doch was Martin da festhielt konnte er nicht sehen.

„Was war das?“ Emil rang nach Atem. Etwas festes Schloss sich um seine Arme. Er wurde zurück gedrängt. Mit aller Kraft versuchte Emil sich dagegen zu stemmen. Der Boden unter seinen Füßen gab immer wieder nach.

Dann stieß sein Rücken an etwas hartes. Die Baumrinde drückte in seinen Rücken. Da war es wieder, das Flüstern. „So viel Magie… gibt sie uns...“

„Lasst ihn in Ruhe!“, hörte er Martin rufen. Doch es schien wie aus weiter Ferne.

Was war das? Vor seinen Augen war nichts? Seine Arme waren immer noch wie festgezurrt. Seine Brust wurde schwer. Dann seine Augen. Sie fielen ihm einfach zu. Das Gefühl wich aus seinen Armen und Beinen. Sein Kopf sacke auf die Brust.

Das Flüstern wurde klarer in seinem Kopf. „Gib uns deine Magie...“ und er hörte, wie seine eigene Stimme antwortete: „Ihr könnte sie haben.“

Durch den Nebel der Stimmen konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Sie waren in seinem Kopf, nahmen ihn vollständig ein, ohne dass er noch eine Kontrolle darüber gehabt hätte. Es war in Ordnung, sagte ihm seine eigene Stimme. Lass sie machen.

Erst ein lautes Geräusch ließ ihn die Augen wieder aufreißen. Ein Schatten huschte an ihm vorbei. Der Druck ließ augenblicklich nach. Er war frei. Zurück in der Realität. Hastig stolperte er zur Seite.

Einige Meter vor ihm hockte eine menschliche Gestalt auf dem Boden und schlug auf etwas unter ihr ein. Blätter wirbelten herum. Ein Säuseln zischte durch die Luft. Schreie. Die Gestalt wurde auf die Seite geschleudert, als rang sie mit etwas unsichtbarem.

Wind kam auf. Emil spürte wie er über sein Gesicht zog. Vor ihm war nichts, außer den Bäumen, die starr dastanden. Doch Emil spürte die Gefahr, er wich einige Schritte zurück. Fürchtend, dass dort doch etwas unsichtbares war, dass nach ihm griff.

„Nicht so schnell!“, rief eine weibliche Stimme. Die Gestalt rappelte sich vom Boden auf. Binnen Sekunden war sie bei Emil und griff ins Leere, gerade als Emil etwas kaltes an seinem Hals spürte.

Da stand ein Mädchen vor ihm. Sie war nicht viel älter als er,ihre Gesichtszüge spiegelten ihren Kampfgeist wieder. Ihr Blick ging durch ihn hindurch.

Schuld

Bunte Farben tanzten vor Lilians Augen. Selbst wenn sie die Augen schloss waren sie noch da. Es waren Halluzinationen die ihre Augen erfanden, nachdem sie schon so lange diesem schwachen Dämmerlicht ausgesetzt gewesen waren.

Mittlerweile hatte sie das Zeitgefühl verloren. 3 Tage, 4 Tage. Sie konnte es nur wage anhand der Mahlzeiten fest machen, wie viel Zeit vergangen war. Doch nicht einmal die Mahlzeiten, die ihr ab und an gebracht wurden, schienen regelmäßig zu sein.

Die Seher hatten sie nach ihrer Festnahme in der Halle in dieser fensterlosen Kammer eingesperrt, wo die Wände aus kaltem Beton bestanden und die Tür aus dickem Stahl, über dem ein zusätzlicher Zauber hing. Das hatte sie gemerkt, als sie das erste Mal versucht hatte, die Tür zu durchbrechen. Ihr Ihr Arm schmerzte immer noch davon.

In der ersten Zeit, hatte sie noch Pläne geschmiedet, wie sie hier heraus kommen könnte und alles versucht. Mittlerweile hatte Lilian jedoch resigniert. Es gab kein Entkommen. Sie war gefangen. Mit ihren Gedanken alleine im Dämmerlicht.

Während sie auf der kalten Pritsche lag, spielten sich die Szenen in ihrem Kopf immer und immer wieder ab, so sehr sie auch versuchte diese zu verdrängen. Den letzten Blick von Hanna, bevor sie leblos zusammen gebrochen war. So viel Hass hatte darin gelegen. Wie konnte es nur jemals so weit kommen? Wie hatte sie es nicht sehen können? Lilian hätte sie retten können…

Doch stattdessen hatte sie Hanna dem Tod überlassen. Hanna war nur wegen ihr gestorben. Wenn sie es nur etwas früher realisiert hätte, was Hanna vorhatte. Wenn sie nicht so überheblich mit ihr gesprochen hätte. Wenn sie einfach aktiv eingegriffen hätte.

Scheinbar war sie doch nicht mehr, als ein Dämon. Ein Dämon der Unglück über die Menschen bringt, die er liebt. So hatte es Hanna doch gewollt?

Sie hatte zwei Menschen umgebracht. Hanna und Daniel… sie war ein Monster. Vielleicht verdiente sie es weggesperrt zu werden.

Aber warum hatte sie diesen Jungen nicht einfach auch noch umgebracht? Warum hatte sie gezögert? Wieso hatte sie ihn nicht für ein für alle mal erledigt? Er war Schuld, dass Hanna so geworden war. Er hatte ihr das eingeredet.

Es hätte nichts geändert. Es hätte Hanna nicht zurück gebracht. Sie war verloren gewesen, bereits in dem Moment, als sie Lilian überwältigt und betäubt hatte. Mit einem Bein hatte sie bereits in dem Reich der Toten gestanden. Der Hass hatte sie zerfressen und es war Lilians Schuld gewesen.

Lilian legte ihren kalten Arm über die Augen, als sie spürte, wie ihre Augen feucht wurden. Doch die bunten Farben verschwanden nicht. Genauso wenig wie die Gedanken. Sie lauschte in die Stille hinein. Jeden Moment glaubte sie Schritt zu hören. Doch genauso wie die Farben war das nur ein Hirngespinst ihres drögen Kopfes. Sie versuchte sich abzulenken. Sooft waren ihre Gedanken um Hanna gekreist.

Ob es Cornelius genauso ergangen war? Sie hatte ihn seit dem Auftauchen der Seher nicht mehr gesehen. Hockte er in einem genauso dunklen Raum? Sie hatte ihn in diese Situation gebracht. Genauso wie Emil. Wo waren sie? Sie hoffte nur, dass es ihnen gut ging. Besser als ihr.

Was war nur seitdem passiert? Niemand hatte sie bis jetzt geholt. Keine Befragungen. Da stimmt etwas nicht. So lange blieb normalerweise niemand in Gefangenschaft des oberen Rates ohne sich auch nur einer Befragung auszusetzen. Den einzigen Grund, warum es sich hinzog, den Lilian sich ausmalen konnte, war dass sie direkt ihre Erinnerungen durchsuchen wollten. Die Erinnerungen von magischen Wesen zu manipulieren war streng geregelt. Ohne eine Freigabe durch den Rat war dies nicht möglich. Dann würden sie direkt die Wahrheit sehen. Doch Lilian war sich mittlerweile auch sicher, dass diese Verzögerung nichts gutes verhieß. Der Junge war ein Seher gewesen und in wie weit er mit den Oberen vverbandelt war, wusste sie nicht. Was, wenn niemand ihre Erinnerungen sehen würde? Was, wenn die Wahrheit nie ans Licht kommen würde? Er wollte sie sicher einfach hier verrotten lassen. Das hatte er auch geschafft.

Plötzlich stoppte Lilian in ihren Gedanken. Da waren wirklich Schritte.

Elektrisiert richtete sie sich auf, merkte aber auch direkt wie ihr Kreislauf zusammensackte. In ihrem Kopf drehte sich alles, ihr Körper zitterte. Doch mit aller Kraft drückte sie sich auf die Beine und versuchte den pochenden Schmerz im Kopf zu ignorieren. Sie würde nicht kampflos mitgehen. Lilian drückte sich an der Wand neben der Tür. Der Schlüssel wurde gedreht, die magische Barriere schwand. Lilian hielt die Luft an. Dann trat jemand ein.

Ihr Plan ging auf. Einige Zeit schien der Ankömmling in der Tür zur verharren, dass trat er einige Schritte in den Raum hinein. Er war deutlich größer als Lilian. Sie wusste, dass sie wenig Chancen haben würde. Ihr Körper war geschwächt, doch zu ihrem Glück war es ein Mann. Im Zweifel würde sie sich von ihm die nötige Energie holen müssen.

Lilian stürmte vor und schmiss sich mit all ihrem Gewicht in seinen Rücken. Ein Aufschrei. Er stolperte vorwärts und Lilian hastete an ihm vorbei zur Tür.

Eine Hand griff ihren Arm und zog sie zurück. Sie wirbelte herum, schlug mit der freien Faust auf sein Gesicht ein. Er packte ihre Faust und hielt sie fest. Ihr bliebt keine andere Möglichkeit. Lilian öffnete ihre Lippen, um ihre Kräfte zu entfesseln, als sie in der Bewegung erstarrte.

„Rewalt?!“, rief sie erstaunt aus.

„Ich hol dich hier raus.“ Er ließ sie augenblicklich los.

Lilian konnte nicht glauben, was Rewalt ihr gerade sagte. Sie starrte den Mann mit dem nun verzaustem, angegrautem Haar an, der sie früher schon öfter aus brenzlichen Situationen geholt hatte.

„Sie haben gerade Cornelius geholt.“, fuhr Rewalt fort. „Wir haben nicht viel Zeit. Ich bin mir sicher, dass Noah seine Erinnerungen löschen wird. Was wisst ihr, dass sie versuchen zu vertuschen?“

Rewalt ging einen Schritt auf sie zu. Lilian wicht zurück.

„Ich muss es sehen, damit ich dich beschützen kann.“

Lilian wollte, dass sie Rewalt trauen konnte. Sie wusste niemanden, der ihr noch aus dieser Situation heraushelfen konnte, wenn nicht er.

„Na gut“ Lilian bliebt stehen, richtete sich auf und sah ihn direkt in die Augen. Wenn er sie betrog, dann sollte er ihr wenigstens dabei in die Augen sehen.

Er hob die Hand und Lilian ließ ihn ihre Erinnerungen lesen. Kaum berührten seine Finger ihre Schläfe, war wieder alles da. Die Erinnerung an diesen einen Tag. Noch viel stärker, als wenn sie selbst daran dachte. So plastisch, als wäre sie wieder in dieser Lagerhalle. Sie merkte, wie ihre Augen feucht wurden. Schnell rieb sie sich die Augen.

Rewalt nickte nur kurz verständnisvoll, bevor er sich umwandte. „Also hatte ich Recht! Wir sollten schnell verschwinden.“

Ihre Erinnerungen waren noch da. Rewalt hatte sie nicht gelöscht. Was er sagte, war die Wahrheit. Lilian konnte ihm trauen. Er legte seine Hand auf ihren Rücken und schob sie leicht vorwärts. Doch Lilian rührte sich nicht.

„Was ist mit Cornelius?“ Ohne ihn wollte sie nicht gehen.

„Ich kann nichts für ihn tun. Aber es wird ihm gut gehen. Sie werden ihn einfach ohne Erinnerungen zurück schicken. Doch dich müssen wir in Sicherheit bringen. Deine Erinnerungen sind zu wichtig und wer weiß unter welchem Vorwand sie dich anprangern werden, wenn die Wahrheit erstmal erlischt ist.“

„Was ist mit Emil? Mit Ina? Geht es ihnen gut.“

„Es geht ihnen gut. Aber wir haben nicht viel Zeit. Es wird sicher nicht lange dauern, bevor sie meinen Verrat bemerken.“

„Warum bist du hier? Warum hilfst du mir?“

„Weil ich das richtige tue. Hier wird gerade ein Komplott geplant und ich habe nicht vor mich daran zu beteiligen.“

„Rewalt, du hast, was du von mir brauchst.“ Nur langsam wurde Lilian das Ausmaß dessen was hier passierte klar. „Du machst dich strafbar, wenn du mir hilfst.“

„Ich will nicht, dass dir etwas passiert. Alleine schaffst du es hier nicht raus.“

„Aber du hasst mich, seit der Sache damals...“

„Weil du mit meiner Tochter zusammen warst und meinen Sohn ins Krankenhaus befördert hast?“ Rewalt lachte trocken auf. „Es gab andere Gründe, warum ich dir nicht mehr helfen konnte. Du hast dich aber auch alleine sehr gut gemacht. Aber das hier schaffst du nicht alleine. Lass mir dir helfen, hier raus zukommen. Und jetzt los. Bevor sie etwas bemerken.“

Lilian starrte ihn an. Was er gesagt hatte, wollte in ihrem drögen Kopf keinen Sinn ergeben. Doch sie wusste, dass sie ohne ihn nicht fliehen konnte. „Ja, lass uns abhauen.“

Rewalt fuhr mit der Hand an ihrem Kopf vorbei, wahrscheinlich ein Illusionszauber, um sie weniger auffällig zu machen. Dann eilten sie los durch einen scheinbar endlosen Gang.

Lilian horchte, doch außer ihren eigenen Schritten und ihrem rasenden Herzen hörte sie nichts. Vielleicht konnten sie es wirklich schaffen.

Plötzlich stoppte Rewalt an einer Tür. Er drückte die Hände dagegen. Erst jetzt, wo sie standen, hörte Lilian das näher kommende Geräusch. Sie fuhr herum und sah am anderen Ende des Gangs zwei Seher die zu ihnen eilten. Rewalt riss die Tür auf und schubste Lilian unsanft hindurch.

Bevor Lilian begreifen konnte, was passierte, schlug eiskalter Regen auf sie ein. Ihre Sneaker versanken in matschiger Erde. Hinter ihr hing die Tür einfach in der Luft, der Gang auf der anderen Seite. Rewalt hastete rückwärts hindurch und zog die Tür mit einem großen Knall hinter sich zu. Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, verschwand sie einfach.

Es war düster um sie herum. Am dunkelblauen Himmel hingen dicke Regenwolken die unnachgiebig auf sie einprasselten. Sie waren irgendwo im nirgendwo gelandet. Doch für Lilian war es mehr. Das war die Freiheit. Mehrmals zog sie die frische, kalte Luft ein. Sie roch nach Regen, feuchte Gras und Bäume.

„Wir müssen weiter. Es wird sonst nicht lange dauern, bis sie uns aufspüren.“
 

Lilian ließ den Kopf gegen die kalte Fensterscheibe des Autos sinken und beobachte die Regentropfen, wie sie sich im Fahrtwind ihren Weg über die Scheibe bahnten. Die Welt hinter der Scheibe war schwarz. Die Autouhr zeigte 03:18 an. Rewalt und sie waren bereits lange unterwegs.

Die letzten Stunden waren aufregend gewesen, nicht angenehm aufregend, sondern hatten an ihren Nerven gezerrt. Rewalt hatte sie zur nächsten Stadt geführt und gemeint, dass sie untertauchen müssten in der realen Welt, ganz ohne Magie. Deshalb hatten sie ein Auto gemietet. Immer wieder hatte Lilian die Sorge umtrieben, dass die Seher sie dennoch finden würden. Doch nun strich die Zeit vorbei, ohne dass etwas passierte und die Spannung fiel von Lilian ab. Müdigkeit überkam sie und die Gedanken kamen zurück. Gedanken, die sie eigentlich gerne verdrängt hätte.

„Es war also alles geplant?“, fragte sie ohne den Kopf zu heben.

„Ich vermute es. Nicht haargenau so. Aber Noah scheint das ganze aufgesetzt zu haben, um dich zu töten. Deshalb hat er Hanna manipuliert, damit sie den Rest übernimmt.“

„Wäre ich nicht gewesen, dann hätte Hanna sich nicht manipulieren lassen...“

„Du kannst nichts dafür, Lilian.“

„Ich hätte es verhindern sollen!“ Lilian ballte die Hände in ihrem Schoß zu Fäusten. „Ich hätte es vorher bemerken sollen.“

„Du hast alles getan was du tun konntest, wir müssen nach vorne schauen. Ich bin mir sicher, dieser Junge plant irgendetwas.“

„Noah heißt er? Noah Wittmer?“

„Genau, wie der Alte Wittmer.“

„Ich habe von ihm von Cornelius gehört. Ich wusste nicht, dass dieser Bastard so beliebt beim obersten Rat ist...“

„Noch ist er zum Glück kein Mitglieder. Aber zweimal wurde er jetzt schon vom Rat angehört und jedes Mal hat er vor Dämonen und fremden Wesen gewarnt. Beim letzten Mal hat er sogar den Vorschlag gemacht wieder aktiv gegen die dunklen Wesen vorgehen, um uns vor ihnen zu schützen. Dass die Sozialisierungsprogramme nicht funktionieren würden. Wegen einem einzigen Vorfall. Und er findet Gehör bei den Ältesten des Rats… Verrückt, dass sie dem alten Wittmer das damals abgeschlagen haben und plötzlich nun ernsthaft wieder darüber nachdenken...

Doch als er dann noch Cornelius persönlich in eurem Fall betreuen wollte, wusste ich, dass du in Gefahr bist.“

„Er hat Cornelius Erinnerungen gelesen?“ Erst jetzt war Lilian wieder hellwach. Es war ihr egal, was für irrsinnige Ideen dieser Junge vor dem Rat vortrug. Bei so einem Spinner hatte sie damit gerechnet, aber dass er an Cornelius Erinnerungen herum manipulierte, ging zu weit. Hatte er nicht genug Schaden angerichtet?

„Und wahrscheinlich gelöscht, damit niemand erfährt, was wirklich passiert ist.“

„Gelöscht? Cornelius wird sich nicht erinnern? Aber Emils Erinnerungen, was ist damit?“

„Soweit ich weiß, wurden seine Erinnerungen bereits kurz danach nach Protokoll gelöscht. Wie weitreichend das ist, werden wir sehen müssen.“

„Was meinst du mit weitreichend?“

„Wenn alles so lief, wie es gesetzlich vorgeschrieben ist, dann wird Emil sich an nichts mehr aus der magischen Welt erinnern.“

Lilian erstarrte. Nach und nach realisierte sie jedoch, was das hieß und ließ sich zurück in ihren Sitz sinken. „Er wird mich also vergessen haben...“

„Es wird nur für eine Weile sein. Wir können seine Erinnerungen wiederherstellen.“

„Nein, nicht nötig… wahrscheinlich ist es besser so.“

„Bist du dir da sicher?“

„Meine Kräfte werden von seiner Quelle angezogen. Sie sind dann zehn-, vielleicht hundertmal so stark. Ich könnte ihn umbringen, wenn er sich zu lange in meiner Nähe aufhält. Er hat da keine Kontrolle drüber.“ Je länger sie darüber redete, desto schwerer fiel es ihr. Der Stein in ihrem Herz wurde immer schwerer.

„Weil das Siegel nicht mehr da ist. Ich verstehe.“

„Hätte es dieses blöde Siegel nicht gegeben, hätten ich Emils niemals getroffen, dann würde Hanna jetzt noch leben.“

„Das kannst du nicht wissen.“

„Aber du weißt es doch, oder? Wäre sie glücklich geworden?“

„Lilian… Das kann ich nicht wissen.“

„Ihr seid Seher, wofür seid ihr sonst gut?“ Lilians Hände verkrampften. Warum hatten die Seher eigentlich nichts getan? Sie hätten genauso gut eingreifen können.

„Wir Seher können nur mögliche Zukunftsvision sehen, wenn sie kurz bevorstehen.“

„Dann hättet ihr sie doch aufhalten können. Warum musste es soweit kommen?“

„Ich wünschte es wäre anders abgelaufen. Aber ich und auch die anderen Seher haben uns ablenken lassen. Elisa hat mir plötzlich eröffnet, dass sie Martin festnehmen würden, weil er im Verdacht stünde, derjenige zu sein, der illegal Nekromantie ausübte. Er hatte sich wohl einige Bücher dazu in der Bibliothek angesehen, wie berichtet wurde. Ich habe natürlich sofort versucht ihn da rauszuholen.“

Lilian wusste darauf nichts zu erwidern. Natürlich hatte Rewalt seinen Sohn schützen wollen…

„Und zu Hanna“, fuhr Rewalt fort. „Es war ihr eigenes Verschulden. Sie hat Emil angegriffen, auch wenn sie wusste, dass die sterben würde. Sie hat den Tod selbst gewählt. Du trägst daran keine Schuld.“

„Ich habe sie dazu gebracht.“

„Red‘ dir das nicht ein. Du weißt das es nicht so ist.“

Vielleicht hatte sie Hanna nicht aktiv getötet. Aber…

„Ich habe diesen Vampir umgebracht.“

Rewalt schwieg für einen Moment. Mit den Fingern klopfte er mehrmals auf das Lenkrad. „Ich weiß. Ich habe damals den obersten Rat dazu gebracht, davon abzusehen Cornelius‘ Erinnerungen zu lesen und stattdessen auf seine Aussage zu vertrauen.“
 

Lilian merkte, wie die Tränen in ihren Augen aufstiegen. Sie fühlte sich leer und hilflos gegen die Welle an Schuldgefühlen, die sie überkamen.

„Aber warum? Du hättest wissen müssen, dass ich gefährlich bin! Warum habt ihr mich beschützt, wenn ich die Regeln gebrochen habe? Warum habt ihr das vor mir verheimlicht? Ich dachte, es wäre alles in Ordnung gewesen.“

„Weil die es nicht mit Absicht getan hast und ich wusste, dass du es damals nicht verkraftet hättest. Du bist ein guter Mensch, Lilian.“

Sie schluckte. „Ich bin ein Dämon.“

„Aber das definiert dich nicht. Das wusste ich, seit ich das erste Mal eingeschritten bin, als deine Kräfte erwachten.“

„Aber dann hast du hast dich von mir abgewandt.“

„Ich stand unter dem Druck des Rates… nachdem du deine Kräfte an Martin ausgetestet hast, hatte auch der Rat mitbekommen, dass meine Tochter eine Dämonin zur Freundin hatte. Das hätte meiner Position geschadet, wenn ich nicht gehandelt hätte. Ich habe Isabel verboten dich mit dir zu treffen. Natürlich wusste ich, dass ihr das trotzdem tun würdet. Das hätte ich auch ohne hellseherische Fähigkeiten gewussten.“

„All das? Nur um deine Position zu bewahren? Ich dachte Jahre lang, du wärst wirklich sauer auf mich.“ Lilian schüttelte ungläubig den Kopf und wischte sich die Tränen aus den Augen.

„Ich wusste, dass du das auch alleine schaffen würdest.“

„Ich habe überhaupt nichts geschafft. Ich habe gemordet und meine Freunde in Gefahr gebracht.“

„Du bist nicht der Auslöser für all das. Du musst dir nicht die Schuld für all das geben.“

„Lass uns nicht mehr darüber reden“ Lilian wandte den Blick wieder aus dem Fenster. In ihrem Kopf wanderten die Gedanken. Wenn sie sich selbst nicht die Schuld geben konnte, wem dann? Wer war schuld an all dem?
 

Es durchfuhr Lilian wie ein Blitz, als sie in Emils Augen sah. Als sie hierher gekommen war, dachte sie, dass sie wüsste, worauf sie sich einließ. Doch darauf war sie nicht vorbereitet gewesen. Ihn wiederzusehen, brachte auf einmal so viel zurück. Ihr Herz flatterte auf und gleichzeitig, durchfuhr sie die Angst, denn sie wusste, dass er sie nicht erkennen würde. Schnell fuhr sie herum. Sie hatte dafür keine Zeit. Ihr Gegner würde auch nicht warten.

Lilian packte die kleine spitzzahnige Fee am Hals, schleuderte sie zu Boden

„Verschwindet!“, schrie sie die Fee an. „Hier gibt es nichts zu holen!“ Sie richtete sich auf und trat die Fee, damit diese die Ansage auch verstand. Sie drehte sich zu den anderen Feen um und rief mehrmals: „Verschwindet, verschwindet!“

Ein Rascheln ging durch das Unterholz in alle Richtungen, als die Feen das Weite suchten. Stille trat ein, während die letzten vom Kampf aufgewirbelten Blätter noch zu Boden regneten.

Lilian atmete mehrmals ein. Sie spürte, dass Emil immer noch in ihrem Rücken stand und sie wagte es nicht sich umzudrehen. „Bist du in Ordnung?“, fragte sie.

„Ja -“ Emils Stimme war schwach. „Ich glaube schon… Was war das?“

„Feen“, erklärte Martin, der sich die Blätter von der Kleidung klopfte.

„Feen? Diese kleinen Dinger.“, fragte Emil verwirrt.

Martin lachte trocken auf. „Klein ist gut gesagt. Nervige Biester. Naturgeister die nichts besseres zu tun hatten, als dich verschleppen zu wollen.“

„Aber warum?“

„Haben sie dir irgendetwas eingeflüstert?“, fragte Martin. „Haben sie etwas gesagt?“

„Gib mir deine Magie, haben sie gesagt. Aber was hat das zu bedeuten?“

Emil hatte also wirklich alle seine Erinnerungen verloren. Lilian seufzte leise und versuchte gegen die Enttäuschung anzukämpfen, die in ihre aufstieg und ihr den Atem raubte.

„Sie wollten deine Quelle.“, erklärte Martin. „Wir sollten scheinbar noch vorsichtiger sein. Wenn die Feen von dir wissen, dann wird das nicht lange unbemerkt bleiben.“

„Das heißt, ich darf nie wieder in einen Wald gehen?!“

„Mach dir keine Sorgen, ich pass' auf, dass so etwas nicht nochmal passiert!“

Lilian schluckte die Enttäuschung herunter und drehte sich mit versteinerter Miene um. Sie sollten nicht sehen, was mit ihr los war. Jetzt wo Emil und Martin keine Erinnerungen daran hatten, was sie eigentlich hiermit zu tun hatte, waren sie Fremde für sie. „Ihr habt Glück, dass ich gekommen bin“, sagte sie mit trockener Stimme.

„Danke, Lilian.“ Martin klopfte ihr kumpelhaft auf die Schulter. Immerhin kannte er ihren Namen noch. Dann bemerkte sie, dass Emil sie musterte. Ob er überlegte, ob er sie kannte? Nein, er konnte es nicht wissen und er sollte das auch besser nicht wissen.

„Keine Ursache“, erwiderte Lilian so ausdruckslos wie möglich und wandte sich lieber Martin zu.

„Bist du mit meinem Vater hier?“, fragte er.

Lilian nickte nur. Sie merkte, dass ihre Stimme ihr sonst versagt wäre. Wieso hatte sie ihre Gefühle nicht unter Kontrolle? Schnell wandte sie sich ab, damit sie ihr Gesicht nicht sehen konnten. Das hatte sie sich einfacher vorgestellt.

Als Rewalt ihr erzählt hatte, dass Martin und Emil auf dem Weg waren und wahrscheinlich in Schwierigkeiten geraten würden, war sie überzeugt gewesen, dass sie das ohne Zwischenfälle durchziehen würde. Dass sie kein Problem damit haben würde, Emil wiederzusehen. Sie hatte sich im ersten Moment sogar darüber gefreut. Doch jetzt, schmerzte es, mehr als vorher. Rewalt hatte sie gewarnt, doch sie war zu stur gewesen, um das zu begreifen. Da musste sie jetzt durch.

„Kommt mit. Wir sollten uns hier nicht länger aufhalten als nötig...“ Ihr Ton war härter als geplant, weil sie all ihre Unsicherheit damit überspielte.

Sie marschierte voran, währen Martin und Emil hinter ihr irgendetwas tuschelten, davon dass sie eine Succubus war. Lilian versuchte das zu überhören. Was änderte das schon? Sie war sich sicher, so wie es jetzt war, war es besser. Emil sollte sich besser von ihr fern halten. Denn sie wusste nicht, wie lange sie sich noch unter Kontrolle haben würde.

Mehrere Realitäten

Das Wartungshäuschen des Staudamms war klein und unscheinbar. Im Erdgeschoss waren es nur zwei Räume, ein Raum mit drei Schreibtischen und Computern darauf und ein zweiter scheinbar Aufenthaltsraum mit einer kleinen Küche und einem abgeranzten Sofa.

Erst als sie die Treppe hinunter in den Keller gingen, wurde Emil das Ausmaß des Gebäudes bewusst. Vor ihnen lag ein langer Gang mit jeder Menge Türen. Er war viel länger als das Gebäude über ihnen. Die Wände waren aus grauem Beton und die Türen aus Stahl. Leuchtstoffröhren tauchten alles in ein kaltes weiß.

„Was ist das hier?“, fragte Emil das erste, was ihm durch den Kopf schoss. „So etwas wie ein Geheimversteck?“

„Ja, ein Versteck außerhalb des Sichtkreises der Seher.“ Martin sah sich um, während sie den Gang entlang gingen. „Ich bin seit Jahren nicht mehr hier gewesen.“

„Sieht aus wie das Hauptquartier eines Bösewichts oder ein geheimes Labor“, stellte Emil fest. „Hier könnte man auch den T-Virus erforschen.“

„Den was?“

„Den T-Virus, der Zombies erschafft“, sagte Lilian plötzlich, ohne sich umzudrehen.

„Genau. Den.“, stimmte Emil ihr zu. Damit hatte er jetzt nicht gerechnet. Sie schien sich auszukennen. Er hatte nicht gedacht, dass eine Dämonin Resident Evil kannte oder sich dafür interessierte. Kurz überlegte er, ob er sie fragen sollte, ob sie die Filme oder die Spiele besser fand, doch dann entschied er sich anders. Sie hatte sich die ganze Zeit kein einziges Mal umgedreht. Auch wenn sie die Erklärung für den T-Virus geliefert hatte, schien sie nicht, wie eine Person die darauf aus war sich zu unterhalten. Außerdem wollte er eine Dämonin nicht unbedingt verärgern.

„Das heißt, dein Vater versteckt sich hier vor den Sehern?“, fragte Emil stattdessen an Martin gewandt. „Ich dachte er wäre selbst einer.“

„Genau das verwirrt mich auch. Aber hier scheint nichts mehr normal zu sein. Ich verstehe nicht, warum die Seher meine Erinnerungen verändern und danach versiegeln würden.“

Lilian mischte sich wieder in das Gespräch ein: „Den Sehern können wir nicht mehr trauen.“

Martin sah erschrocken zu ihr. „Was soll das heißen, wir können ihnen nicht mehr trauen? Die Seher sind für die Ordnung unserer Welt verantwortlich. Was ist passiert?“

„Das soll Rewalt euch erklärten.“ Lilian öffnete die Tür am Ende des Gangs und ließ Martin und Emil eintreten. Ein größerer Raum öffnete sich vor ihnen. Auch hier dominierte Beton und großflächiges, kaltweißes Licht. In der Mitte des Raums stand ein großer Tisch, darum einige in die Jahre gekommenen Konferenzstühle mit braunem Bezug. Diese stammten sicher noch aus dem letzten Jahrhundert.

An den Tisch gelehnt stand Martins Vater, etwas in Gedanken, doch als er sie bemerkte, stand er auf. „Da seid ihr ja.“

Emil hatte Martins Vater einige Male getroffen, doch ihn hier in diesem Keller wiederzusehen, fühlte sich falsch an. Dass er ein Seher sein sollte, wollte nicht so recht in Emils Kopf gehen. Das war Martins Vater, nicht irgend ein Magier der sich hier unten versteckte.

„Wer ist Rewalt?“, fragte Emil lauter, als er beabsichtigt hatte. Den Namen hörte er nun zum ersten Mal.

„Das bin ich“, antwortete Martins Vater ihm. „Ich habe mich bei dir bestimmt mit Jürgen vorgestellt, aber in der magischen Welt nennt mich jeder bei meinem Nachnamen.“

„Ihr heißt Rewalt mit Nachnamen?“, fragte Emil erstaunt an Martin gewandt.

„Ja, wieso?“

„Das steht also auf dem Klingelschild...“

„Überrascht dich das?“

„Emil“, fuhr Rewalt fort. „Das muss sehr verwirrend für dich sein, weil du deine Erinnerungen verloren hast. Martin hat dir sicher schon einiges erklärt. Aber wird werden alles dafür geben, deine Erinnerungen wiederherstellen zu können.“

Das hörte Emil jetzt nicht zum ersten Mal. Doch das machte es nicht plötzlich glaubwürdiger als die Male davor. Wie sollte man Erinnerungen wiederherstellen? Da war nichts in seinem Kopf. So sehr er versuchte sich zu erinnern, er hörte das alles zum ersten Mal.

Martins Vater hob mit einem Mal die Hand, ließ sie aber augenblicklich wieder sinken. Dann sah er zu seinem Sohn hinüber.

„Versiegelt?“, fragte er, als hätte Martin irgendetwas gesagt. Emil sah verwirrt zu Martin dann zu seinem Vater. Es dauerte eine Weile, bis beide plötzlich bemerkten, wie absurd die Situation war.

„Sorry. Dass muss jetzt ziemlich komisch gewesen sein. Wir Seher -“ Martin zeigte erst auf sich, dann auf seinen Vater. „können auch ohne Worte kommunizieren, weil wir die Zukunft sehen, wissen wir, was der andere sagen wird.“

„Ahja...“, war Emils einzige Antwort darauf. Das war zu abstrus.

„Ich habe schon versucht die Erinnerungen wiederherzustellen, aber ich komm einfach nicht dran. Weder an Emils noch an meine eigenen und das Siegel ist so gut, dass es nicht direkt auffällt“

„Er hat scheinbar versucht möglichst gründlich zu arbeiten“, murmelte Rewalt nachdenklich.

„Noah?“, rief Martin verwundert aus. „Dieser Junge, von dem alle seit Monaten reden? Wieso sollte er so etwas planen?“

Für einen Moment schwiegen sowohl Martin als auch Rewalt und Emil war sich sicher, dass sie scheinbar wieder per Telekinese oder was auch immer Gedanken austauschten und hier gerade eine gesamte Konversation statt fand, die er nicht hören konnte.

Emil räusperte sich leicht, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. „Wer ist dieser Noah überhaupt?“

Martin und sein Vater tauschten Blicke aus, als würden sie darüber streiten, was sie ihm antworten sollten. Schlussendlich begann Martin etwas abgehackt:

„Das ist nicht so einfach zu erklären. Du wusstest mal mehr über die magische Welt, aber wie du schon weißt, hat man dich alles vergessen lassen. Wir können deine Erinnerungen aktuell noch nicht wiederherstellen.“

„Was hat das mit diesem Noah zu tun?“

Martin warf einen Blick zu Lilian, als wäre sie die Antwort darauf. „Lilian, dürfte ich deine Erinnerungen sehen?“

Lilian fing seinen Blick auf, zeigte daraufhin jedoch keine Regung. Sie schien nachzudenken. Dann wandte sie den Kopf und sah zu Emil hinüber. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Was war das in ihrem Blick, das Emil nicht deuten konnte? Ihre Augen waren leer, doch ihr Kopf dahinter schien angestrengt zu arbeiten.

Der Moment war so schnell vorbei, wie er gekommen war. „Tu was du tun musst“, erwiderte Lilian an Martin gewandt. Mit dem Körper lehnte sie sich gegen die Tischkante und stützte ihre Arme auf. Dann senkte sie den Kopf.

Martin trat einige Schritte auf sie zu und hob den Arm ausgestreckt vor sie. Seine Hand legte er auf ihre Stirn. Lilian schloss die Augen.

Emil war sich nicht sicher, ob das gerade wirklich passierte. Konnte Martin wirklich ihre Erinnerungen lesen? Lilians Körper fing an zu zucken. Ihre Finger schlossen sich krampfhaft um die Tischplatte. Tat es weh Erinnerungen zu lesen? Fügte er ihr Schmerzen zu?

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, wo beide einfach nur dastanden. Dann ließ Martin seine Hand sinken. Es trat eine merkwürdige Stille ein. Langsam öffnete Lilian ihre Augen und Emil meinte darin Tränen erkennen zu können. Sie sah beinahe verletzlich aus. So hatte Emil sie bis jetzt nicht gesehen.

Martins Haltung fiel in sich ein. Er sah sie mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Mitleid an. Einige Sekunden sahen sie sich an, dann fuhr Lilian sich mit dem Handrücken über die Augen und ihre übliche Haltung kehrte zurück.

„Das tut mir Leid“, murmelte Martin.

„Spar dir die Worte“, raunte Lilian, doch ihre Stimme war nicht so stark, wie sonst.

„Es hätte nicht soweit kommen müssen.“

„Ich mache euch keinen Vorwurf.“ Lilian richtete sich ruckartig auf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich will euch helfen ihn für das zu bestrafen, was er getan hat“

Emil verstand nicht, wovon sie sprach. Wer hatte was getan?

Rewalt räusperte sich. „Zuerst sollten wir uns auf das Wichtigste konzentrieren. Wir brauchen zunächst Unterstützung. Ich habe einige Seher, denen ich vertraue. Ich werde versuchen Kontakt zu ihnen aufzunehmen.“

„Was hat das jetzt alles mit Noah zu tun?“, fragte Emil erneut. Er verstand überhaupt nichts.

Rewalt hielt inne und überlegte für einen Moment. „Es ist besser, wenn du so wenig wie möglich weist. Da sie deine Erinnerungen manipuliert haben, werden sie ein Auge auf dich haben.“

„Aber jetzt bin ich doch hier.“ Emil fasste all seinen Mut zusammen. Martin würde ihn doch nicht hierher bringen, wenn ihm dann niemand etwas erzählte?

„Das stimmt. Ich werde wahrscheinlich vorerst deine Erinnerungen an dieses Versteck löschen müssen.“

Emil wich zurück. Der Gedanke daran machte ihm Angst. Er würde das hier vergessen? So fühlte sich das also an. Was konnte er sonst noch alles vergessen haben?

„Keine Angst, Emil“, fuhr Rewalt im ruhigen Ton fort. „Ich werde deine Erinnerungen nicht vollständig löschen. Das wäre nicht fair dir gegenüber. Ich habe dir das alles nicht umsonst erzählt. Das meiste wirst du behalten können, nur dieser Ort muss unentdeckt bleiben. Aber du wirst dich für eine Weile heraushalten müssen, bis wir einen Weg gefunden haben deine Erinnerungen wiederherstellen zu können. Am besten tust du so, als wäre nichts geschehen und gehst weiter deinem Alltag nach.“

„Ich soll so tun, als wäre nichts geschehen?“ Das gefiel Emil überhaupt nicht. Alle erzählten sie ihm, dass er mehr wissen müsste, dass es Dinge gab, an die er sich nicht erinnern konnte und er sollte einfach so tun, als wäre nichts? Als wäre sein bester Freund kein Seher? Als hätte er das alles hier nicht gesehen?

Seit Wochen hatte er dieses Gefühl gehabt. Das Gefühl, das etwas nicht stimmte. Das er irgendetwas vergessen hatte. Das etwas fehlte. Und jetzt wo er so nah dran war, zu verstehen, was eigentlich passiert war, sollte er zurück in das Leben, das ihm so falsch vorkam?

„Erklärt es mir!“, entfuhr es ihm. „Was ist passiert? Was ist es, was ich vergessen habe? Ich will es wissen.“

Rewalt seufzte. „Alles was ich dir erzählen würde, würdest du nicht verstehen können. Es würde dir fremd vorkommen. Für dich wäre es, als wäre das ein anderes Leben, das du nie gelebt hast.“

„Das hier ist ein Leben, das sich bereits fremd anfühlt. Wie viel schlimmer kann es werden?“ So leicht würde er sich nicht abwimmeln lassen.

„Martin und ich sind es gewohnt fremde Erinnerungen zu sehen und bewerten zu können. Auch durch unsere Fähigkeit die Zukunft zu sehen, sind wir es gewohnt mehrere Realitäten gleichzeitig zu haben. Aber für dich gibt es aktuell nur die eine Realität. Etwas anderes wäre höchst fahrlässig.“

„Eine Realität die eine Lüge ist.“ Emil ballte die Hände zu Fäusten.

„Glaub mir, Emil. Ich werde alles daran setzen, das zu korrigieren. Aber bis dahin musst du dich gedulden. Bis wir einen Weg gefunden haben deine versiegelten Erinnerungen wiederherzustellen.“

„Können wir es nicht zumindest versuchen?“

Rewalt schüttelte den Kopf. „Nein. Leider nicht.“ Er drehte sich zu Martin und gab Emil zu verstehen, dass ihr Gespräch hiermit beendet war. „Bringst du ihn nach Hause?“

Martin nickte und umfasste Emils Arm. „Komm, wir gehen.“

Emil blieb stehen. Etwas in ihm wollte nicht gehen. Er wollte wissen was hier los war, verstehen, wieso er hierher gekommen war. „Was habe ich mit dem ganzen hier zu tun?“

„Vertrau mir, Emil.“ Martin zog leicht an seinem Arm. „Je weniger du weißt, desto sicherer bist du.“

Doch Emil wollte sich nicht bewegen. Er brauchte Antworten. „Aber wieso?“

„Wenn die anderen Seher erfahren, dass du mehr weißt, dann werden sie dich holen und vielleicht werden sie dann erneut deine Erinnerungen korrigieren. Du könntest das alles hier vergessen. Und wer weiß, was sie noch aus deinem Leben streichen. Vielleicht hätten wir uns dann nie getroffen.“

Emil starrte ihn erschrocken an. „Das würden sie tun?“

Martin legte die Hand auf Emils Schulter. „Es wird nicht für ewig sein. Früher oder später, wirst du deine Erinnerungen und dein altes Leben zurück bekommen.

Bis dahin musst du mir versprechen nicht mehr über Magie zu reden. Du darfst, was gerade passiert ist niemals ansprechen. Nicht bei mir oder irgendwem. Wenn du versuchen wirst mit mir darüber zu reden, werde ich dir ausweichen oder dich unterbrechen. Ich werde dir vielleicht sogar aus dem Weg gehen. Aber das wird nur solange sein, bis wir einen Weg gefunden haben, das ganze zu korrigieren.

Dafür werde ich deine Erinnerungen hieran nicht einfach löschen. Du wirst dich hieran erinnern. Versprochen?“

Emil nickte. „Versprochen.“

„Lass uns zurück fahren.“ Diesmal musste Martin nicht am seinem Arm ziehen, denn Emil folgte ihm auch so. Einen letzten Blick warf er auf Rewalt und Lilian, bevor die Tür hinter ihm zufiel.

Schweigend gingen sie nach oben. Emil hatte immer noch nicht begriffen, was das bedeuten würde, als Martin an der Tür stehen blieb.

„Sobald wir dieses Haus verlassen, werden wir nicht mehr über Magie reden, oder über das was passiert ist. Also nutze deine letzte Chance mich etwas zu fragen.“

„Lass mich raten, über Noah, Lilian und das alles hier wirst du mir nichts erzählen?“ Ein Versuch war es wert, fand Emil.

„Richtig.“

Etwas enttäuscht ließ Emil den Kopf hängen. Er hatte mit der Antwort gerechnet, aber was gab es sonst noch was er wissen wollte? Was musste er jetzt noch loswerden?

„Wie lange?“, fragte er zögernd. „Wie lange wird es dauern, bis ich meine Erinnerungen zurück bekomme?“

„Das weiß ich nicht.“

„Eine Woche? Ein Monat?“

„Ich weiß es wirklich nicht.“ Martins Tonfall wurde härter. „Wenn wir Pech haben Monate.“

„Monate?! Ich soll Monate so tun als wüsste ich von nichts?“

„Das ist der Deal.“

Emil seufzte. Er hatte sich bereits darauf eingelassen. „Also gut. Aber was ist mit Nici? Weiß sie davon?“

„Nein. Sie weiß nichts hierüber und du darfst es ihr ohnehin nicht erzählen. Niemandem. Sogar mir nicht.“

„Verstanden. Aber ich werde mich erinnern?“

„Ja, versprochen. Du wirst dich erinnern.“

„Okay, dann bin ich jetzt bereit.“ Emil lächelte leicht. Er glaubte, dass er damit gewonnen hatte. Denn ihm war nicht bewusst, auf was er sich da gerade eingelassen hatte.

Wochenendpläne

Neun Wochen war es jetzt her. Neun Wochen hatte Emil kein Wort darüber verloren, was an diesem Tag passiert war. So viel war an diesem Tag passiert und die Tatsache, dass sein Leben danach einfach weiter seinen Gang ging, ließ Emil daran zweifeln, ob das wirklich geschehen war. Immer mehr hatte er das Gefühl, dass er das vielleicht nur geträumt hatte. Besonders da Martin ihm in keinsterweise Rückmeldung darüber gab, ob er das ganze miterlebt hatte.

Martin hatte es bereits angekündigt und er hatte es wahr gemacht. Emil erinnerte sich an alles, zumindest glaubte er das. Doch genauso beharrlich schwieg Martin sich über die Ereignisse aus.

Es war Freitag, die letzte Stunde Physik und Emil tippte in Gedanken mit seinem Stift auf seinem Blatt herum. Wenn es wirklich Magie gab? Wieso bemerkte er davon nichts? Wieso hatte er nicht bemerkt, dass Martin jedes Wort von ihm erahnte? Wieso bemerkte er es jetzt nicht einmal? Gab es so etwas wie Magie wirklich? Er hatte ja nichts wirklich gesehen. Vielleicht sollte er Martin einfach fragen?

Schnell schob er den Gedanken zur Seite. Martin würde wissen, dass er dies Fragen würde und ihn zum Schweigen bringen. Oder würde er es sogar leugnen? Emil beschloss es lieber sein zu lassen. Martin schien ihm generell in letzter Zeit auszuweichen Die Pausen verbrachten sie immer weniger zusammen.

Auch fehlte in letzter Zeit immer öfter in der Schule. Letzte Woche war er überhaupt nicht da gewesen. Und wenn er krank war, blockte er Emil auch immer wieder ab.

Der Gong ließ Emil zusammen zucken. Das laute Rascheln von hastig zusammen gepacktem Papier und Stiften erfüllte den Raum. Auch Martin neben Emil packte rasch zusammen.

„Sag mal, Martin, hast du am Wochenende schon was vor?“, fragte Emil schnell.

Martin hielt einen Moment inne, dann packte er weiter seine Sachen zuammen.. „Sorry, ich bin vollkommen verplant.“

„Muss nichts großes sein. Wir könnten auch einfach nen Film schauen.“

„Keine Chance.“ Martin sah Emil entschuldigend an. „Du weißt, ich habe in letzter Zeit viel zu tun. Ich muss meinem Onkel beim Umzug helfen.“

„Ich kann auch helfen“, bot Emil an.

„Nicht nötig. Wir sind schon genug. Nutz die Zeit lieber zum zocken. Du hast doch bestimmt nen Raid oder so.“

Emil wusste, dass Martin das nur sagte, um vom Thema abzulenken. „Das hatte ich eh vor, aber -“

Martin fuhr ihm ins Wort. „Ich muss los. Sorry, Emil. Wir sehen uns Montag!“ Er nahm seine Tasche und verließ hastig das Klassenzimmer.

Emil stieß die Luft aus. Martin hatte ihn wirklich gerade eiskalt versetzt?

Emil versuchte sich zwar einzureden, dass was immer Maritn am Wochenende machte wirklich wichtig war. Aber war das wichtiger als Zeit mit seinen Freunden zu verbringen? Es war nicht das erste Mal. Immer hatte er besseres zu tun.

„Du hast noch nichts vor am Wochenende?“, fragte Ina, halb über den Tisch zu ihm hinüber gebeugt. Emil erschrak, er hatte nicht gemerkt, dass sie noch dasaß.

„Eh, doch“, war Emils instinktive Antwort auf Inas Frage.

„Gerade meintest du, du hättest nicht viel vor.“

Emil seufzte erneut. „War nen Reflex.“ Doch als er Ina ansah, erinnerte er sich an etwas. An etwas, das Martin gesagt hatte. Ina hatte etwas mit der Sache zu tun gehabt. Martin hatte sie in Emils ursprünglichen Erinnerungen gesehen. Sie musste auch von Magie wissen, oder zumindest gewusst haben. Vielleicht wurden ihre Erinnerungen ebenfalls manipuliert?

„Reflex? Hör mal, da will man einmal nett zu dir sein -“ Doch weiter kam Ina nicht, denn Emil unterbrach sie:

„Kennst du das Gefühl, das etwas nicht stimmt?“

Ina stoppte mit ihren Beschimpfungen und blinzelte Emil unverständlich an.

„Wie meinst du das?“

„Das Gefühl, dass man etwas vergessen hat. Das etwas nicht richtig ist?“

„Ich kann dir immer noch nicht folgen.“

Emil sog die Luft ein. Wenn er unrecht hatte und Ina nichts davon wusste, dann würde sie ihn bestimmt für einen Spinner halten. Aber tat sie das nicht sowieso schon? Er musste es zumindest riskieren.

„Ich habe das seit einigen Wochen. 10 Wochen um genau zu sein. Die Welt um mich herum dreht sich weiter, doch es fühlt sich nicht richtig an.“

„10 Wochen?“ Inas Stimme war beinahe brüchig. Ihr Blick wanderte herum, dann sah sie hinter auf den Tisch. „Vor 10 Wochen hat mein Freund mit mir Schluss gemacht. Ich verstehe es bis heute nicht. Aber was soll‘s? Wer braucht diese Idioten schon?“

„Dein Freund?“, rutschte es Emil heraus.

„Ja, mein Jetzt-Ex-Freund.“ Ina sah mit vor Wut rotem Gesicht auf. „Oh man, warum erzähle ich dir das? Du bist immer noch so gefühlvoll wie ein Stein!“

„Das tut mir Leid.“

Ina schien die Entschuldigung anzunehmen. „Es war so komisch. Ich erinnere mich daran, dass wir Schluss gemacht haben. Aber es fühlt sich nicht an, als wäre es wirklich passiert. Als würden nur alle darüber reden und irgendetwas fehlt in dem Puzzle.“ Ina griff mit den Händen ins Leere, als könnte sie etwas in der Luft fassen, was nicht dort war.

„Vielleicht geht es uns da sehr ähnlich. Ich habe auch das Gefühl, dass mir plötzlich etwas fehlt.“

„Soll das eine Anmache sein?“

„Nein!“ Emil spürte wie er plötzlich rot anlief. „So war das nicht gemeint!“

Doch Ina fing laut an zu lachen. „Wäre auch zu schön gewesen.“

„Wieso?“

„Das behalte ich für mich.“

„Ich meine nur, was wenn beides zusammenhängt?“

„Ich glaube wir beide haben in letzter Zeit einfach viel Pech gehabt. Was ist eigentlich zwischen dir und Martin los? Habt ihr euch zerstritten?“

„Nein, eigentlich nicht.“ Sogar Ina hatte es bemerkt?

„Was heißt eigentlich?

„Er hat einfach viel zu tun. Das ist alles.“

„Ihr kling schon wie ein altes Ehepaar.“

Ein komischer Vergleich, fand Emil. Wieso sollten sie wie ein Ehepaar sein? Sie waren Freunde und Freunde machten halt Sachen zusammen oder auch nicht.

„Weißt du Emil, du musst vielleicht einfach mal wieder unter Leute gehen. Hast du Lust diesen Samstag feiern zu gehen? Die Abiklasse einer Freundin organisiert eine Party. Das wird sicher lustig.“

Emil zögerte. Eigentlich hatte er nur den Raid am Sonntag geplant und der war auch erst ab 13 Uhr. Eigentlich genug Zeit um Samstag Abend wegzugehen. Aber wollte er das? Er mochte eigentlich keine Parties.

„Meine Freundinnen bringen auch ihre Freunde mit. Da sind bestimmt auch Nerds wie du dabei.“

Wieso zögerte er? Er hatte doch eigentlich nichts besseres vor. Martin hatte ihn ja gerade versetzt. Warum sollte er also alleine Zuhause sitzen? Vielleicht war das wirklich das was er jetzt brauchte?

„Ok, wo treffen wir uns?“

„War das gerade ein „Ja“?“, fragte Ina ungläubig.

„Ja. Also wo treffen wir uns, bevor ich‘s mir anders überlege?“
 

Es waren bereits alle anwesend, als Martin den Besprechungsraum betrat. Allesamt saßen sie um den großen Tisch herum und waren noch in Einzelgespräche untereinander vertieft. Er war spät dran, weil der Weg von der Schule bis hierher so lange dauerte. Die Schule war in letzter Zeit wirklich lästig geworden. Aber er musste dorthin, um den Schein aufrecht zu erhalten. Dabei gab es gerade wichtigeres. Der magischen Welt stand ein Krieg bevor und es war an ihnen dies zu verhindern. Sein Vater hatte bereits einige seiner alten Freunde mobilisiert. Sie waren allesamt untergetaucht, um ihm zur Seite zu stehen. Jetzt saßen sie hier und schmiedeten Pläne, wie sie Noah und den oberen Rat aufhalten konnten. Doch das Ausmaß, das ihnen bevorstand offenbarte sich nur nach und nach.

Martin nahm auf seinem Stuhlplatz, und Schweigen trat ein, als Rewalt sich erhob.

„Danke, dass ihr alle so schnell kommen konntet. Wie ihr wisst, gehen wir davon aus, dass der oberste Rat im Begriff ist einen Vertrag mit den Vampiren zu schließen, der die Auslöschung aller dunklen Wesen besiegeln soll. Wir wissen allerdings nur, dass Verhandlungen hierzu laufen oder laufen müssten. Konkrete Details sind uns nicht bekannt. Allerdings gehen wir davon aus, dass Elisa eine Schlüsselrolle dabei spielt. Sie hat sowohl die Vernehmung meines Sohns Martin geleitet, sowie die Gedächtniskorrektur von Cornelius Scherbach beauftragt. Das wissen wir aus internen Quellen. Und das macht sie zu unserem wichtigsten Anhaltspunkt.

Wir haben einen weiteren Hinweis erhalten. Michael, der jüngste Sohn des Anführes der Vampire und mutmaßlich der neue Anführer der Vampire, soll sich morgen mit Elisa treffen. Das wäre unsere Chance, mehr darüber herauszufinden. Ich würde gerne zur Diskussion stellen, wie wir hierbei verfahren sollen. Elisa ist ein wichtiger Schlüssel. Ich vermute sogar, dass sie es war, die die Erinnerungen von Maritn versiegelt hat, um zu verschleiern, was hier eigentlich vor sich geht.“

Wie erwartet entbrannte eine Diskussion darüber, was getan werden sollte. Einige waren dafür das Treffen nur zu observieren. Andere sprachen davon, Elisa gefangen zu nehmen, um an Informationen zu gelangen.

Martin warf einen Blick zu Lilian hinüber. Sie beteiligte sich nicht an der Diskussion, sondern machte sich Notizen in einem kleinen Buch vor ihr auf dem Tisch. Martin versuchte auf die Entfernung zu erkennen, was es war, das sie schrieb, doch sogar mit seinen Hellseherischen Fähigkeiten konnte er es nicht sehen. War ihr das ganze hier nicht mehr so wichtig? Am Anfang war sie noch Feuer und Flamme gewesen, alles zu unternehmen, dass es nicht soweit kommen würde, dass dieser Vertrag zu Stande kam. Doch jetzt wirkte sie beinahe desinteressiert. War es weil sie die letzten Woche diese Räumlichkeiten nicht verlassen hatte? Sie hatte alle ihre Kontakte abbrechen müssen, um unterzutuchen. Nicht einmal Sonia oder ihre Eltern wusste, dass sie hier waren. Ohne Erinnerungskorrektur hätten sie die Geschichte mit dem Urlaub im Ausland wahrscheinlich nicht geglaubt.

Alle anderen hatten bereits von den Sehern Gedächtniskorrekturen erfahren. Emil erinnerte sich an nichts und auch bei Cornelius hatten sie sicher kräftig die Erinnerungen manipuliert und gelöscht. Aber das alles geschah zu ihrem Schutz. Es war nicht notwendig mehr Leute hineinzuziehen, als sie mussten. Sogar Cornelius wusste nichts davon, was sie hier gerade planten. Er war eine Schwachstelle, denn nach seiner Freilassung hatten die Seher sicher ein Auge auf ihn. Dazu hatten sie seine Erinnerungen wahrscheinlich ebenso wie Emils, als auch seine eigenen Erinnerungen versiegelt. Ohne die Art zu kennen, wie diese versiegelt worden, gab es keinen Weg an sie heranzukommen.

Es war komisch für Martin, die Erinnerungen von Lilian gesehen, zu wissen, was passiert war, aber selbst keinerlei Erinnerungen daran zu haben. Das war sogar für ihn als Seher neu. Es war richtig gewesen, Emil davor zu bewahren. Doch wie lange sollte das noch gehen? Heute war es ihm besonders schwer gefallen, Emil abzuwürgen. Doch das hier war zu wichtig. Sie waren kurz davor einen Durchbruch zu schaffen. Dieses Treffen war der entscheidende Punkt, an dem sie Einfluss nehmen konnten. Und Martin vertraute darauf, dass sie die richtige Entscheidung treffen würden.
 

Martin steckte die Hände in die Jackentaschen. Es war frisch geworden. Sie standen zu fünft in der menschenleeren Straße. Von hier würden sie Ausschwärmen und den Plan umsetzen, den sie geschmiedet hatten. Sie würden Elisa festsetzten, sie mitnehmen. Ein riskanter Plan.

Es war beinahe gespenstisch ruhig. Zauber schirmten sie von der Umgebung ab, sodass sie niemanden mit reinziehen würden, wenn es brenzlig wurde. Hoffentlich würde es klappen. Er war im Kopf immer wieder alle Szenarien durchgegangen und hatte keine Störungen erkennen können. Hieß das, dass die Vorhersage so gut wie sicher war?

Jemand tippte ihm auf die Schulter und Martin wandte sich um. Er wusste, wer hinter ihm stand. Corenlius. Und während er sich noch fragte, was dieser hier machte, offenbarte sich ihm die Antwort in seinem Kopf. Er wusste, was Cornelius antworten würde. Er hatte Rewalt die Hinweise gegeben, Cornelius hatte ihnen gesagt, dass Elisa und Michael sich hier treffen würde, er kannte die Route. Eigentlich hatte Rewalt ihm gesagt, er solle sich weiter bedeckt halten, doch jetzt war er hier.

„Hey, ich weiß, dass Rewalt gesagt hat, ich solle lieber Zuhause bleiben, aber ich wollte dabei sein. Ihr könntet meine Hilfe gebrauchen.“, beantwortete Corenlius Martins unausgesprochene Frage, auch wenn Martin bereits die Antwort darauf kannte.

„Du hast uns diese Hinweise geliefert?“

„Ja. Ich habe keine Ahnung, was hier vor sich geht. Aber als Micha mir erzählte, dass die Vampire den Auftrag erhalten haben, Lilian umzubringen, wusste ich, das etwas nicht stimmte. Lilian hat nichts falsches gemacht.“

„Sie ist verantwortlich für Daniels Tod“, korrigierte Martin ihn.

„Sie hat mein Leben damit gerettet.“ Corenlius schwieg für einen Moment, bevor er fortfuhr. „Doch dieser direkte Tötungsauftrag aus dem nichts? Vampire sind eigentlich keine Kopfgeldjäger. Ich habe daraufhin versucht mit Rewalt Kontkt aufzunehmen und habe erfahren, dass ich scheinbar recht hatte, das hier etwas vor sich geht.“

„Habt ihr Michael eingeweiht?“

„Ja, habe ich. Er weiß Bescheid, dass etwas passieren wird, aber ich habe ihm keine Details verraten.“

„Und du bist dir sicher, dass wir ihm trauen können?“

„Er hat mir das mit Lilian verraten. Das hätte er nicht getan, wenn er mir nicht vertrauen würde und deshalb tue ich das auch bei ihm.“ Cornelius stockte und sah sich um. „Wo ist eigentlich Lilian? Wolltet ihr sie nicht mitnehmen?“

„Doch...“, entfuhr es Martin aus Reflex. Er sah sich hastig um. Lilian war gerade noch hier gewesen. Keinen Moment später, kamen die Bilder. Da war so viel Blut. Martin zog geschickt die Luft ein. Wie hatte er so fixiert auf ihren Plan sein können, dass er das übersehen hatte? Lilian hatte vor zu töten und wenn er nichts unternahm, dass würde sie das durchziehen.

In seinem Kopf spielte er bereits alle Optionen durch. Er war nicht stark genug, um gegen Lilian anzukommen. Sie konnten den Plan nicht abbrechen. Dann wäre alles umsonst gewesen. Es gab nur eine Möglichkeit. Ein Szenario, indem sie den Plan umsetzen und Lilian aufhalten konnten. Er sah zu Cornelius, der Martin fragend ansah.

Martin zog Cornelius abseits von der Gruppe. Einige Schritte die Straße entlang, dann in eine Seitengasse. Er versuchte seine Stimme ruhig zu halten, auch wenn ihm das schwer fiel. „Du wartest auf mich. Entferne dich noch einige Schritte von den anderen, aber bleib in der Nähe. Ich werde dich finden“

„Martin? Wovon redest du?“

Martin hatte keine Zeit für Erklärungen. Die Zeit lief ihm davon. Also sagte er das eine, das Cornelius auf jeden Fall verstehen würde: „Lilian wird Micha umbringen, wenn wir nichts unternehmen.“

Dann rannte Martin los.

Außer Kontrolle

Kaum war Emil den Schritt nach draußen getreten, stieß ihm die kalte und klare Luft entgegen. Sie kühlte seinen Kopf und ließ ihn durchatmen. Es tat gut der stickigen Luft des Clubs entkommen zu sein.

Hier draußen standen einige Raucher und unterhielten sich. Emil ging an ihnen vorbei und suchte sich einen Platz etwas weiter abseits. Er lehnte den Rücken gegen die Häuserwand und starrte einige Sekunden auf die Lichter der Straße. Seine Ohren dröhnten noch von der lauten Musik. Doch hier draußen schien plötzlich alles so leise, wie gedämpft drang das Geräusch der vorbeifahrenden Autos an seine Ohren.

Sein Getränk hatte er immer noch in der Hand. Emil schwenkte die Flüssigkeit etwas, bevor er einen tiefen Schluck nahm. Als würde der Alkohol direkt wirken, beruhigte ihn der Schluck und er merkte, wie Ruhe in ihm einkehrte.

Er war einfach nicht für Parties gemacht. Es war ja ganz witzig gewesen, er hatte mit den Leuten gescherzt und auch Ina war gar nicht so übel, wie er gedacht hatte. Doch am wohlsten fühlte er sich hier. Weg von dem Trubel, von den Menschen. Hier wo nur noch der Bass an seine Ohren drang.

Wäre Martin doch nur hier. Emil ertappte sich bei dem Gedanken und spülte ihn direkt mit einem weiteren Schluck herunter. Martin ging ihm seit Wochen aus dem Weg. Seit dieser Sache… Selbst wenn er versprochen hatte nicht darüber zu reden. Martin ignorierte ihn ja so oder so. Emil hatte es mit keinem Wort erwähnt, hatte versucht weiter zu machen. So zu tun, als sei nichts gewesen. Und dennoch wich Martin ihm bei jeder Gelegenheit aus. Er wollte doch gar nichts dazu sagen. Er wollte nur mit Martin reden, so wie vorher. Einfach Spaß haben. Wieso sagte Martin ihm nicht einfach was los war? Emil wusste doch jetzt von Magie.

Langsam hatte Emil das Gefühl, dass Martin ihm das überhaupt nicht sagen wollte. Sogar am Freitag war er extrem schnell weg gewesen, als Emil ihn auf das Wochenende angesprochen hatte. Martin war in seiner eigenen Welt und Emil blieb zurück in dieser hier, die er nicht so recht verstehen wollte. Wenn Martin das so wollte, dann sollte es Emil recht sein. Sollte Martin doch seinen Scheiß durchziehen.

Mit einem Zug leerte Emil sein Glas und stellte es auf den Vorsprung neben sich. Er schloss die Augen und lauschte den Geräuschen der Nacht. Der dumpfe Bass, die flüchtigen Stimmen der Raucher und das Motorengeräusch der vorbeifahrenden Autos. In tiefen Zügen atmete er die kalte Luft ein leerte seinen Kopf. Er merkte, wie Ruhe in dem Wirrwar in seinem Kopf einkehrte einkehrte. Auch wenn es nur die Betäubung des Alkohols war. Er war zufrieden.

„Emil!“

Emil riss die Augen auf. Martin stand mit einem Mal vor ihm. Das T-Shirt klebte ihm am Körper und Schweiß rann ihm von der Stirn. Wo kam er plötzlich her?

„Ich brauche deine Hilfe. Dringend“, brach Martin keuchend hervor und stützte sich auf seine Knie.

Doch Emil rührte sich kaum. Nur schwach spürte er das Stechen in seiner Brust und er wusste genau, was das für ein Gefühl war. Als er sprach, war seine Stimme rau:

„Wie kommst du darauf, dass ich dir helfen würde?“

Martin erstarrte. „Das habe ich mir gedacht.“

„Wieso tauchst du ausgerechnet jetzt auf? Aus dem Nichts? Wie soll ich dir helfen können? Ich habe doch nicht mal eine Ahnung, welche Spielchen ihr spielt. Ich weiß doch gar nichts! Nichts von -“

„Emil!“, fuhr Martin ihm ins Wort und packte ihn an der Schulter. „Es geht um Lilian. Sie war plötzlich weg und ich habe keine Ahnung, wie ich sie stoppen soll.“

„Lilian? Dieses Mädchen? Was hab ich damit zu tun?“ Emil schob Martins Hand von seiner Schulter. „Ihr könnt euren Magiekram auch ohne mich regeln.“

„Es tut mir Leid, aber bitte hör mir zu, Emil!“

„Wieso sollte ich?“ So wütend war er lange nicht mehr gewesen. Emils Augen verengten sich und er funkelte Martin an.

„Weil du der einzige bist, auf den sie hören wird?“

Emil lachte trocken auf. „Wie kommst du auf so einen Mist?“

„Ach weißt du, das wird mir zu blöd.“ Martins Hand schnellte nach vorne. Emil durchfuhr es wie einen Blitz. Verschwommene Bilder jagten durch seinen Kopf. Gefühle, Satzfetzen, Bilder.

Er sackte in sich zusammen. Es tat nicht weh, doch sein Puls raste und er schnappte schwer nach Luft: „Was war das?“

„Das sind Lilians Erinnerungen.“

Emil vergrub das Gesicht in den Händen und schloss die Augen. Das war gerade einfach zu viel. Immer wieder schossen ihm Bilder durch den Kopf. Er sah sich selbst, spürte sich selbst, und küsste sich. Was war das? Wenn das Lilians Erinnerungen waren… dann mussten er und Lilian sich sehr nahe gestanden haben. War das alles so passiert?

„Tut mir Leid, Emil. Deine eigenen kann ich dir aktuell nicht zurück geben. Ich weiß, dass das extrem merkwürdig für dich sein muss.“

Das war es auch. Doch mit jedem Atemzug, meinte Emil, das es besser wurde. Er konnte die Situationen in den Erinnerungen besser einordnen. Wenn das stimmte, was er da sah. Dann war er mit Lilian zusammen gewesen. Sie hatten sich so nahe gestanden. Und jetzt erkannte er sie nicht einmal mehr.

Dabei war sie bei ihrer letzten Begegnung so cool geblieben. Wie hatte sie das nur überspielen können? Das musste ihr unglaublich weh getan haben.

„Geht es wieder?“ Martin griff nach Emils Handgelenk.

Emil hob den Kopf und nickte. Er spürte jetzt erst, dass seine Augen feucht geworden waren.

„Wir dürfen keine Zeit verlieren!“ Mit Schwung zog Martin Emil auf die wackeligen Beine und dann mit sich. Emil stolperte hinterher, also ließ Martin ihn los und selbst laufen, auch wenn Emil deutlich langsamer war.

Martin hielt mit einem Mal inne und auch Emil kam mit schmerzenden Beinen zum stehen.

„Erklärst du mir noch, was passiert ist?“, keuchte Emil auf seine Knie gestützt.

„Wir hatten eine Operation geplant. Das neue Oberhaupt der Vampire sollte sich hier in einer der Seitenstraßen treffen. Doch plötzlich war Lilian verschwunden. Und ich weiß genau, dass sie vorhat den Vampir abzufangen. Ich weiß nur nicht wo...“

„Aber ich weiß wo!“, sagte eine dritte Stimme. Emil sah erstaunt auf. Er hatte überhaupt nicht bemerkt, dass ein Mann neben ihnen stand. Er war schmal und kleiner als Martin, doch er war etwas älter. Emil kannte den Mann aus Lilians Erinnerungen und ein Name kam ihm über die Lippen.

„Cornelius?“

Cornelius erschrak und starrte Emil an. „Erinnerst du dich?“

„Nein, aber ich erkenne ich aus Lilians Erinnerungen.“

„Du hast ihm Lilians Erinnerungen gegeben?!“, fuhr Cornelius Marin an. „Spinnst du?!“

„Es musste schnell gehen! Also? Wo sind sie?“

„Hier entlang!“ Cornelius rannte los und Martin folgte ihm. Emil hatte Schwierigkeiten Schritt zu halten. Seine Beine waren wie betäubt, doch das machte es nur noch schwieriger. In seinem Kopf drehte sich alles. Das Tempo konnte er nicht mithalten. Dann blieben sie plötzlich stehen. Und es dauerte einen Moment, bis Emil verstand, was hier passierte.

Die Szene vor Emils Augen war so irreal, das sein Kopf sie zunächst überhaupt nicht erfassen konnte. Alles war in das orange Neonlicht der Laternen getaucht. Ein Auto lag quer und auf das Dach gedreht am Straßenrand. Davor stand eine in Schatten getauchte Person. Doch ihre Augen schienen in der Dunkelheit grün zu leuchten. Ein Schauder durchfuhr ihn, als er den Boden um die Person wahr nahm. Dort lagen mehrere Personen, gekrümmt auf dem Asphalt

Das ist Lilian, schoss es Emil durch den Kopf. Der Gedanke kam ihm selbst so unbekannt vor, als wäre es nicht sein eigener gewesen. Das sollte Lilian sein? Was war hier geschehen? Hatte Lilian mit den Leuten am Boden gekämpft?

Doch jetzt stand sie einfach nur da, mit hängenden Armen und leicht gesenktem Kopf. Sie fixierte etwas vor ihr. Emil folgte ihrem Blick und erschrak. Vor ihr hockte ein Mann auf dem Boden. Er wich vor ihr zurück. Sie würde doch nicht etwa…

Bevor Emil den Gedanken zuende bringen konnte, war Cornelius losgestürmt. Er brachte sich direkt zwischen Lilian und den Mann. Mit ausgestreckten Armen schrei er auf Lilian ein: „Hör auf!“

„Aus dem Weg!“, raunte Lilian. Ihre Stimme war brüchig. Sie schwankte etwas und hielt den Arm um den Bauch geschlungen. War sie verletzt?

„Du musst ihn nicht töten!“ Cornelius rührte sich keinen Zentimeter.

„Er wird vollenden, was sein Bruder begonnen hat. Er wird dafür sorgen, dass alle dunklen Wesen getötet werden! Er muss sterben!“

„Nein, Lilian! Er ist nicht unser Feind!“

„Er wird mich töten, wenn ich ihm nicht zuvor komme.“

„Woher meinst du, wusstet ihr, dass er heute hier sein wird?!“

Lilian begann zu zittern und ließ die Hand sinken. Ihre Hand war dunkel gefärbt. War das Blut? „Aus dem Weg, Cornelius! Ich will dich nicht verletzen.“

„Ich habe es Rewalt gesagt! Ich war das! Weil Micha es mir gesagt hat.“

„Du hast- ?“

„Er ist auf unserer Seite, Lilian!“

Lilian setzte seinen Fuß zurück, als wolle sie Anlauf nehmen. Emil durchfuhr es, und rüttelte ihn schlagartig wach. Er rannte los. Lilian wandte den Kopf zu ihm. Ihre Augen weiten sich. Dann schlang Emil die Arme um sie und drückte sie fest an sich.

Etwas besseres war ihm nicht eingefallen. Mit aller Kraft hielt er sie fest, auch wenn sie sich in seinen Armen wand. Er durfte sie nicht loslassen.

Dann passierte es. Er fühlte sich komisch, sein Kopf noch vernebelter als vorher. Was war das für ein Gefühl? Wärme. Geborgenheit. Er fühlte sich zu Lilian hingezogen. Eine leise Stimme in seinem Kopf sagte ihm, er solle wegrennen. Aber warum? Sie war eine Succubus. Er wollte sie küssen.

Er erwachte erst, als Lilians Hand sich auf seinen Mund presste. Er wollte nach Luft schnappen. Lilians Finger drückten in sein Gesicht. Er kriegte keine Luft mehr. Panik stieg in ihm auf. Seine Lungen schrien nach einem Atemzug.

Er versuchte Lilian wegzudrücken, doch sie hielt dagegen. Atmen. Er musste atmen.

Dann schlug er mit dem Handballen. Er erwischte sie am Kopf. Augenblicklich ließ Lilian los. Er solperte zurück. Emil schnappte nach Luft. So schnell, dass er sich daran verschluckte. Voller Schreck starrte er Lilian an, die über ihm stand. Wie war sie so zu etwas fähig? Warum tat sie das?

Sie trat einen Schritt vor und Emil wich zurück. Sie war gefährlich. Sie war eine Dämonin. Was hatte er sich dabei nur gedacht?

Lilian hielt in der Bewegung inne. Sie zitterte am ganzen Körper. „Warum?“ Es war mehr ein flüstern, bevor ihr Körper jeglichen Halt verlor. Sie kippte nach vorne.

Emil machte einen raschen Schritt vor, um sie aufzufangen. Das plötzliche Gewicht zwang Emil in die Knie. Beinahe leblos hing sie in Emils Armen. Nur leise hörte er sie wimmern. Was gerade passiert war, wollte ihm nicht aus den Kopf gehen. Die Panik, die Angst die er gespürt hatte. Doch jetzt konnte er nicht anders, als ihr helfen zu wollen. Doch er durfte sie nicht küssen. Egal, was er tat. Das war zu gefährlich. Mit aller Kraft, kämpfte er gegen diesen Gedanken an.

Martin tauchte neben ihm auf. „Warte, ich nehm sie dir ab.“

Emil atmete erleichtert auf, als Martin Lilians Oberkörper anhob und sie auf den Rücken legte. Das Schwere Gefühl aus Emils Brust war verschwunden. Er musste nicht mehr dagegen ankämpfen.

„Alles okay bei dir?“, fragte Martin.

Emil nickte nur. Er brachte kein Wort hervor.

„Das war ziemlich mutig und ziemlich bescheuert von dir.“

Er sah zu Lilian, die neben ihnen am Boden lag. „Ich wusste nicht, was ich sonst machen sollte.“

„Das war ziemlich knapp.“ Martin bemerkte Emils Blick. Als wüsste, was in Emils Kopf vor sich ging, fügte er hinzu. „Sie hatte ihre Kräfte nicht unter Kontrolle. Mit deiner Quelle bist du extrem angreifbar. Hättest du sie geküsst, hätte sie dir vielleicht all deine Lebensenergie entzogen.“

Emil starrte ihn unverständlich an.

„Deine magische Quelle verstärkt ihre Kräfte genauso wie sie meine verstärkt. Wir haben noch einmal Glück gehabt, dass es nicht soweit gekommen ist.“

„Emil“ Lilians Stimme klang wie ein Röcheln. „Es tut mir -“ Sie musste mitten im Satz husten. Dunkle Flüssigkeit lief an ihren Mundwinkeln herab. War das Blut.

„Lilian, du solltest nicht reden!“ Martin legte die Hand auf Lilians Seite. „Du scheinst innere Verletzungen zu haben.“ Martin seufzte laut. „Du bist mir was schuldig, Lilian. Emil gib mir deine Hand, ich kann deine Quelle nutzen.“

Emil hielt Martin die Hand hin, auch wenn er keine Ahnung hatte, was Martin vor hatte. Dieser griff sie und einen Moment passierte überhaupt nichts. Doch als Martin die Hand hob, atmete Lilian deutlich flacher, als wäre sie von den Schmerzen befreit worden.

Aber was war mit Cornelius? Emil wandte sich um. Cornelius hatte sich zu dem Mann am Boden gekniet und hielt dessen Hand mit seiner umfasst.

War dieser Mann der Vampir, von dem Martin gesprochen hatte? Emil konnte sich das kaum vorstellen. Seine Gesichtszüge waren weich und bedrohlich sah er nicht wirklich aus.

Der Mann beugte sich vor und legte seine Stirn auf die von Cornelius. Die beiden wirkten so vertraut. Wie alte Freunde.

Dann neigte Cornelius den Kopf zu Seite und küsste den Mann. Emil erstarrte. Er wusste, dass die beiden mal zusammen gewesen waren. Aber woher wusste er das? Warum waren sie das? War er nicht ein Vampir?

Erst jetzt merkte Emil, dass er immer noch starrte und wandte den Blick ab.

„Hilfe müsste gleich da sein“, sagte Martin, doch wahrscheinlich eher an Emil als an Lilian gewandt.

Diese lag einfach nur da, mit geschlossenen Augen und atmete ruhig. Ihre Kleidung war kaputt und von Blut getränkt. Ob es ihr eigenes war, konnte Emil nicht einmal sagen. Wie war es nur soweit gekommen?

Auch wenn er sich nicht an Lilian erinnerte, auch wenn er nur Bruchteile ihrer Erinnerung gesehen hatte, er konnte sich einfach nicht erklären, wie es dazu kommen konnte. Wieso war Lilian so weit gegangen? Wie war sie so geworden?

Und wo war er dabei gewesen? Er hatte sich verzogen, beleidigt, weil Martin ihm aus dem Weg gegangen war. Er war ein Feigling gewesen, der sich darauf eingelassen hatte alles stillschweigend hinzunehmen. Ohne eine Ahnung davon zu haben, welche Erinnerungen ihm genommen wurden.

Er hatte sie nicht einmal erkannt. Er erkannte sie auch jetzt nicht. Was musste nur in ihr vorgegangen sein? Er spürte, wie wichtiger er ihr gewesen sein musste. Es schmerzte in seiner Brust. Wieso war das nur passiert?

Und wieso erinnerte er sich an nichts? Wie konnte man so einfach einen Menschen vergessen, der einem augenscheinlich so wichtig gewesen war? Was war sie für ihn?

Schritte hallten durch die Stille. Eine Gruppe kam auf sie zu. Dann hörte Emil die Stimme von Martins Vater: „Was ist passiert?“

Rewalt starrte die Szene vor ihm genauso ungläubig an, wie die Seher, die mit ihm gekommen waren. Mit schnellen Schritten ging er auf Cornelius und den Mann zu. Cornelius richtete sich rasch auf und stellte sich schützend vor ihn.

„Du bist also dieser Micha?“, fragte Rewalt und schon sich an Cornelius vorbei.

Micha sah erschrocken zu ihm auf.

„Keine Sorge, Corenlius hat von dir erzählt. Allerdings müssen wir entscheiden, was wir tun werden.“ Er ließ den Blick schweifen über die leblosen Körper, die am Boden lagen. „Bei einen Kameraden wirst du nicht bleiben können. Es ist das beste, wenn du mit uns kommst. Betrachte das hiermit als Entführung.“ Er lachte, als hätte er einen Scherz gemacht und zog Micha auf die Beine. Die Seher umzingelten Micha und einer brachte seine Arme zusammen.

„Muss das sein?“, mischte sich Cornelius ein.

„Reine Vorsichtsmaßnahme.“

Rewalt kam zu Emil hinüber und kniete sich neben ihn. „Martin hat dir Lilians Erinnerungen gegeben? Das war wirklich unverantwortlich.“ Er warf seinem Sohn einen strafenden Blick zu, doch dann entspannten sich seine Gesichtszüge wieder „Und doch ein Weg, unnötige Opfer zu vermieden.“

Rewalt lächelte leicht, bevor sich seine Gesichtszüge wieder versteiften:

„Emil, wir haben vielleicht einen Weg gefunden, dir deine richtigen Erinnerungen wiederzugeben. Wir haben diejenige gefangen nehmen können, die deine Erinnerungen versiegelt hat.“

Es kommt alles wieder

Alle Viere von sich gestreckt wachte Emil auf. Als er die Augen öffnete stach ihm das Licht in die Augen und er schloss sie schnell wieder. Er fühlte sich immer noch benommen. Nur langsam setzte er zum zweiten Versuch an und öffnete die Augen langsamer. Die Vorhänge im Zimmer waren zugezogen, doch es war so hell, dass es draußen bereits hell sein musste.

Emil war in seinem Zimmer. Zumindest sah es aus wie sein Zimmer. Emil erinnerte sich, dass sie gestern Nacht noch aus der Stadt rausgefahren waren; zu diesem Staudamm. Das hier war nicht sein Zimmer.

Der dröhnende Kopfschmerz ließ ihn nicht klar denken und er legte die Arme über sein Gesicht. Die Dunkelheit ließ den Kopfschmerz erträglicher werden. Wie viel hatte er gestern nur getrunken? Scheinbar zu viel. Den letzten Drink hätte er weglassen sollen.

Dann hörte er Schritte und wie die Tür geöffnet wurde.

„Du bist wach.“ Emil erkannte an der Stimme sofort, dass es Martin war.

Doch Emils Antwort darauf war nur ein Brummen.

Martin setzte sich auf die Bettkante. „Kopfschmerzen?“

Ein erneutes Brummen. Dann spürte Emil, wie Martin ihm leicht auf den Kopf tippte.

„Der Schmerz sollte jetzt weg sein.“

Nur Vorsichtig nahm Emil die Arme zur Seite und öffnete die Augen. Martin hatte Recht. Der Schmerz war weg. Er fühlte sich noch erschöpft, aber beinahe fit aufzustehen.

„Ich hätte dir den Kater auch direkt nehmen können, aber so viel zu trinken muss auch erst einmal seine Konsequenzen haben.“

Emil richtete sich auf. „Na, danke auch…“

„Aber das hier ist zu wichtig, als dass es warten könnte. Es hat fast die ganze Nacht gedauert, aber wir haben herausgefunden, wie wir die versiegelten Erinnerungen wiederherstellen können.“ Martin sah wirklich müde aus. Scheinbar hatte er die Nacht gar nicht geschlafen. „Die Frage ist jetzt, möchtest du, dass ich deine Erinnerungen wiederherstelle?“

„Klar? Was ist das für eine Frage?“

„Erinnerungen können nicht nur schön sein.“

„Das weiß ich! Aber ich will wieder normal sein. Ich will nicht das Gefühl haben, dass ich nichts verstehe.“

Martin seufzte unmerklich und stand auf. „Setz dich auf die Bettkante.“

Emil rutschte zur Bettkante. Martin hatte sich den Schreibtischstuhl geschnappt und setzte sich gegenüber von Emil.

„Ok. Ich werde dir erklären, was du tun musst.“

Emil nickte. Dennoch war er unruhig. Er wusste nicht, was passieren würde.

„Keine Sorge“, sagte Martin, als könnte er seine Gedanken lesen. „Es wird nichts schlimmes passieren. Schließ deine Augen.“

Emil tat wie ihm geheißen. Martin legte vorsichtig die Hand auf Emils Kopf und Stirn.

„Versuch deinen Kopf zu leeren. Tief ein und aus atmen.“

Mit jedem Atemzug schob Emil die Gedanken in seinem Kopf zur Seite. Er versuchte sich eine weiße Wand vorzustellen. Die Wand wurde immer klarer.

„Erinnerst du dich daran, wie wir gemeinsam in der Schulbibliothek waren und das Buch über sehen gefunden haben?“

Bilder formten sich in Emils Kopf. Damals hatte Martin ihm verkauft, dass Buch hätte in die Schulbibliothek gehört. „Ja, dabei hattest du das Buch eigentlich aus der magischen Bibliothek ausgeliehen.“

Emil erschrak sich selbst. Der Gedanke war ihm wie von alleine gekommen.

„Augen zulassen!“, befahl Martin, doch Emil hörte ihn leicht lachen. „Woher weißt du das?“

„Cornelius hat es mir erzählt. Als ich mit Lilian in der magischen Bibliothek war...“ Emils Stimme brach ab. Lilian. Er erinnerte sich an diesen Tag. Lilian hatte versucht herauszufinden, wie sie den Bund mit Marie lösen konnte. Sie hatte es scheinbar herausgefunden. Denn sie hatte den Bund für Hanna gelöst. Sie hatte das getan, weil sie keine Wahl gehabt hatte. Sie hatte es ganz allein getan. Wie gestern…

Was war nur passiert? Wieso hatte Lilian das getan? Das war nicht die Lilian, die Emil kannte. Sie war so krupelos gewesen. Es war, als würde etwas schweres auf Emils Brust drücke und er schnappte nach Luft. Er riss die Augen auf.

Martin zog erschrocken seine Hand zurück.

Emils Atem raste. Wie hatte er das vergessen können? Wie hatte er nur so unbeholfen sein können? Wieso hatte er das wochenlang nicht hinterfragt? Wie hatte es jemals dazu kommen können? Er und Lilian waren sich so nahe gewesen. Wieso? Wie hatte er das nicht sehen können? Wieso hatte er nichts unternommen?

Emil spürte Tränen in seine Augen. Er vergrub das Gesicht in den Händen und fuhr sich durchs Haar. Warum nur? Wieso war er nicht da gewesen? Wieso hatte er alles vergessen? Er hätte es niemals vergessen dürfen.

„Das war nicht deine Schuld“, sagte Martin beschwichtigend. „Gegen die Magie der Seher hättest du dich nicht wehren können. Nicht einmal ich hatte bemerkt, dass sie meine Erinnerungen manipuliert hatten.“

Emil fuhr hoch. Er erinnerte sich. Die Seher hatten Martin mitgenommen. Als sie geglaubt hatte, dass Hanna nichts mit der Sache zu tun hatte.

„Was ist mit dir passiert? Die Seher hatten dich mitgenommen.“

„Das haben sie. Und sie haben mich festgehalten. Ich vermute, damit Noah seinen Plan in Ruhe durchführen konnte. Danach haben sie meine Erinnerungen manipuliert und mich wieder freigelassen. Ich habe mich genau wie du an nichts erinnert.“

„Aber du wusstest, was passiert ist...“

„Weil ich Erinnerungen lesen kann. Ich konnte in Lilians Erinnerungen sehen, was passiert sein musste. Aber auch ich habe jetzt erst meine eigenen Erinnerungen zurück. Elisa hatte sie mit einer raffinierten Signatur versiegelt, die wir jetzt erst brechen konnten.“

„Wie habt ihr das gemacht?“Emil stockte. Sie hatten doch nicht Elisa gefoltert, um ihr die Information zu entlocken?

„Wir haben sie zur Wahrheit gezwungen, aber nicht mit Folter. Es gibt einige Zauber die das können. Nachdem sie uns verraten hatte, wie sie es gemacht hatte, konnten wir herausfinden, wie wir das Siegel brechen können.“

„Deshalb habt ihr sie mitgenommen?“

„Ja, unsere ganze Aktion gestern zielte eigentlich darauf an Elisa zu kommen. Sie scheint in der Sache tief drin zu stecken. Es war ein Risiko sie hierher zu bringen, aber nach dem Desaster gestern hatten wir ohnehin keine andere Wahl mehr.“

Desaster… das Lilian angerichtet hatte. Ein Stich ging durch Emils Brust. „Wie geht es Lilian?“

„Den Umständen entsprechend. Da sie eine Succubus ist, heilen ihre Wunden schneller. In einigen Tagen, sollte sie wieder auf den Beinen sein.“

„Hat sie irgendwas gesagt?“

„Wie meinst du das?“

„Ach nicht so wichtig.“ Was Lilian wohl dachte? War sie sauer auf ihn? Als sie ihn damals hier getroffen hatte, war sie ihm aus dem Weg gegangen. Hatte den Sichtkontakt gemieden. Sie hatte sicher gewusst, dass er sich nicht erinnerte. Wie muss das wohl für sie gewesen sein? Und er hatte sie überhaupt nicht erkannt.

„Wenn du sie besuchen möchtest...“

Emil wusste nicht einmal, ob er sie sehen wollte. Wie konnte er ihr so unter die Augen treten? Was sollte er nur sagen? Wie sollte er sich hierfür entschuldigen?

„Tut mir Leid“, sagte Martin tonlos und faltete die Hände ineinander. „Ich habe das auch so nicht kommen sehen.“

Einige Zeit saßen Emil und Martin sich schweigend gegenüber.

„Kann ich mich hier frei bewegen?“, fragte Emil schließlich.

„Natürlich.“

„Ich würde gerne nach draußen. Ich schätze die Fenster hier kann man nicht aufmachen?“

„Leider nicht. Die sind nur Illusion.“

„Ok.“ Emil stand auf. Seine Beine waren taub, wie auch der Rest seines Körpers. Da war zu viel in seinem Kopf. „Hol mich, wenn ihr mich braucht.“ Emil ging an Martin vorbei zur Zimmertür. Es war komisch, dass sich dahinter ein komplett anderer Gang befand, als er es von Zuhause gewohnt war. Wie mechanisch ging er nach oben. Er erinnerte sich noch irgendwie an den Weg, denn wirklich achtete er nicht darauf. Zu tief dachte er darüber nach, was passiert war.

Die Luft war frisch und klar. Emil trat hinaus und merkte, wie gut es ihm tat. Die Welt war noch da. Es war keine Illusion. Er ging einige Schritte bis er einen Blick hinunter in das Stautal hatte. Dies war die Realität. Richtige Bäume, richtiges Gras, eine richtige Mauer aus Stein, an die er sich lehnte.

Er wusste nicht wie spät es war. Doch die Sonne stand schon relativ hoch. Die Welt drehte sich weiter. So wie sie sich die letzten Wochen weiter gedreht hatte, ohne das er gewusst hatte, was eigentlich los war. Und er konnte die Zeit nicht zurück drehen.

Immer wieder ging er die letzten Wochen im Kopf durch. Da war so viel, dass er gar nicht verstanden hatte, das er nicht richtig erfassen konnte. Doch jetzt begriff er es, und es tat ihm weh. Es tat ihm weh, dass er nicht anders darauf reagiert hatte. Dass er nicht einmal die Möglichkeit gehabt hatte, etwas dagegen zu unternehmen. Er hätte es verhindern können. Er hätte verhindern können, dass Lilian so geworden war.

Wie war sie geworden? Er hatte sie kaum wiedererkannt. Dieses Mädchen, dass so entschlossen gewesen war diesen Vampir zu töten. Die ihn zurück gestoßen hatte. Die so getan hatte als würde sie ihn nicht kennen. Wer war dieses Mädchen? Er kannte sie nicht. Wollte sie überhaupt noch mit ihm reden?

„Hey Emil.“

Emil drehte sich aus seinen Gedanken gerissen um. Hinter ihm stand Cornelius. „Der Ausblick hier ist schön, oder?“

„Ja.“ Emil wusste nicht wirklich, was er darauf entgegen sollte.

Cornelius ließ den Blick schweifen und seufzte leise. „Fast schon zu idyllisch.“

Dann schwiegen beide, bis Corenlius in seiner Tasche kramte und eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug hervor holte. „Hättest du was dagegen?“, fragte er.

„Nein“, antwortete Emil aus Reflex. „Du rauchst?“

„Erst wieder seit ein paar Tagen.“ Cornelius zündete sich die Zigarette an und zog daran. „Eigentlich eine richtig blöde Angewohnheit. Aber es ist viel passiert.“

„Das stimmt.“ Emil erinnerte sich daran, wie Cornelius sich Lilian in den Weg gestellt hatte. Ohne Rücksicht darauf, ob Lilian ihn angreifen würde. Eigentlich wie damals. Damals hatte Cornelius sich auch schützend vor diesem Vampir gestellt. Cornelius hätte ihn mit seinem Leben beschützt. Dabei hatten sie sich erst vor einigen Wochen wieder getroffen. In der Bibliothek wo sie und Ina nach den Koordinaten gesucht hatten. Was war nur seitdem passiert? Was hatte das alles hiermit zu tun? „Dieser Vampir...“

„Du meinst Micha?“

„Ja. Warum wollte Lilian ihn umbringen?“ Emil fiel es schwer das auszusprechen. Doch genau so war es doch gewesen.

„Ich kann es nur vermuten. Aber ich glaube Lilian glaubt, dass er in die Fußstapfen seines großen Bruder treten wird. Dabei ist Micha überhaupt nicht wie er. Aber er sollte das zu Ende bringen, was damals gescheitert ist.“ Corenlius zog an der Zigarette. „Ich weiß jetzt, warum dieser Noah hinter uns her war. Vor fünf Jahren hatte der alte Wittmer, Noahs Onkel versucht die Vampire für seine Zwecke zu gewinnen. Er wollte den Vampiren uneingeschränkte Rechte einräumen andere dunkle Wesen zu jagen und zu töten, damit diese, endlich ausgelöscht würden. Daniel sollte damals als Repräsentant die Verhandlungen führen. Doch als er verstarb, wurden die Verhandlungen abgebrochen. Wahrscheinlich wegen meiner Aussage. Rewalt hat damals dafür gesorgt, dass mein Name aus den Unterlagen verschwand. Aber dass der Vampir, der für Sicherheit sorgen sollte, ein unschuldiges Mädchen angegriffen hatte, verunsicherte den Rat so sehr, dass sie die Verhandlungen abbrachen. Doch jetzt kommt dieser Noah mit der gleichen Idee und er hat diesmal einen Fall, der den Rat überzeugen könnte. Eine Banshee die im verborgenen Nekromantie erlernt, ohne dass die Seher es mitbekommen. Hanna hätte noch viel schlimmeres anrichten können. Aber dass Noah gerade dafür gesorgt hat, dass sie unentdeckt bleibt, daran denkt keiner. Plötzlich haben sie Angst um ihre Sicherheit. Als ob alle dunklen Wesen böse wären.“

„Und jetzt soll Micha mit ihnen verhandeln?“

„Ja, kein Wunder, dass sie gerade ihn ausgewählt haben.“ Ein Lächeln zog über Corenlius‘ Gesicht. „Er ist sanft, zu sanft für einen Vampir.“

„Und Lilian wollte nicht, dass dieser Vertrag zu Stand kommt?“

„Sie ist ein dunkles Wesen, eine Succubus. Ich glaube zwar nicht, dass ein Abkommen zwischen Rat und Vampiren dazu geführt hätte, dass sie direkt jede dunkle Wesen getötet hätten, aber für Lilian muss es wohl so geklungen haben.“

„Das kann ich mir vorstellen. Egal was dieser Noah konkret möchte, so hat er es doch direkt auf dunkle Wesen und damit auch Lilian abgesehen.“

„Ich kann Lilian auch verstehen, dass sie den Vertrag verhindern möchte. Aber ich hätte nicht gedacht, dass sie blind versuchen würde Micha zu töten.“

„Ich auch nicht…“, gab Emil zu. „Ich hatte sie kaum wiedererkannt.“

„So war sie früher. Als ich Lilian kennen gelernt habe, war sie hitzköpfig und hat alle von sich weg gedrückt. Sie hat sich aufgeführt, als könnte sie alle und jeden besiegen und als bräuchte sie keine Hilfe. Doch ich kann ihr dafür nicht böse sein, wenn sie nicht so gewesen wäre, hätte sie mich nicht vor Daniel gerettet.“

„Sie war früher so?“

„Sie ist erst aufgetaut, als sie sich mit Sonia angefreundet hatte. Es hat ihr gut getan mal zu vergessen, dass sie eine Succubus ist. Vielleicht hat das alle sie zu sehr an damals erinnert.“

„Sie hat versucht die Probleme ganz alleine zu lösen… weil ich mich nicht erinnern konnte.“

„Das klingt als würdest du dir die Schuld dafür geben.“

Vielleicht tat Emil das auch? Gab er sich die Schuld dafür?

„Wahrscheinlich ja. Hätte ich mich erinnert, wäre sie nicht alleine gewesen.“

„Es hilft nichts dir die Schuld dafür zu geben. Du kannst es nicht ändern. Aber du kannst das hier und jetzt ändern. Rede mit Lilian, sie wird es verstehen.“

Emil stockte. Mit Lilian reden? Er wusste nicht, ob er das konnte. Wollte sie ihn überhaupt sehen? „Ich weiß nicht...“

„Nach dem Vorfall mit Daniel, habe ich versuchte Cornelia verschwinden zu lassen. Ich habe fünf Jahre nicht mit Micha darüber geredet. Weder über das, was passiert ist, noch dass ich eigentlich nicht Cornelia bin. Ich dachte, dass es besser wäre, dass er glaubt, dass ich mich nicht erinnern würde. Aber ich habe letztens erst erkannt, dass es total unbegründet war, davor wegzulaufen. Wir hätten einfach darüber reden müssen.“

„Ich weiß nicht einmal, was ich ihr sagen würde.“

„Egal was du sagst, es wird das Richtige sein. Lilian mag dich. Sie vermisst dich sicherlich. Auch wenn sie wahrscheinlich jetzt so tun wird, als wäre es nicht so.“

Emil merkte, dass er leicht rot wurde bei dem Gedanken daran. Lilian mochte ihn? Und er mochte sie. Aber liebte er sie nicht sogar? Er hatte keine Ahnung. Das Wort konnte Emil nicht greifen. Aber mögen traf es auf jeden Fall.

Er musste mit ihr reden. Dennoch flatterten ihm bei dem Gedanken daran die Nerven. Was sollte er sagen? Was sollte er tun? Er wollte sich entschuldigen, aber wusste nicht wie.

„Ich glaube du hast Recht. Aber ich muss erst darüber nachdenken.“

„Verstehe ich. Lass dir alle Zeit der Welt.“ Cornelius drückte die Zigarette auf der Mauer aus. „Ich geh wieder rein. Aber rede mit Lilian. Sie wird sicher froh sein, dich zu sehen.“

Das Ende einer Lüge

Es war schon einige Wochen her, aber Cornelius erinnerte sich noch gut daran. Er studierte gerade seine Vorlesungsunterlagen, als sein Handy vibrierte. Dankbar über die Ablenkung, griff er danch und ließ das Handy beinahe vor Schreck fallen. Eine Nummer, die er nicht abgespeichert hatte, hatte ihm geschrieben.

Hey Corenelia,

wie geht’s dir? Ich habe gerade meine Spideman DVD wiedergefunden. Den könnte ich eigentlich noch einmal gucken.

Lg Micha

War das wirklich Micha? Corenlius erinnerte sich überhaupt nicht daran, ihm seine Nummer gegeben zu haben. Zumindest im ersten Moment. Doch dann erinnerte er sich dunkel. Sie hatten sich zufällig getroffen. Er hatte Micha seine Nummer gegeben.

Wieso war er nur so unvorsichtig gewesen? Fünf Jahre war er Micha erfolgreich aus dem Weg gegangen und jetzt schrieb er ihm einfach. Cornelius legte das Handy weg und versuchte sicher wieder auf den Text zu konzentrieren. Doch immer wieder linsten seine Augen hinüber.

Er war unruhig. Immer wieder drehte er den Stift in seinen Händen. Er konnte doch darauf nicht einfach nicht antworten, oder? Spiderman… den Film den sie damals im Kino gesehen hatten. Dass Micha sich daran noch erinnerte. Ein Lächeln zog über Corenlius' Gesicht. Was war so schlimm daran im zu schreiben? Es war so viel Zeit vergangen. Er würde ihm nur schreiben. Was war das schon dabei?

Corenlius griff nach dem Handy und tippte seine Antwort.

 

Beinahe zwei Wochen schrieben sie täglich, bis Micha eines Abends doch die Frage stellte:

Wollen wir nicht morgen zusammen ins Kino?

Corenlius' Herz setzte einen Schlag aus. Erst jetzt wurde ihm klar, was das bedeute. Er sah zum Fenster auf, in dem er sich vor dem dunklen Hintergrund schwach spiegelte. Was machte er sich vor? Micha dachte, dass er mit Corenlia schreiben würde. Das tat er gewissermaßen auch, nur dass Cornelia eine Erfindung war. Nachdem er Micha damals in der Kartei gefunden hatte, wollte er ihn kennen lernen. Doch um ihn näher kennen zu lernen, lieben zu lernen, hatte er ein Mädchen geschaffen, dass ihm ähnlich sah. Er hatte sie nicht besonders hübsch gemacht, nur so weit verändert, dass sie aussah wie ein Mädchen eben. Schmaler, etwas Brust, längere Haare. Er hatte stundenlang vorm Spiegel gestanden um es perfekt zu machen. Und es hatte funktioniert. Micha hatte sich in ihm verliebt.

Bis zu dem Tag, an dem sie vom Kino wiedergekommen waren. Daniel hatte sie abgefangen und bedroht Wäre Lilian damals nicht aufgetaucht, hätte es schlimmer enden können. Aber das war der letzte Tag an dem er Micha gesehen hatte. Kein klarer Abschied. Micha war einfach so aus seinem Leben verschwunden und Cornelius hatte damit abgeschlossen. Zumindest hatte er das gedacht.

Jetzt war plötzlich alles wieder da und fühlte sich genauso an wie früher. Fast wie früher. Er wollte nicht mehr so tun, als sei er jemand anderes, als sei er Cornelia. Er würde es Micha sagen. Er musste ihm die Wahrheit sagen. Aber er wollte es persönlich tun. Ein letztes Mal. Ein letztes Mal würde er noch Cornelia sein und auf dieses Date gehen. Als Freunde. Und danach würde er ihm alles sagen.

 

Nach dem Kino hatte Micha vorgeschlagen noch einen kurzen Spaziergang den kleinen Hügel hoch zu machen. Sie redeten den ganzen Weg bis sie oben waren. Das Date, nein das Treffen unter Freunden ging eigentlich schon viel zu lange. Corenlius'' hatte es bis jetzt nicht übers Herz gebracht etwas zu sagen. Die Stimmung war zu gut gewesen, als das er sie hätte ruinieren wollen. Doch langsam musste er etwas sagen. Er konnte es nicht ewig vor sich hinschieben.

Die Lichter unten im Tal schimmerten in der Dunkelheit. Micha stützte sich auf das Geländer und schwieg eine Zeit lang. Cornelius tat es ihm gleich und vermied es Micha anzusehen. Er wusste einfach nicht, was er sagen sollte. So oft war er die Sätze im Kopf durchgegangen. Doch er fand den richtigen Anfang nicht.

Dann durchbrach Micha die Stille:

„Sag mal, woran erinnerst du dich eigentlich?“

Cornelius stockte. Sein Herz setzte für einen Moment aus. Er spürte Michas Blick, der auf ihm lag. So lange hatte er mit sich gehadert, etwas zu sagen. Doch darauf konnte er nicht lügen.

„Ich erinnere mich an alles.“ Das ging ihm leichter über die Lippen, als er gedacht hatte.

„Alles?“

„Alles.“ Cornelius wandte die Kopf und zwang sich Micha anzusehen. Jetzt fiel es ihm noch schwerer, es zu sagen. Er wollte nicht wissen, wie Micha darauf reagieren würde. Doch er hatte es sich so fest vorgenommen. Micha verdiente die Wahrheit.

„Ich erinnere mich an den Abend im Kino, daran, dass Daniel aufgetaucht ist und mich zusammen geschlagen hat,. Ich erinnere mich an das Mädchen, das gekommen ist und wie du versucht hast, mich vor Daniel zu beschützen.“ Cornelius wandte den Kopf zur Seite.

Micha starrte ihn einfach nur an, dann öffnete sich sein Mund und die Worte kommen nur langsam heraus: „Es tut mir Leid. Ich dachte, sie hätten deine Erinnerungen gelöscht. Ich wollte nicht – Ich wünschte, ich hätte etwas tun kön-“

„Ich weiß.“

Micha hielt sofort in seinen Erklärungen inne, als Corenlius seine Hand auf seine legte, die immer noch auf dem Geländer ruhte.

„Du hast dir nichts vorzuwerfen“, fuhr Corenlius fort. „Das musste irgendwann passieren und das wusste ich auch. Ich wusste von Anfang an, dass du ein Vampir bist.“

„Du wusstest es? Aber woher?“

Cornelius bemerkte, dass seine Hand immer noch auf Michas lag und zog sie schnell weg. Es war nicht richtig ihm falsche Hoffnungen zu machen.

„Alle magischen Wesen sind registriert. Ich hab dich in der Kartei gefunden und-“ Cornelius atmete tief durch. Es fiel ihm schwer das zu sagen. „Ich wollte dich kennen lernen.“

Micha sagte nichts. Er hörte ihm aufmerksam zu. Vielleicht auch, weil er nicht mehr wusste, was er Fragen sollte. Die fehlende Reaktion verunsicherte Cornelius, doch jetzt gab es eh kein Zurück mehr.

„Du fragst dich sicher, wie ich an das Register kommen konnte oder warum sie meine Erinnerungen nicht gelöscht haben. Nun, ich bin -“ Cornelius holte erneut Luft und ließ dann den Zauber von sich abfallen, der das Trugbild des Mädchens aufrecht erhielt. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er wollte die Augen schließen, um Michas Reaktion nicht sehen zu müssen, doch sie blieben offen und er sah ihm in die Augen, als er die Wahrheit aussprach: „ein Gastaltwandler.“

Nichts geschah. Micha sagte nichts, er sah ihn einfach weiter an. Mit klopfendem Herzen sprach Cornelius weiter. „Cornelia gibt es nicht. Ich habe dich angelogen.“ Seine Stimme brach ab. Er hatte es wirklich gesagt. Doch was würde jetzt passieren? Er hielt die Luft an.

Michas Blick wanderte über sein Gesicht und am ihn hinunter, dann wieder hinauf. Worauf wartete er? Warum sagte er nichts?

Michas Stimme war ruhig, als er endlich antwortete. „Du wusstest alles? Du wolltest mich kennen lernen, obwohl ich ein Vampir bin? Ich -ich hätte einer von der üblen Sorte sein können!“

Cornelius wich seinem Blick aus. „Du warst noch jung, gerade mal so alt wie ich. Ich wusste, dass du noch nicht initiiert warst und als ich dich gesehen habe, war mir alles egal.“

Aber das war damals gewesen. Das hatte nichts mehr mit dem hier und jetzt zu tun. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Micha verstehen würde, dass das alles eine Lüge war. Dass er kein Mädchen war.

Doch Micha lachte nur trocken auf, fuhr sich nervös durch die Locken und ließ den Blick über das Tal schweifen. „Und ich habe dich einfach so im Stich gelassen. Nein, schlimmer ich komme nach all den Jahren einfach an, und tue so, als sei nichts gewesen. Es tut mir Leid.“

Cornelius schwieg. Wieso? Wieso entschuldigte sich Micha sich jetzt dafür? Warum machte er es ihm so schwer? Er würde Micha niemals vergessen. Aber er hatte damit abgeschlossen. Er hatte mit Micha abgeschlossen.

„Dich trifft keine Schuld. Du hast Daniel nicht bestellt, noch hättest du damals gegen Daniel eine Chance gehabt. Und du konntest ja nicht wissen, dass ich mich erinnere. Ich wollte auch, dass es dabei bleibt.“

Erst jetzt sah Micha wieder auf und die Unverständnis in seinem Blick, durchstieß Cornelius schmerzhaft. Natürlich war er enttäuscht. Wie sollte er es nicht sein? Wie sollte er ihn nicht dafür hassen? Ihre gesamte Beziehung war auf Lügen aufgebaut gewesen. Aber er war ihm zumindest eine Erklärung schuldig:

„Ich wollte nicht, dass das nochmal passiert. Es hätte einfach nie so eskalieren dürfen. Ich bin damals einfach zu weit gegangen. Ich hätte dich nicht treffen dürfen.“

„Aber warum? Ich versteh es nicht!“ Micha schlulg mit der flachen Hand auf das Geländer. „Ich gebe dir recht, das hätte nicht passieren dürfen. Aber wenn du dich erinnert hast, warum hast du nichts gesagt? Wir hätten darüber reden können.“ Micha rang mit den Händen nach Worten. „Wir-“

„Hast du mir nicht zugehört?!“, fuhr Cornelius ihn an. „Ich habe dich angelogen! Darüber wer ich bin, dass ich dich zufällig getroffen hab, dass ich alles vergessen hab!“

„Aber das war damals!“ Micha sah ihn so durchdringlich an, dass seine Beine weich wurden. Micha trat einen Schritt auf ihn zu. „Ich hatte es schon fast aufgegeben, dich wiederzusehen und dann stehst du plötzlich wieder vor mir.“

„Micha!“ Cornelius' Stimme wurde lauter. „Ich bin nicht Cornelia! Und ich werde es nie sein!“

„Es ist viel passiert“, seufzte Micha und seine Hände fuhren wieder durch sein Haar. „ Aber dennoch, hatte ich heute nicht das Gefühl, dass irgendetwas anders wäre. Es hat doch ziemlich Spaß gemacht, wie in alten Zeiten, oder?“

„Es ist aber nicht wie in alten Zeiten. Es ist so viel passiert.“, sagte Cornelius bestimmt. Was bezweckte Micha damit? Er hatte damit abgeschlossen, warum konnte Micha das nicht auch tun?

Micha suchte seinen Blick und fand ihn. „Wir könnten es nochmal probieren.“

Die Worte durchfuhren Cornelius. Verstand Micha es einfach nicht? Was war daran nicht zu verstehen. Es machte Cornelius wahnsinnig. Mit jedem dieser Wort keimte Hoffnung, in ihm auf, die er nicht ertrug.

„Hör auf damit!“ Cornelius presste die Lippen aufeinander. „Versteh doch. Cornelia war nur eine Erfindung. Ich bin ein Mann und ich kann nicht ewig so tun, als wäre ich sie!“

Doch Micha trat noch einen Schritt auf ihn zu, sodass sie sich nun direkt gegenüber standen. „Aber ich habe mich nicht in Cornelia verliebt, sondern in dich.“

Cornelius erstarrte. Das meinte Micha nicht ernst? Das konnte er nicht ernst meinen. Die ganze Zeit, hatte Cornelius geglaubt, dass sein Geständnis alles ändern würde; dass Micha ihn zurückweisen würde. Dass Micha ihn vielleicht sogar hassen würde. Doch jetzt stand er vor ihm und hörte nicht auf, ihm zu sagen, dass er ihn zurück wollte.

Cornelius lachte leicht. Doch es war mehr, um seine Nervosität zu überspielen. Er konnte es immer noch nicht glauben. „Meinst du das Ernst?

„Ja. Ich habe so lange nach dir gesucht. Ich wollte dich wiedersehen und jetzt stehst du vor mir und erzählst mir das alles.“

„Aber-“

Micha legte die Hand auf Cornelius' Wange. Seine kalten Fingerkuppen brannten auf Cornelius Haut:

„Du bist immer noch du, egal wie du aussiehst.“ Micha lehnte sich weiter vor. Cornelius spürte seine Körperwärme und seinen Atem auf seinem Gesicht Er hätte jede Zeit zum reagieren gehabt. Noch konnte er zurück. Er konnte hier und jetzt sagen, dass er nichts für Micha empfand, dass er es beenden wollte. Doch das wäre eine Lüge gewesen.

„Bist du dir sicher?“, flüsterte Cornelius und beugte sich soweit vor, dass nur noch Millimeter zwischen ihren Lippen waren.

„Ganz sicher.“ Micha Hand schob sich vorsichtig in Cornelius' Nacken. „Außerdem bin ich neugierig.“ Dann schloss Micha die Lücke zwischen ihren Lippen.

In Cornelius zog sich alles in ihm zusammen. Sein Herzschlag setzten einen Moment aus, bevor den Kuss erwiderte. Michas weiche Lippen, seine Zunge, all das fühlte sich in diesem Moment richtig an. Es war nicht anders, als früher. Es war immer noch Micha, der gleiche Micha wie vor fünf Jahren. Und er war er. Egal, ob er jetzt anders aussah. Was hatte je zwischen ihnen gestanden?

Cornelius legte den Arm um Michas Schulter. Er zog seinen Körper näher zu sich. Michas Herz raste, wie sein eigenes und sie hielten für einen Moment inne.

Michas Wangen waren gerötet. Vorsichtig strich er über Corenlius' Wange und lachte dann leise. „Du bist bärtiger als früher“, stellte er fest.

Cornelius musste ebenfalls lachen. „Du auch.“

Dann küssten sie sich wieder. Und für einen Moment war es so, als wären die fünf Jahre seit ihrem letzten Kuss nie dazwischen gewesen. Als wäre alles nicht passiert. Denn etwas war anders: Endlich stand keine Lüge mehr zwischen ihnen.

Lass mich für dich da sein

Der Raum war karg eingerichtet, in tristen grau und braun Tönen. Als Cornelius den Raum betrat, schloss sich Hinter ihm direkt wieder die Tür, als hätten sie Angst, dass Micha sofort fliehen würde, sobald sich ihm die Gelegenheit bot. Micha saß auf einem alten Sofa und war in ein Buch vertieft. Er sah auf, als Cornelius eintrat und seine Miene erhellte sich schlagartig.“Hey.“

Cornelius ging direkt auf ihn zu und umarmte ihn zur Begrüßung. Dann setzte er zu einem Kuss an, doch Micha hielt ihn an den Schultern fest.

„Du hast geraucht.“

„Ja, aber nur eine Zigarette.“ Cornelius wand sich aus dem Griff und ließ sich aufs Sofa fallen.

„Du hast letztens wieder angefangen, oder?“

„Ich höre auch wieder auf.“

„Seit wir angefangen haben diesen Plan zu machen.“

„Leider ja. Das ganze stresst mich mehr als ich dachte.“ Corenlius knete die Hände in seinem Schoß.

Micha legte die seine Hand auf Corenlius. „Tut mir Leid, dass ich dich da rein gezogen haben.“

„Das war meine Entscheidung. Aber was hätte ich sonst tun sollen? Als du mir erzählt hast, dass ihr Lilian töten sollt, konnte ich das nicht hinnehmen. Ich wusste nicht, was für eine Bedeutung das hatte, aber ich wusste, dass es nicht richtig sein konnte. Lilian hat damals mein Leben gerettet und das Geheimnis hätte sicher sein sollen. Rewalt hatte es mir versprochen.

Doch jetzt verstehe ich alles. Diese Seherin hatte meine Erinnerungen manipluliert. Ich hatte vergessen, was geschehen war. Dieser Noah wusste, dass Lilian Daniel angergiffen und getötet hatte. Er dachte wahrscheinlich, dass es damals eine List war. Dass die Situation mit Absicht herbei geführt wurde, um den Vertrag zwischen dem Rat und den Vampiren zu vereiteln. Und jetzt versucht er es schon wieder.“

„Die Vampire werden nicht seine Schoßhündchen werden. Nicht wenn ich die Verhandlungen führen kann.“

„Aber  wie soll das funktionieren? Du bist hier und das nur weil wir diesem blöden Plan zugestimmt haben.“

„Genau, ich bin hier. Aber von außen betrachtet bin ich eurer Gefangener. Sie werden keine Verdacht schöpfen.“

„Der Plan hätte dich fast umgebracht.“

„Ich lebe aber! Weil du mich gerettet hast. Schon wieder.“ Micha legte die Hand in Corenlius‘ Nacken. „Und du hast deine Erinnerungen wieder. Das ist doch ein Erfolg.“

„Wir sind ein viel zu hohes Risiko eingegangen.“

„Und es hat sich gelohnt.“ Micha beugte sich vor und legte die Stirn auf Corenlius‘. „Sei nicht so hart mit dir selbst. Du hast alles richtig gemacht.“

Für einen Moment schloss Corenlius die Augen. Vielleicht hatte Micha Recht? Vielleicht war er zu hart mit sich selbst. Dennoch hatte er das Gefühl, dass alles schief gegangen war. Dass er Micha fast umgebracht hatte. Ein schlechtes Gewissen, weil Micha jetzt der Gefangene war. Er gab sich selbst die Schuld dafür, dass er nicht bemerkt, hatte dass seine Erinnerungen manipuliert worden waren. Schon wieder. Wollte er nicht eigentlich damit aufhören?

Cornelius musste selbst schmunzeln. Es drehte sich alles um Micha. Seine gesamte Gefühlswelt spielte verrückt. Seit er wieder da war, war nichts mehr wie vorher.

„Verrückt, oder?“, flüsterte Micha. „Ich bin ein Vampir, und du auf der Seite der Rebellen. Wir sind wie Romeo und Julia.“

Corenlius öffnete die Augen und sah Micha verwirrt an. „Und wer ist dann Julia?“

„Ich kann Julia sein, wenn du willst.“

Corenlius musste laut lachen. Micha hatte es schon wieder geschafft. Sanft nahm er Michas Gesicht zwischen seine Hände und küsste ihn. „Stirb dann aber bitte nicht, Julia.“

Micha erwiederte seinen Kuss. Cornelius Hände wanderten seinen Hals hinter über seine Schultern und seine Arme hinab. Er spürte, wie Micha unter seinen Berührungen leicht zuckte. Doch dann zuckte er heftig zusammen und Corenlius hörte schlagartig auf. „Was ist?“

„Alles okay.“ Micha versuchte er mit einem Lächeln zu überspielen.

„Das scheint ganz und gar nicht okay zu sein.“ Cornelius Blick fiel auf den Verband an Michas Arm. „Heilen deine Wunden nicht richtig?“

Micha wich seinem Blick aus. „Du erinnerst dich daran, dass ich dir gesagt habe, dass ich noch nicht initiiert bin? Ich wollte es aufschieben, bis das alles vorbei ist. Noch bin ich kein vollständiger Vampir. Ich altere, ich brauche kein Blut. Bis vor kurzem dachte ich auch noch, dass meine Lebensenergie noch reicht.“

Cornelius traf das wie einen Schlag. Natürlich hatte er das gewusst. Er wusste, dass Vampire nur bis zum 21. Lebensjahr alterten. Dass ihre Lebensenergie nur für diese Zeit ausreichte, und sie danach eine neue Energiequelle benötigten. Er wusste, dass Micha sich eigentlich schon dem Ritual hätte unterziehen müssen: dass seine Energie langsam aufgebraucht war. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde.

„Ist es wegen Lilian? Hat sie dir Lebensenergie gestohlen?“

Micha nickte. „Ja, aber das hat es nur beschleunigt. Ob früher oder später: Es ist Fakt, dass meine Energie nicht unendlich ist. Aber“  Er nahm Cornelius‘ Hand. „Es fühlt sich so richtig an. Ich habe keine Herzschlag, meine Atmung ist nur künstlich erzeugt. Doch es tut irgendwie gut, Schmerzen zu spüren und nicht mehr so schnell wie früher zu heilen. Dafür dass ich praktisch tot geboren wurde, habe ich mich lange nicht mehr so lebendig gefühlt.“

„Sag so etwas nicht. Du bist nicht tot.“

„Ich hatte auch nicht vor zu sterben. Nicht solange du an meiner Seite bist.“

Cornelius‘ merkte, wie seine Wangen rot wurden. Er wusste, dass Micha dies ehrlich meinte und er ließ ein warmes Gefühl in seinem gesamten Körper aufsteigen. Doch es vertrieb die Zweifel nicht.

„Weißt du für wie lange die Energie noch reicht?“

„Ich dachte ich lass es einfach mal drauf ankommen.“ Micha grinste ihn an. Doch Corenlius fand das überhaupt nicht witzig.

„Nicht dein Ernst, oder? Solange du hier bist, wirst du das Ritual nicht durchführen können. Was ist wenn deine Energie nicht reicht?“

„Hey“ Micha drückte sanft Corenlius‘ Hand. „So schnell geht es schon nicht zu Ende mit mir.“

„Dennoch solltest du so schnell wie möglich zurück zu deinen Leuten.“

„Corni“, ermahnte ihn Micha erneut. „Ich bin, wo ich sein muss. Bei dir. Hör auf dir so einen Kopf zu machen. Wir finden schon eine Lösung.“

Michas Blick war so durchringend, dass Cornelius‘ Zweifel den Kampf langsam aufgaben. „Ich spreche später mit Martin.“

„Mach das.“ Micha lächelte ihm aufmunternd zu.

„Wir finden eine Lösung“, wiederholte Corenlius mehr für sich selbst und als Micha sich zu ihm vorbeugte, vergaß Corenlius für einen Moment seine Zweifel.
 

Emils Herz raste, als er die Tür zu Lilians Zimmer öffnete. Was sollte er sagen? Was sollte er tun? Wie würde sie reagieren?

Augen zu und durch. Emil schob die Tür auf und war erstaunt, als er feststellte, dass das Zimmer dahinter wirklich wie das von Lilian bei sich Zuhause aussah. Er hätte damit rechnen können, aber dennoch verwunderte ihn das mehr, als es sollte.

Lilian lag ihm Bett und hatte ihm den Rücken zugedreht. Sie schien zu schlafen. Ihr Oberkörper hob und senkte sich langsam. Emil schloss die Tür leise hinter sich und trat einige Schritte vor.

„Lilian? Bist du wach?“, fragte er vorsichtig.

Ein Murmeln war vom Bett zu hören und leichte Bewegungen. Emil glaubte ein „Was?“ in dem Gemurmel zu verstehen.

„Ich bin es, Emil.“

Lilians Bewegungen hielten schlagartig inne. „Komm nicht näher.“ Ihre Stimme war plötzlich kräftig und kalt. Emil hielt erschrocken inne.

„Schon gut. Mache ich nicht.“ Er schluckte. Mit so harschen Worten hatte er nicht gerechnet. Sie taten ihm mehr weh, als er gedacht hatte. Was war nur los mit ihr? „Ist es wegen deiner Kräfte? Ich erinnere mich jetzt wieder. Ich kenne deine Kräfte.“

„Was machst du hier?“, fragte Lilian ohne sich umzudrehen.

„Mich entschuldigen.“ Emil hielt für einen Moment den Atem an. Es war raus. Doch als Lilian darauf nicht reagierte sprach er weiter. „Es tut mir Leid, dass ich mich nicht erinnern konnte. Dass ich so gehandelt habe, wie ich es getan habe. Ich habe dich nicht erkannt. Mir hat keiner gesagt, was hier wirklich los ist.“

„Es ist besser so“, fuhr Lilian ihm ins Wort.

Es durchfuhr Emil wie ein heißer Speer und trieb ihm Tränen in die Augen. Das konnte sie doch nicht ernst meinen? Er konnte das nicht glauben. Warum gab sie so schnell auf? Er musste weiter reden. So einfach war das nicht vorbei.

„Ich kann mir ansatzweise vorstellen, was du durchgemacht hast. Du hast versucht das alles alleine durchzustehen. Es tut mir Leid, dass ich das alles vergessen hatte. Ich hätte etwas tun sollen. Ich hätte für dich da sein müssen.“

Lilian zuckte unmerklich zusammen. Als sie sprach war ihre Stimme brüchig. „Ist schon in Ordnung. Ich komme damit klar.“

„Warum sagst du so etwas? Waren wir nicht zusammen?“

„Waren…“

Emil stockte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er selbst in der Vergangenheitsform geredet hatte. Aber warum? Die letzten Wochen schienen so unwirklich. Als wäre er aus einem Traum erwacht. Dennoch war alles davor so weit weg. Beinahe als wäre es ebenfalls dieses Traums gewesen. Er konnte nicht zurück; nicht einfach auf Reset drücken und alles war wieder wie vorher.

„Ich wollte nicht. Das wollte ich so nicht sagen.“

„Es ist in Ordnung.“

Doch an ihrer Stimme konnte Emil hören, dass nichts in Ordnung war. Weinte sie? Er wollte auf sie zu gehen. Sie umarmen. Doch er wusste nicht, was dann passieren würde.

„Lilian. Du musst das nicht alleine durchstehen. Du musste nicht so tun, als wäre es dir egal.“ Emil spürte, wie die Tränen ihm in die Augen stiegen. „Ich will nicht, dass es so endet. Ich will nicht, dass es vorbei ist.“

Ein Schluchzen war von Lilian zu hören, das diese unterdrückte. Sie zog sich zusammen. Doch sie drehte sich nicht um.

„Es kann nicht alles umsonst gewesen sein.“ Emil schob seine Brille zur Seite und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg. „Du gibst ihnen doch was sie wollen. Hanna wollte, dass du unglücklich bist. Noah wollte dich zerstören. Gib ihnen diese Genugtuung nicht!“

„Ich habe Hanna umgebracht. Ich habe Michael fast getötet.“ Schlagartig richtete Lilian sich auf. „Ich werde dich töten, wenn du mir zu nahe kommst!“

Tränen rannten über ihr Gesicht. Sie zitterte am ganzen Körper. Es brach Emil fast das Herz, sie so zu sehen.

„Lass mich für dich da sein, Lilian. Du hast mich sooft gerettet. Mein Leben sooft beschützt. Lass mich diesmal dich retten.“

„Warum sagst du sowas?“, brachte Lilian hervor. Ihre Finger gruben sich in die Bettdecke. „Warum bist du immer noch hier?!“

„Weil…“ Emil öffnete den Mund, wusste aber nicht einmal was er sagen wollte. „Weil ich dich nicht traurig sehen will. Weil du mir wichtig geworden bist.“

Lilian lachte auf, doch ihr Lachen ging in einem Schluchzen unter. Sie presste die Hände auf die Lippen. Emil konnte das nicht mit ansehen. Die Warnungen waren ihm jetzt egal. Schnellen Schrittes ging er auf Lilian zu und schloss sie in seine Arme.

Lilian erstarrte. Sie hörte augenblicklich auf zu schluchzen. Doch da war es wieder: dieses Gefühl. Dieser Drang Lilian küssen zu wollen. Doch Emil wusste, dass das nicht er allein war, der sich das wünschte. Das waren Lilians Kräfte. Er musste dagegen ankämpfen. Er drückte Lilian fester an sich. Er durfte dem nicht nachgeben. Aber er wollte bei ihr sein. Sie sollte das nicht schon wieder alleine durchstehen müssen.

Emil spürte, wie Lilian die Hand auf seinen Kopf legte. „Danke“, flüsterte sie.

Die Berührung tat gut. Als hätte sie damit etwas ausgelöst, fiel der Drang von ihm ab. Das warme Gefühl beherrschte ihn nicht mehr vollständig. Das hier fühlte sich wirklich echt an, als wären es seine eigenen Gefühle. Er spürte Lilians Körper an seinem, wie sich ihr Oberkörper langsam hob und senkte, ihre Wärme und ihre leichte Berührung.

„Du bist immer noch anfällig für meine Kräfte.“

„Es geht schon.“ Er wollte sie nicht loslassen.

„Du musst mich loslassen.“ Sanft drückte Lilian ihn mit der anderen Hand von sich weg. Emil löste den Griff. Er  spürte dieses allumfassende, taube Gefühl in sich aufsteigen und wusste, dass sie Recht hatte. Er folgte ihrer Bitte. Nur widerwillig ging er einen Schritt zurück. Das Gefühl verschwand, doch seine Hand glitt ihren Arm hinab. Bevor er sie ganz loslassen kannte, umfasste sie seine Hand und hielt sie fest.

Lilian sah auf und als sich ihre Blicke trafen, lächelte sie. „Du bist mir auch wichtig geworden.“

Emils Herz schlug schneller. Es tat so gut sie glücklich zu sehen. Es machte ihn selbst glücklich.

Einige Zeit sah sie Emil an, doch dann trübte sich ihre Miene langsam. „Dennoch kann ich nicht ungeschehen machen, was ich getan habe.“

Emil drückte ihre Hand fester. „Wenn du dir Vorwürfe machst, dann rede darüber. Du kannst mir alles erzählen.“

Auch wenn immer noch Tränen in ihren Augen glänzten, sah sie glücklich aus. „Bleibst du noch etwas?“

Emil nickte. Ein warmes Brennen erfüllte seine Brust, doch er war sich sicher, dass es nicht ihre Kräfte waren. Das war, was er fühlte. Er wollte sie glücklich sehen. Er wollte für sie da sein. Und wenn das bedeutete, dass er gegen ihre Kräfte ankämpfen musste. Irgendeinen Weg würde es dafür schon geben. Er würde einen Weg finden, gegen ihre Kräfte anzukommen.

Misstrauen

Es war spät geworden. Emil hatte gar nicht gemerkt, wie schnell die Stunden vergangen waren. Doch irgendwann war Lilian erschöpft eingeschlafen und auch Emil war jetzt extrem müde. Leise schlich er aus dem Raum und unterdrückte ein Gähnen. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, hörte er laute Stimmen, die über den Gang schallten.

„Aber was bringt es uns ihn hier zu behalten?!“ War das Cornelius‘ Stimme? Emil spitzte die Ohren und ging in die Richtung aus der die Stimmen kamen. Mit wem redete er?

„Wir können ihm nicht trauen!“ Das war Martin und seine Stimme war bis zum Zerreißen gespannt.

„Doch das können wir. Er hat uns geholfen! Vergiss das nicht.“

„Findest du es nicht merkwürdig, dass er genau dann auftaucht, als Noah Hanna dazu gebracht hat Lilian zu entführen? Dass Micha sich genau dann bei dir meldet, als Noah bereits wusste, dass ihr euch kennt?“

Emil bog um die Ecke und sah die beiden auf dem Gang stehen. Sie diskutierten hitzig und schienen Emil überhaupt nicht zu bemerken.

„Du glaubst das war alles geplant?“

„Natürlich! Noah hat deine Erinnerungen gesehen. Er wusste genau, was passiert ist und er wusste sicher auch genau, was passieren wird. Hätte ich das vorher gewusst, dann hätte ich niemals darauf vertraut, dass Micha uns wirklich geheime Informationen liefert.“

„Meinst du wirklich, Micha hätte mich belogen? Dass er das alles mit Absicht getan hat?“, fuhr Cornelius Martin an.

„Wir können das nicht ausschließen.“

„Niemals! Glaubst du etwa auch, dass ich da mit drin stecke?“

„Ich will es nicht glauben. Aber mach die Augen auf. So viele Zufälle kann es doch gar nicht geben!“

„Micha würde so etwas nie tun.“

„Du bist blind vor Liebe! Hast du nie darüber nachgedacht, dass er dich benutzt? Dass er uns alle benutzt hat?“

Erst jetzt bemerkte Martin Emil und hielt inne. Er sah auf und verschränkte die Arme. „Was meinst du Emil? Es ist doch merkwürdig. Dass gerade jetzt der Vampir, der eigentlich die Verhandlungen führen soll auf uns zukommt und uns die entschiedenen Hinweise liefert.“

„Ehrlich gesagt, habe ich darüber noch nicht nachgedacht“, gab Emil zu.

„Gerade jetzt. Das wäre doch der perfekte Plan gewesen, um uns von innen heraus zu schwächen. Dich, Cornelius, zu benutzen, um an uns heran zu kommen. Uns den Köder Elias vorwerfen, um unser Vertrauen zu gewinnen und uns dann mit dem gewonnen Wissen zu zerstören.“

„Dann durchsuch‘ seine Erinnerungen“, forderte Cornelius Martin auf. „Sieh nach, ob er das geplant hat.“

„Das werde ich! Aber selbst dann, kann ich nicht ausschließen, dass sie die nicht manipuliert haben, und Micha selbst unwissentlich gerade genau nach dem Plan spielt.“

„Du wirst nichts finden.“

„Wie kannst du dir da so sicher sein? Du vertraust blind jemandem, den du kaum kennst.“

„Du vertraust ja nicht einmal den Leuten, die dir Nahe stehen.“

Martin hielt augenblicklich inne und sah zu Emil hinüber. Emil fing seinen Blick auf. Auf was zielte Cornelius ab? Emil hatte nie das Gefühl gehabt, dass Martin ihm nicht vertraute. Ganz im Gegenteil.

„Wie geht es Lilian?“, fragte Martin und Emil war sich ziemlich sicher, dass er vom Thema ablenkte. Er würde niemals nach Lilian fragen. Doch gerade weil er wusste, dass Martin über etwas anderes reden wollte, antwortete Emil ohne auf das davor gesagte einzugehen: „Besser. Aber sie ist noch sehr geschwächt.“

„Ist zwischen Euch wieder alles ok?“

„Ja. Ich glaube schon. Bis auf, dass ich ihr jetzt nicht mehr nahe kommen kann.“

Martin machte ein Geräusch, als wollte er etwas sagen. Doch Emil ignorierte es, so tief war er in Gedanken. „Ihre Kräfte werden durch meine Quelle verstärkt. Sobald ich mich ihr nähere, spielt mein Körper verrückt.“

„Ja, du bist viel anfälliger darauf, als andere. Aber du hast dich scheinbar gut geschlagen. Ich habe schon damit gerechnet, dich aus dem Zimmer ziehen zu müssen“, scherzte Martin.

„Du hast damit gerechnet?“

„Natürlich. Ich weiß doch genau, was du vor hast. Aber es war ja nicht nötig.“

„Du hast eine magische Quelle?“, fragte Cornelius irritiert.

Emil fühlte sich mit einem Mal ertappt. Er hatte vergessen, dass Cornelius davon nichts wusste. War es ok, das er das gesagt hatte? Martin hatte keine Anstalten gemacht ihn aufzuhalten.

„Ja...“, gab Emil zu.

„Deshalb warst du gegen Lilian immun! Der Bund hat deine Quelle versiegelt.“

„Ja...“

„Und jetzt bist du nicht mehr gegen Sie immun, weil der Bund nicht existiert und deine Quelle frei verfügbar ist.“ Cornelius tippte in Gedanken mit den Fingern auf seiner Handfläche herum. „Das macht die Sache ja noch viel komplizierter.“

„Ja...“ Emil merkte, dass er sich wiederholte und setzte schnell eine Erklärung an: „Aber vielleicht gibt es irgendetwas, das mich wieder gegen ihre Kräfte immun machen kann? Kann ich diese Quelle nicht einfach abgeben?“

„Die Quelle wirst du nicht los werden...“, murmelte Martin. „Entweder du hast eine Quelle oder nicht und deine ist wirklich unerschöpflich stark.“

„Aber es gibt Möglichkeiten, Magie abzuschirmen“, warf Cornelius ein. „Es gibt uralte Rituale, die Magie bannen. Diese Rituale wurden sogar häufiger von Nicht-Magiern durchgeführt. Ich habe da einige Bücher zu gelesen.“

„Das könnte sogar eine Lösung sein. Kommt darauf an, über was für Rituale wir reden.“ Martin verschränkte die Arme und sah Cornelius auffordernd an.

„Ich müsste das recherchieren. Aber wenn es hilft… Es ist sicher ohnehin keine gute Idee, eine so starke Quelle unversiegelt zu lassen.“

„Sieh mich nicht so an! Ich hatte auch vergessen, dass Emil eine so starke Quelle hat.“

„Für die Recherche benötige ich allerdings Bücher aus der Bibliothek. Und ich vermute, ich darf da nicht mehr so einfach hingehen.“

Martin ließ kurz den Blick schweifen, bevor er antwortete: „Ich werde Sonia fragen. Wir alle können jetzt eigentlich nicht mehr hier weg.“

„Wir alle? Ich auch nicht?“ Emil deutete auf sich.

„Nachdem wie die Ereignisse gelaufen sind, können wir überhaupt nicht einschätzen, wie viel die Seher über uns wissen. Wenn das alles so geplant war, dann werden sie wissen, dass du, Cornelius hier bist, und da ich vermute, dass es sicher kein Geheimnis mehr ist, dass ich meinem Vater helfe.

Vorher habe ich die Blicke der Seher abschirmen können. Sie haben unsere Erinnerungen manipuliert und das hat sie lange genug im Glauben gelassen, wir würden uns nicht daran beteiligen. Doch jetzt wissen sie, dass wir Elisa haben. Sie wissen, dass wir unsere Erinnerungen zurück haben.“

„Aber was bedeutet das?“, fragte Emil verwirrt.

„Ich habe nicht vor, dich noch einmal einfach wegzuschicken, Emil. Das in den letzten Wochen war nicht fair von mir. Du wirst hier bleiben.“

„Aber was ist mit meinen Eltern? Was ist mit der Schule?“

„Du fragst ernsthaft nach Schule? Es sind ohnehin bald Sommerferien. Und für deine Eltern finden wir eine Ausrede. Ich habe letzte Nacht auch noch Ina und deinen Eltern geschrieben, dass du bei mir übernachtest. Falls du dich gefragt hast.“

Erschrocken stellte Emil fest, dass er sich darüber wirklich noch gar keine Gedanken gemacht hatte. „Danke… da habe ich gar nicht...“

„Wir werden uns nicht ewig hier verstecken können“, warf Cornelius ein. „Die Seher werden uns irgendwann finden.“

„Das weiß ich. Wir müssen uns langsam einen Plan zurechtlegen, mit dem wir Noahs Vorhaben im Rat verhindern können. Sonst kommt er uns sicher zuvor.“

„Wenn ich irgendwie dabei helfen kann...“

„Dann komme ich auf dich zu“, vollendete Martin Cornelius‘ Satz. „Bis dahin hilf erst einmal, Emil. Ich lasse die Bücher besorgen, wenn du mir die Titel gibst.“ Martin hielt Cornelius sein Handy hin. „Könntest du sie hier eintippen?“

„Warum in das Handy?“

„Ich würde gerne Handschrift vermeiden und es Sonia direkt schicken.“

„Wird Sonia hierher kommen?“, fragte Emil und dachte an Lilian, Sonia war ihre beste Freundin. Es würde ihr sicher gut tun, wenn sie hier wäre.

„Alles zu seiner Zeit. Sonia müssen wir erst einmal nicht einweihen.“

„Warum? Du willst sie nicht hier mit reinziehen, oder?“

„Ja. Und wir sollten vorsichtig sein, wem wir hiervon erzählen. Je weniger es wissen, desto besser.“

Cornelius tippte immer noch auf dem Handy und war gerade dabei T9 zu verfluchen.

„Aber Sonia ist Lilians beste Freundin.“ Emil konnte Martins Argumentation verstehen, doch er wusste auch, dass Sonia sich sicher genauso um Lilian sorgte, wie er es tat. „Meinst du nicht, dass sie wissen wollten würde, wie es Lilian geht?“

„Das ist keine Frage. Natürlich würde sie es wissen wollen. Aber sie weiß es nicht.“

„Hast du ihre Erinnerungen manipuliert?“

„Die Seher haben ihre Erinnerungen manipuliert. Sie hätte nach Lilian gesucht.“

„Was haben sie ihr für Erinnerungen gegeben? Hat sie Lilian komplett vergessen, wie ich?“

„Nein, aber sie haben einen Streit inszeniert… seitdem antwortet ihr Lilian angeblich nicht mehr...“

„Das ist noch viel schrecklicher!“ Emils Stimme wurde lauter.

„Das ist besser für alle. So ist sie sicher.“

„Weißt du, dass sie bei Ina das gleiche gemacht haben? Ihre Erinnerungen wurden so manipuliert, dass sie glaubt, Richard hätte mit ihr Schluss gemacht.“

Cornelius streckte die Hand aus und hielt Martin das Handy hin. „Das sind die Methoden der Seher. Das haben die schon immer so gemacht. Soetwas wie Freundschaft oder Liebe interessiert die nicht.“

Martin ignorierte Cornelius‘ Aussage, nahm das Handy und steckte es ein. „Danke, Cornelius. Ich besorg‘ dir die Bücher.“

„Was meinst du damit?“, fragte Emil an Cornelius gewandt.

„Den meisten Sehern ist es egal, ob jemand durch ihre Korrekturen leidet und ob derjenige dadurch einen geliebten Menschen verliert. Weil sie das Konzept dahinter nicht verstehen.“ Mit diesen Worten sah er zu Martin hinüber. „Aber nicht alle Seher sind so.“

„Ja, nicht alle Seher sind so“, wiederholte Martin trocken.

Einige Sekunden schwiegen sie, bevor Cornelius die Stille unterbrach:

„Also, überleg‘s dir Martin. Ich bin sicher, Micha wird uns helfen können.“

„Ich überleg's mir.“

„Meld' dich einfach, sobald etwas ist. Ich bin ja hier irgendwo.“ Cornelius wandte sich bereits zum gehen, als er hinzufügte: „Und du auch, Emil.“

Dann ging Cornelius und Emil bliebt bei Martin zurück.

„Bleiben wir wirklich einfach hier?“ Emil konnte das immer noch nicht ganz glauben. Er sollte jetzt einfach hier bleiben? Das war zu verrückt, um wahr zu sein. Er hatte damit gerechnet, wie immer am Ende nach Hause zurück zu kommen und daran erinnert zu werden, dass er ein ganz normales Leben lebte. Dass es zwar verrückte magische Wesen gab, aber das sich eigentlich nichts geändert hatte. Und jetzt? Jetzt eröffnete Martin ihm, dass er nicht nach Hause zurück konnte.

„Bis aufs Erste. Aber was machst du denn für ein Gesicht?“ Martin knuffte Emil in die Seite. „Vermisst du deinen Computer?“

„Das ist es nicht. Mein Computer ist mir egal. Aber. Das hier fühlt sich so unwirklich an. Nicht so wie vorher, als meine Erinnerungen verändert wurden. Aber trotzdem ist das irgendwie merkwürdig. Fast als wäre das hier eine Fantasygeschichte und ich käme nicht wieder zurück nach Hause.“

„Du kommst aber wieder nach Hause. Es wird nur etwas dauern.“

„Sowas ähnliches hast du schon zu meinen Erinnerungen gesagt.“

„Und hatte ich Recht behalten? Du hast deine Erinnerungen wieder. Also mach dir keine Sorgen, Emil. Solange du hier bist, bist du sicher.“

„Vermisst du dein Zuhause nicht?“

„Mein Vater ist hier.“

„Aber was ist mit Nici?“

„Ich werde ihr später schreiben“, tat Martin die Sache ab, als wäre es nichts weltbewegendes.

„Sie ist doch deine Freundin. Meinst du nicht, sie wird dich vermissen? Sie ist gerade erst wieder hier.“

Martin sah Emil an, als würde es ihn überraschen, dass Emil das sagte. „Ja, das schon. Aber ich kann auch nicht immer für sie da sein.“

Emil konnte das nicht einordnen. Nici war doch Martins Freundin. Sie war zwar jetzt fast ein Jahr weg gewesen, aber gerade dann hätte er gedacht, dass Martin bei ihr sein wollen würde. Und jetzt wusste sie nicht einmal, wo Martin war, noch was er tat.

„Aber sie weiß nichts hiervon, oder? Du hast ihr nicht erzählt, wo du bist?“

„Nein und das ist besser so.“ Martin lehnte sich leicht an die Wand.

„Also wüsste sie nicht einmal worüber sie sich Sorgen machen müsste.“

„Sie ist eine Sterbliche, sie weiß nichts von der magischen Welt.“

„Aber ich weiß doch auch davon. Mir hast du‘s doch auch erzählt.“

„Weil ich nicht mehr anders konnte.“

„Aber wenn ich es weiß, kannst du es doch auch ihr sagen.“

„Das ist nicht so einfach, Emil!“ Martins Stimme war laut geworden. So hatte Emil Martin selten erlebt.

„Wieso?“, fragte Emil ruhig. „Was soll schon passieren?“

Martin stieß die Luft aus. Sein Blick wanderte zur Seite. Er seufzte erneut und Emil sah, dass er nachdachte. Dann wandte Martin den Blick wieder ihm zu. „Ich weiß, dass sie Schluss machen würde, sobald ich es ihr erzähle.“

„Das würde sie nicht“, setzte Emil an, um die Sache abzutun, doch während er sprach merkte er schon, dass was Martin sagte, stimmen musste. Er konnte in die Zukunft sehen. Wenn er von wissen sprach, dann würde es auch zutreffen.

„Doch das würde sie. Egal in welchem Szenario ich das in meinem Kopf durchspiele: Sie macht Schluss. Ich habe viel zu lange damit gewartet. Jetzt kann ich es nicht mehr sagen.“

„Das verstehe ich… aber...“ Emil suchte noch nach den richtigen Worten. „Lügst du sie dann nicht permanent an?“

Martins Miene versteifte sich. „Wieso? Dann hab ich dich auch jahrelang belogen.“

Emil musste darüber kurz nachdenken. Im Prinzip schon. Doch er war deshalb nicht wütend auf Martin. Er verstand vollkommen, da Martin ihm das nicht gesagt hatte. Umso erleichterter war er, dass er es jetzt wusste. Aber er war nicht Martins Freundin und er wusste nicht, wie Nici dazu stand.

„Schon, aber ich finde das eigentlich in Ordnung. Du hattest ja deine Gründe.“, setzte Emil an. „Aber bist du dir so sicher, dass sie wirklich Schluss machen würde?“

„Hundert Prozent.“ Martin seufzte erneut und sah zu Boden. „Ich habe es ihr mehrmals sagen wollen, aber habe immer wieder einen Rückzieher gemacht.“ Dann richtete er sich auf und ein erzwungenes Lächeln ging über sein Gesicht. „Vielleicht ist es besser so.“

Gerne hätte Emil darauf etwas erwidert, doch er wusste nicht was. Betreten stand er einfach nur da. Ihn schien das ganze mehr zu treffen als Martin selbst. Er konnte sich nur vorstellen, wie es sein musste, in seiner Haut zu stecken. Und er hatte gedacht, das mit Lilian wäre kompliziert. Er wusste wenigstens, dass sie eine Succubus war. Er wusste, welche Kräfte sie hatte und warum sie gefährlich für ihn war.

„Lass uns ins Zimmer gehen. Es hilft ja nichts, auf dem Gang 'rumzustehen.“ Martin wandte sich zum gehen. Emil folgte ihm schweigend.

Wieso musste alles so kompliziert sein? Warum machte die ganze Sache mit der Magie alles schwieriger, anstatt es zu vereinfachen?



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