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Schatten über Kemet

von

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53. Kapitel

Atem konnte nur hilflos zusehen, wie Otogi mit einem fremden Mann vor ihnen verschwand. Unmöglich! So etwas durfte, konnte gar nicht passieren… Doch ein Schmerzensschrei riß ihn zurück in die Realität. Zurück zu Yugi, der sich in seinen Armen wand, Gesicht und Kleidung blutverschmiert.

 

Yugis Familie kniete neben ihnen, Tante Tuja preßte eine Hand auf Yugis Stirn.

„Er ist so heiß!“ Sie schluchzte, Tränen rannen über ihre Wangen.

 

„Aus dem Weg!“ Harsch schob Mahaad sich durch die entsetzt starrenden Menschenmassen, dann ließ er sich neben Tante Tuja nieder. Mit den Händen faßte er Yugis Schläfen, murmelte etwas. Yugis Körper erglomm.

„Mana, untersuch den Wein. Schnell!“

 

Diese nickte, lief los und stolperte. Sie landete in der Weinpfütze. Ihr weißes Kleid färbte sich rot. Eilig murmelte sie den Zauber, um das Gift zu identifizieren.

 

„Wie lange kannst du die Wirkung des Giftes aufhalten?“ erkundigte Atem sich inzwischen bei seinem alten Freund.

 

„Es ist ein starkes Gift, also nicht lange. Mana!“ Mahaad ließ nicht eine Sekunde Yugi aus seinem Blick.

 

„Es ist Blutkrampf!“ rief Mana zurück. Set half ihr aus der Weinpfütze. „Ungefährlich, wenn man es nur berührt, aber wenn man es einnimmt…“

 

Atem nickte. Er hatte eben eine praktische Demonstration erhalten, die er wohl nie vergessen würde. Sein Herz krampfte sich zusammen. Yugis Augen so voller Schmerz. Wenn er diesen nur etwas lindern könnte!

 

„In meinem Arbeitszimmer habe ich das Gegenmittel.“ Mahaad keuchte. „Ich brauche die Flasche. Jemand… muß sie holen!“

 

Atem war schon aufgesprungen. Wenn, dann kannte er sich neben Mana am besten dort aus. Er rannte los, dabei warf er Schmuck und Kleidung ab. Er mußte schnell sein, so schnell wie ein Falke! Inbrünstig bat er um die Unterstützung seines Schutzgottes. Yugi sollte nicht leiden, sollte nicht sterben. Yugi verdiente Glück und ein langes Leben voll damit.

 

Diener sprangen beiseite, als Atem an ihnen vorbeirannte, ihre Entsetzensschreie nahm er nur am Rande wahr. Ach ja, das Blut… Nicht wichtig! Das Mittel, das Mittel! Atem nahm automatisch den schnellsten Weg, schoß um Ecken, sprang Treppen hinunter, bis er sein Ziel erreichte. Außer Atem stieß er Mahaads Tür auf, stand in dem vollen Zimmer. Gegenmittel, wo waren… Ach ja! Gepriesen sei Mahaads akribische Ordnung trotz der Menge an Fläschchen, Phiolen und Proben.

 

Atem nahm das Gegengift für Blutkrampf, dann sah er sich um. Hathors Krone ruhte auf einem Regal. Nur Atem konnte sehen, daß sie von einem silbernen Schimmer umgeben war. Er nannte das Wort, um den Schutzzauber zu lösen, nahm dann auch die Krone und eilte so schnell es ging zurück.

 

Seine Beinmuskeln zogen und schmerzten, seine Lungen brannten, doch Atem gab nicht auf. Zurück, zurück! Am Eingang des Festsaals erwartete ihn bereits Set. Der riß ihm praktisch das Fläschchen aus den Händen und brachte es zu Mahaad. Atem kam zu einem taumelnden Halt. Er mußte sich an einer Säule abstützen, während seine Beine zitterten als würden sie nur noch aus Brei bestehen.

 

Mahaad gab Set Anweisungen und der schob das entkorkte Fläschchen in Yugis Mund. Yugi würgte, doch nach einem Moment ließ das Zittern seiner Glieder nach, das Blut versiegte.

 

Atem schloß die Augen. Yugi lebte. Yugi würde wieder gesund werden. Diese beiden Sätze wiederholte Atem unendlich oft, bis Yugi in Atems Schlafzimmer auf dem Bett lag, blaß, aber atmend. Seine Mutter hatte um Lappen und Wasser gebeten, nun wischte sie Yugi sauber.

 

Atem hatte sich ebenfalls gewaschen und sein Gewand gegen einen einfachen Schurz getauscht. Er konnte kaum noch stehen, aber Yugi lebte.

 

„Wie siehts aus? Ich meine, er wird doch keine bleibenden Schäden davontragen, oder?“ stellte Mai, die sie begleitet hatte, die entscheidende Frage an Mahaad.

 

„Er ist stabil“, versicherte Mahaad. „Und ich denke auch nicht, daß etwas zurückbleiben wird.“

 

„Aber?“ erkundigte Atem sich vorsichtig.

 

„Aber zuerst muß sein Magen heilen können. Wir werden ihn vorerst magisch ernähren müssen.“

 

„Also kann er wieder gesund werden? Richtig gesund?“ hakte Tante Tuja nach, die bisher geschwiegen hatte. Die Hoffnung in ihrem Gesicht erinnerte Atem an ihren Sohn.

 

„Er ist jung, er ist kräftig und wir konnten ihn entgiften. Er hat die besten Chancen“, versicherte Mahaad erneut und legte Tante Tuja eine Hand auf die Schulter.

 

Tuja aber wollte nicht sitzenbleiben. Sie sprang auf und warf den Lappen in das nun rosa Wasser. „Wenn ich diesen Verbrecher in die Finger bekomme, der Yugi das angetan hat, werde ich ihn zerfleischen!“

 

„Sehr gut. Ich halte ihn für dich fest“ erwiderte Mai und schlug mit der Faust in ihre offene Hand. „Warum hat Otogi das überhaupt getan? Das ergibt keinen Sinn.“

 

„Du kennst ihn?“ erkundigte sich Tante Tuja.

 

„Ja, das tut sie“, mischte Atem sich ein, während er durch Yugis wirres Haar strich. „Er gehört zu meinen Lustknaben. Oder eher gehörte. Ich habe sie alle vier entlassen. Sie sollten den Palast bis Ende des Monats verlassen. Natürlich haben alle entsprechende Abfindungen an Silber und Land bekommen.“

 

„Offenbar hat jemand Otogi gesteckt, wem nun das Herz des Pharaos gehört.“ Mahaads trockene Antwort ließ Atem bitter auflachen.

 

„Und deshalb will er einen Mord begehen. Ich kann es nicht begreifen.“

 

„Zorn und Eifersucht sind mächtige Triebfedern.“ Mai tippte sich mit einem Zeigefinger gegen die Lippen. „Und ich weiß, wer Otogi auf Yugi angesetzt hat. Marik.“

 

„War das der fremde Zauberer?“ erkundigte sich Tante Tuja mit zusammengezogenen Brauen.

 

„Ja. Offenbar hegt Marik einen Groll gegen Yugi. Wahrscheinlich gegen alle Bestienzähmer, wenn ich mich an unser Zusammentreffen erinnere. Aber Yugi hat sich ihm aktiv in den Weg gestellt.“

 

„Dann muß sein Zorn furchtbar sein, wenn er zu solchen Mitteln greift“, murmelte Atem. „Aber wie konnte er die Schutzzauber des Palastes umgehen?“

 

„Das werde ich untersuchen“, versprach Mahaad und nahm die Krone des Hathor aus Atems Händen. Niemand hatte sie einsetzen können. Leider... „Inzwischen aber habe ich unsere magischen Patrouillen wieder verstärkt.“ Nach einem letzten Blick auf Yugi wandte er sich zur Tür. „Ich werde sofort beginnen.“

 

„Ja, gut…“, murmelte Atem.

 

„Ich werde inzwischen nach Mana sehen“, verabschiedete sich auch Mai.

 

So war Atem allein mit Yugi und dessen Mutter.

 

Diese konnte wie Atem kaum die Augen von Yugi lösen. „Warum hast du deine Lustknaben entlassen, Atem?“

 

Der lächelte schief. „Muß ich dir das wirklich noch erklären? Du kennst die Antwort doch.“

 

„Ja. Ja, das stimmt. Du hast sie entlassen, um mehr Zeit für Yugi zu haben und einen Teil deiner selbst nur noch mit ihm zu teilen.“

 

„Und dennoch war es ein Fehler. Das willst du mir doch sagen, oder, Tante Tuja?“

 

„Nein.“ Nun sah sie ihn direkt an, das Kinn vorgereckt. „Du hast ehrenhaft und in Yugis Interesse gehandelt. Es war dieser Otogi, der Yugi das hier angetan hat, aus eigenem Willen!“

 

Atem gelang ein müdes Lächeln. „Otogi war schon immer hitzköpfig, aber nie ein Intrigant. Es paßt nicht zu ihm.“

 

„Selbst wenn ihm dieser Marik diesen Floh ins Ohr gesetzt hat, gehandelt hat er dennoch aus eigenen Stücken. Oder kannst du mir einen Gegenbeweis nennen, lieber Neffe?“

 

„Nein, aber ich werde herausfinden, was wirklich geschehen ist. Verlaß dich drauf! Ich lasse nicht zu, daß Yugi verletzt wird, nur weil er mir nahe steht.“

Nein, Atem würde die Wahrheit herausfinden. Dazu mußte er aber zuerst mit den Menschen sprechen, mit denen Otogi am meisten zu tun gehabt hatte.

Da Yugi sicher noch einige Stunden schlafen würde, beschloß Atem, seinen Entschluß gleich in die Tat umzusetzen. Er mußte einfach etwas tun und er wußte, Yugi würde es verstehen.

 

So ließ Atem ihn und Tante Tuja in seinem Schlafgemach zurück, mit je zwei kräftigen Soldaten auf beiden Seiten der Tür. Er fand seinen Weg in den Harem, wo er in besorgte Gesichter blickte. Zum Glück hatten Atems Kinder hier gegessen, weit fort von Marik, Giften und entsetzlichen Anblicken.

 

Siamun war bereits vor Ort und beendete gerade sein Gespräch mit einer der Haremsdienerinnen, bevor er sich dann Atem zuwandte. „Die Diener scheinen nichts mitbekommen zu haben“, erklärte Siamun grimmig.

 

Atem blickte kurz dem verängstigten Mädchen nach, dann zurück zu seinem Wesir. „Marik wird kaum vor Zeugen erschienen sein, um sich mit Otogi zu treffen“, murmelte er. „Ich will dennoch mit den anderen Knaben sprechen. Allein.“

 

„Dann werde ich mich unter deinen Gemahlinnen umhören, mein Pharao.“

 

Atem nickte, dann ging er durch den großen Hauptraum, in dem sich normalerweise ein Großteil des Lebens der Haremsbewohner abspielte. Ruheliegen und bunte Kissen luden zum Verweilen ein, zu Gesprächen und Spielen. Weiche Teppiche dämpften die Schritte. Die Wände waren mit den Familienbildern vorangegangener Pharaonen, ihrer Gemahlinnen und Kinder geschmückt. In der Luft lag der Duft von Ölen und Blumen, dieser Duft hatte hier schon in Atems Kindheit vorgeherrscht. Atem biß sich auf die Lippen, während er an den Erinnerungen an die Vergangenheit vorbeiging.

 

Vom Hauptraum gingen die Schlafkammern der Gemahlinnen und Knaben ab, so wie das große Spielzimmer, das die Königskinder nutzten, wenn es draußen zu heiß war.

 

Wenn Atem abends Gesellschaft wünschte, gab es eine Schlafkammer allein dafür. Wenn man so wollte neutrales Gebiet, das es einfacher machte, konnte man es doch vor dem Schlaf zurücklassen. Von allen von Atems Gemahlinnen nahm natürlich Tausret als Große Königsgemahlin eine Sonderstellung ein. Atem suchte sie in ihren eigenen Gemächern auf, die nicht zum Harem gehörten, oder sie ihn in den seinen. Natürlich hätte Atem diese Regeln lockern können, aber er hatte nie den Wunsch verspürt, seinen persönlichsten Ort mit allen seinen Gemahlinnen und Knaben zu teilen. Bei vier Knaben und, mit Tausret, siebzehn Gemahlinnen wäre sein persönlichster Ort sonst bald nicht mehr sonderlich persönlich.

Yugi bildete eine Ausnahme. Ihn wollte Atem nicht in einem viel zu sauberen und aufgeräumten Zimmer alle paar Nächte für wenige Stunden treffen.

Vor Yugi würde er nicht Erholung und Ablenkung in der Jagd suchen müssen.

 

Hinter einem aufgespannten Stück Stoff, das für ein wenig Privatsphäre sorgte, fand Atem seine drei Knaben. Obwohl Knaben inzwischen ein irreführender Begriff war. Der Jüngste von ihnen zählte inzwischen schon siebzehn Sommer.

Eben dieser lag in den Armen eines seiner Kollegen, während der dritte nervös auf und ab lief. Sie hielten alle inne, als sie Atems Anwesenheit bemerkten.

Nefer löste sich hastig von Sahere und wischte sich die Tränen von den Wangen.

 

Atem hob schnell die Hand. „Bitte, kein Aufhebens wegen mir. Ich will euch nur ein paar Fragen wegen Otogi stellen, dann gehe ich wieder.“ Er lächelte Nefer und Sahere an, dann auch Sa-Min.

 

„Großer Stier, wenn wir dir dienen können, tun wir es gerne. Auf jede erdenkliche Art.“ Nefer bemühte sich um ein Lächeln, doch es erreichte seine Augen nicht.

 

„Mir steht der Sinn nicht nach Zerstreuung, aber danke für das Angebot.“ Atem ließ sich auf einer Liege gegenüber der der Knaben nieder.

 

Sa-Min setzte sich zögerlich zu seinen Freunden. „Großer Horus, ich weiß nicht, ob wir dir helfen können…“

 

„Otogi war zwar zuerst sehr wütend, aber wie immer war er recht schnell abgekühlt. Er sprach sogar davon, ein Geschäft zu eröffnen“, fügte Nefer hinzu, dann wandte er sich an Sahere. „Hat er dir nicht davon erzählt?“

 

„Ja, irgendwas mit Schmuck“, stimmte der zu und streichelte über Nefers feingliedrige Hand. „Aber aufgefallen ist mir an ihm nichts.“

 

„Hm, verstehe“, antwortete Atem. „Und er hat sich auch nicht plötzlich mit fremden Männern unterhalten?“

 

„Nein, nur mit den wohlbekannten.“ Nefer konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Dann aber kehrte der Ernst der Lage in sein Bewußtsein zurück. „Es tut mir so leid.“

 

Atem schüttelte den Kopf. „Ihr habt alle drei nichts falsch gemacht.“ Er seufzte. „Es ist gut, wenn wenigstens ihr diesen Ort bald verlassen könnt. Besonders ihr beiden, Sahere und Nefer.“

 

„Ich weiß nicht, was du meinst, mein Herr“, antwortete Sahere und früher hätte Atem diesem die Unschuldsmiene abgekauft. Aber nicht mehr heute.

 

„Oh, ich bin nicht blind. Ich weiß, ihr habt ineinander mehr als nur einen Freund gefunden.“ Atem lächelte. „Ich freue mich für euch beide.“ Schnell hob er die Hand, als sich die Münder der beiden öffneten. „Es ist wirklich gut.“

 

„Ich mag dich“, protestierte Nefer dennoch.

 

Atem lachte und neigte sich vor, um diesem durch das rotblonde Haar zu zausen. „Ich dich auch, du Frechdachs. Aber ich habe auch jemanden gefunden, der für mich mehr ist als nur ein Freund. Es ist ein wundervolles Gefühl und ich gönne es euch beiden von Herzen. Und dir, Sa-Min, wünsche ich, daß du auch jemanden findest, mit dem du dein Leben teilen kannst.“

 

„Dürfen wir auch mal auf Besuch kommen?“ erkundigte sich Nefer, was seine beiden älteren Freunde mit nach Luft schnappen quittierten.

 

„Ich sehe keinen Grund, warum ich treue Freunde nicht wiedersehen sollte.“ Atem lächelte.

 

„Mein Pharao.“ Sa-Min fiel fast von der Liege, als er sich hastig im Sitzen verneigte.

 

Atem machte eine Handbewegung, daß er sich wieder aufrichten konnte. „Sollte euch doch noch was einfallen, wendet euch bitte an Siamun oder Mahaad.“

 

Die drei nickten.

„Yugi wünsche ich, daß er bald wieder ganz gesund ist“, fügte dann Nefer hinzu, was sie wohl alle drei fühlten.

 

„Ich werde es ihm ausrichten. Danke.“ Atem schenkte ihnen noch ein Lächeln, bevor er sich entfernte. Zwei Dienerinnen verneigten sich tief vor ihm bei seinem Rückweg. Atem nickte ihnen abgelenkt zu. Bald würde der Teil dort hinten leer sein, die Zimmer dort auch. Die Veränderung war seltsam und ließ ihn wehmütig werden. Doch Atem wußte, daß es so besser war. Denn trotz aller Wehmut fühlte er die Hoffnung. Hoffnung, daß bald alles gut sein würde. Hoffnung, mit Yugi gemeinsam eine echte Beziehung zu haben, die mehr enthielt als ein paar Treffen im Schlafgemach, im Dunkel der Nacht. Atem wollte nicht, daß Yugi ein Geheimnis war, aber er wollte diesen ebenfalls beschützen. Es würde nicht leicht werden, aber wert es zu versuchen war es allemal.

 

***

 

Tausret hatte keine Ruhe gefunden. Was ein Festtag hatte sein sollen, hatte sich in einen Alptraum verwandelt. Manchmal schien es ihr, als würde das Unglück ihrer Familie und allen, die ihr wichtig waren, folgen wie ein Pesthauch.

Unberechenbar, still, unsichtbar… bis es zuschlug und alles in Chaos und Blut versank.

Die kühle Nachtluft war angenehm auf ihrer heißen Haut, kühlte ihren Kopf voller Gedanken, die kein Ende zu finden schienen. Hinter sich hörte Tausret die beruhigenden Schritte ihrer Leibwächter. Nahe genug, um sie im Ernstfall zu schützen, weit genug entfernt, daß sie sich einbilden konnte, allein zu sein.

 

Tausret ordnete mit einer geübten Handbewegung die Zöpfchen ihrer Perücke, atmete tief durch. Normalerweise beruhigte ein Gang durch die Gärten sie, vertrieb unerwünschte Gedanken und Gefühle. Doch nicht heute.

Sie verharrte unter einer Palme und ließ den Blick schweifen. Nur noch wenige Lichter brannten in den Fenstern des Palastes. Auch die Gärten waren ungewöhnlich leer, selbst für diese Uhrzeit. Keine Diener, die hier Vergnügen suchten, keine anderen Schlaflosen, nur sie und ihre Leibwächter. Da bewegte sich eine der Türen des Palastes und eine schlanke, weißgekleidete Gestalt trat heraus. Für einen Moment zauderte diese, dann strebte sie in die Gärten.

 

Tausret kniff die Augen zusammen. Wer war das? Ihre Schultern spannten sich an. Doch ihre Angst verflog, als sie im Schein einer Fackel Isis’ stilles Gesicht erkannte. Was machte die Priesterin hier?

 

Nach einem Moment kam Isis an einem kleinen Teich zum stehen, vielleicht fünfzig Schritte von Tausret entfernt. Die Priesterin hatte ihren Kopfschmuck abgelegt und trug nur ein einfaches Gewand.

 

Tausret biß sich auf die Unterlippe. Wenn sie jetzt umkehrte, könnte sie unbemerkt in der Nacht verschwinden, könnte sich allein um ihre Sorgen und Gedanken kümmern. So hatte sie es doch seit vielen Jahren gehalten. Aber Isis’ herabhängende Schultern ließen ihr keine Ruhe. Tausret straffte sich und ging zu Isis hinüber.

 

Diese schrak zusammen, als sich ihr so plötzlich jemand näherte. Sie entspannte sich, sobald sie Tausret erkannte, doch ihr Gesicht blieb verschlossen. „Meine Gebieterin, ich hoffe, es geht dir gut.“

 

Tausret machte eine Handbewegung und ihre Leibwächter traten zurück, schwärmten um die Frauen aus. So waren sie sicher und konnten doch sprechen. „Nein. Dir ja offenbar auch nicht.“

 

Isis senkte demutsvoll den Kopf. „Ich habe nur nachgedacht.“

 

„Über diesen feigen Anschlag auf Yugi?“ Tausret runzelte die Stirn.

 

„Ich konnte nicht sehen, daß er…“ Isis brach ab, ihr Blick blieb gesenkt.

 

„Dich trifft keine Schuld. Auch Mahaad hat nichts bemerkt.“

 

„Das beunruhigt mich ja gerade. Wir konnten den Pharao schützen, aber nicht den Enkel unseres ehrenwerten Wesirs. Als ob die Millenniumsgegenstände ihn nicht wahrnehmen würden.“

 

„Du glaubst doch nicht ernsthaft das Gerede dieses wahnsinnigen Lustknaben?“ Tausret hob die Augenbrauen. Yugi ein böser Hexer? Nein, er hatte Atem gerettet, er hatte alles dafür getan und die Krone der Hathor hätte ihn nie auserwählt, wenn er ihrer nicht würdig gewesen wäre.

 

„Absolut nicht, Herrin. Ich denke nur…“ Isis fuhr mit einem schlanken Finger das Horausauge auf ihrer Kette nach.

 

Tausret folgte der Bewegung. „Das wäre in der Tat beunruhigend. Aber das ist nicht alles, oder?“

 

„Herrin?“

 

„Wenn es nur das wäre, würdest du mit Mahaad sprechen oder mit meinem Gemahl. Also was beschäftigt dich, was du glaubst, ihnen nicht erzählen zu können, Isis?“

 

Diese hob den Kopf, nur um ihn gleich wieder abzuwenden.

 

„Du kannst mit mir reden. Ich weiß, wir sind keine Spielgefährtinnen mehr, aber es gab mal eine Zeit, da konnten wir über alles sprechen.“

 

„Du hast sicher eigene Sorgen.“

 

„Zweifellos. Aber sie werden nicht dadurch verschwinden, daß ich alleine und schweigend durch den Garten wandere und mich selbst quäle.“ Tausret lächelte bitter. „Das habe ich nämlich schon viel zu oft versucht.“

 

Isis sah sie an, dann atmete sie aus. „Es geht um den anderen Mann. Der, der Otogi mitnahm.“

 

„Eine ungewöhnliche Erscheinung und bisher der einzige dunkle Hexer, den ich in diesen Geschehnisse sehe“, stimmte Tausret nickend zu.

 

„Seine ungewöhnliche Erscheinung ist genau das, was mich beunruhigt. Du erinnerst dich vielleicht noch, daß mein Vater fortging, als ich noch klein war?“

 

„Ich dachte, deine Mutter sagte, er sei tot.“

 

„Das hat sie wohl erzählt, weil es besser klang als die wenig ruhmvolle Wahrheit: Daß er eines Tages seine Sachen packte und verschwand.“ Isis lachte verhalten. „So jung ich auch war, als er ging, das Aussehen meines Vaters ist mir bis zum heutigen Tage ins Gedächtnis gebrannt. Niemand sonst, den ich je kennenlernte, hatte so helles Haar wie Sand, so strahlend helle Augen wie Flieder.“

 

Tausrets Mund formte ein O. „Also meinst du… daß dieser Marik…“

 

„Ja. Er könnte mein jüngerer Bruder sein.“ Isis ballte ihre Hände zu Fäusten. „Aber ich weiß nicht, wie ich jetzt… Was ich tun soll. Tausret, was soll ich tun? Er ist ein Verbrecher und nutzt seine Zauberkräfte für Böses. Ich kann das nicht glauben!“

 

Tausret zog die andere Frau fest in ihre Arme. „Du mußt es Atem sagen.“

 

Isis schüttelte den Kopf. „Dann wird er mich gewiss von der Jagd auf Marik aussschließen. Und schonen kann er ihn genauso wenig, nicht meinetwegen. Ich dachte immer, nach Mutters Tod sei ich allein. Und jetzt habe ich doch einen Bruder und er ist…“ Ihrer Kehle entkam ein Schluchzen.

 

Tausret strich durch das lange, glatte Haar ihrer früheren Spielkameradin. Früher als sie beide noch keinen Kummer gekannt hatten, hatten sie sich gegenseitig das Haar geflochten, kichernd, während sie sich ihre Zukunft ausgemalt hatten. Eine Zukunft voller Sonnenschein und Gelächter. Tausret schloß ihre Augen. „Ich werde mit Atem reden.“

 

„Was? Aber er wird dennoch nicht…“ Isis verstummte, als Tausret ihr einen Zeigefinger auf die Lippen legte.

 

„Du kennst meinen Bruder. Er würde nie ein Urteil fällen, ohne vorher alle Fakten zu kennen.“

 

„Aber der Pharao liebt Yugi und er wird nicht zulassen, daß dieser noch einmal leiden muß.“

 

„Und ich ebenso wenig. Aber ich werde auch nicht zusehen, wie du leidest, Isis.“ Tausret schob das Kinn vor. „Yugi und du, ihr seid gute Menschen.“

 

„Du bist kein schlechter Mensch, Tausret“, antwortete Isis, die nun ihrerseits diese in eine Umarmung zog.

 

„Vielleicht“, gab Tausret müde zu. „Aber die letzten Jahre habe ich mein Herz nur beschwert. Komm, gehen wir zu meinem Bruder. Er wird uns beide erleichtern.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  -Pharao-Atemu-
2021-07-03T06:37:11+00:00 03.07.2021 08:37
Hui cool dass du es aufgreift mit den Geschwistern ^^
Ich mag dieses Kapi... gut ich mag jedes Kapi... die ganze FF ^^"


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