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[EN]counters

[1219AK2016]
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Der letzte Teil von [EN]counters, der tatsächlich ein wenig anders ist als die vorhergehenden ;)
Mir sind die Charaktere im Verlauf der Geschichte tatsächlich ziemlich ans Herz gewachsen und ich überlege, ob ich noch eine Geschichte mit ihnen schreibe. Was meint ihr?
Übrigens. Wie deutlich war es, welche Städte/Länder ich womit referenziert habe?

Nun, ich hoffe der letzte Teil gefällt euch! Komplett anzeigen

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[DIE STADT – 2090]

Es regnete, als Ivory am Fuß des Centix stand. Ein letzter Schimmer des Tageslichts drang durch die Wolken und fiel auf DIE STADT, doch sie wusste, dass es schon sehr bald dunkel werden würde – nun, zumindest soweit wie es in DER STADT überhaupt dunkel wurde.

Sie seufzte.

In den letzten acht Jahren hatte sie sich so oft gewünscht, DIE STADT verlassen zu können, doch nun, da es soweit war, war das Gefühl seltsam. Sie wusste nicht, was in ihrer Zukunft lag, und sie war unsicher.

Eigentlich war sie sich nicht sicher, warum sie noch einmal hierher gekommen war, doch es waren noch knapp drei Stunden, bis ihr Zug ging. Sie würde DIE STADT mit dem Zug verlassen, aber nach guten hundert Kilometern, wenn sie über die Landesgrenze war, würde sie den Flieger Richtung Nordosten nehmen.

Sie würde nicht nach Scandia zurückkehren, aber zumindest in den Norden kommen.

Auch wenn sie sich nach dem Kleinstadtleben zurücksehnte, würde es erst einmal nicht in Frage kommen. Es war leichter in einer Großstadt unterzutauchen und ebenso war es leichter dort an Arbeit zu kommen. Sie würde Arbeit brauchen, nicht nur, um sich selbst zu ernähren.

Mit einem tiefen Atemzug sah sie sich noch einmal um.

Es war seltsam, doch zumindest kam es ihr so vor, als hätte sie hier mehr Zeit verbracht, als in einer ihrer Wohnungen – sie war mehrfach umgezogen in den letzten paar Jahren.

Sie war hier nicht „glücklicher“ gewesen, als irgendwo sonst in DER STADT, aber zumindest weniger einsam. Vielleicht war es nicht das richtige oder das beste für sie gewesen, sich mit kurzweiligen Bekanntschaften über die Einsamkeit hinweg zu trösten, doch es war ihr die meiste Zeit als das einfachste erschienen.

Selbst jetzt konnte sie nicht wissen, wie es ihr in ihrer neuen Heimat ergehen würde. Sie konnte nicht einmal sicher sein, dass sie dort ankam. Vielleicht wurde sie auch vorher von den UF aufgegriffen, doch sie hoffte, dass sie ihre Reise gut genug geplant hatte und die falschen Identitäten, die sie benutzen würde, gut genug waren. Was blieb ihr auch anderes übrig? Sie konnte einfach nicht mehr hier bleiben!

Auch in der neuen Stadt würde sie kein vollkommen geregeltes Leben führen können. Jedenfalls erst einmal nicht. In ein, zwei Jahren … Vielleicht … Auch wenn sie sich nicht sicher war, ob sie wirklich je ein geregeltes Leben würde führen können. Es war einfach zu lange her – sie hatte zu viel Zeit als Kriminelle gelebt.

Doch bald würde sie nicht mehr allein sein.

Unbewusst fuhr sie sich mit der Hand über den Bauch.

Mit einem Blick zum Centix hinauf, drehte sie sich um und ging zur nächsten Straße. Mit ihrem Comm rief sie ein Taxi.

Sie wäre gern noch einmal ins Shahara gegangen – auch weil sie den Luxus trotz allem genoss. Doch in den letzten Wochen hatte ihr Kreislauf immer wieder versagt, weshalb sie hatte verzichten müssen.

So gab es hier nicht mehr viel zu machen.

Sie sah auf das Comm, darauf wartend, dass das Taxi kam. Ein erneutes Seufzen.

Ihre Sachen waren bereits vorweg geschickt worden, in ihre neue Wohnung. Sie hatte Leute bezahlt, diese bereits für sie einzurichten, so dass sie sich um nichts würde kümmern müssen, wenn sie in zehn, vielleicht zwölf Stunden dort ankam.

Sie hatte im Moment nichts weiter dabei, als ihre Kleidung und die Sachen, die sie in ihrer Handtasche hatte. Noch immer hatte sie eine Pistole dabei – ohne fühlte sie sich nicht mehr sicher. Zu oft hatten Leute sie versucht auszurauben, umzubringen (und sei es nur um ihr eigenes Leben oder das ihrer Auftragsgeber zu verteidigen) und ihr Treffen mit David vor vier Jahren jagte ihr auch heute manchmal noch einen Schauer über den Rücken.

Ein dunkler Elektrowagen mit einem leuchtenden Taxi-Schild auf dem Dach, während auch ihr Comm die Ankunft ihres Wagens mit einem Klingeln verkündete.

Die Hintertür öffnete sich nach oben und mit einem kurzen Zögern stieg sie ein. Ganz traute sie auch Taxifahrern nicht. Noch weniger jedoch hatte sie Lust auf die U-Bahn, in der auch Kopfgeldjäger und anderer Abschaum unterwegs war. Niemand, der es sich leisten konnte, verwendete die öffentlichen Verkehrsmittel außerhalb der besseren Viertel und zum Bahnhof musste sie durch vier andere Viertel DER STADT durchfahren.

„Wo soll es hingehen“, fragte der Fahrer und sah sie durch den Rückspiegel an.

Er hatte dunklere Haut und einen kurzen, schwarzen Stoppelbart, so wie auch kurzes, krauses Haar. Er schien etwas kräftiger gebaut zu sein und leicht übergewichtig.

Wie in DER STADT üblich, waren sein Platz und der Beifahrersitz von den anderen Plätzen des Fahrzeugs durch eine dicke Plasglasscheibe getrennt.

„Fernbahnhof“, sagte sie nur.

„In Ordnung“, erwiderte er und startete den Elektromotor.

Es war für eine ganze Weile üblich in DER STADT gewesen, dass Taxis nur noch auf Autopilot fuhren, da es – zumindest in der Theorie – für die Unternehmen billiger war, als auch noch einen Fahrer zu bezahlen. Das war, bevor einige Leute darauf gekommen waren, wie sich die Autopiloten hacken ließen. Oft waren Taxis dann einfach verschwunden, waren wahrscheinlich in einer Garage in ihre Einzelteile zerlegt und als solche verkauft worden. Manchmal waren auch Fahrzeuge samt Insassen verschwunden, sei es, weil Snatcher aus einem oder anderen Grund Interesse an den Insassen hatten, oder, weil jemand dafür bezahlt hatte, dass diese Insasse verschwand.

So oder so hatten viele Leute das Vertrauen in die Autopiloten verloren, nun einmal davon abgesehen, dass es für die Unternehmen teurer gewesen war, regelmäßig neue Taxis zu beschaffen und Wiedergutmachungen an etwaige Familien etwaig verschwundener Leute zu zahlen. So war nach etwa fünf Jahren auf Autopilot nach und nach jedes Unternehmen wieder zu menschlichen Fahrern zurückgekehrt. Diese waren, um etwaige Leute davon abzuhalten, die Taxientführung auf eine eher Lowtech Variante zu probieren, meist grundlegend kämpferisch ausgebildet und bis an die Zähne bewaffnet. Außerdem hatten die meisten Taxis eine Methode, die Passagierkabinen mit Betäubungsgas zu fluten.

Gedankenverloren sah Ivory aus dem Fenster, während sich das Taxi durch den zähen Verkehr DER STADT bewegte.

Es war diesen Dezember erstaunlich kalt geworden, wenngleich die Temperaturen noch immer um die zehn Grad verharrten. Dennoch sah sie viele Bewohner, die sich etwaige Bürgersteige, Überführungen oder Glastunnel entlang drängelten, in Mänteln und ungewohnt fester Kleidung.

Auch sie selbst trug einen weißen Ledermantel, dunkle Lederstiefel und eine relativ feste, schwarze Hose.

Doch während es den anderen wohl eher um Schutz vor dem ungewöhnlich kühlen und feuchten Wetter ging, trug sie den Mantel vorrangig aus einem anderen Grund. Umsonst, wie es schien.

Sie fuhren vielleicht viertel Stunde und standen nun seit mindestens fünf Minuten in einem Stau vor einem Tunnel, als der Fahrer – der Bestätigung auf ihrem Comm nach war sein Name Pajil – erneut die Stimme erhob.

„Sie sind schwanger?“, fragte er.

Ivory schreckte aus ihren Gedanken auf. „Was?“

„Entschuldigen Sie, wenn ich zu dreist bin“, erwiderte er. „Es ist nur die Art, wie sie sich halten …“

Kurz zögerte Ivory. Sie hatte sich bemüht den Bauch durch den eher weiten Mantel zu verstecken. Vorrangig jedoch aus Paranoia vor etwaig zwielichtigen Gestalten. „Ja“, erwiderte sie kurz angebunden. „Sie haben Recht.“

Der Mann warf ihr kurz ein Lächeln über den Rückspiegel zu, ehe sich das Taxi für vielleicht zwei Meter voran bewegte, ehe es – wie alle anderen Fahrzeuge auch – erneut zum Stehen kam.

„Entschuldigen Sie bitte wirklich, wenn ich Ihnen zu nahe getreten bin“, meinte er.

Seufzend schüttelte sie den Kopf. Es war seltsam diese Unterhaltung zu führen, während seine Stimme vorrangig über die Sprechanlage des Fahrzeugs kam. „Schon in Ordnung. Ich dachte nur, ich hätte es besser verborgen.“

„Ach, wissen Sie“, meinte er, „ich weiß einfach, wonach ich schauen muss. Ich habe drei Kinder mit meiner Frau, müssen Sie wissen.“

„Ah“, murmelte Ivory, da sie nicht wirklich wusste, was sie sonst erwidern sollte. Sie kannte niemanden, der Kinder hatte – jedenfalls niemanden, von dem sie es wusste. Nun, sie hatte auch jetzt noch kaum dauerhafte Bekanntschaften in DER STADT. Doch selbst bei ihren nächtlichen Bekanntschaften hatte sie normaler Weise – sofern sie es hatte sagen können – versucht Leute zu umgehen, die in einer Beziehung oder gar einer Beziehung mit Kindern waren. Sie hatte allerdings auch nie nachgefragt.

Wieder bewegte sich der Verkehr ein wenig.

„Ist es Ihr erstes Kind?“, fragte der Fahrer.

„Ja“, erwiderte sie und strich noch immer halb in Gedanken über ihren Bauch. Manchmal konnte sie das Kind schon spüren, auch wenn sie erst im fünften Monat war.

Beinahe rechnete sie mit einer Frage zu ihrem Status als En, da sie solche in den vergangenen Wochen, wann immer es jemand gemerkt hatte, schon mehrfach gehört hatte. Doch sie irrte sich.

„Dann sind Sie jetzt auf den Weg zu ihrer Familie?“, spekulierte Mr. Pajil stattdessen.

Ivory zwang sich zu einem Lächeln. „Ja.“ Sie würde die Wahrheit sicher keinem Fremden erzählen. Die Wahrheit war, dass sie das Kind auf keinen Fall in DER STADT zur Welt bringen wollte. Als sie sich dafür entschieden hatte, das Kind auszutragen, hatte sie gewusst, dass sie nicht hier bleiben konnte. Das Kind war zum Teil En und sie wusste bereits von den Ärzten, dass es ein Mädchen sein würde.

„Der Vater kommt nach?“, fragte der Fahrer weiter.

„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich … Glaube nicht, dass er wirklich Interesse an dem Kind hat.“ Natürlich war auch das gelogen – wenn nur halb. Die Wahrheit war, dass sie nicht mit Sicherheit sagen konnte, wer der Vater war. An die meisten Männer, mit denen sie nur eine Nacht verbracht hatte, verschwendete sie keinen zweiten Gedanken, wohl wissend, dass es andersrum nicht anders sein würde. Allerhöchstens würden sie später damit prahlen eine En gefickt zu haben – was ihnen etwaige Kollegen oder Kumpel vielleicht, vielleicht auch nicht glauben würden.

Sie konnte nicht einmal sicher sagen, wie es passiert war. Sie nahm Hormone zur Verhütung und benutzte meistens zumindest Kondome. Allerdings wusste sie auch, dass keine Methode zu hundert Prozent Sicherheit geben konnte. Vielleicht hatte man irgendwann einfach „Pech“.

„Oh“, meinte der Fahrer. „Das tut mir Leid.“

Endlich bewegte sich der Verkehr wieder etwas mehr. Vielleicht hatten sie die Engstelle, wie auch immer sie entstanden war, durchquert.

„Das muss es nicht“, erwiderte Ivory mit einem Schulterzucken und sah auf ihr Comm. Sie hatte noch mehr als genug Zeit. „Ich habe es nie erwartet.“

Für einen Moment schwieg der Fahrer, während er das Taxi auf eine andere Fahrbahn lenkte. „Nun, es steht mir natürlich nicht zu darüber zu urteilen. Aber Kinder können anstrengend sein, wissen Sie? Nicht allein damit zu sein … Ich meine, es würde dadurch sicher leichter.“

Erneut zuckte Ivory mit den Schultern. „Wer sagt, dass ich alleine bin?“

„Oh“, war erneut die Antwort. „Entschuldigen Sie …“

Es war klar, dass er sich schwer tat mit der Vorstellung, dass ein Kind von jemand anderen als Mutter und Vater großgezogen wurde. Dagegen kam Ivory diese Vorstellung beinahe seltsam vor.

Sicher, wo sie hergekommen war, war es meistens ebenso gewesen. Nun, nicht immer Mutter und Vater. Vater und Vater, Mutter und Mutter, Alleinerziehende und manchmal auch etwas andere Zusammenstellungen. Dennoch hatten sich gerade in den Kleinstädten einige Leute schwer getan, mit manchen Modellen. Vor allem, wenn das Kind auf „natürlichem Wege“ entstanden war. Doch da diese Menschen auch oft über En die Nase gerümpft hatten – gerade weil sie doch „unnatürlich“ waren – hatte Ivory sich nie groß für diese Menschen interessiert.

Ihr Vater hatte ihr immer gesagt, sie solle nicht darauf hören, und das hatte sie dann auch getan.

Hier in DER STADT, aber auch anderen Metropolen, wo die moderne Technik so verbreitet und zugänglich war, wo Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammenkamen und sich eine komplett eigene Gesellschaftskultur gebildet hatte, war es jedoch anders. Gerade in den von moderner Technik geprägten Vierteln waren alte Vorstellungen von Moral und Ethik schon lange vergessen. Wenn genetische Veränderungen zum Alltag gehörten, in einigen Kreisen sogar über Klontechnik geredet wurde, En und mittlerweile auch Mutanten fast täglich zu sehen waren, dachten viele Leute nicht mehr über die alten Konstrukte nach.

Doch natürlich gab es selbst hier Menschen, die lieber alte Traditionen und Ansichten pflegten und vielleicht stand es ihr einfach nicht zu darüber zu urteilen. Sie musste nicht auf sie hören. Einzig jene, die meinten, aufgrund dieser Ansichten Mutanten, En oder sogar Opt zu überfallen und gar zu töten … Leider gab es immer wieder solche Fälle, von denen man hörte. Wenn solche Leute in Folge dessen von einem ihrer Opfer umgebracht wurden, dann hatten sie es – wenn man Ivory fragte – verdient.

Der Fahrer sprach für eine ganze Weile nicht mehr, während sich der Verkehr nun etwas flüssiger bewegte. Sie fuhren durch eine der Häuserschluchten einer der ärmeren Viertel, das sich von den besseren Vierteln vorrangig dadurch unterschied, dass es dreckiger war und die Hochhäuser näher beieinander standen. Natürlich war auch der Baustil etwas anderes, denn während sich die Plexe wie das Centix durchaus unterschieden und mit Glasfassaden und ähnlichem verziert waren, sahen die Häuser hier beinahe identisch aus. Betonklötze mit dreißig oder mehr Stockwerken, zu erkennen an den Reihen um Reihen verdreckter Fenster, die sich oft nicht öffnen ließen.

Wohnungen hier waren billig, aber entsprechend billig waren die Häuser auch gebaut.

Zumindest waren sie stabil genug, dass man sie als sicher bezeichnen konnte. Von dem was Ivory über die Armengegenden in anderen Städten gehört hatte, war es mehr, als man über einige andere sagen konnte.

Sie seufzte und holte erneut ihr Comm raus. Sie hatte eine neue Nachricht von Hozuka.

Ihre Augen flogen über den Text, ehe sie das Comm mit einem Lächeln und einem Seufzen wieder in ihre Manteltasche steckte.

„Wo geht es denn nachher genau hin?“, fragte der Taxifahrer schließlich, während sie vor einer Ampel standen.

„Nach Norden“, erwiderte Ivory, sich wohl dessen bewusst, dass es keine genaue Aussage war. Doch noch immer war sie paranoid bezüglich der UF und wollte vor allem vermeiden, dass sie herausfanden, wo sie war.

Sicher, einfacher wäre es gewesen, wäre sie nach Süden gegangen, wo die UF nach wie vor wenig Einfluss hatten, aber gab es im Süden auch keine Metropolen, die mit denen im Norden vergleichbar waren, und damit für jemanden wie sie auch wenig Arbeit. Erschwerend kam hinzu, dass in vielen der südlichen Länder die medizinische Versorgung mit jener im Norden nicht vergleichbar sein. Sie sorgte sich so schon genug über die Geburt, dass sie sich darüber nicht auch noch Gedanken machen wollte.

„Weit nach Norden? Oder bleiben Sie in der Nähe?“, wollte Mr. Pajil wissen.

„Weit genug, als dass die Winter kälter sind“, erwiderte sie mit einem matten Lächeln, ehe sie wesentlich leiser hinzufügte: „Aber daran bin ich gewöhnt …“ Sie glaubte nicht, dass er es gehört hatte.

„Dann hoffe ich, dass sie warme Kleidung eingepackt haben“, scherzte er halbherzig.

Ivory zuckte mit den Schultern. „Es gibt genug Zuhause.“ Immerhin blieb sie bei der Geschichte, dass sie zu ihrer Familie fuhr. Wie sehr sie sich doch wünschte, dass es die Wahrheit wäre …

„Oh, natürlich …“ Wieder verstummte er.

In der Ferne kam der Bahnhof in Sicht. Nun, noch nicht das Gebäude selbst, sehr wohl aber die mit Glas umschlossenen Magnetgleise, die auf Stelzen aus der Stadt herausführten.

„Nun, es sieht aus, als wären wir gleich da“, meinte der Fahrer.

Ivory erwiderte nichts.

Natürlich dauerte es doch noch eine Weile, bis sie tatsächlich in das Parkhaus neben dem Bahnhof erreichten.

„Ich wünsche Ihnen eine gute Weiterreise“, meinte Mr. Pajil. „Und natürlich dass alles gut geht, für Sie und Ihr Kind.“

„Danke“, erwiderte Ivory und rief das AR Feld auf um zu bezahlen.

„Vielleicht findet sich ja doch noch jemand“, sagte er, als sie die Tür öffnete, woraufhin sie nur mit den Schultern zuckte.

„Vielleicht.“

Sie stieg aus und sah zu, wie das Taxi fortfuhr, ehe sie sich durch die unterste Ebene des Parkhauses auf den Weg zu den Aufzügen machte, die sie auf die Ebene des Bahnhofs bringen würden.

Sie hatte noch immer etwas mehr als eine Stunde, bis ihr Zug fahren würde. Das hieß noch etwa eine dreiviertel Stunde, bis sie durch die Sicherheitskontrolle musste. Genug Zeit um noch etwas zu essen.

Erneut strich sie gedankenverloren über ihren Bauch, während sie auf den Aufzug wartete. In der letzten Zeit hatte sie mehr Hunger – aber die Ärzte hatten ihr gesagt, dass dies ein gutes Zeichen war.

Der Aufzug kam und keine fünf Minuten später, saß sie in einem der zumindest etwas besseren Imbisse des Bahnhof, wo sie ein wenig Reis mit Fleisch aß, während sie einen süßen Sodadrink trank. Ihr war danach gewesen und das Essen war angenehm scharf.

Ihr Comm lag auf den Tisch, während sie eben noch eine Nachricht von Hozuka beantwortet hatte.

Zumindest konnte man sich im Fernbahnhof halbwegs sicher fühlen, da dieser aus Angst vor terroristischen Attentaten immer stark gesichert war. Allein seit sie hier saß hatte sie zwei Sicherheitsleute vorbeilaufen sehen. Die Identitäten eines jeden, der das Gebäude betrat, würden gescannt werden, auch wenn man sich mithilfe gefälschter Dokumente fraglos hineinschleichen konnte. Zumindest hatte noch niemand versucht sie festzunehmen.

Sie aß in Ruhe und hatte die Plastikschüssel beinahe geleert, als sie eine vertraute Stimme hörte. „Doch noch geschafft …“ Mit einem Seufzen ließ sich Hozuka auf den metallenen Hocker neben ihr fallen.

Der Tisch an den Ivory saß war ebenfalls aus irgendeinem billigen Metall, wie in vielen dieser Imbisse üblich. Der Laden war viel zu hell ausgeleuchtet – wahrscheinlich, um über etwaige Unsauberkeiten hinweg zu täuschen.

Das Menü wurde nur im AR angezeigt, wie es bei vielen Imbissen üblich war, und die Warenausgabe war automatisiert.

Es war erstaunlich leer – jedenfalls für die Zeit, da bald einige Nachtbusse fahren würden – doch zumindest hieß es weniger unwillkommene Blicke.

„Tut mir leid für die Verspätung“, meinte Hozuka. Ihr Tattoo hatte sich, wenn man so wollte, in den letzten zwei Jahren nur noch weiter ausgebreitet und war mittlerweile sogar an ihrem Nacken zu sehen, da sie die Haare am Hinterkopf eher kurz trug, sich jedoch noch genug Haare vorne gelassen hatten, als dass sie diese als zwei Strähnen hinter ihre Ohren streichen konnte.

Wieder zuckte Ivory nur mit den Schultern. „Nicht schlimm.“

Hozuka trug erneut schwarz. Eine Lederjacke, die sich an an ihren Körper anschmiegte und ihre Taille sehr gut betonte.„Hoffe ich ja“, erwiderte sie mit einem müden Lächeln und gähnte. „Riecht gut“, kommentierte sie dann und schnupperte. „Ich glaube ich hole mir auch noch etwas. Ich verhungere …“ Für einen Moment zögerte. „So viel Zeit ist noch, oder?“

Ivory sah auf das Comm. „In zwanzig Minuten sollte ich zum Gleis.“

„Also reicht es noch“, schloss Hozuka. „Soll ich dir noch was mitbringen?“

„Gerne“, erwiderte Ivory. „Danke.“ Mit einem matten Lächeln sah sie zu, wie Hozuka wieder aufsprang und zur Ausgabe ging.

Es war die längste Beziehung irgendeiner Art, die sie gehabt hatte, seit sie in DIE STADT gekommen war. Wenngleich sie sich nicht als Paar sahen. Doch zumindest wusste Hozuka, wer sie war, und mittlerweile auch, was sie tat. Sie war an ihrer Seite geblieben und das war etwas, das Ivory mehr als alles andere schätzte.

Sie war nicht mehr allein. Und bald … Sie legte eine Hand auf ihren Bauch, der in den letzten Wochen schon deutlich runder geworden war.

„Hier“, meinte Hozuka, als sie nach vielleicht zwei Minuten mit einem Tablett zurückkam.

„Danke“, sagte Ivory noch einmal und nahm sich eine der Plastikschalen. „Und? War es auf der Arbeit wirklich so schlimm?“

„Schlimm genug“, grummelte Hozuka. „Dieser Martin kann seine Klappe einfach nicht halten.“ Sie bezog sich auf einen Kollegen an ihrer Firma, der eine deutliche Meinung zu Mutanten hatte. Wie so viele andere auch … „Na ja, noch sechs Wochen …“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich würde ihm nur so gern einmal …“ Sie ballte eine Faust, sprach aber nicht weiter.

„Ich weiß, ich weiß“, meinte Ivory und legte ihr kurz eine Hand auf die Schulter. „Denk nicht zu viel drüber nach.“

Hozuka verdrehte die Augen. „Ich kann für nichts garantieren.“

So ging es noch für eine Weile, während sie aßen. Das Essen war sicher nicht „gut“, aber zumindest würzig genug, um andere offensichtliche Probleme hinweg zu täuschen.

Zugegebener Maßen war Ivory froh, dass Hozuka es noch geschafft hatte. Es wäre seltsam gewesen, sie nicht mehr gesehen zu haben …

Doch die Zeit verging nun schnell und sie wusste, dass sie den Zug nicht verpassen durfte.

„Wir sollten“, meinte sie mit Blick auf ihr Comm.

Hozuka seufzte. „Ich weiß.“ Für einen Moment sah sie Ivory mit einem seltsamen an, stand dann aber auf. „Dann lass uns gehen.“

Dank der erhöhten Sicherheit war es Standard, dass Reisende sich vor Antritt der Reise einer Sicherheitskontrolle unterziehen mussten, was je nachdem ein paar Minuten bis eine Viertelstunde dauern konnte.

Die Kontrolle fand am Zugang zum Hub statt – der Halle, von der aus die Treppen zu den eigentlichen Gleisen führten. Hier gab es mehrere nebeneinander gelegene Schleusen aus Plasglas, durch die jeder Reisende musste. Daten wurden überprüft, das Handgepäck ebenfalls durchleuchtet. Nicht, dass es als wirklich schwer galt, etwaige Waffen oder Sprengstoffe hindurch zu schmuggeln – zumal einfache Handfeuerwaffen mit entsprechenden Lizenzen erlaubt waren.

„Dann …“, murmelte Hozuka, als sie sich in die recht kurze Schlange vor der Kontrolle einreihten.

„Du musst nicht mit durch kommen“, meinte Ivory. „Es sind eh nur noch fünfzehn Minuten.“

„Ich weiß“, seufzte Hozuka. „Dann … Ja …“

Die Schlange bewegte sich etwas weiter nach vorne.

„Wir sehen uns in sechs Wochen“, sagte Hozuka schließlich. „Sieh zu, dass du … Dass ihr in einem Stück ankommt.“ Sie warf einen kurzen Blick zu Ivorys Bauch.

„Sieh zu, dass du in sechs Wochen noch lebst“, erwiderte Ivory sanft und küsste sie auf die Stirn.

„Was soll mir schon passieren?“, meinte Hozuka, während sich die Schlange erneut etwas weiter bewegte.

„Es gibt noch immer genug Verrückte hier“, flüsterte Ivory. „Und ich will dich noch einmal sehen.“

„Ich passe schon auf mich auf“, erwiderte die andere und streckte sich kurz, um Ivory auf die Wange zu küssen. „Mach nur keine Dummheiten“, flüsterte sie dann in ihre Ohren.

„Sicher …“

Die letzte Person vor Ivory ging durch die Absperrung, wo ein Sicherheitsbeamter ihn noch einmal eindringlich musterte.

„Wir sehen uns in sechs Wochen“, meinte sie dann.

Hozuka nickte und griff noch einmal nach ihrer Hand, um sie zu drücken. „Ja.“ Sie seufzte. „Bis dahin.“

Dann machte sie einen Schritt zurück, während Ivory ihre Handtasche auf das Förderband nehmen der Schleuse legte und selbst in die Schleuse trat.

Noch einmal drehte sie sich um und hob die Hand, während auch Hozuka winkte, ehe sie sich dem Sicherheitsbeamten zuwandte. Etwas nervös war sie schon, ob die falsche Identität ausreichen würde.

„Sie haben eine Waffe?“, fragte der dunkelhäutige Mann.

„Ja“, erwiderte sie. „Selbstverteidigung. Ich habe alle nötigen Lizenzen.“

Der Mann schwieg für einen Moment, ohne Frage um ihre Daten im AR durchzuschauen. „Ich verstehe.“ Er nickte. „Es scheint alles in Ordnung zu sein.“ Die zweite Schleusentür öffnete sich. „ich wünsche ihnen eine gute Reise.“ Er ließ sie aus der Schleuse austreten.

„Vielen Dank“, erwiderte sie und versuchte ihre Erleichterung zu verbergen.

Hinter der Schleuse nahm sie ihre Handtasche vom Förderband.

Noch einmal drehte sie sich zu, um Hozuka einen letzten Blick zuzuwerfen, ehe sie sich auf den Weg zu ihrem Gleis machte.

Es war nicht lang. Bald würde Hozuka nachkommen. Wenn alles gut ging. Wer konnte das schon wissen?

Doch sie hatte die Stadt für acht Jahre überlebt. Was sollte nun schon noch passieren? Es konnte – so dachte sie sich – nur besser werden.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Sunae
2017-10-03T22:01:20+00:00 04.10.2017 00:01
Weil ich einer Story mit Altersbegrenzung lesen wollte, habe ich mich hier auch mal angemeldet.
Immerhin findet man hier die unzensierte Version, dachte ich mir ich schau sie mir nicht nur hier an, sondern schreibe gleich was, solange die Gedanken frisch sind.

Fangen wir mal da an, wo alles anfängt, mit dem Titel. Was mir ins Auge sprang war, dass sie in fast jedem neuen Kapitel eine Person kennen lernt. Eine Psychologin, ein schwarzer ex-Polizist, ein Loverboy, eine Asiatin. (En)counter steht demnach dafür, dass der Trigger für jede neue Episode darin besteht, dass eine neue Person seinen Abdruck hinterlässt.

Dazu passt es sehr gut, dass sie längere Beziehungen meidet. So sticht jeder neue Person heraus und bestimmt das Bild der Geschichte ohne Einmischung. Schön ist es, dass sie und Hozuka am Ende doch noch Kontakt hielten. Es hätte genau so gut der Cop sein können, oder die Psychologin. Theoretisch könnte David immer noch nach ihr lauern, wäre er noch am Leben.
Es hätte also jeder von denen werden können und bis auf David wäre jeder von ihnen ein schöner letzter Partner für sie. Wobei du auch klar gemacht hast, dass es mehr Freundschaft Plus ist.

Nochmal zum Thema (En)counter. Du hattest doch vor deinen Shaddowruncharakter als Spinoff in eine andere Story zu bringen, richtig? Ich erinnere mich noch an den Namen, aber ich möchte ihn nicht falsch schreiben. :P
Du sprachst glaube ich davon, dass es immer um die Vorbereitungen zwischen den Aufträgen gehen soll und nicht um die Action. Hattest du vielleicht genau so einen Aufbau geplant? Die Protagonistin war ja auch Soldatin und dann später Söldnerin, aber man sah nie etwas von ihrem Einsatz, also könnte man dein geplantes Projekt damit vergleichen?
Wenn, dann finde ich es funktioniert gut, so wie es ist.

Ach ja, in diesem Kapitel habe ich einen kleinen Schreibfehler gesehen. Du schriebst "Bis auf die Szene bewaffnet", statt Zähne.

Ein komischer Abschluss, aber als nächstes rede ich mal über die Sexszenen. Ging mir halt gerade so aus.
Ich muss sagen, Hozuka wäre genau mein Typ. Ich habe ein Fabel für Asiaten und sie stellt definitiv eine dar und ich finde Piercings und Tattoos scheiß sexy, besonders im Intimbereich. Na ja, unter anderem im Intimbereich.
Die beiden Sexszenen waren schon eher mein Geschmack als in Eisbären und Sexspielzeug. Ich denke aber, das ist Geschmackssage. Darauf gehe ich aber jetzt nicht ein, vielleicht antworte ich noch bei den Eisbären und rede da darüber.
Ich lese so einen Stuff häufiger und denke mal, im Vergleich zu Leuten die reine Sexstorys machen, kommst du schon ganz gut weg. Der Ablauf ist flüssig, nicht zu schnell, nicht zu langsam und die Beschreibung der Körperteile und Bewegungen ist auch schön geworden.

Beim Abhacken der Liste ist mir doch noch was gekommen. Um so besser, dass es nicht so endet.
Du hast oben gefragt, welche Städte und Länder du als Vorlage benutzt hast. In Geographie bin ich zu schlecht und jemand anderes hat das schon rausgekriegt, aber ich könnte versuchen die Nationalität der Charaktere zu erraten, falls du dich bei ihnen ebenfalls inspirieren ließest.
David könnte in der echten Welt in den ärmeren europäischen Ländern gelebt haben. Du hast geschrieben, sein Job sei relativ normal für Cyberpunk, trotzdem assoziiere ich ihn gerne mit einem Loverboy. Und diesen dürfte es leicht fallen Mädchen aus ärmeren Ländern eine Perspektive zu versprechen. Polen, Russland, oder die Slowakei könnten passen, vielleicht auch Thailand.
Hozuka hingegen finde ich noch deutlich aussagekräftiger. Ihr Aussehen ist klar an eine Asiatin angelehnt. Was ich prägnant fand war, dass ihre Eltern sie wegen ihrer Mutantenexistenz verraten hatten und das sie sozial geächtet wurde.
Ich kann sie mir als Koreanerin vorstellen, vielleicht als "Mischling" aus einer Koreanerin und einem amerikanischen Soldaten.
Die Lage wäre in dieser Situation auf jeden Fall sehr ähnlich.

Nun denn, ich hoffe der Kommi hat dir gefallen und das du bald wieder fitt wirst.
Von:  Taroru
2016-12-25T12:59:08+00:00 25.12.2016 13:59
na ich hoffe doch sehr, das du hier noch weiter schreiben wirst o.o
du kannst das jetzt nicht hier auslaufen lassen.... das würde mir so gar nicht gefallen o.o
(zu mal mir eine richtige beziehung zu hozuka gut gefallen würde XD also zwischen den beiden ;-) )

Von:  Ghaldak
2016-12-23T23:40:17+00:00 24.12.2016 00:40
Ein paar Gedanken zur Abschlussfrage: "Scandia" war der Name Skandinaviens aus jenen vergangenen Zeiten, in denen man es für eine Insel hielt. Wenn man sich unter DER STADT eine Fusion der Ruhrgebietsstädte vorstellt, dann führen einhundert Kilometer über die Grenze in Richtung der Niederlande, vielleicht nach Amsterdam, ehe sie der Flieger nach Dänemark und damit "immerhin in den Norden" bringt.
Antwort von:  Alaiya
24.12.2016 10:35
Danke für den Kommentar :D Bei Scandia liegst du absolut richtig (wobei der Fun Fakt ist, dass ich das historische noch nicht wusste, als ich das erste Kapitel geschrieben habe - bin beim Schreiben der Geschichte eher durch zufall drüber gestolpert, dass das mal der Name war).
DIE STADT liegt allerdings ein ganzes Stück weiter südlich - recht nahe am Äquator ;)
Von:  Yamasha
2016-12-23T13:11:41+00:00 23.12.2016 14:11
Sie ist schwanger o.O das ist mal eine interessante Sache :) Ich mags. Und ja, Bitte schreib eine neue Geschichte mit denen. Am besten hier wo du aufgehört hast.
Ach ja, und ich finds cool, dass sie und Hozuka sich noch kennen und dass sie sogar nachkommt :)
Antwort von:  Alaiya
23.12.2016 15:09
Die Geschichte, die ich mit denen im Kopf habe, würde wahrscheinlich einsetzen, wenn das Kind dann so 3 Jahre alt ist. :)
Antwort von:  Yamasha
23.12.2016 18:26
Ist auch OK. Wäre auf jeden Fall gespannt


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