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[EN]counters

[1219AK2016]
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[DIE STADT – 2082]

Wie ein Labyrinth aus Lichtern und Schatten lag DIE STADT unter ihr. Von hier aus waren keine Menschen erkennbar und selbst die Wagen erkannte man nur dank der sich bewegenden Scheinwerfer, die in der Tiefe der Straßenkluft schimmerten. Die Atmosphärenanzeige im Fenster selbst sagte ihr, dass draußen gute zwölf Grad Celsius herrschten – nicht unbedingt winterliche Temperaturen. DIE STADT lag zu weit im Süden.

Ivory hatte nie gedacht, dass sie einmal hierher kommen würde. DIE STADT war in ihrer Kindheit legendär gewesen. Das Herz der neuen Welt. Mit gesamt 80 Millionen Einwohnern der größte Metroplex der Welt. Ein Ort mit unendlich vielen Möglichkeiten, so hatte man es ihr damals gesagt.

Sicher, als Kind hatte sie, wie so viele andere, davon geträumt einmal hier zu sein – nur waren jene Szenarien doch ganz anders als die jetzige Realität gewesen.

Sie seufzte und rief die Fenstersteuerung im AR-Feld auf, um das Glas wieder milchig weiß werden zu lassen, so dass DIE STADT nur noch ein Schimmer war, der von außen hereindrang. Sie hatte sie nur einmal von hier oben sehen wollen, konnte sie doch noch immer nicht glauben, dass sie wirklich hier war.

Mit einem tiefen Atemzug sog Ivory, die nach Kräutern riechende Luft tief ein, ehe sie zur hölzernen Bank zurück ging und sich auf sie legte. Mit einer Handbewegung rief sie ein weiteres AR-Feld auf, um das Atmosphärenlicht wieder anzuschalten, ehe sie die Augen schloss.

Sie war froh, diesen Ort gefunden zu haben. Es erinnerte sie an Zuhause.

„Dienstag ist Saunatag“, hatte ihr Vater immer gesagt. Immer und immer wieder. Egal wie es in seinem Leben gelaufen war. „Dienstag ist Saunatag.“ Manchmal hatte ihre Mutter dann geschimpft, hatte gemeint, dass es wichtiges zu tun gab, dass es keine Zeit zum Entspannen gab. Ihren Vater hatte das nie gestört. Er hatte dann nur gelacht und gemeint: „Du bist nicht aus Skandia, du kannst das nicht verstehen.“

Und dann hatte ihre Mutter die Augen verdreht und gelächelt.

Ivory hatte es gemocht. Ob zur Schulzeit oder später im Studium. Es war eine Konstante gewesen, etwas, worauf sie sich freuen konnte. Dienstagsabends blieb Zeit zum Entspannen. Dienstagsabends konnte sie allen Ärger vergessen.

Als sie vor zwei Wochen jedoch hier angekommen war, war es alles andere als leicht gewesen, diese Tradition aufrecht zu erhalten. Immerhin war DIE STADT groß. Es war nicht schwer gewesen, eine Sauna zu finden – schwer war es gewesen, die richtige zu finden.

Wie jedes Kind ihrer Generation hatte auch sie die anderen Geschichten gehört. Die Megaplexes waren berüchtigt dafür. Die Gewalt, die Kriminalität, jene Art von Menschen, vor denen Eltern Kinder warnten. Unten in den dunklen Gassen gab es jede Art von menschlichen Abschaum. Manche von ihnen handelten nur mit Drogen und Waffen, die meisten natürlich nicht sauber, doch in den dunklen Schatten der Häuserschluchten konnte alles zur Ware werden.

Gerade ihre Art lief besonders Gefahr, so hatte es ihre Mutter ihr immer wieder eingebläut, eines Tages ohne Kleidung in einem fremden Zimmer aufzuwachen.

Doch solange sie hier stationiert war, hatte sie das Geld um sich zumindest einmal die Woche den Luxus zu leisten. Zu dem Schluss war sie angekommen, nachdem sie sich einige der kleinen Salons angeschaut hatte, die es unten in der Stadt gab. Doch am Ende konnte sie nicht sicher sein, ob auch nur einer dieser Schuppen nicht mit Drogen handelte oder gar mit anderen Dingen.

Deshalb hatte sie sich für das Shahara Spa entschieden, eins der teuersten Spas DER STADT. Es war in einem der Multiplexe gelegen. Das Centix Multiplex war in der Nähe der Hauptstation gelegen und erstreckte sich 68 Stockwerke in den Himmel über der Stadt. Die obersten zehn Stockwerke wurden vom Shahara eingenommen. Hier gab es eine Therme, Massagesalons und eine der größten Saunen der Stadt.

Auch wenn sie es sich nicht würde wöchentlich leisten können, hatte Ivory es sich erlaubt, eine eigene Saunenkabine für eine halbe Stunde zu mieten. Kleine, gerade einmal zweieinhalb Quadratmeter große Kabinen, die sich jedoch komplett auf die eigenen Bedürfnisse regulieren ließen.

Ein Timer im AR Feld sage ihr, dass sie nur noch fünf Minuten hatte.

Sie schloss wieder die Augen, um zumindest ihre letzten Minuten noch zu genießen, ehe sie in den Hauptbereich zurückkehren würde.

Selbst durch die geschlossenen Augenlider konnte sie das grüne Licht sehen, ausgestrahlt von den milchigen Platten an der Decke. Sie beachtete es nicht und konzentrierte sich auf die Geräuschkulisse – Urwaldatmosphäre – während sie die heiße Luft weiter einsog.

Eigentlich mochte sie die Gesellschaft anderer Menschen, doch war DIE STADT für sie, die sie nur aus einer Kleinstadt kam, für sie ein ungewohnt voller Ort mit zu vielen Menschen unterschiedlicher Ethnien.

Bei sich zuhause war sie nur eine von sechs En gewesen, die in der gesamten Stadt gelebt haben. Sie war es gewohnt angestarrt zu werden, doch die Blicke hier waren anders. Vielleicht bildete sie es sich nur ein …

Seit sie von den UF eingezogen worden war, hatte sie mehr En getroffen, als sie es je gedacht hätte. Ihr Leben war anders, als sie es erwartet hätte – doch wie hätte sie als Kind auch mit dem Krieg rechnen können?

Langsam wurde das Licht heller und auch ohne in das AR Feld zu schauen, wusste sie, dass ihre Zeit um war. Mit einem tiefen Seufzen setzte sie sich auf und ging in die kleine Kabine, die an den Raum angeschlossen war, um sich kalt abzuduschen. Anschließend machte sie rasch ihren Zopf neu, ehe sie den Bademantel wieder überwarf.

Sie trat zurück in den Hauptbereich: Ein großer Saal mit einem großen, runden Wasserbecken in der Mitte, um das Liegestühle aufgestellt waren. Das Wasserbecken war leicht erhoben, so dass man erst eine kleine Treppe hinaufsteigen musste, um hinein zu kommen. Die Wände des Beckens waren halb durchsichtig und in blauen Licht erleuchtet.

Für einen Moment zögerte Ivory, doch als sich die ersten Blicke ihr zuwandten, wandte sie sich ab und ging an den Liegestühlen vorbei zur Treppe, die in das Stockwerk drunter führte, wo es weitere Saunen gab. Saunen für vielleicht jeweils dreißig Leute. Saunen, in denen nicht überall gesprochen wurde.

Sie wusste, sie würde sich daran gewöhnen müssen – doch aktuell fühlte sie sich einfach nicht bereit dafür.

Natürlich war ihr klar, dass sie selbst in DER STADT Blicke auf sich zog, mit ihrer viel zu blassen Haut und ihren hell blonden, fast weißen Haaren, wie sie nur bei En vorkamen, doch mochte die diese Blicke nicht. Sie waren nicht einfach nur neugierig. Einige Blicke waren abwertend und andere – die sie noch viel mehr verunsicherten – beinahe hungrig.

Es war nicht so, als hätte sie die Pornos nicht gesehen und von jenen Orten nicht gehört, auch wenn es selten wirkliche En waren, sondern viel eher normale Menschen, die sich Haut und Haare bleichen ließen.

Ivory bemühte sich, die Blicke zu ignorieren, die ihr folgten, als sie in der Etage drunter zwischen den auch hier stehenden Liegen hindurch lief. Sie wusste, dass sie warten musste, ehe sie in die nächste Sauna ging, wenngleich sie gerne in das nebelige Zwielicht des Dampfbades verschwunden wäre.

Sie sah sich um. Sie war das erste Mal hier, weshalb sie nicht sicher war, ob es einen Ort gab, wohin sie vor den Blicken fliehen konnte. Schließlich entdeckte sie eine Tür, die laut Aufschrift zu weiteren Bädern führte.

Von den Blicken abgesehen, musste sie zugeben, dass die gesamte Einrichtung sie etwas verunsicherte. Es war eins der luxuriösesten Spas DER STADT und war entsprechend eingerichtet: Schwarze Natursteine bedeckten den Boden, die Becken waren aus Marmor oder Kristallglas, die hölzernen Bänke aus Holzen von Bäumen, die in den sterbenden Dschungeln der Welt schon lang nicht mehr wuchsen.

Es war anders als die kleine Sauna, in die sie mit ihrem Vater gegangen war. Eine kleine Sauna im Keller eines Schwimmbades. Drei kleine Saunen, in denen sich die „normalen“ Menschen fanden. Anders als hier, wo die wortwörtlichen Reichen und Schönen DER STADT sich zu treffen schienen. Es war offensichtlich, dass die Menschen hier sich selbst hatte optimieren lassen – auch wenn sie nicht En waren. Ebenso war deutlich zu sehen, dass auch andere UF Soldaten hier waren. Auf dem Weg zu den Bädern sah sie gleich zwei Männer und eine Frau mit Cybergliedmaßen, wie sie sie auch an der Kaserne gesehen hatte.

Schließlich floh sie in eins der Eisbäder, da sie hier nur drei andere sah. Immerhin wusste sie noch von Zuhause, dass die meisten Leute hier im Süden die Abkühlung zwischen den Saunen nicht zu schätzen wussten.

Sie zog ihren Bademantel aus und legte ihn in eins der hölzernen Regale am Rand des Beckens, ehe sie sich in das kalte Wasser gleiten ließ.

Während eine andere, junge Frau das Becken gerade verließ, bemerkte einer der Männer Ivory und sah sie an. Es war ein junger Mann, auch wenn man es mit den Mitteln der modernen Medizin nur schwerlich sagen konnte. Zumindest schien sein Gesicht glatt und jung zu sein, was sein Alter auf irgendwo zwischen dreißig und sechzig legen konnte.

Er musterte sie und während sie ihren Blick abwandte, meinte sie dennoch zu sehen, wie ein Lächeln seine Lippen umspielte.

Ihm den Rücken zuwendend tauchte sie unter. Das Becken war gebogen – eigentlich dazu gedacht als ein tieferes Tretbecken zu dienen, so dass das Wasser ihr, wenn sie stand, bis zur Brust reichte.

Als sie wieder auftauchte, konnte sie seinen Blick noch immer im Nacken spüren. Doch sie drehte sich nicht um. Sie wollte nicht mit diesem Mann sprechen, wusste sie doch nicht wie. DIE STADT war soweit von ihrer Heimat entfernt und die Sitten ihr so fremd.

Kleine Wellen breitete sich auf der Wasseroberfläche aus. Kam er zu ihr hinüber? Oh, bitte nicht, dachte sie, schwieg aber, während sie unbewusst selbst einen Schritt zum Rand des Beckens hinüber machte.

Da kamen weitere Schritte in den abgetrennten Bereich, in dem das Becken war. „Hey, Richard“, sagte eine männliche Stimme.

Der Mann hinter ihr drehte sich offenbar um. „Was?“

„Kommst du?“, fragte die Stimme.

Kurzes Schweigen. „Sicher.“ Erneute Bewegung im Wasser und dann hörte sie, wie er das Wasser verließ.

Sie atmete auf, kam jedoch nicht umher die nun folgenden geflüsterten Worte zu hören: „Ist das eine Echte?“

„Sah ganz danach aus“, erwiderte der Mann mit vielsagender Stimme.

Ivory schürzte die Lippen, schwieg aber und tat so, als hätte sie nichts gehört. Sie schloss die Augen und zählte bis zehn. Irgendwann würde sie sich daran gewöhnen, wenn sie überhaupt so lange hier bleiben würde.

Wenn der Krieg vorbei war, wenn die Rebellen zurückgeschlagen waren, würde sie versetzt werden – vielleicht konnte sie auch einfach nach Hause zurückkehren.

An diesem Tag jedoch würde sie sich nicht mehr daran gewöhnen. Als sie die nächste Sauna besuchte folgten ihr die Blicke immer noch und sie hielt den eigenen Blick zu Boden gesenkt. So sehr sie sich auch bemühte, dennoch Entspannung zu finden, so kam sie nicht umher beinahe Angst zu spüren, die ihr die Brust umschlang.

Sie war hier sicher. Niemand würde sie hier attackieren. Niemand würde sie entführen. Das schlimmste, was ihr passieren konnte, war, dass jemand sie blöd anmachte. Ein „Nein“ würde reichen, um die Situation zu beenden.

Zwei Stunden später war sie dennoch noch immer hier, im Shahara, wenngleich sie nicht mehr in einer Sauna oder einem der Becken war. Stattdessen saß sie, in ihren Bademantel gekleidet, an der Bar am Rand des Saunabereiches. Auch wenn diese Bar nun etwas anderes war, als die kleine Theke mit einem Kühlschrank zur Selbstbedienung, den sie von Daheim kannte, war eine Sache, wie Zuhause. Es wurde hier kein Alkohol ausgeschenkt. Sie wusste dies zu schätzen.

So saß sie an der langen Bar und trank langsam an einer hausgemachten Limonade, während sie dankbar war, dass zumindest der Barkeeper, dessen unnatürlich violetten Augen für genetische Optimierung sprachen, ihr nicht mehr Beachtung schenkte als seinen anderen Kunden.

Während man im eigentlichen Saunabereich auf Zierde verzichtet hatte, so bemerkte sie hier einen Lichterbaum am Ende der Bar. Sie wusste, dass die meisten Menschen hier weder Sonnenwende, noch Weihnachten feierten, was es leichter machte. In Mitten der Feierlichkeiten ohne ihre Familie zu sein … Das hätte alles noch schwerer gemacht.

Sie war in Gedanken versunken und so darauf verdacht, ihre Umgebung nicht zu beachten, dass sie zusammenzuckte, als jemand sie ansprach. „Hallo, junge Dame“, meinte der Mann neben ihr. „Bist du allein hier?“

Sie sah sich um und erkannte den Mann aus dem Eisbad auf dem Barhocker neben dem ihren. Sie zögerte. „Ob ich allein bin oder nicht, geht Sie nichts an“, antwortete sie, doch bei weitem nicht so selbstbewusst, wie sie es gern getan hätte. Ihre Stimme klang unsicher, beinahe schon zitterig.

Der Mann, sein Freund oder Kollege zuvor hatte ihn Richard genannt, lächelte, doch etwas an seinem Lächeln, ließ sie frösteln. „Oh bitte, junge Lady, kein Grund zur Feindseligkeit. Ich will dir nichts Böses.“

Es ärgerte Ivory, dass er mit ihr sprach, wie mit einem kleinen Mädchen. „Was auch immer Sie wollen, ich bin nicht interessiert.“

„Ich habe nur eine Frage“, erwiderte er, noch immer lächelnd. „Ich habe dich vorhin und bin nicht umher gekommen, mich zu fragen … Du bist eine echte En, oder?“ Er hob eine Hand griff nach ihrem Haar.

„Lassen Sie mich bitte in Ruhe“, sagte Sie steinern.

„Jetzt komm schon, ich will nur eine Antwort“, meinte er und lachte.

Jemand griff nach seiner Hand und zog sie fort von ihrem Kopf. Ein anderer Mann stand dort und sah „Richard“ an. Der Mann war großgewachsen, hatte dunkle Haut und krauses schwarzes Haar. Passend dazu war auch der Bademantel, den er trug, schwarz. Sein Blick war kühl. „Gibt es hier ein Problem?“

Richard entriss ihm seine Hand und sah ihn für einen Moment an. „Kein Problem, Mister. Kein Problem. Ich wollte die junge Frau nur etwas fragen.“

„Fühlen Sie sich belästigt?“, fragte der Mann nun Ivory und sah sie an.

Für einen Moment zögerte sie, nickte dann aber.

Der Mann sah Richard an, der nur eine Grimasse zog, dann jedoch Aufstand und ging.

„Entschuldigen Sie bitte“, meinte der Mann. „Sie sind neu in der Stadt, nicht?“

„Ja“, antwortete sie leise. „Woher wissen Sie das?“

Der Mann lächelte wohlwollend. „Die Art, wie Sie sich halten. Sie sind den Umgang nicht gewohnt. Sie kommen weiter aus dem Norden, nicht? Und sind hierher gekommen, für einen Job, nehme ich an?“

Ivory senkte den Blick. „Ich bin mit den United Forces hier stationiert“, erwiderte sie und wusste nicht einmal genau warum.

Der Mann nickte nur. „Dann rate ich Ihnen vorsichtig zu sein.“ Er streifte den Ärmel seines Bademantels hoch und zeigte eine Kerbe in seinem linken Arm, knapp unter dem Ellenbogen.

Ivory kannte diese Kerben. Sie waren das einzige, was eine synthetische Prothese verriet. „Sie waren auch im Krieg?“

Mit einem seltsamen Ausdruck auf dem Gesicht, schüttelte er den Kopf. „Nicht einmal das. Ich war nur ein Cop hier. Aber das war ihnen egal.“ Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit, doch er wandte sich ab. „Seien Sie vorsichtig“, meinte er erneut. „Und haben Sie einen angenehmen Aufenthalt.“

„Warten Sie!“, sagte Ivory schnell, bevor er gehen konnte.

Er drehte sich um.

Für einen Moment zögerte sie. „Danke für Ihre Hilfe.“ Ein erneutes Zögern. „Darf ich Sie auf etwas einladen?“

Auch der Mann zögerte, doch dann lächelte er. „Wenn Sie wollen … Sicher.“

Zugegebener Maßen war es nicht nur Dankbarkeit, die Ivory dazu bewegte. Es war angenehm sich mit jemanden zu unterhalten, der sich an ihrer Andersartigkeit nicht zu stören schien – und gleichzeitig hielt es andere davon ab, sie anzusprechen.

Sie fand bald heraus, dass der Mann Thomas McCoy hieß und in DER STADT aufgewachsen war. Er war ein Polizist gewesen, bis er in eine der Attacken der Terroristen geraten war und seinen halben Arm verloren hatte. Er war nicht länger Einsatzfähig – in den Augen der Polizei gewesen – und arbeitete nun als Private Security. Seinen Einkünften hatte es nicht geschadet, im Gegenteil, doch Ivory wurde bald klar, dass er das Geld gern gegen seine alte Stellung getauscht hatte.

„Ich komme nicht umher mich zu fragen“, meinte er und musterte sie, „was ein junges Mädchen wie du bei den UF macht. Verzeih mir, wenn ich das sage, aber du siehst nicht aus wie eine Soldatin.“

Ivory senkte den Blick und beobachtete das Glas in ihrer Hand. Es war mit roter Schorle gefüllt in der Eiswürfel schwammen. „Es war nicht meine Entscheidung. Oben im Norden wurden wir eingezogen.“

Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie er die Stirn runzelte. „Eingezogen? Zwangsrekrutiert?“ Er schüttelte den Kopf. „Davon wusste ich noch nichts.“

„Sie haben davon auch nicht berichtet“, erwiderte sie. „Es sind nur wir …“ Sie schwieg für einen Moment. „Wir En.“

Nun war es Thomas, der zögerte. „Können sie das einfach so tun?“

„In manchen Fällen …“ Sie trank einen Schluck, um sich eine Pause zu verschaffen. Vielleicht sollte sie nicht weiter reden, doch die Wahrheit war, dass sie sich einsam fühlte und sein Lächeln angenehm fand. „Bei uns hat die Regierung ein En-Programm gefördert. Embryos mit defekten Genen wurden optimiert. Ohne das Programm wäre ich nicht lebensfähig gewesen. Es waren Tests für eine neue En-Technologie“, erklärte sie mit gesenkter Stimme. Es fühlte sich so irreal an, darüber zu sprechen. Ihre Mutter hatte ihr davon erzählt, als sie noch jung gewesen war. Wie sie die Nachricht erhalten hatte, dass sie sie verlieren würde und wie die Regierung sich mit ihr in Verbindung gesetzt hatte. Ihre Eltern hatten lange versucht ein Kind zu bekommen – ohne Erfolg.

Das unterschied sie von den meisten der anderen En. Die meisten En waren Kinder reicher Eltern, die es sich leisten konnten, die Gene ihrer Kinder umschreiben zu lassen. Ihre Eltern jedoch waren Mittelständler gewesen. Ihr Vater war ein einfacher Elektroingeneur gewesen mit einem eigenen kleinen Unternehmen.

Nie hätten ihre Eltern das Geld für den Prozess gehabt, doch die Regierung hatte sie gerettet, hatte sie nicht nur Lebensfähig sondern besser als die normalen Menschen gemacht. Sie war stärker, schneller, leistungsfähiger als normale Menschen – wie alle Ens. Vielleicht hätten ihre Eltern es wissen müssen.

Als der Krieg kam und sich länger hinzog, als man es zuerst angenommen hatte, wurden sie eingezogen. Sie, die Experimente der Staaten. Immerhin schuldeten sie den Staaten ihr Leben.

„Wie lang ist es her?“, fragte Thomas.

„Zwei Jahre“, erwiderte sie. „Wir wurden erst trainiert. Wir sind … Zu Wertvoll, um einfach so auf das Schlachtfeld geworfen zu werden.“ Sie machte eine Pause. „Ich bin erst seit zehn Tagen hier.“

Thomas schwieg für eine Weile, nun selbst den Blick auf sein Getränk gewandt. „Das erste Mal soweit fort von der Familie?“, fragte er mit einem bitteren Ton in der Stimme.

„Ja“, antwortete sie nüchtern. Sie spürte etwas schweres in der Magengegend, als sie daran dachte, dass sie ihre Familie vielleicht nie wiedersehen würde. Irgendwann würde die nächste Attacke kommen und sie würde kämpfen müssen. Vielleicht würde sie dann sterben.

Ein Zittern lief durch ihren Körper, bevor sie sich beherrschen konnte.

Thomas legte eine Hand auf ihren Rücken. „Es gibt nicht viel, was ich sagen könnte, um dir zu helfen. Nur so viel: Man kann sich an vieles gewöhnen. Auch an Krieg.“

Sie nickte, antwortete aber nicht.

„Sag, Ivory“, fuhr er fort. „Wie alt bist du eigentlich?“

„27“, antwortete sie. Sie sah ihn an. „Ich wollte eigentlich Chemikerin werden. Ich hatte mein Studium gerade abgeschlossen, als die Nachricht kam. Jetzt bin ich hier und vielleicht …“

„Und vielleicht bist du in ein paar Monaten wieder zuhause“, beendete er ihren Satz. Nach einem Zögern hob er seine Hand und strich ihr über die Wange.

Sie zuckte zusammen. Nicht ob der unerwarteten Geste, sondern weil sie sich erst in diesem Moment, als sie die kalten Finger spürte, daran erinnerte, dass es nicht seine richtige Hand war. Dennoch schaffte sie es, sich zu beherrschen und nicht zurück zu weichen.

Ivory wusste nicht, wie sie diese Geste interpretieren sollte. Sie erinnerte sich daran, dass sie Thomas nicht einmal seit einer Stunde kannte. Doch eine Tatsache war, dass sie sich in dieser fremden STADT einsam fühlte. Von den anderen Soldaten kannte sie kaum jemand. Auch die anderen En, die wie sie unfreiwillig da waren, erschienen ihr oft fremd.

Außerdem hasste sie, von allen nur als „eine En“ gesehen zu werden.

Vielleicht, weil sie zumindest einen Sinn in diesem Krieg sahen, den sie nicht finden konnte. Vielleicht auch nur, weil sie Heimweh hatte.

Die Sonnenwende war nur wenige Tage entfernt. Um diese Zeit im Jahr würde sie normal nach Hause kommen. Ihr Vater würde sie abholen. Dann würde sie bis zum Neujahr bei ihrer Familie bleiben. Jetzt schien das kommende Jahr so weit entfernt.

Thomas zog seine Hand zurück. „Entschuldige. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“

Sie schüttelte nur den Kopf. „Schon gut.“

Er sah sie für einen Moment nachdenklich an. „Vielleicht ist dies nicht der richtige Ort für solche Gespräche.“

„Vielleicht“, erwiderte sie. „Es tut mir leid, dich damit belastet zu haben.“

„Schon gut“, meinte Thomas und lächelte sie an. Er machte eine Pause. „Was würdest du davon halten, das Gespräch über einem guten Abendessen fortzuführen. Weiter unten im Centix gäbe es ein Restaurant, das ich empfehlen könnte.“

Ivory verstand die Andeutung, die in seinem Vorschlag mitschwang. Wieder musste sie zögern, doch dann lächelte sie matt. „Ja, wieso nicht.“ Nach allem, was sie über DIE STADT wusste, war es vielleicht falsch einem praktisch Fremden zu vertrauen – doch sicher war es besser, als eine weitere Nacht einsam im Dunkeln zu liegen.

Thomas schien ein aufrichtiger Mann zu sein. Jemand, dem sie zumindest für jetzt vertrauen wollte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Yamasha
2016-12-20T06:46:35+00:00 20.12.2016 07:46
Ok, ist vllt nicht ganz passend für Weihnachten, aber trotzdem echt süß. Ich mag Ivory sehr gerne und auch Thomas scheint ein guter Mensch zu sein. Ich freue mich auf mehr Kapitel :)
Antwort von:  Alaiya
20.12.2016 10:29
Danke :) Thomas kommt leider (ich fand es ehrlich gesagt auch etwas schade - aber ja, Konzept) nicht mehr groß vor :( Er war von den Charas in der Geschichte auch einer meiner Favoriten.
Von:  Taroru
2016-12-19T17:02:29+00:00 19.12.2016 18:02
ui :-O
endlich mal wieder gewaltiges Lesefutter!
Mal wieder was völlig eigenes, gefällt mir ausgesprochen gut, mach mich neugierig auf mehr und bin in der hinsicht auch schon wieder wahnsinnig ungeduldig :-p
Ich mag Ivory, und ihre Art, so ähnlich fühlt man sich als Landei auch, wenn man Plötzlich in der Großstadt leben soll, von der Seite her, kann ich sie wirklich wahnsinnig gut verstehen.
Thomas mag ich auch, er scheint eine ruhige, aber lockere Art an sich zu haben, ich hoffe das bleibt auch so *lach*
Und was mir nach wie vor an deinen Texten gefällt, ist einfach die Art und Weiße wie du Dinge beschreibst, es klingt immer irgendwie beiläufig, man erfährt Details, Hintergrundwissen, quasie im vorbei laufen (so wie man einen Flur langläuft, gar nicht bewusst auf die Stufen achtet, und dann fest stellt, das dort ein Stück rausgebrochen ist, oder jemand seinen Kaugummi dort hin geklebt hat, man nimmt es nicht bewusst wahr, dennoch sieht man es, ich hoffe du verstehst was ich meine)

Ich freu mich auf jeden Fall, auf mehr Lesefutter :-)
Und Danke dir, das du aktiv am tippseln bist :-p
Antwort von:  Alaiya
19.12.2016 23:36
Danke für den Kommentar :D
Die Geschichte wird auch gesamt über ihre Entwicklung in den Jahren in der Stadt gehen. Ich kann dir gleich sagen, dass sie natürlich nicht so bleibt :)
Und danke.

Ich könnte an der Stelle allerdings auch noch anmerken, dass ich dich auf die Shadowrun Geschichten verweisen kann. Diese sind, wenn man so will, auch als Cyberpunk Original sehen - nur das die Welt vorgegeben ist. Aber alles eigene Charaktere und so ;)


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