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Alb Träume - Leseprobe

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Die erste Nacht

Die erste Nacht
 

Fahles Mondlicht durchdringt die Nebelschleier der Zwischenwelt. Zu jeder Zeit herrscht hier Zwielicht und die Nebel verschwinden niemals. Die Menschen, wir nennen sie Träumer, nehmen wir nur als dunkle, formlose Schemen wahr, bis sie schlafen. Dann erst verdichtet sich ihre Gestalt und wir können in ihren Geist eindringen, uns an den Träumen und der Angst laben. Während sie schlafen, ist Angst das stärkste Gefühl, wozu sie fähig sind. Es füllt sie aus und beherrscht ihr gesamtes Wesen. In dem Moment, in dem die Angst übermächtig wird, rauben wir sie, laben uns an ihr und für eine kurze Zeit bleibt nur eine leere Hülle zurück. Träumer sind erstaunlich, denn ihre Angst verschwindet niemals gänzlich. Sie ist immer da, weggesperrt in ihrem Innersten.

Die Dächer unter mir heben sich matt glänzend von den dunklen Straßenschluchten ab; wie kleine Inseln in einem Meer aus wabernder Schwärze. Ich sitze auf einem metallenen Gestell, welche die Menschen auf ihre Dächer bauen. Höher noch als die Kaminschlote ragen sie in den Himmel und wiegen sich in jedem Windhauch. Unablässig verlassen silberne Rauchschwaden den Schlot neben mir, zerfasern und vermischen sich mit den Nebelschleiern. Obwohl ich schon unendlich viele Träume der Menschen gesehen habe, sind sie mir dennoch ein Rätsel. Ich verstehe sie nicht; nicht ihre Sprache und auch nicht ihr Handeln. Ihre Träume sind für mich nichts weiter als eine kleine Welt aus seltsamen Dingen, durch die die Träumer beinahe blind stolpern. Ich folge ihnen durch diese Welt, doch sie nehmen mich nicht wahr, denn ich bin kein Teil davon. Ich beobachte, lauere und warte auf den Zeitpunkt, da die Angst die kleine Welt überflutet und ich mich an ihr laben kann.

Doch nicht alle Menschen träumen. Die, die es tun, verströmen einen Duft. Jeder Träumer hat einen anderen, einzigartigen Geruch, der uns anlockt.

Ich richte mich auf und wittere.

Noch nichts.

Er ist noch immer nicht da. Dieser berauschende Duft. Ich schließe meine Augen, atme tief durch die Nase; wittere erneut und warte.

Die feinen Härchen in meinem Nacken und auf meinen Armen stellen sich auf. Meine Haut kribbelt vor Erwartung. Meine Fühler zucken vor Erregung. Jede Faser meines Körpers ist angespannt und lechzt nach dem, was kommen wird.

Noch immer nichts.

Ich weiß, er war hier. Dieser seltsame, zarte, nein – nicht zart. Eher schwach, nein, schwach auch nicht.

Wenn man ihn gefunden hat, diesen seltsamen Duft, kann man nicht glauben, ihn vorher nicht wahrgenommen zu haben.

So präsent.
 

Dort! Ja, das ist er! Dieser Duft! Markant, herb und doch so leicht wie ein Windhauch. Mit einem Flügelschlag bin ich in der Luft. Das metallene Gestell unter mir verbiegt sich durch die Wucht meines Startes. Mit geschlossenen Augen folge ich der Spur. Die Nebelschwaden teilen sich vor mir und verwirbeln hinter mir. Feuchtigkeit bildet sich auf meiner fahlen Haut und perlt in kleinen Tröpfchen von ihr ab. Der Geruch führt mich hinab in die Häuserschluchten, ein Labyrinth aus dunklen Gängen und Gassen.

Er wird stärker; nicht mehr weit! Nur noch eine Gasse, dann bin ich da.

Mein Körper kribbelt vor Aufregung. Ich lecke mir über die trockenen Lippen. Ich bin da! Genau hier ist es. Ich stoppe und öffne die Augen. Vor mir ragt schemenhaft ein mehrstöckiges Haus aus der Schwärze. Ein mattgrauer Schatten eilt darauf zu und verschwindet in der Tür. Wie tote Augen schauen die Fenster ins Leere, alle, bis auf eines. Ganz oben, direkt unter dem Dach. Ich fliege hinauf, wittere erneut.

Das muss es sein!

Dieser Duft ist hier so markant, so stark!

Ich gleite durch den Fensterspalt und schaue mich um.

Ich habe ihn gefunden. Den Menschen, der dieser Duft verströmt. Ein heftiges Prickeln erfasst meinen Körper, meine Flügel zittern vor Verlangen. Silbergrauer Staub rieselt aus ihnen hinab zum Boden. Meine Kehle ist trocken und ich fühle mich, als wäre ich kurz vor dem Verdursten. Mit einem Satz bin ich bei ihm, setze mich auf seine Brust und taste mit meinen Fühlern schier wahnsinnig vor Hunger, Durst und Lust nach seinem Geist.

Dort! Der Eingang. Unfähig, mich zu zügeln, presche ich vorwärts, erobere den Traum des schlafenden Menschen.

Oh ja – dieser Duft, dieses Gefühl, dieser vollkommene Geist.

Ich will ihn zerbrechen!
 

Ich stehe am Rande eines großen Platzes. Mehrstöckige Häuser mit verzierten Fassaden und Balkonen umsäumen ihn und in seiner Mitte befindet sich ein Brunnen, auf dem drei steinerne, menschliche Wesen mit gefiederten Flügeln tanzen. In ihren Händen halten sie Krüge, aus denen unablässig Wasser in das runde Becken fließt. Neben dem Brunnen ist ein Podest aus Holz aufgebaut. Um es herum stehen Menschen, starren gebannt zu der Person hinauf, die sich darauf befindet.

Nur ein Mensch nicht.

In der letzten Reihe steht er und scheint mich direkt anzusehen. In seiner Mimik ist keine Regung zu erkennen, er schaut nur, nichts weiter. Sieht er mich tatsächlich? Hört er noch, was auf dem Podest geredet wird?

Plötzlich ein Schrei, gefolgt von einem zweiten. Von allen Seiten stürzen bewaffnete Männer auf den Platz, umkreisen die Menschen, die panisch versuchen, in alle Richtungen zu fliehen.

Der Träumer ist verschwunden. Ich habe ihn aus den Augen verloren, doch das macht nichts. Ich werde ihn schnell wieder finden, schließlich ist dies hier sein Geist.

Immer mehr Schreie ertönen, dann fällt der erste Schuss. Ich ziehe mich in einen Hauseingang zurück und beobachte das Gemetzel. Der Himmel, eben noch hell, verdunkelt sich, doch es fängt nicht an zu regnen. Auf dem Platz liegen Verletzte und Tote. Der Boden unter ihnen färbt sich rot. Das Massaker ist so schnell vorbei, wie es begonnen hat. Die bewaffneten Männer stehen am Rand des Platzes, noch immer sind einzelne Schüsse zu hören, vermischt mit den Schmerzensschreien und dem Stöhnen der Sterbenden – und der Toten.

Einer nach dem Anderen erheben sie sich. Groteske Monstrositäten, die einst Menschen waren. Taumelnd und stöhnend schlurfen sie über den Platz, auf die bewaffneten Menschen zu. Diese schießen nun von allen Seiten auf die unzähligen, auf sie zu wankenden Leichen.
 

Die Szenerie ändert sich.

Ich stehe in einem großen Haus, abseits der Stadt. Die Fenster und Türen sind verbarrikadiert. Vom Zimmer nebenan dringt das Surren gedämpfter Stimmen zu mir. Jemand scheint zu diskutieren.

Ich gehe hinüber und bleibe im Türrahmen stehen.

Dort ist er, der Träumer mit dem makellosen Duft. Er sitzt auf dem Boden, neben ihm drei weitere Menschen. Vor ihnen stehen geöffnete Blechdosen mit Nahrung. Wieder dreht er den Kopf zu mir, schaut mich an, sagt jedoch nichts. Sieht er mich wirklich? Bemerkt er meine Präsenz?

Einer seiner Gefährten schlägt ihm auf die Schulter, fragt ihn etwas, doch der Träumer schüttelt nur den Kopf. Er nimmt sich eine Dose und beginnt zu essen.

Ich beobachte sie. Sie wirken angespannt, ihre Blicke wandern immer wieder zu der großen Glastür, die auf eine Terrasse führt. Sie ist mit dem großen Tisch und einem leeren Regal notdürftig verbarrikadiert. Langsam wird es dunkel. Der Träumer steht auf und geht zur Tür, während sich seine Gefährten auf einem Lager aus Kissen und Decken schlafen legen.

Er späht nach draußen, halb verdeckt vom Tisch, um nicht gesehen zu werden. Ich stelle mich neben ihn und sehe ebenfalls hinaus.

Ich kann mich kaum zügeln, sein Duft wird immer intensiver. Doch noch ist es nicht so weit. Noch hat die Angst nicht ihren Höhepunkt erreicht.

Vor dem Haus herrscht Chaos. Eines dieser metallenen Gefährte, mit denen die Menschen sich fortbewegen, lehnt schräg an dem eisernen Zaun, der den kleinen Garten umschließt. Die Türen an beiden Seiten stehen offen und tote Körper hängen, nur von Gurten gehalten, aus ihnen heraus. Diese hier sind noch nicht wieder auferstanden, nicht so wie die Toten auf dem Platz. Unweit vom Zaun, an einem kahlen Baum, bewegt sich eine Schaukel leicht im Wind. Nur noch ein Seil hält das hölzerne Sitzbrett, von dem die Farbe abblättert. Auf der Straße wird es dunkler, doch es leuchten keine Lichter auf, auch nicht in den wenigen Gebäuden rings herum.

Der Träumer lässt die Umgebung keine Sekunde aus den Augen. Neben ihm liegt eines der Tischbeine, an dessen Ende sich ein rostroter Fleck befindet und ein kleiner Silberlöffel.

Eine Bewegung auf der anderen Straßenseite. Er duckt sich, seinen Blick angestrengt nach draußen gerichtet. Ein Huschen zwischen den verlassenen, metallenen Kutschen, dann ein kleines, grünliches Licht und ein Schatten, zu dem sich ein weiterer gesellt.

Der Träumer zischt leise und schleicht zurück zu seinen Gefährten. Sofort sind sie wach. Geduckt verlassen sie den Raum. Jeder sucht sich ein Versteck. Ich folge dem Träumer die Treppe hinauf. Oben sind drei weitere Räume. Einer von ihnen beherbergt ein großes Bett, das in der Ecke steht. Mittig im Raum liegt ein Gitterbett auf der Seite, die Kissen und Stofftiere sind herausgefallen. Der Träumer rückt das große Bett etwas von der Wand ab, die huschende Bewegung dahinter nimmt er nicht wahr.

Die zerwühlten Decken und Kissen stopft er in den entstandenen Spalt. Unten ist das Klirren von Glas zu hören, Schritte, die die Splitter zum Knacken bringen, und gedämpfte Stimmen. Schnell versteckt sich der Träumer unter den Decken. Er zittert, sein Atem geht stoßweise, sein Herzschlag ist schnell.

Panik erfüllt den ganzen Raum. Ich spüre sie, als wäre sie greifbar, und je größer sie wird, desto verlockender wird auch der Duft des Träumers. Es schaudert mich. Ich kann seine Angst beinahe greifen. Ich lecke mir über die Lippen und trete einen Schritt in den Raum hinein. Mein Hunger hat seinen Höhepunkt erreicht, jetzt wo auch die Angst des Träumers seinen ganzen Verstand ausfüllt.

Ich presche vorwärts, als sich hinter der Rückenlehne des großen Bettes eine fahle, tote Babyhand hervorreckt.
 

Ich blicke in angsterfüllte, dunkle Augen, höre den heftig keuchenden Atem des Menschen. Die Konturen seines Gesichtes verschwimmen langsam. Noch kann er sich nicht bewegen, doch das ändert sich gleich. Ich rücke von ihm ab, setze mich an das Ende des Bettes, mustere ihn, der mehr und mehr an Form verliert, bis er nur noch ein grauer Schemen ist. Meine Fühler sind nach hinten gebogen, meine Flügel zusammengefaltet.

Der Geruch ist fort, doch ich bin vorerst gesättigt.

Dieser Mensch ist – interessant.

Sein Duft und seine Träume sind einzigartig und seine Angst äußerst wohlschmeckend.
 

~Fortsetzung folgt in der Anthologie "Like a Dream"~



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