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Nobody Knows She

von

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Das seltsame Mädchen

Kapitel 1 – Das seltsame Mädchen

Die Wolken hingen tief und versprachen Regen. Es wurde kälter. Auch wenn es über den Tag hinweg schon beinahe ungewöhnlich warm für einen Februartag gewesen war, würden die Temperaturen schon bald wieder den Gefrierpunkt erreicht haben.

Ein weißer Sportwagen raste über die leeren Straßen. Am Steuer des Wagens saß ein junger Mann. Rote Haare hingen ihm über die Augen, welche starr auf die Straße gerichtet waren. Sein ganzer Körper wirkte angespannt und sein war Blick kalt und von Wut verklärt. Er trug einen schwarzen Mantel, an dessen Ärmel sich ein langer Riss befand. Darunter konnte man eine Schnittwunde erkennen, doch sah sie nicht sehr tief aus, anders, als das Blut, welches auf dem Mantel des Mannes klebte, vermuten ließe.

Der Auftrag war ein Desaster gewesen. Nicht nur, dass sich die Zielperson nicht am vermuteten Ort befunden hatte, noch dazu war wesentlich mehr Security um diese herum postiert. Daran, dass Schwarz ebenfalls an Ort und Stelle aufgetaucht war, wollte er gar nicht denken. Auch nicht, dass er und sein Team die Drecksarbeit für sie hatte erledigen müssen, nachdem deren Orakel mit ihm verhandelt hatte. Nicht, dass er das Ziel nicht ohnehin ausgeschaltet hätte, doch das Wissen, Schwarz in die Hände gespielt zu haben, machte ihn wütend.

Drei weitere Männer saßen mit ihm im Wagen. Ihre Blick glitten immer wieder fragend zum Fahrer, doch sagten sie nichts. Sie wussten gut genug, dass sie den jungen Mann besser nicht anredeten, solange er sich in diesem Zustand befand.

Mit quietschenden Reifen nahm der Wagen die nächste Kurve. Nicht mehr lange und die vier Männer würden zu Hause sein. Die Digitaluhr auf der Armatur zeigte weit nach Mitternacht und die Männer waren erschöpft und müde. Der Fahrer schaltete einen Gang runter und nahm die nächste, deutlich engere Kurve. Plötzlich tauchte hinter der Ecke, wie aus dem Nichts, eine Gestalt im Scheinwerferlicht auf. Sie war nicht sehr groß und trug eine lange, weite Hose und einen Pulli, dessen Kapuze ihr Gesicht verdeckte.

„Scheiße!“ Der Fahrer trat auf die Bremse und zog das Lenkrad herum. Nur knapp verfehlte der Wagen die Gestalt und kam nach einer Umdrehung einige Meter hinter ihr zum Stehen.

„Verflucht!“ Der Beifahrer des Wagens schaute erst nach vorne, dann zu seinem Nebenmann. Dieser blickte nur mit weit aufgerissenen Augen auf die Stelle, an der die Person noch immer stand. „Alles OK bei dir, Aya?“ Er legte dem Mann eine Hand auf die Schulter. Dieser nickte nur leicht und atmete einmal tief durch. „Wie sieht es bei euch Beiden aus?“ Der Beifahrer drehte sich nach hinten und schaute zu den beiden Männern auf den Rücksitz.

„Alles in Ordnung, nichts passiert.“, kam prompt die Antwort, was ihn erleichtert nicken ließ.

Ayas Wut war schlagartig verraucht. Er stieg aus und ging zu der Person einige Meter vor ihm. Diese stand zitternd noch immer an der Stelle, an welcher der junge Mann ihr ausgewichen war. „Alles in Ordnung bei Ihnen?“ Aya streckte eine Hand aus und berührte die Person vorsichtig am Arm. Erschrocken fuhr diese herum und schaute ihn mit panischem Blick an. Die Kapuze rutschte etwas nach hinten und gab einige wirre, weiße Haarsträhnen des viel zu langen Ponys frei. Aya erkannte, dass es sich bei der Person um ein junges Mädchen handelte. Nur kurz ruhte ihr Blick auf ihm, dann verschwand die Panik und eine Leere schlich sich in ihre Augen, die ihn frösteln ließ. Noch ehe er etwas sagen konnte, verdrehten sich ihre Augen und sich sackte ohnmächtig in sich zusammen.

Schnell fing er das junge Mädchen auf und hob sie hoch. Sie war erschreckend leicht, zu leicht, selbst für ihre Größe.

„Was ist passiert?“ Die drei anderen Männer stiegen ebenfalls aus dem Wagen und traten hinzu.

„Sie ist ohnmächtig geworden, wahrscheinlich wegen des Schocks,“

„Es würde mich wundern, wenn es nur das wäre.“ Der blonde Mann, welcher auf dem Beifahrersitz gesessen hatte, trat neben Aya. „Sie dir an wie sie angezogen ist. Dünner Pulli, dünne Hose, Turnschuhe. Nicht gerade passend für diese Temperaturen, meinst du nicht?“ Aya nickte nur. „Wir nehmen sie mit.“, sagte er ruhig und ging mit dem Mädchen auf dem Arm zurück zum Wagen. „Ken, Omi, Ihr müsst sie mit zu euch auf den Rücksitz nehmen.“

Beide angesprochenen nickten und nahmen ihm das Mädchen ab.

„Bist du sicher, dass das klug ist? Sie muss in ein Krankenhaus. Hast du ihre geschwollene Wange nicht gesehen? Was ist, wenn etwas gebrochen ist?“ Der blonde Mann trat neben Aya und schaute diesen eindringlich an.

„Wir werden sie morgen hinbringen, sollte es ihr nicht gut gehen. Wenn wir jetzt, so wie wir aussehen, in einem Krankenhaus auftauchen, beschert uns das nur unnötig viel Aufmerksamkeit und bohrende Fragen. Kritiker wird nicht erfreut darüber sein und du als ehemaliger Privatdetektiv, solltest doch am Besten wissen, dass Diskretion für uns am wichtigsten ist, oder Yohji?“ Der Angesprochene nickte seufzend. „Du hast recht.“ Es sah so aus als wollte er noch etwas hinzufügen, entschied sich aber dagegen und setzte sich wieder in den Wagen. Ken und Omi waren mittlerweile ebenfalls wieder eingestiegen. Omi hatte das bewusstlose Mädchen auf seinem Schoß und schaute dieses besorgt an.

„Sie sieht erschreckend blass aus.“, meinte er leise.
 

„Wo soll sie überhaupt schlafen?“ Die vier jungen Männer waren endlich zu Hause angekommen. Yohji stieg aus dem Wagen und schaute über diesen hinweg zu Aya, der das Mädchen wieder auf seinen Arm hob. „Du kannst sie schlecht auf dieser saumäßig unbequemen Couch im Wohnzimmer schlafen lassen, oder?“ Er schloss die Tür und kam um den Wagen herum.

„Ich werde im Wohnzimmer schlafen.“ Aya drehte dich um und verschwand im Haus.

Yohji folgte ihm. „Jetzt warte doch mal. Das musst du doch gar nicht! Mein Bett ist groß genug, da passen locker zwei drauf.“

„Danke, keinen Bedarf.“, meinte Aya nur kühl.

„Ich hab von dem Mädchen geredet. Ich wette sie ist ziemlich unterkühlt, bei dem was sie anhat und ich könnte sie wärmen.“, grinste er.

Wütend funkelte Aya ihn an.

„Schon gut, schon gut!“ Yohji hob beschwichtigend die Hände. „War nur ein Scherz, ehrlich.“

„Deine Witze werden auch immer schlechter, Koudo.“ zischte Aya und verschwand mit dem Mädchen die Treppe hinauf.

„War das wirklich nötig?“ Kopfschüttelnd schaute Ken Yohji an. „Kommt schon! Ihr wisst, das sie vom Alter her nicht in mein Beuteschema fällt!“, versuchte der Blonde Mann sich zu rechtfertigen.

„Trotzdem, Aya hat recht. Der Witz war mies.“, meinte nun auch Omi und ging ebenfalls die Treppe hinauf. „Hey, kommt schon. Es tut mir Leid. OK?“ Yohji schaute erst zu Ken, dann zu Omi. “Ich hab´s wirklich nicht so gemeint.”

„Schon OK, ich glaube dir.“ Ken legte Yohji lächelnd eine Hand auf die Schulter.

Yohji lächelte. „Omi?“ Bittend schaute er zu ihrem Jüngsten hinauf.

„Ist ja gut. Aber zur Strafe, dürfen wir vor dir ins Bad!“, grinste er.

„Och nö, bitte …“ Yohjis Blick wurde flehend.

„Kein Aber! Das ist die gerechte Strafe dafür.“, lachte der Junge und verschwand hinter einer der Türen.

„Damit wirst du dich jetzt abfinden müssen.“ Auch Ken grinste und ging nach oben.
 

In seinem Zimmer angekommen, legte Aya das noch immer bewusstlose Mädchen auf sein Bett. Jetzt im Licht, sah sie noch mitgenommener aus als vorher. Ihre rechte Wange war blauviolett verfärbt und geschwollen, was ihre helle Haut noch blasser erscheinen ließ. Ihre spröden Lippen wiesen ebenfalls eine leicht bläuliche Färbung auf. Sie musste schnellstens aus ihren Sachen raus und gewärmt werden. Vorsichtig setzte er das Mädchen auf und zog ihr den leichten Pulli aus. Unter ihm trug sie nichts weiter als einen kurzen Top, was das bisschen Busen, das sie besaß, noch kleiner wirken ließ. Sie konnte noch nicht sehr alt sein, allerhöchstens 16, schätzte er. Aber sie war definitiv keine Asiatin. Vielleicht aus Amerika oder Europa.

Scharf zog er die Luft ein, als er ihren Rücken sah. Blassrote Striemen und kleinere Narben übersäten die fahle Haut und unter ihnen konnte er eine große, weitaus ältere Narbe erkennen, welche einmal Quer von oben nach unten über den Rücken verlief.

„Was zum…“, er stockte. Dieses Mädchen warf mehr Fragen auf, als er erwartet hatte. Als er ihr die Hose auszog, erkannte er einen langen, tiefen Kratzer in ihrer linken Wade. Allzu alt war dieser noch nicht, vielleicht 2 bis 3 Tage etwa. Das Fleisch um die Wundränder herum war rot und entzündet. “Kopfschüttelnd sah er das Mädchen an. „Wer bist du?“, flüsterte er und deckte sie zu.
 

Er ging ins Bad und holte einige Wärmflaschen aus dem Schrank. Zum Glück hatten sie vier davon, die würde er jetzt auch dringend benötigen. In der Küche stellte er den Wasserkocher an um die Wärmflaschen zu füllen.

Er umwickelte sie mit Handtüchern und ging danach wieder hinauf in sein Zimmer.

Omi kam gerade aus dem Bad. „Wie geht es ihr?“, fragte er sofort, als er Aya erblickt. „Kann ich noch nicht genau sagen. Sie muss erst einmal gewärmt werden und dann werden wir weiter sehen.“ Der Jüngere nickte. „Sag Bescheid, wenn ich irgend etwas tun kann.“ Aya überlegte kurz. „Du könntest mir den Verbandskasten bringen. Das Mädchen hat eine Wunde am Bein, die sich entzündet hat.“

„Sicher.“ Omi nickte und ging noch einmal ins Bad zurück.
 

Das Mädchen schlief noch immer. Es hätte den jungen Mann auch sehr gewundert, wenn es anders gewesen wäre. Aya legte ihr die Wärmflaschen auf die Brust und in den Nacken und deckte sie zu.

Es klopfte und Omi trat ein. „Hier ist der Verbandskasten.“ Er reichte ihn Aya und schaute besorgt zu dem Mädchen.

„Ich kümmere mich um sie. Leg dich jetzt hin, du brauchst dringend Schlaf.“, meinte er nur noch zu Omi und machte sich daran die Wunde an ihrem Bein zu säubern und zu verbinden. „Du aber auch.“, lächelte Omi und verließ das Zimmer.

Nachdem Aya die Wunde gesäubert und verbunden hatte, platzierte er die restlichen beiden Wärmflaschen auf den Beinen und an den Füßen des Mädchens. Er deckte sie sorgfältig zu und stand auf.

Einen Moment lang stand er unschlüssig im Zimmer. Er konnte jetzt nicht einfach nach unten gehen und das Mädchen hier alleine lassen. Was wenn sie aufwachte? Was wenn sich ihr Zustand verschlechterte?

Aya seufzte und holte eine weitere Decke aus dem Schrank. Schräg gegenüber des Bettes stand eine dunkle Ledercouch und ein niedriger Tisch. Die Couch war zwar nur ein Zweisitzer, aber eine andere Alternative gab es nicht. Eine Nacht würde es auch so gehen und morgen konnten sie sich zusammen Gedanken machen, wie es weiter gehen sollte immer in Anlehnung daran, wie es dem seltsamen Mädchen ging. Nachdem Aya geduscht hatte und seine Sachen den Weg in die Wäsche fanden, kehrte er zurück in sein Zimmer. Er war der Letzte, der unter die Dusche stieg und ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es bereits halb vier durch war.

Was für ein Glück, das morgen Sonntag war und der Laden nicht geöffnet werden musste.
 

Weich…

Warm…

Langsam erwachte sie aus ihrem traumlosen Schlaf. Sie spürte das weiche Bettzeug auf und unter sich. Sie wollte die Augen nicht öffnen. Einfach weiter hier liegen bleiben, das wäre schön.

Aber, Moment. Wo war HIER? Ihre Gedanken stockten kurz, nur um sofort wie endlose Wassermassen über sie hinweg zu rauschen. Die Erinnerungen der letzten Tage brachen über sie herein und panisch öffnete sie die Augen.

WO war sie?

Der Raum war hell und sie war allein. Es war jedoch kein Krankenzimmer, er der Privatraum von jemandem. Sie schlug die Decke zurück und zwei Wärmflaschen fielen glucksend zu Boden.

Wärmflaschen?

Sie bemerkte, dass sie außer einem Slip und ihrem Top nichts weiter trug. Wo waren ihre Sachen? Suchend schaute sie sich erneut um. Ein Kleiderschrank, ein lederner Zweisitzer mit kleinem Tisch davor, ein Bücherregal und eine Schreibtisch mit PC darauf. Sie schaute wieder an sich herab. Es hatte nicht den Anschein, dass man ihr etwas getan hätte, eher im Gegenteil. Der tiefe Kratzer, den sie sich vor zwei Tagen zugezogen hatte war verarztet worden. Offenkundig hatte man ihr geholfen, aber warum? Die Skepsis wuchs. Vorsichtig stand sie auf. Ihr Bein tat nicht mehr so weh, wie gestern noch. Anscheinend heilte die Wunde besser als zuvor.

Plötzlich öffnete sich die Tür. Erschrocken trat sie einen Schritt zurück und ihr Hand schnellte reflexartig zu ihrer Hüfte.

Für einen kurzen Moment hatte sie vergessen, dass das Bett genau hinter ihr stand, knallte mit der Ferse gegen den hölzernen Bettkasten und taumelte zurück.

Schmerz durchschoss ihren Körper. Zischen zog sie die Luft ein und kniff kurz die Augen zusammen. Nur einen Moment später fing sie sich allerdings wieder, rutschte auf hintere Seite des Bettes und ging in Abwehrhaltung. Mit aufgerissenen Augen blickte sie zur Tür. Dort stand ein junger Mann mit kurzen, roten Haare und blickte sie einfach nur an.

Sie kannte ihn nicht, aber das musste nichts heißen. Er konnte genauso gut zu Ihnen gehören.

Ängstlich suchte sie nach einer Fluchtmöglichkeit, doch es gab keine. Das Fenster war verschlossen und die Tür wurde von dem jungen Mann versperrt. In der Zeit, in der sie versuchen würde das Fenster zu öffnen, würde er seelenruhig das Tablett abstellen, zum Bett gehen und sie davon abhalten eben dies zu tun.

Moment mal, Tablett?

Sie schaute wieder zu ihm. Er hatte sich keinen Schritt weiter in den Raum bewegt. In der Hand hielt er tatsächlich ein Tablett mit einer dampfenden Schüssel, einer Karaffe mit Wasser und einem Glas.

Irritation schlich sich in ihren Blick.

„Ich werde dir nichts tun.“ Die Stimme des Mannes klang ruhig und tief. „Ich komme jetzt rein, in Ordnung?“

Sie entspannte sich etwas, sagte jedoch nichts.

Langsam kam der junge Mann näher und stellte das Tablett auf den Nachttisch. Das Mädchen ließ ihn dabei keine Sekunde aus den Augen.

„Verstehst du mich?“ Er tat ein Paar Schritte zurück und blieb in der Mitte des Raumes stehen. Einen Moment lang regte sie sich nicht, dann jedoch nickte sie leicht.

„Mein Name ist Fujimiya Aya und du bist?“ Wieder dauerte es eine Weile bis das Mädchen sich regte. „Rin.“ Kam es leise von ihr.

„Rin. Und weiter?“ Mit locker verschränkten Armen blickte er weiter auf das Mädchen, das ihn ebenfalls nicht aus den Augen ließ.

Ganz offensichtlich hatte sie Angst, was ihn allerdings nicht weiter verwunderte. Als er keine Antwort bekam fragte er weiter. „Kannst du dich erinnern, was passiert ist?“ Einen Moment lang schien sie zu überlegen, dann weiteten sich ihre Augen angsterfüllt und sie drückte sich noch weiter in die Ecke.

„Beruhige dich. Ich werde dir nichts tun.“, versuchte Aya auf das Mädchen einzureden. „Du bist mir gestern Nacht vor das Auto gelaufen und ohnmächtig geworden. Daraufhin habe ich dich her gebracht.“

Dies war wirklich eine seltsame Reaktion des Mädchens. Offensichtlich war ihr, bevor sie vor sein Auto lief, etwas wesentlich schlimmeres zugestoßen. War sie vor jemandem davon gelaufen? Das könnte erklären, warum sie so plötzlich im Scheinwerferlicht auftauchte und auch die Wunde an ihrem Bein.

„Ich werde dich jetzt allein lassen. Iss etwas und ruh´ dich aus, ich sehe später noch einmal nach dir und bringe dir deine Sachen.“ Aya ging zurück zur Tür.

„Entspann dich, hier bist du sicher.“ Er schaute kurz über die Schulter hinweg zu dem immer noch ängstlichen Mädchen auf dem Bett und ein Lächeln huschte über seine Lippen, welches aber genau so schnell wieder verschwand, wie es gekommen war.
 

Eine ganze Weile noch saß Rin auf dem Bett, ihren Blick zur Tür gerichtet. Dieser junge Mann, Aya, sagte, sie sei hier sicher. Konnte sie ihm glauben? Eher unwahrscheinlich, oder? Aber er wirkte nicht gefährlich, nicht so wie SIE.

Ein Zittern durchlief ihren Körper, wenn sie an die vergangenen Tage dachte. Nein! Nicht denken! Nicht erinnern!

Er sagte, er würde ihr ihre Sachen bringen. Würde sie dann gehen können? Würde er sie gehen lassen? Wenn ja, gehörte er nicht dazu; wenn nicht…

Konnte sie noch einmal entkommen?

Ihr Blick blieb am Nachtisch und dem darauf stehenden Tablett haften. Ihr Magen knurrte vernehmlich. Wann hatte sie das letzte Mal etwas gegessen?

Gestern Mittag und da auch nur etwas Brot. Vorsichtig rutschte sie aus ihrer Ecke, immer in Erwartung, dass Aya wieder zur Tür hinein kam. Sie Suppe war nicht mehr ganz so heiß und sie trank die Schüssel beinahe in einem Zug leer.

Schmeckte gut. Ob Aya sie selbst gekocht hatte?

Waren noch andere Leute hier?

Sie wusste immer noch nicht, wo HIER eigentlich war…
 

Aya ging die Treppe hinunter und zurück in die Küche.

„Und? War sie wach?“ Omis große, blaue Augen schauten ihn erwartungsvoll an.

Aya nickte und setzte sich an den Tisch. Die Blicke seiner drei Mitbewohner ruhten auf ihm. „Wie geht es ihr? Wie heißt sie? Wo kommt sie her? Komm schon. Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen.“, murrte Yohji und erntete dafür einen eisigen Blick des rothaarigen Mannes.

„Ihr Name ist Rin, zumindest behauptet sie das.“

„Was meinst du damit?“, mischte sich nun auch Ken ein.

„Ich glaube, dass ist nicht ihr richtiger Name.“

„Und wie kommst du darauf?“

„Sie ist ängstlich, beinahe panisch. Ich habe den starken Verdacht, dass sie vor etwas davon läuft. Mich würde nicht wundern, dass sie deswegen einen falschen Namen genannt hat.“

Yohji lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das könnte erklären, warum sie mitten in der Nacht, nicht ausreichend warm bekleidet plötzlich vor deinem Wagen aufgetaucht ist.“ Yohji machte eine kurze Pause. „Vielleicht wurde sie misshandelt und ist weggelaufen. Das könnte auch den blauen Fleck in ihrem Gesicht erklären.“

„Sie ist auf jeden Fall keine einfache Ausreißerin.“ Aya verschränkte die Hände vor dem Gesicht und stütze sein Kinn darauf. „Was macht dich so sicher?“ fragte Yohji.

„Ihr Rücken ist übersät mit Narben. Mit Sicherheit wurde sie misshandelt.“ Die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Die drei Männer zogen zischend die Luft ein und schaute zu Aya. Dieser redete ruhig weiter. „Als ich sie fragte, ob sie sich erinnern könne, was passiert ist, wurde sie panisch und versuchte so viel wie möglich Abstand zwischen mir und sich zu bringen. Ganz offensichtlich ist etwas schlimmes passiert, dass sie so ängstlich macht.“

„Vielleicht fürchtet sie, du gehörst zu denen, die ihr Was-auch-immer angetan haben.“, sinnierte Yohji.

„Das kann durchaus sein, es würde mich nicht wundern.“ bestätigte Aya. Sein Blick glitt zu Omi, welcher verdächtig still geworden war.

„Omi, ich möchte, dass du ein paar Nachforschungen anstellst. Vermisste Personen, die auf die Beschreibung des Mädchens passen, Entführungen, Lösegeldforderungen, etc. Und such auch International.“ Omi zuckte zusammen als er seinen Namen hörte, blickte dann aber auf und nickte bestätigend. „Ich mache mich gleich an die Arbeit.“ Er stand auf und verschwand aus der Küche.

„Yohji, Ken; ihr seht euch dort etwas um, wo wir das Mädchen gefunden haben.“

Der blonde Mann stand auf und schnappte sich seine Zigaretten vom Tisch. „Geht klar. Komm, Ken. Wir gehen.“ Dieser nickte und folgte Yohji ebenfalls aus der Küche.

Aya blieb noch eine Weile sitzen und ging in Gedanken noch einmal die Reaktionen des Mädchens durch. Für einen kurzen Moment flackerte etwas in ihren Augen auf, dass ihm bekannt vor kam. Und dann dieser Griff zu ihrer Hüfte, als würde sie eine Waffe ziehen wollen. Es war nur ein Reflex gewesen, das hatte er gemerkt, doch das alleine reichte aus um ihn wissen zu lassen, dass dieses Mädchen; das Rin mehr war, als es den Anschein hatte.

Aya räumte das benutzte Geschirr in die Spülmaschine und ging in den Keller. In einem der Räume dort standen Waschmaschine und Trockner. Die letzte Ladung Wäsche war noch am Schleudern, doch der Trockner hatte sein Programm beendet. Der junge Mann holte die noch warmen Sachen aus der Maschine und legte sie sorgsam zusammen. Unter ihnen befanden sich auch Rins Hose und ihr Pulli.

Vor den Türen jedes Zimmers stand ein kleiner Beistelltisch, auf denen Aya die Sachen der Anderen ablegte. Mit Rins und seinen Sachen ging er zu seinem Zimmer. Er klopfte und wartete, bekam aber keine Antwort. „Rin, ich bin es, Aya. Ich komme jetzt rein.“ Wieder keine Antwort aus dem Zimmer.

Aya öffnete die Tür und ein eisiger Lufthauch schlug ihm entgegen.

„Kälte?“

Aya schaute zum Bett; es war leer. Das Fenster stand sperrangelweit offen und der Vorhand flatterte im Luftzug.

Verdammt, sie war weg!

Aya schmiss die Sachen auf das Sofa uns stürzte zum Fenster. War sie wirklich hier heraus verschwunden? Sie befanden sich im ersten Stock des Hauses und unterhalb des Fensters gab es keine Möglichkeit sich fest zu halten oder hinunter zu klettern. War sie gesprungen? Und noch viel wichtiger. War sie nur mit einem Top und einem Slip bekleidet in die Kälte verschwunden? Es herrschten gerade knapp null Grad. Sein Blick glitt zum Kleiderschrank. Der Zipfel eines Kleidungsstücks hing zwischen den geschlossenen Türen heraus.

Das war gewiss nicht sein Werk, dazu war er zu ordentlich. Er öffnete die Türen und einige Pullis und Shirts fielen ihm entgegen. Das war DEFINITIV nicht sein Werk. Aber aus irgendeinem Grund war er erleichtert, dass Rin so clever gewesen war, sich Klamotten von ihm zu leihen.

Hastig verließ er das Zimmer und lief die Treppe hinunter.

„Omi. Sie ist verschwunden. Halt du hier die Stellung, ich gehe sie suchen!“, rief er in Richtung der Kellertreppe. Hastik zug es seine Schuhe und eine dicke Jacke an und verschwand er aus der Haustür. Er umrundete das Haus und schaute sich um. Unterhalb seines Fensters lag ein kleiner Hinterhof, von dem aus ein Tor in die anliegende Seitengasse führte. Links endete die Gasse nach einigen Metern auf der Hauptstraße.

Aya bezweifelte, dass Rin diesen Weg gewählt hatte. Nicht, wenn sie vor jemandem davon lief. Rechts vom Tor führte die Gasse einen kleinen Hügel hinauf zu einem Wäldchen, in welchem sich ein kleiner Tempel befand. Er beschloss diesen Weg zu nehmen. Unterwegs wählte er Yohjis Nummer und unterrichtete ihn über die jüngsten Ereignisse.

Zum Glück gingen keine Seitengassen von der Straße ab, nur kleine Wege, die alle zu den angrenzenden Häusern führten. Wenn Rin diesen Weg genommen hatte, konnte sie nur zum Tempel gelangen. Er hoffte, dass er Recht hatte. Sicherheitshalber jedoch hatte er Yohji und Ken ebenfalls aufgetragen die Augen nach ihr offen zu halten.
 

Es war sehr viel kälter als gestern und die Tatsache, dass Rin nur Socken und keine Schuhe trug, machte es nicht erträglicher, im Gegenteil. Ihre Füße waren eisig! Glücklicherweise waren Ayas Hosen ihr zu lang, sodass sie noch eine zusätzliche Stoffschicht um ihre Füße hatte. Irgendwie fühlte sie sich ja schon schlecht, dass sie ihm einfach seine Sachen aus dem Schrank gestohlen hatte, aber sie konnte ihm nicht vertrauen! Oder doch?

Sie schüttelte den Kopf. Nein! Auch wenn sie ihm tatsächlich vertrauen konnte, es war nicht gut ihn mit hinein zu ziehen, selbst wenn er ihr wirklich nur helfen wollte. Nicht nach… Nein! Nicht wieder daran erinnern. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und sie wischte sie ärgerlich mit dem Ärmel der, ihr viel zu großen Jacke weg.

Selbst wenn Aya ihr helfen wollte, sollten SIE ihn finden, würden sie ihn töten, genau wie Sae. Rin wollte nicht, dass noch mehr Menschen wegen ihr starben, deshalb musste sie weg. Sie folgte der Straße weiter. Vielleicht war es nicht ganz so klug auf einen Berg zu laufen, wenn man vor etwas flüchtete, doch auf eine belebte Straße zu laufen, in Sachen, die ihr offensichtlich einige Nummern zu groß waren und noch dazu ohne Schuhe, wäre weitaus dümmer gewesen. Außerdem gab es sicherlich noch einen weiteren Weg von diesem Hügel hinunter, das hoffte Rin zumindest.

Sie hatte den Wald erreicht, den sie schon vom Fuß des Hügels über den Dächern der Häuser hatte sehen können. Durch die kahlen Zweige der Bäume konnte sie erkennen, dass sich der Himmel langsam zuzog. Es würde doch nicht anfangen zu schneien? Wenn sie wenigstens ihre Schuhe gehabt hätte. Diese waren aber nirgendwo in Ayas Zimmer zu finden und das Zimmer zu verlassen hatte sie nicht gewagt.

Leider waren seine Schuhe ihr ebenfalls zu groß, sodass sie bei jedem Schritt heraus geschlüpft wäre und das wäre noch unpraktischer beim Laufen gewesen als bloße Socken. Immerhin froren nur ihre Füße und wurden langsam taub, wodurch die kaum noch merkte, wenn sie auf spitze Steinchen oder ähnliches trat.

Sie ging den Weg weiter, bis sie an eine Treppe und das Tor des Tempels gelangte. Vor ihr lag ein großer Hof, umringt von mehreren, niedrigen Gebäuden. In der Mitte des Hofes befand sich ein großer, umzäunter Baum. Zu sehen war niemand.

Rin stiegt die wenigen Treppenstufen hinauf und schaute sich um. Sie umrundete den Platz, sorgsam darauf bedacht nicht allzu weit in die Mitte zu gelangen und den Eingang, von welchem sie gekommen war, immer im Blick zu behalten. Es führten nur einige kleine Wege vom Hauptplatz ab zu kleineren Gebäuden etwas weiter abseits. Es musste doch noch einen anderen Eingang geben, oder etwa nicht? Panik machte sich in ihr breit. Hatte sie sich selbst in eine Falle manövriert? Sie ging zurück zum Platz mit dem großen Baum, als sie jemanden die Treppe heraufkommen sah. Dieser rote Haarschopf war unverkennbar.

„Oh nein…“, flüsterte sie und versteckte sich schnell hinter der Ecke eines Gebäudes. Sie hatte gehofft etwas mehr Vorsprung zu bekommen, ehe der junge Mann merkte, dass sie verschwunden war. Warum hatte er sie so schnell gefunden?
 

Aya stieg die Treppenstufen hinauf und schaute sich um. Weiter hinten an einer Ecke nahm er eine Bewegung war, doch als er länger dorthin blickte, konnte er nichts erkennen. Aber Rin war definitiv hier. Auf diesem Hügel gab es nur das kleine Wäldchen mit dem Tempel und nur einen Weg hinauf und hinab. Wäre das Mädchen hier aus der Gegend, hätte sie das mit Sicherheit gewusst.

Er ging weiter auf den Platz. Niemand zu sehen. Kein Priester und auch keine Besucher. Auf den Bodenplatten konnte er eine Verfärbung ausmachen. Aya kam näher um es sich genauer an zu sehen. Das war Blut, eindeutig. Rin hatte sich verletzt. Ein Grund mehr sie schnell zu finden. Außerdem sah es verdächtig danach aus, als würde es jeden Moment anfangen zu schneien. Er wollte das Mädchen nicht bei diesem Wetter, ohne Schuhe und noch dazu mit einem verletzten Fuß draußen rumlaufen wissen. Aya beschleunigte seine Schritte und folgte den blutigen Fußabdrücken. Sie erweckten nicht den Eindruck, als hätte das Mädchen gehumpelt. Ignorierte sie den Schmerz?

Nein, wahrscheinlicher war, dass sie ihn gar nicht mehr spürte. Mit Sicherheit waren ihre Füße von der Kälte schon ganz taub. Selbst Ayas Füße wurden langsam kalt, trotz dicker Socken und Schuhe.

Rin lief weiter. Langsam aber stetig zollten die Anstrengungen und das wenige Essen der letzten Tage ihren Tribut. Sie war am Ende ihrer Kräfte und jetzt fror sie erbärmlich, trotz Ayas Sachen. Der Himmel hatte sich weiter zugezogen und schwere, dunkle Wolken hingen tief über ihr. Jeden Moment würde es anfangen zu schneien.

Die Gebäude des Tempels hatte sie hinter sich gelassen und der Weg, den sie nun ging führte sie wieder in den Wald. Doch nicht für lange. Vor sich konnte sie den Waldrand erkennen. Sie sah den Wolkenverhangenen Himmel und einen niedrigen Zaun. Als sie näher trat setzte ihr Herz für einen Moment aus.

Sie saß in der Falle! Vor ihr fiel ein steiler Abhang in die Tiefe zu einer Straße und den Häusern unter ihr. Hinunterspringen konnte sie nicht, dazu war es viel zu hoch. Nicht wie das Fenster von Ayas Zimmer, welches sich nur im ersten Stock eines Hauses befand. Das hier waren mindestens 10 Meter, wenn nicht mehr. Sie beugte sich leicht vor und schaute hinab. Klettern ging auch nicht. Die Wand war nicht natürlich, sondern betoniert und bot keinen Möglichkeiten zum festhalten.

„Nicht!“ Rin zuckte zusammen und blickte sich um. Aya stand einige Meter hinter ihr und kam langsam auf sie zu.
 

„Nicht!“ Der junge Mann rief dies ohne nach zu denken, als er sah, dass Rin sich über die Brüstung beugte. Wollte sie wirklich springen? Er sah wie sie zusammenzuckte und sich umdrehte. Langsam ging er auf sie zu. „Es ist alles in Ordnung, ich werde dir nichts tun.“, versuchte er das ängstliche Mädchen zu beruhigen.

„Wie kann ich da sicher sein.“ Rin ging rückwärts die Brüstung entlang und ließ ihn nicht aus den Augen.

Das war eine gute Frage. Wenn sie wirklich vor etwas oder jemandem davon lief, war es nur allzu natürlich, dass sie skeptisch blieb, wenn jemand ihr seine Hilfe anbot.

„Du bist verletzt, weißt nicht wohin und hast noch nicht einmal Schuhe an. Du wirst dir den Tod holen, wenn du draußen bleibst.“, versuchte Aya auf das Mädchen ein zu reden.

„Und warum interessiert dich das? Kennst du mich?“

Etwas in Rins Stimme ließ ihn zögern. Es hörte sich seltsam an, wie sie das fragte. Beinahe hoffnungsvoll.

„Ich mache mir Sorgen um dich.“ Wieder trat er einen Schritt nach vorne und Rin einen weiteren Schritt zurück, bis sie an die Ecke des Geländers stieß. Kurz blickte sie sich um.

„Bitte, lass mich einfach in Ruhe.“ Rins Stimme wurde flehend.

„Das kann ich nicht, du bist verletzt.“, sagte Aya ruhig aber bestimmt. Er vermied es allerdings einen Schritt weiter auf das Mädchen zuzugehen.

„Du wirst sterben, wenn du mir hilfst!“

Verstand er denn nicht? Warum ging er nicht einfach weg!

Aya stockte. Sterben?

„Wovor läufst du davon?“ Mit festem Blick schaute er zu Rin. Diese schüttelte nur den Kopf und einige Tränen rannten ihr über die Wangen.

„Bitte, geh.“, bat sie, doch Aya kam einen weiteren Schritt auf sie zu.

„Wer ist hinter dir her?“ Noch ein Schritt in Rins Richtung. Sie schüttelte den Kopf.

„Ich weiß es nicht.“, schluchzte sie und ging in die Knie. Sie konnte nicht mehr. Ihre Kraft war verbraucht, sowohl physisch als auch mental.

Sofort war Aya bei ihr und hielt sie fest, bevor sie auf den Boden fiel. Rin war sichtlich erschöpft. Aya hielt sie ihn den Armen und strich dem schluchzenden Mädchen beruhigend über den Rücken. „Es wird dir nichts passieren, bei mir bist du sicher.“, flüsterte er. Er hielt Rin im Arm, bis ihr Zittern etwas nachließ, dann drehte er sich um, sodass er sie auf den Rücken nehmen und tragen konnte.

Rin krallte sich in Ayas Jacke und vergrub das Gesicht an seiner Schulter. Sie war erschöpft und hatte aufgehört zu kämpfen, doch vielleicht wollte Aya ihr ja tatsächlich helfen. Er klang nicht bösartig, anders als SIE. IHNEN sah man an, dass sie bösartig waren, doch Aya strahlte Ruhe aus.

„Wie hast du mich gefunden?“, fragte sie nach einer Weile. Sie hatten wieder den Platz in der Mitte des Tempels erreicht.

„Deine Fußspuren.“

„Fußspuren?“

„Du bist am Fuß verletzt, hast du das nicht gemerkt?“

Rin schüttelte den Kopf. „Nein.“, flüsterte sie.
 

„Aya! Du hast sie gefunden. Gott sei Dank!“ Ken lief auf den Rothaarigen Mann zu. Rin zuckte zusammen und verkrampfte sich etwas, und versuchte sich hinter Ayas Rücken zu verstecken.

„Keine Sorge, er ist ein Freund von mir.“, versuchte Aya das Mädchen zu beruhigen. Ein paar Meter vor ihnen blieb Ken stehen. „Wir haben uns wirklich Sorgen gemacht.“

„Ken, bitte lass ein Bad für sie ein, sie ist total durchgefroren.“ „Aber klar doch.“ Der junge Mann nickte und schenkte Rin ein warmherziges Lächeln. Dann drehte er sich um und lief wieder zum Haus zurück.

„Mit mir zusammen wohnen noch drei andere im Haus. Du musst keine Angst vor ihnen haben. Sie wollen dir helfen, genau wie ich.“ Rin nickte leicht. Vielleicht meinte er es ja wirklich ehrlich. Sie wollte glauben, dass er ihr helfen konnte und auch, dass er nicht wegen ihr getötet wurde.
 

Das heiße Wasser schmerzte auf ihrer kalten Haut. Trotzdem glitt sie immer weiter hinab in die Wanne, bis nur noch ihr Kopf herausragte. Aya hatte ihr die Wunde am Fuß gesäubert und ein wasserfestes Pflaster darüber geklebt. Zum Glück war die Wunde nicht tief. Sie hatte sich eine kleine Scherbe eingetreten ohne es zu merken. Nicht weiter verwunderlich, wenn man nur mit Socken einen Waldweg entlang lief.

Rin seufzte. Aya hatte sie gebeten nach unten zu kommen, sobald sie das Bad beendet hatte. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen warum. Er wollte wissen, was sie dazu veranlasst hatte weg zu laufen. Und irgendwie war das ja auch sein gutes Recht. Aya hatte sich um sie gekümmert, hatte sie mit zu sich genommen und Rin hatte ihn bestohlen. Zwar mit der aufrichtigen Absicht, ihm seine Kleidung irgendwann zurück zu geben aber wenn sie genauer darüber nachdachte musste sie sich eingestehen, dass sie nicht wusste, wie sie das überhaupt hätte bewerkstelligen sollen.

Rin holte tief Luft und tauchte unter.

Was sollte sie ihm erzählen. Alles? Aber was war alles. Sie konnte ihm erzählen was in den letzten Tagen geschehen war, aber davor? Daran konnte sie sich nicht erinnern.

Sie tauchte wieder auf und prustete.

„Alles in Ordnung bei dir?“ Das Mädchen zuckte zusammen, als sie Ayas Stimme aus dem Vorraum hörte. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass er eingetreten war. „Ich habe dir deine Sachen hier hingelegt. Sie sind gewaschen und trocken.“, meinte er nur mit ruhiger Stimme.

„Danke.“

„Du solltest auch langsam aus der Wanne steigen. Zu lange im heißen Wasser liegen ist nicht gut für den Kreislauf.“

Rin hörte die Tür leise ins Schloss fallen. Aya war wieder hinaus gegangen. Sie stand auf und nahm sich ein Handtuch von dem Hocker neben der Wanne. Schnell wickelte sie sich darin ein, ließ das Wasser aus der Wanne und öffnete das kleine Fenster um die feuchte Luft abziehen zu lassen.

Es hatte wieder zu schneien begonnen.
 

Rins Sachen lagen im Vorraum auf dem kleinen Schränkchen. Sie trocknete sich ab und legte das benutzte Handtuch in den Korb.

Einen Moment lang stand sie vor dem großen Spiegel und schaute sich an. Ihr Gesicht war leicht gerötet vom heißen Wasser und der blaue Fleck auf ihrer Wange wirkte dadurch nicht mehr ganz so präsent. Ihr weißer Pony hing ihr über die Augen und die offenen, langen Haare über Schultern und Brust. Etwas ließ sie stutzen. Eine kleine Narbe an ihrer Taille, die augenscheinlich weiter auf ihrem Rücken verlief. Sie drehte sich um und entsetzt schaute sie ihn den Spiegel. Ihr gesamter Rücken war von Narben übersät.

„Was zum…“ Ihre Stimme war nur noch ein Hauch.
 

Eine knappe viertel Stunde, nachdem Aya wieder nach unten kam, folgte auch Rin ihm in die Küche. Ken, Omi und Yohji saßen ebenfalls am Tisch und blickte sie an. Unschlüssig und ein wenig ängstlich stand sie in der Tür. Aya hatte zwar gesagt, dass er mit seinen Freunden zusammen wohnen würde und dass diese ihr ebenfalls helfen wollten, doch so ganz sicher war sie sich jetzt nicht mehr. Sie sahen nicht gefährlich aus aber ihr Fluchtinstinkt gewann langsam wieder die Oberhand.

Die Mikrowelle piepte und Rin zuckte zusammen.

„Genau zum richtigen Zeitpunkt.“ Omi lächelte sie an und stand auf. „Ich hoffe du magst heißen Kakao?“ Er holte die Tasse aus der Mikrowelle und stellte sie auf den freien Platz.

Rin nickte und trat zögerlich in die Küche.

Keiner der jungen Männer machte Anstalten sie zu hetzen. Alle schienen ganz geduldig darauf zu warte, dass sie von sich aus Vertrauen fasste.

Rin setzte sich und umfasste die Kakaotasse. Zwar war sie durch das Bad jetzt aufgewärmt, doch es beruhigte sie etwas in der Hand zu haben, an dem sie sich festhalten konnte.

„Das sind Hideka Ken, Kudou Yohji und Tsukiyono Omi.“, stellte Aya die Anderen der Reihe nach vor. „Sie waren dabei, als du mir vor den Wagen gelaufen bist.“

„Du hast uns einen ziemlichen Schrecken eingejagt, als du so plötzlich vor dem Auto aufgetaucht bist.“ meinte Yohji.

„Tut mir Leid.“ Rin senkte den Blick.

„Erzählst du uns, wovor du weg gelaufen bist?“ Omi schaute sie mitfühlend an. Eine Weile lang schwieg Rin und schaute in ihre Tasse. Eine dünne Haut hatte sich auf der Oberfläche des Getränks gebildet. „Ich wurde verfolgt.“, flüsterte das Mädchen leise.

„Wer verfolgt dich?“, fragte Ken entsetzt und die Augen der vier jungen Männer ruhten auf Rin.

„Ich weiß nicht, wer diese Leute sind oder warum sie mich verfolgen.“ , flüsterte das Mädchen.

„Erzählst du uns, was passiert ist?“ Omis Blick wurde mitfühlend. Rin nahm einen kleinen Schluck aus der Tasse und stellte diese dann wieder auf den Tisch. Ihr Blick ruhte auf ihren Händen.

„Vor zwei Tagen bin ich in einem weißen Raum aufgewacht. Nur eine Pritsche stand dort, auf der habe ich gelegen. Vor der Metalltür waren Schritte und Stimmen von mehreren Männern zu hören. Ich konnte aber nicht verstehen, was gesagt wurde. Es hörte sich allerdings so an, als ob sie sich über irgend etwas stritten. Fenster gab es keine. Eine kleine Klappe in der Tür wurde geöffnet und zwei stechende, graue Augen schauten mich an. Kurz darauf trat ein Mann ein. Ich hatte Angst vor ihm. So wie er mich mit seinem stechenden Blick anschaute, hatte ich das Gefühl, dass er mich jeden Augenblick töten würde. Er kam zu mir, zog mich vom Bett hoch und mit sich mit. Ich folgte ihm, ohne mich zu wehren. Wir gingen durch einen langen Gang und dann ins Freie. Es war dunkel draußen und ich konnte nicht erkennen wo wir waren. Vor dem Gebäude stand ein Van und daneben zwei weitere Männer. Sie wirkten ebenfalls gefährlich, aber nicht so sehr, wie der Mann, der mich hinaus gebracht hatte. Ein Handy klingelte. Der Mann mit den grauen Augen ließ mich los und sagte den anderen Beiden, sie sollen dafür Sorgen, dass ich in den Van stieg. Er entfernte sich einige Schritte und ging an das Telefon. Als die beiden anderen Männer auf mich zu kamen, bin ich los gelaufen.

„Steht auf ihr Bastarde und fangt sie wieder ein!“, rief der Mann mit den grauen Augen und ich drehte mich noch einmal um. Die beiden Männer, die neben dem Van standen, waren zu Boden gegangen. Ich lief so schnell ich konnte. Links und rechts von mir waren viele Container übereinander gestapelt. Ich lief zwischen ihnen hindurch, ohne zu wissen, welche Richtung ich einschlug. Nur weg! Das war das einzige, was ich in dem Moment denken konnte. Kurz darauf kam ich an einen Zaun. Ich konnte nirgendwo ein Tor oder ähnliches erkennen. Hinter mir riefen die Männer etwas, aber ich habe nicht verstanden was das gewesen war. Ich nahm Anlauf, sprang an den Zaun und kletterte hinauf. Das Ende war noch einmal mit Stacheldraht gesichert.

Ich hatte es geschafft trotzdem hinüber zu kommen aber meine Hose blieb hängen. Mit aller Kraft riss ich mich los. Dabei ging meine Hose kaputt und mein Bein wurde verletzt. Ich verlor das Gleichgewicht und fiel auf der anderen Seite des Zaunes hinunter.

Die Männer waren mittlerweile ebenfalls am Zaun angelangt.

Einer zog eine Waffe und richtete sie auf mich.

„Bist du wahnsinnig? Er tötet uns wenn wir auf sie schießen!“, rief der Andere und nahm ihm die Pistole ab. Ich nutzte die Chance, stand auf und lief die Böschung hinauf. Mir tat alles weh. Ich rannte aber trotzdem weiter. Hinter mir hörte ich ein schweres Tor, dass weiter entfernt geöffnet wurde und einen Wagen, der näher kam.

Ich lief in eine kleine Seitengasse.

Ich weiß nicht wie lange ich gelaufen bin. Irgendwann hatte es angefangen zu regnen. Die Straßen waren leer und ich versuchte mich von ihnen fern zu halten.

Ich fand einen kleinen Innenhof, in dem einige Müllcontainer und Kartons standen und verkroch mich in einen der größeren Kartons in der Ecke, dann bin eingeschlafen.“

Rin nahm einen weiteren Schluck von ihrem mittlerweile lauwarmen Kakao. Keiner der Jungs hatte sie bis jetzt unterbrochen und sie war sehr froh darüber. Sie fürchtete den Mut weiter zu erzählen verlieren zu können, wenn sie unterbrochen wurde.

„Als ich aufwachte war es bereits hell. Meine Sachen waren noch nicht trocken, also konnte ich nicht allzu lange geschlafen haben. Ich hörte ein Geräusch und erschrak fürchterlich, als ich etwas an meinen Beinen spürte.

„Hast du dort etwas gefunden?“, hörte ich die Stimme einer älteren Frau. Sie kam um den Container und schaute mich an. Das Etwas, was mich am Bein gestreift hatte, war nur eine streunende Katze gewesen.

„Hier kannst du nicht bleiben, Kleines.“, sagte die alte Frau. „Wenn der Hausmeister dich hier findet bekommst du gehörigen Ärger. Komm mit. Ich kenne einen Ort, an dem du dich aufwärmen und ausruhen kannst.“ Sie zog mich mit sich. Die ganze Zeit redete sie ununterbrochen bis wir an eine Kirche kamen. Wir umrundeten sie und gingen zu dem flachen Gebäude dahinter. Viele Obdachlose standen dort vor der Tür und schienen auf etwas zu warten. Die alte Frau kannte die Meisten und redete mit ihnen. Als die Tür geöffnet wurde strömten sie in das Innere des Gebäudes. In einem großen Raum standen viele Tische und Bänke und an einer Seite wurde von zwei älteren Frauen Suppe und Brot verteilt.

Ich hab mich sehr unwohl gefühlt. Da waren so viele Menschen. Was wenn einer von ihnen mich an diese Männer verraten würde? Als ich die Suppe roch, merkte ich erst wie hungrig ich war. Ich wusste nicht wie lange ich schon nichts mehr gegessen hatte.

Ich versuchte mich zu erinnern, aber es ging nicht. Ich glaube, danach bin ich zusammen gebrochen, denn das nächste woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich auf einer der Bänke lag und besorgte Gesichter über mir sah. Mein Kopf schmerze und ich konnte erst nicht verstehen, was sie zu mir sagten. Alles was ich hören konnte, war ein schrilles Pfeifen in meinem Kopf, das aber langsam nachließ. Sie fragten, ob sie einen Arzt rufen sollten aber ich versicherte ihnen, dass es mir schon besser ging. Nachdem ich etwas gegessen und mich aufgewärmt hatte, gingen die alte Frau und ich wieder. Sie hieß Sae und wohnte in einem leerstehenden Haus. Sie sagte selbst, dass sie es noch gut getroffen hatte, denn viel andere hatte nur Kartons oder Planen als Dach über dem Kopf. Allerdings müsste sie bald dort raus, da das Haus demnächst abgerissen werden sollte.

Sie gab mir eine Decke und zeigte mir eine Matratze, auf der ich schlafen konnte. Es wurde draußen wieder dunkel und ich bin auch sofort eingeschlafen. Am nächsten Tag gingen Sae und ich durch die Stadt. Wir mieden die großen Straßen, aber sie wollte mir helfen, mich zu erinnern. Sie meinte, vielleicht kommen mir ja einige Dinge bekannt vor. Wir waren den ganzen Tag unterwegs aber ich fand nichts, an das ich mich erinnern konnte.

Weder einen Ort, noch meinen Namen.

Wir gelangten an einen Park. Sae war wirklich nett, auch wenn sie eine Menge redete.

„Na sieh mal an wen wir da haben!“, hörte ich eine Stimme hinten mir und drehte mich erschrocken um. Einer der Männer, die mich verfolgt hatten stand dort und grinste mich am. Hinter einem Baum trat auch der andere hervor und richtete seine Pistole auf uns.

„Was ist mit der Alten?“, fragte er und schaute zu seinem Partner. Sae fing an um Hilfe und nach der Polizei zu schreien. Der Mann drückte ab. Ich hörte keinen Schuss, doch Saes Schreie brachen ab und sie fiel zu Boden. Sie… sie haben sie erschossen. Ohne zu zögern. Ich konnte mich vor Angst nicht rühren. Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter und hörte eine Stimme direkt an meinem Ohr.

„Du kannst doch nicht einfach weglaufen, Kätzchen.“ Es war der Mann mit den grauen Augen. Ich hatte nicht gehört, dass er hinter mich getreten war. „Ich fürchte, dass wird eine Strafe geben.“ Ich konnte beinahe hören, wie er grinste. „Wir müssen dir wohl doch wieder ein Halsband anlegen und dich anleinen.“

„Wer sind sie?“ Ich konnte nur noch flüstern. Der Mann hinter mir lachte kurz auf. „Erzähl mir nicht, dass du mich wirklich vergessen hast, Rin, das kauf ich dir nicht ab.“ Er beugte sich noch weiter an mein Ohr. Ich konnte seinen Atem spüren. „Aber wenn du ganz brav bist und mitkommst, erzähl ich es dir vielleicht.“

Ich war panisch und versuchte mich aus seinem Griff zu befreien. Das muss ihn für einen Moment verwirrt haben, denn als ich mich umsah, lag er auf dem Boden und schaute mich entgeistert an. Ich lief weg, zwischen die Büsche hindurch. Mein Herz raste und ich hatte Angst. Ich hörte die erbosten Rufe des Mannes mit den grauen Augen hinter mir. Er schien wirklich wütend zu sein, denn diesmal nahm er selbst die Verfolgung auf.

Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe ihm zu entkommen.

Das nächste woran ich mich erinnere ist gleißend helles Licht und dann bin ich hier aufgewacht.“
 

„Das ist ja schrecklich…“, brach Omi nach einer Weile die Stille und schaute zu Rin.

Yohji blickte sie fragend an, das Kinn auf die verschränkten Finger gestützt. „Und du weißt nicht, wer diese Männer waren?“

Rin schüttelte den Kopf. „Auch nicht was sie von dir wollten?“ Dieses Mal war es Ken der fragte.

Wieder nur ein Kopfschütteln des Mädchens.

„Willst du erst einmal hier bleiben?“ Aya schaute sie nun direkt an. „Wir werden dich zu nichts zwingen. Wenn du meinst, dass es besser wäre zu gehen, werden wir dich nicht aufhalten. Sei dir aber darüber im klaren, dass wir dir helfen wollen, und es auch können, und dass wir auf uns aufpassen können auch wenn es gefährlich werden sollte.“

„Warum helft ihr mir?“ Tränen sammelten sich in Rins Augen, doch hielt sie diese zurück.

„Sagen wir es so. Wir alle haben einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit.“ Yohji grinste sie an. „Außerdem wird keiner von uns ein so hübsches Mädchen, ganz auf sich allein gestellt draußen bei dieser Kälte umher wandern lassen, wenn es sich vermeiden lässt.“ Das Grinsen des blonden Mannes wurde breiter.

„Yohji!“ Ken blickte empört zu ihm. „Hör auf zu flirten. Sonst geht Rin am Ende doch noch!“

Yohji hob abwertend die Hände. „Schon gut, schon gut.“

„Also, was sagst du?“ Aya schaute sie an.

„Und… es macht euch wirklich nichts aus?“

„Natürlich nicht!“ Omi nahm ihre Hand und drückte sie. „Hier wird dir nichts passieren.“

Die Tränen in Rins Augen bahnten sich nun den Weg über ihre Wangen.

„Danke…“, schluchzte sie. „Ich… wie…“

„Mach dir darüber mal keine Gedanken.“ Aya stand auf und strich Rin über den Kopf. „Du bist uns nichts schuldig und wir verlangen keine Gegenleistung von dir.“

Konnte das möglich sein? Gab es wirklich so selbstlose Menschen auf der Welt, die ihr einfach nur helfen wollten, ohne etwas dafür zu verlangen. Ein Teil von ihr wollte es glauben. Doch eine Stimme in ihrem Hinterkopf warnte sie, dass dies nicht alles sein konnte.



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