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Erwachen

Die Welt nach dem Ende
von

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Bibliothek

Einen ganzen Tag waren sie unterwegs, ehe sie die aneinandergereihten Häuserwände von weitem erkannten. In den vergangenen Stunden hatten sie kaum miteinander geredet, weswegen Minas Ausruf Aaron erschreckte: „Da ist tatsächlich ein Dorf! Ich glaub es gar nicht!“

Wieder einmal waren ihren Augen von einem hellen Leuchten umhüllt, das Aaron jedes Mal erneut in seinen Bann zog. Sie war wahrlich keine Künstlerin im Verbergen ihrer Emotionen. War sie wütend, zog sie kurz darauf einen Schmollmund; war sie glücklich, lag stets ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht. Und nun zeigte sie mehr als deutlich ihre Neugier und Aufregung. Aaron gefiel diese Eigenschaft an ihr, denn das machte es ihm leicht, auf sie einzugehen.

„Du hast wirklich noch nie eins gesehen?“, hakte er nach. Doch im Grunde lieferte ihr Gesichtsausdruck bereits alle Antworten.

Sie schüttelte schnell den Kopf. „Nein, noch nie. Das ist einfach... unglaublich! Wie viele Menschen dort wohl leben?“

„Gute Frage. Warum finden wir es nicht einfach heraus?“

Er deutete mit seinem Daumen in die Richtung des Dorfes, um ihre Route anzuzeigen. Das musste sich Mina nicht zweimal sagen lassen. Mit entschlossenem Blick übernahm sie die Führung und lief in Eiltempo vorwärts.

 

Überall waren Menschen zu sehen. Ein Markt mit allerlei Angeboten von Nahrung bis hin zu Kleidungsstücken bildete das Zentrum des Ortes. Mehrfach erkannte Aaron Leute, die ihr Bestes gaben, zu feilschen. Manches Mal klappte es sehr gut und die Person verließ den Stand mit einem breiten Grinsen. Ein anderes Mal wurde der Vorschlag nicht akzeptiert und eine kurze Szene fand statt, in der einige fiese Ausdrücke fielen. Glücklicherweise kam dabei niemand zu Schaden. Einmal packte ein Händler seinen Kunden am Kragen, doch die Frau des Händlers konnte ihren Mann mit nur einem einzigen Ausruf seines Namens zu einem verängstigten Tier werden lassen, das um Verzeihen bettelte. Dies amüsierte Aaron so sehr, dass er sich beim Lachen sogar den Bauch halten musste. Genau die gleichen Situationen hatte er am eigenen Leib erfahren, als er noch mit seiner Familie zusammen gelebt hatte. Was seine Mutter sagte, war Gesetz. Nicht einmal sein Vater, der in seiner Jugend sogar als wilder Raufbold bekannt war, konnte sich dem widersetzen.

Mina hatte ganz andere Sorgen. Um sie herum hatte sich eine komplett neue Welt geöffnet, mit der sie niemals gerechnet hatte. Alles war neu für sie, deswegen gab sie ihr Bestes, um alles gleichzeitig wahrzunehmen, und drehte sich wie ein Propeller eifrig im Kreis.

„Ist das alles riesig hier! In ein Haus allein würde schon unsere gesamte Siedlung hinein passen! Und hier gibt es gleich so viele davon!“, teilte sie einige ihrer Eindrücke mit Aaron, der sie daraufhin belächelte.

„Ja, hier ist es schon ein ganzes Stück anders als in eurer Siedlung. Aber das ist noch nicht mal ansatzweise das Ausmaß einer Stadt. Die Häuser dort sind bestimmt zehnmal so groß wie hier!“

„Z-zehnmal?!“, wiederholte sie geschockt und stoppte mitten in ihrer Drehung. Mit weit aufgerissenem Mund schaute sie zu Aaron. „Das will ich unbedingt sehen!“

Gleiches galt für Aaron. Wie sehr hoffte er, dass noch mehr Menschen den Krieg überlebt hatten. Eine Stadt wäre dafür das beste Zeichen. Und um genau das herauszufinden, waren sie hier. Die Bibliothek in dem Dorf hatte bestimmt Geschichtsbücher und vielleicht sogar solche, die sich mit den letzten 300 Jahren befassten.

„In Ordnung. Wenn wir hier fertig sind, setzen wir uns als nächstes Ziel eine Stadt.“, versprach er ihr. „Aber jetzt müssen wir erst mal die Bibliothek ausfindig machen.“

„Die Bibliothek. Verstanden.“ Wie immer dachte Mina nicht lange nach, bevor sie handelte. Sofort ging sie auf die erste Person zu, die ihr über den Weg lief. Diese stellte sich als ältere Frau heraus, die gerade ihren Einkauf beim Fischer beendet hatte. Sie wechselten ein paar Worte, hinzu kamen merkwürdige Armbewegungen von Minas Seite, die Aaron nicht zuordnen konnte, und dann trennten sich ihre Wege schon wieder.

Wie ein Soldat, der seinen Befehl ausgeführt hatte, stellte sich Mina vor ihn und erstattete Bericht: „Die Bibliothek ist am westlichen Rand des Dorfes. Aber sie hat gesagt, wir sollen uns lieber keine großen Hoffnungen machen. Das war alles.“

Aaron zog nachdenklich seine rechte Augenbraue in die Höhe und verschränkte die Arme. Keine großen Hoffnungen machen? Das klang nicht sonderlich vielversprechend. Am Ende war die angebliche Bibliothek nichts weiter als eine staubige Abstellkammer. Davon wollte er sich trotzdem selbst überzeugen lassen.

„Danke, Mina. Na dann, gehen wir mal zu dieser Bibliothek.“

 

Das Aushängeschild war strahlend sauber, die Fassade von sämtlichen Dreckspuren befreit, kein Unkraut wuchs im Vorgarten. Wer auch immer der Inhaber dieses Gebäudes war, er kümmerte sich sorgfältig darum.

Unfreiwillig formte sich Aarons Mund zu einem leichten Lächeln. Der Ersteindruck war sehr positiv und innen sah es mit Sicherheit nicht anders aus. Niemand würde sich nur im äußeren Bereich solche Mühe geben. Damit konnte er seine Befürchtung, es sei nur ein altes, verlassenes Gebäude, jedenfalls streichen. Doch umso weniger konnte er etwas mit den Worten der älteren Frau anfangen.

Er zuckte die Schultern. Vielleicht mochte sie einfach nur keine Bücher und redete die Bibliothek deshalb schlecht. Vielmehr interessierte ihn jetzt das Angebot. Denn nur weil das Gebäude gepflegt war, hieß das nicht, dass die Auswahl an Büchern seinen Erwartungen entsprach. Trotz allem war er zuversichtlich, etwas zu finden, das ihm weiterhelfen konnte. In so einem großen Gebäude musste es etwas geben und sein durch Mina entfachter Optimismus wollte ihn schlichtweg nichts anderes glauben lassen.

Sie betraten das Haus und wurden gleich von einer angenehmen Atmosphäre in Empfang genommen. Genau wie Aaron es vermutet hatte, war es innen genauso gepflegt und sauber wie außen. Keine Staubschicht, die Regale waren alle parallel angeordnet und prall gefüllt mit Büchern. Irgendein Buch davon hatte sicher einen Hinweis auf die Ereignisse zu der Zeit, in der er bewusstlos war.

Sofort wollte sich Aaron auf die Suche nach besagten Büchern begeben, doch ein junger Mann stellte sich ihm in den Weg. Er war etwas größer als Aaron und trug einen kurzen, seitlich ausgerichteten Pferdeschwanz, der seine pechschwarzen Haare bändigte. Dazu bildeten seine eisblauen Augen einen guten Kontrast.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte er freundlich.

Aaron hatte ihn als Angestellten der Bibliothek zugeordnet. Sein Auftreten wirkte selbstsicher und besonnen, doch schätzte er ihn nicht auf viel älter als sich selbst, weshalb er nicht glauben konnte, dass es sich bei ihm um den Inhaber handelte.

Er setzte zum Reden an, als ihm seine Augen ins Sichtfeld fielen. Diese eisblauen Augen waren wie ein Spiegel. Sobald Aaron in sie hineinschaute, hatte er das Verlangen, ihm all seine Gedanken mitzuteilen.

„I-ich…“, fing er an. Informationen flossen durch seine Hirnwindungen, von denen er nicht mal wusste, dass er noch auf sie zugreifen konnte. Er schüttelte seinen Kopf, um den eisblauen Augen zu entrinnen und wieder Herr seiner Sinne zu werden.

„Ich suche nach einem Buch.“, meinte er knapp. Das tat er ja auch, nur konnte er sich alsbald selbst denken, dass diese Aussage nicht sonderlich kreativ war. In einer Bibliothek ein Buch zu suchen - welch eine Überraschung.

„Ein bestimmtes Buch.“, fügte er räuspernd hinzu, damit er nicht vollkommen dumm herüberkam.

„Welche Kriterien muss das besagte Buch denn erfüllen? Soll ich nach einer bestimmten Thematik, einem Autor oder etwas anderem suchen?“, knüpfte der Angestellte sogleich an das Gespräch an. Aarons merkwürdige Reaktion hatte ihn nicht gestört, wie es von einem echten Geschäftsmann zu erwarten gewesen war. Allerdings machte ihn eines stutzig: In seinen Augen schwor Aaron, das gleiche Leuchten kurzzeitig erkannt zu haben, das er von Mina zu gut kannte.

„Ein Geschichtsbuch. Es sollte von der Zeit des Kri-“ Er hätte vermutlich noch eine Stunde weiter reden können, doch es erschien ihm effizienter sein Stimmvolumen sich aufzusparen, wenn er sich sicher war, dass ihm sein Gesprächspartner nicht mehr folgte. Er hatte lediglich das Wort „Geschichtsbuch“ in den Mund genommen und schon hatte er gespürt, wie der Schwarzhaarige eine Blockade um sich aufgebaut hatte. Von einem Leuchten in seinen Augen konnte keine Rede mehr sein, stattdessen war eine Leere, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte, entstanden.

„Ein Geschichtsbuch sagt er… Wegen eines Geschichtsbuches ist er hier… Ist das zu fassen…? Einfach unglaublich! Ein Geschichtsbuch!“ Wie im Delirium stotterte er diese Worte vor sich hin und schenkte Aaron nicht mal einen Hauch von Aufmerksamkeit.

„Ähm, entschuldigen Sie? Alles in Ordnung bei Ihnen?“, erkundigte sich Aaron vergeblich.

Erst nachdem Mina zu ihnen gestoßen war und das Buch „Steak - der König unter den Fleischarten“ vor Aarons Gesicht hielt, regte sich wieder etwas in den Augen des Angestellten.

„Sieh mal, was ich gefunden habe, Aaron! Schau dir nur all diese Bilder an! Ich bin mir sicher, das würde dir auch so gut schmecken wie das Essen von-“

„E-eine Frau!“, schrie der Schwarzhaarige urplötzlich los und war mit einem Mal in der anderen Ecke des Raumes verschwunden.

Sowohl Aaron als auch Mina schauten ihm irritiert nach und überlegten, was sie getan hatten und gleichzeitig tun sollten. Der Kerl war für die beiden ein einziges Mysterium. Erst das Geschichtsbuch und nun eine Frau. Diese zwei Dinge hatten keinerlei Gemeinsamkeiten, aber trotzdem lösten sie bei ihm psychische Labilität aus. Hatte er etwa zu allem eine traumatische Verbindung?, wunderte sich Aaron.

„Nochmal: Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“, wiederholte Aaron seine Frage mit Nachdruck, nachdem sie ihn in der Ecke kauernd aufgefunden hatten.

„Nein, du Blindfisch! Und jetzt verschwindet aus meiner Bibliothek!“, zischte er zitternd. Es stand außer Frage, dass er dabei nicht einmal zu ihnen schaute.

So wenig Aaron diese Antwort überraschte, überraschte ihn der Besitzanspruch des zweiten Satzes schon. Dann war er also doch der Inhaber der Bibliothek. Umso mehr war das ein Grund, ihn nicht in Ruhe zu lassen.

„Wir verschwinden gerne von hier, aber davor hätte ich noch gerne das Buch, nach dem ich suche.“, stellte er als Bedingung.

Dem Bibliothekar war das aber alles andere als recht: „Solange sie hier ist, niemals!“

Damit bestätigte sich Aarons Annahme von einer Frauenphobie. Er seufzte. So gern er Mina dabei haben wollte, hinderte sie derzeit ihr Vorankommen. Er kostete ihn Überwindung, ihr diese Worte zu sagen, aber er hatte schließlich einen guten Grund dafür: „Mina, kannst du bitte draußen auf mich warten? Dem jungen Mann hier geht es nicht besonders gut und er bräuchte jetzt etwas Ruhe.“

„Wirklich?!“, rief sie schockiert, als habe sie davon nichts mitbekommen. Hastig drehte sie sich dem Bibliothekar zu und hockte sich direkt neben ihn, sodass er sogar Minas Atem an seinem Gesicht spüren konnte. Das alles geschah so schnell, dass sich Aaron keine Gelegenheit bot, sie davon abzuhalten.

„Sind Sie etwa krank? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte sie besorgt und legte ihre Hand an seine Stirn.

Völlig perplex schaute der Angesprochene sie an und antwortete nicht auf ihre Frage. Für einen Moment herrschte eine Totenstille, bis überrascht aus seinem Mund kam: „Ich hab ja gar keine Angst…“



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