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Im Schatten des Universums

Machtergreifung
von

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„Aua, das tut höllisch weh!“

Wolf plagten fürchterliche Kopfschmerzen und er fasste sich mit der linken Pfote an die Stirn. Als er dabei auf etwas Löchriges stieß, wurde er plötzlich von einem weitaus extremeren Schmerz durchgeschüttelt. Er schrie und nahm die Hand umgehend wieder von der Wunde.

Seine Rechte war weiterhin von der Kugel übel zugerichtet und er traute sich nicht, sie zu bewegen. „Ein Blaster ist ja ein Wattestäbchen dagegen ...“

Dann strich er sich über das Gesicht. Der Söldner war von den pulverartigen Rückständen an der Handfläche überrascht, hatte er doch richtige Schmierereien erwartet. Die blutgetränkte Kleidung war fast getrocknet. Wie lange hatte er hier gelegen? Es war offensichtlich, dass ihn die Piraten zum Sterben zurückgelassen hatten.

Aber das Sturmgewehr saß fest an seinem Rücken; scheinbar hatten sie nicht daran gedacht, ihm seine Waffe abzunehmen.
 

„Wie auch immer, ich brauche dringend Verbandszeug, und zwar fix. Vielleicht über den Komlink ...“

Wolf streckte die intakte Hand nach dem Rasierer und zog nach einigem Rütteln ein Gerät aus der Jackentasche. So sprach er hinein: „Masaru? Nudelholz? Santana? Wolf hier, benötige einen Sanitäter, und zwar sofort! Sonst kann ich mir die Radieschen bald von unten anschauen!“

Statt einer Antwort entwich dem Lautsprecher ein widerlicher Gestank. Als hätte jemand vergessen, sich morgens die Zähne zu putzen, danach Knoblauch gegessen und dann übergeben. Umso seltsamer, da er glaubte, diesen Geruch letztens erst gerochen zu haben.

„Ich weiß, ihr mögt mich nicht und ich Nudelholz nicht, aber das ist doch lange kein Gr...“

Auf einmal hörte er jemanden reden. Zwar in der Fremdsprache, aber Hauptsache ein Lebenszeichen am anderen Ende. Auch wenn er anhand der Stimme nicht die Person identifizieren konnte.

„Hallo? Hallo! Könnt ihr mich hören? Hallooooo!“

Aber niemand reagierte.
 

Wütend rief er: „Ach, ich brauche euch nicht! Ich komme auch ohne euch zurecht!“

„Und wissen Sie was?“

Da hielt er inne. Für den Moment hielt er es für einen üblen Scherz, bedachte man den plötzlichen Sprachwechsel. Seinen Unmut darüber kundgetan, fuhr der Unbekannte fort und allmählich schrillten bei Wolf die Alarmglocken.

„Ich glaube Ihren ach so tollkühnen Geschichten und Statistiken kein Wort und halte Sie für hochgradig inkompetent.“ Wer hatte nochmal die Stirn, ihn als Nichtskönner zu bezeichnen? Je mehr er daran dachte, und die Gesichtsfurchen auf die Kugel drückten, umso schmerzvoller wurde es, weswegen er versuchte, den Zorn zu unterdrücken. Was blieb, entlud er in den Komlink.
 

„Rhino!“, schoss es aus ihm heraus, „Ich schwöre Ihnen, wenn wir uns jemals wieder über den Weg laufen sollten, mache ich aus Ihrem Rückgrat eine Halskette und hänge Ihren Kopf als Jagdtrophäe über den Kamin! Ich lasse mich nicht mehr länger von Sesselfurzern herumkommandieren, damit Ihnen das klar ist!“

„Doch! Wenn ich will, dass Sie eben Sexsklave werden, dann tun Sie das!“ Inmitten Wolfs Hasses, wo es vereinzelt Platz für logische Überlegungen gab, kam ein Verdacht auf. Rhinos Worte klangen zwar authentisch und dass er es war, stand außer Frage. Allerdings unterschied sich das Gehörte nicht im Geringsten von seinen Erinnerungen. Um seine Theorie zu bestätigen, hörte er weiter zu.
 

„Wenn ich Ihnen befehle, meine Toilette nach einem Saufgelage zu putzen, führen Sie es aus! Und wenn ich sogar von Ihnen verlange, Jan umzubringen, dann kommen Sie dem ebenfalls unverzüglich nach!“

Kein Zweifel. Seine Schlussfolgerungen ließen nichts anderes als eine Aufnahme zu. Wahrscheinlich um ihn weichzuklopfen.

„Nicht mit mir“, meinte er selbstbewusst, „Ich habe euch durchschaut! Wartet nur, bis ich wieder da bin, dann sehen wir, wer zuletzt lacht!“ Wer ihm auch immer den Streich spielte, er würde was erleben!

Dennoch beschäftigte ihn die Frage, wer sich die Mühe machte, Aussagen aufzunehmen. Jan vielleicht? Nein, dazu war er zu blöd. Oder Wolf hätte vielleicht etwas netter mit ihm umgehen können. Zudem wunderte es ihn, dass dieses Komlink über die Funktion verfügte, Gerüche zu übertragen.

Das schob er jedoch auf die lange Bank. Falls er die Wunden überlebte, hätte er im Anschluss daran ausreichend Zeit, darüber nachzudenken.

Also erhob er sich und sondierte die Lage.
 

Der Standort war kein anderer als besagte Landungsstelle der Imperialen. Hinter ihm befand sich der Bohr-LKW am Bauch des Kampfläufers, weiter vorne lag die Pistole auf dem Boden, mit der er den Kapitän erschießen wollte. Das einzig Neue am Platz war ein dunkler Lastwagen mit Planenaufbau.

Während sich Wolf umblickte, kam ihm eine unangenehme Frage in den Sinn:

„Moment, sollte ich nicht vor Sonnenuntergang zurück sein?“ Dann hob er den Kopf.
 

Der Himmel war orangefarben und der rote Nebel in den Weiten des Alls wurde heller. Die Sonne selbst sah er wegen den Bäumen nicht, aber die Düsternis sagte alles. Sogleich hielt er sich die Hände an den Kopf. „Bomben und Granaten! Es ist kurz vor der Deadline und ich habe immer noch nicht den zweiten Teil des Auftrags erfüllt! Und was mache ich jetzt?! Das wäre alles nicht passiert, hätte Nudelholz Verstärkung geschickt!“ Die rasch aufkeimende Wut ließ er am Komlink aus, indem er es zu Boden schmetterte und darauf herumstampfte. „Du! Blöder! Hirnamputierter! Mistkäfer! Graah!“

Sogar als das Gerät in Einzelteilen zu seinen Füßen lag, schnaubte er und konnte sich nicht beruhigen.

„Ich bringe ihn um!“

Zum Schluss trat er den Schrott weg und sah nach, wie es sich in der Gegend verteilte.

„Schon besser ...“
 

Nun brütete er über den nächsten Schritt. Er hatte seine einzige Kontaktmöglichkeit zum Imperium zerlegt und die Zeit rannte ihm davon, sowohl für den Spähauftrag, als auch wegen den Verletzungen. Eine klassische Lose-Lose-Situation also.

Wolf lehnte sich mit dem Rücken an die Bohrmaschine und verschränkte die Arme.

„Komm schon, denk nach! Bis jetzt hast du doch immer einen Ausweg gefunden, warum nicht auch jetzt?“

Laufen wäre ohne die Blutungen gar kein Problem gewesen, aber unter diesen Umständen kam das natürlich nicht in Frage.

„Hm, und das Fahrrad?“ Es war besser als nichts und wenn er sich sputete, könnte er es noch rechtzeitig schaffen. Doch nicht nur, dass er unglücklicherweise den genauen Standort vergessen hatte, er war auf dem Drahtesel auch nicht gerade der Schnellste - und das schloss nicht die gelegentlichen Stürze ein. Allerdings, was blieb ihm denn anderes übrig?

„Ach, ich werd's schon finden … irgendwann.“
 

Bevor er sich in Bewegung setzte, horchte er in die Wildnis hinein. Nicht das er einem hinterhältigen Heckenschützen zum Opfer fiel, aber wie wahrscheinlich war es, dass sich jemand stundenlang auf die Lauer legte um jemanden zu töten, der bald an Verblutung sterben würde?

Was zusätzlich die Frage aufwarf, wo die Piraten abgeblieben waren.

„Egal, solange niemand hier ist, mache ich mich aus dem Staub!“

Wolf ging hinter den Vorderbeinen des Kampfläufers in Deckung und spähte durch die Öffnungen. Erst nachdem er sich in Sicherheit wähnte, ging er sie ab und wiederholte das Prozedere bei den Füßen. Auch hier konnte er keine Bedrohung entdecken.
 

„Hm, die Luft scheint rein zu sein … dann mal los!“

Sich noch ein letztes Mal umsehend, sprang er hinter den Beinen hervor und beugte den Oberkörper bereits zum Spurt. Dann erstarrte er kurz darauf zur Salzsäule.

Etwas hatte seine Aufmerksamkeit vollends auf sich gezogen und ihn von der Flucht abgehalten. Dass er dabei wie auf dem Präsentierteller stand, kümmerte ihn nicht.

Mehr als interessiert beäugte er jenes Gefährt, welches er zuvor lediglich am Rande wahrgenommen hatte.

Die sechs großen Räder, die robust aussehende Kabine mit langer Haube ...

War dieses Monster nicht das ideale Fluchtfahrzeug?

Wenn er damit durch die Reihen der Piraten pflügte, würde er unaufhaltsam sein!

Es gab da nur ein winziges Problem ...
 

Der Söldner wusste immer noch nicht, wie man so alte Wagen bediente. Und die Chance, das Wissen auf wundersame Weise zu erlangen, tendierte gegen null.

Machte aber nichts, denn Probieren ging über Studieren. Im Nachhinein wäre er sowieso schneller am Ziel, als mit dem Fahrrad.

Immerhin war es nicht so, dass er allgemein keine Ahnung über die Steuerung hatte. Er besaß sogar einen professionell gefälschten Führerschein, der noch nie in einer Verkehrskontrolle aufgefallen war.
 

In den Anfängen seiner Karriere standen ihm vertraute Kopfgeldjäger bei, die ihm eine umfassende Unterweisung gegeben hatten – für den Fall der Fälle versteht sich, denn er bevorzugte bis dato die uneingeschränkte Freiheit der Luft, besonders in seiner geliebten Wolfen. Aber jetzt war ein solcher Notfall und er sah sich gezwungen, dieses Museumsstück zu benutzen.

Aufs Neue die Gegend inspizierend, hechtete er zum LKW und presste seinen Rücken gegen einen Reifen. Jene waren so groß, dass er sich problemlos dahinter verstecken konnte, zumindest wenn er den Kopf einzog.
 

In der Hocke schlich Wolf zum Heck. Dort wollte er in seiner Neugier einen kurzen Blick in den Laderaum werfen. Dummerweise waren keine Aufstiegsmöglichkeiten wie Stufen oder Leitern vorhanden, daher machte er sich zu einem Sprung mit anschließendem Klimmzug bereit.

Doch auf einmal überkam ihn ein Schwindelgefühl und verstärkte Kopfschmerzen, die ihn effektiv daran hinderten, irgendetwas zu tun. Erst nachdem er sich an der Kante abgestützt hatte, ging es ihm besser.

Dann versuchte er es erneut, aber wieder wurde Wolf gelähmt. Ein dritter Anlauf brachte dasselbe Ergebnis.
 

Der Söldner konnte es sich nicht erklären, wieso es immer dann auftrat, sobald er im Begriff war, die Ladung zu untersuchen. Fast, als würde etwas nicht wollen, dass er das Innere sah …

„Quatsch“, schlug er den Gedanken in den Wind, „Da ist bestimmt Narkosemittel drin oder so. Kein Grund, irgendwelche wilden Theorien zu erfinden. Auch wenn ich zu gerne wissen möchte, was da drin ist ...“

Nach diesen Worten arbeitete er sich mit aller gebotenen Vorsicht zur Fahrertür vor.

Wie auch beim Panzerwagen war das Fahrzeug mit dem Emblem der Piratenarmee verziert.
 

Die Fahrerkabine lag etwas niedriger als der Laderaum und besaß zu seinem Glück einen Steigbügel. Nur leider zu hoch, um einen Fuß darauf zu setzen.

„Zur Hölle damit“, ärgerte er sich, „Wie schafft man es bloß hier einzusteigen, ohne sich die Beine zu brechen?“

In seinem Bestreben, einen sicheren Einstieg zu finden, schaute er sich das Vorderrad, dessen Achse hervorstand, genauer an. Verglichen mit dem Trittbrett lag sie etwas tiefer und bot sich somit als Stufe an. Und falls es nicht reichte, konnte er auf den unteren Reifenrand treten.

Die Achse konnte er mit seinem Fuß gerade noch erreichen, danach langte er zum Kotflügel und stellte das andere Bein auf das Brett. Die Akrobatik schloss er mit einem Griff zur Klinke und festem Halt auf der Stufe ab.
 

Wolf versuchte in die Kabine zu gelangen und positionierte sich auf ein Bauteil daneben, welches der Tank sein musste. Mit einer Hand hielt er sich fest und zog mit der anderen an der Klinke.

Ein klapperndes Geräusch ertönte und die Tür schwang auf.

Einen Moment lang stand er da, starrte und schmunzelte.

„Schade, dass ich es benötige. Autodiebstahl ist ein recht lukrativer Nebenverdienst, zwar riskant, aber lohnenswert. Besonders wenn der Idiot vergisst, abzuschließen.“

Danach stieg er ein, ließ sich auf den Sitz fallen und schloss die Tür.
 

Was ihm sofort auffiel: Das Interieur entsprach nahezu eins zu eins dem vom Wagen, mit dem der Söldner ins Dorf gebracht wurde, nur größer dimensioniert. Wenn er daran dachte, sich mit der Vielzahl an Knöpfen und Schalthebeln rumschlagen zu müssen, graute es ihm.

Doch da die Zeit drängte, arrangierte er sich notgedrungen mit der Bedienung. Aber was brachte fundiertes Wissen über die Funktionsweise des Wagens, wenn der Motor nicht lief?

Im Zündschloss steckte kein Schlüssel und in den Fächern fand er nichts.
 

Der Kopfgeldjäger kannte eine urbane Legende, die von einem Kriminellen berichtete, der es geschafft hatte, ein Fahrzeug kurzzuschließen, indem er die Abdeckung unter dem Lenkrad entfernte und zwei farbige Kabel miteinander verband. Wolf wusste allerdings, dass eben jenes in der heutigen Zeit, aufgrund der Sicherheitsmaßnahmen in Autos, unmöglich war. Zumal es keine Beweise bezüglich des Erfolges gab.

In Anbetracht der veralteten Technik des LKWs jedoch …

Er grinste.

„Ha haaa, ich werd' noch berühmt dafür!“

Wolf neigte sich unter den Lenker, fasste an den Löchern für die Schläuche und rüttelte an ihnen. Er erhöhte den Kraftaufwand, bis es rumste und er ein Stück Plastik in den Händen hielt. Sogleich kamen mehrere bunte und lose Kabel zum Vorschein.

„Okay, was jetzt?“, dachte er laut, „Wie hieß es in der Erzählung nochmal ..?“ Hier ließ ihn sein Gedächtnis in Stich, deswegen probierte er schlicht sämtliche Kabel durch. Nach einer Weile sprühten endlich Funken und der Motor brummte, als würde er aus einem langen Schlaf erwachen.

Wolf konnte sein Glück nicht fassen und beschloss demnächst damit bei Kollegen anzugeben.
 

Als nächstes musste er die Schaltung erlernen. Bei aktuellen Gleitern war es ein Kinderspiel: es gab zwei Pedale, jeweils für Gas und Bremse, die Schaltung erfolgte automatisch und erforderte kein Zutun. Ganz zu schweigen von den eingebauten Assistenzsystemen samt Einparkhilfe und „Motivatoren“, die den Fahrer „aufweckten“, falls dieser den Verkehr behinderte.

Der Stahlriese jedoch schien aus einem Zeitalter zu stammen, in dem einem nichts vorgekaut wurde und der Computer nicht die eigenen Unzulänglichkeiten kompensieren konnte, sondern man in der Fahrschule aufgepasst haben musste.
 

Aufrecht sitzend, sah er die Pedale an. Insgesamt gab es drei, wovon zwei rechts nebeneinander waren und das Dritte links. Die Rechten mussten für Gas und Bremse zuständig sein, darum blieb der Linke für die Schaltung übrig.

Zunächst testete er die Beschleunigung aus, drückte behutsam auf das Gaspedal recht...

Plötzlich durchschlug etwas die Seitenscheiben und Wolf stieß vor Schreck einen Schrei aus. Erst dann fielen ihm die kleinen Löcher im Glas und die Scherben im Innenraum auf.
 

Was aber viel Schlimmer wog war die Gewissheit, entdeckt worden zu sein. Die Piraten waren anscheinend zurückgekehrt und nicht gerade begeistert davon, ihren Lastwagen zu verlieren.

Nichtsdestotrotz kam eine Kapitulation für ihn nicht in Frage und trat aufs Pedal – fast. Eine robotische Stimme aus dem Lautsprecher meldete sich und drohte ihm:

„Eine falsche Bewegung und ich werde sicherstellen, dass du tot bleibst.“ Auf der Stelle hielt Wolf still, regte sich kein bisschen und wartete ab. „Es gleicht einem Wunder, einen Kopfschuss zu überleben. Wenn man bedenkt, dass die Piratenarmee technisch aufgerüstete Waffen verwendet, ist es zweifellos eines.“
 

Ustanak. Damit war der Tag gelaufen.

„Aber meine Hochachtung für diese Überlebenskunst. Vor allem angesichts deines doch schwächlich anmutenden Körpers im Vergleich zum Menschen.“

Wolf sagte nichts, aber fühlte sich von der Aussage auf gewisse Weise geschmeichelt. Einen Absturz zu überleben war die eine Sache, eine Kugel im Kopf eine ganz andere.

„Aber wie auch immer, ich werde nicht tatenlos zusehen, wie du einen Ural entwendest. So, der große Wolf O'Donnell, ja?“
 

Schon wieder. Letzteres hatte doch Moritz gesagt, als er Wolf wegen seiner Trunkenheit ausschimpfte. Sogar die Stimme passte.

„Ustanak“, begann er ungeniert zu fragen, „Hast du vielleicht irgendwelche Aussagen aufgenommen? Etwa von demjenigen, den du grausam ermordet hast, was ich dir übrigens nie verzeihen werde?“

„Nein“, antwortete er, „Und ja, ich habe ihn umgebracht, wie es meine Befehle vorgaben. Ich bin auch nicht verpflichtet, dir gegenüber Rechenschaft abzulegen. Aber das klären wir später auf dem Weg.“
 

Irgendwas stimmte hier nicht. Die KI musste Aufnahmen besitzen, wie sonst konnte sie Moritz imitieren? Das würde auch erklären, woher die Bandansagen auf dem Komlink stammten. Obwohl offen blieb, wie Ustanak an die Frequenzen gelangen konnte.

Wolf hakte nach:

„Sicher? Jemand muss Aufnahmen von Gesprächen haben, die man mit mir geführt hatte. Jemand spielt sie über mein mittlerweile geschrottetes Komlink und über diesen Lautsprecher hier im Cockpit ab, und gerade du hast einen Satz eins zu eins wiederholt, den mir mal jemand anders gesagt hatte. Mit derselben Stimme!“

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Wahrscheinlich bildest du dir das nur ein, Kopfschüsse können durchaus für Halluzinationen und dergleichen sorgen.“
 

Wolfs unmittelbar folgenden Protest wiegelte Ustanak mit dem Befehl ab, das Fahrzeug in Bewegung zu setzen.

„Ähm, was hast du vor?“, wollte der Kopfgeldjäger wissen. Das Thema mit den Aufzeichnungen war für ihn noch lange nicht gegessen, doch schob er es fürs Erste auf.

„Im Laderaum ist medizinisches Material geladen, das im Dorf dringend benötigt wird. Leider war der ursprüngliche Fahrer zu betrunken für einen sicheren Transport und wurde zur Ausnüchterung ins Lager gebracht. Beim Rest sieht es nicht besser aus. Und wo du überlebt hast und zurzeit der einzig verfügbare Fahrer bist, ist das genau die richtige Arbeit für dich.“
 

In diesem Moment kamen Wolf wieder die Bedenken über Stalos' Gefangene in den Sinn, welche er Ustanak sofort mitteilte. Der jedoch beschwichtigte ihn und sagte:

„Sei unbesorgt, der Captain wird sie nicht töten. Selbst mit seiner cholerischen Art ist er nicht dumm genug, sein einziges Druckmittel zu verschwenden. Und nun fahr, wir müssen den Unschuldigen unsere Hilfe zukommen lassen. Denke bitte daran, dass davon auch dein eigenes Leben abhängt.“

„Nun gut, wo du Recht hast, hast du Recht“, erwiderte der Söldner, betätigte das Pedal und brachte den Lastwagen langsam in Bewegung.
 

Aufs Neue war Wolf erstaunt darüber, von dem Panzer am Leben gelassen worden zu sein. Das sich eine Kampfmaschine zudem so sehr um seine Landsleute kümmerte, unterschied Ustanak von allen künstlichen Intelligenzen, denen er in seinem bisherigen Leben begegnet war.

Im Schneckentempo würde er allerdings nie pünktlich ankommen, weswegen ihm der Panzer kurzerhand die Gangschaltung erklärte.

„Kupplung treten, Gang einlegen und Pedal langsam loslassen. Es ist wie Fahrrad fahren, vertrau mir.“

Es war tatsächlich nicht so schwierig, wie Wolf dachte und er brachte das Fahrzeug schnell auf Hochtouren. Soweit es bei dem von Bäumen gesäumten Gelände und der trägen Lenkung möglich war, natürlich.
 

Ustanak leitete ihn, von seiner unbekannten Position aus, an und führte ihn durch das Dickicht auf den Feldweg zurück. Dort wollte Wolf auf die Aufnahmen zurückkommen, wurde jedoch von der KI abgewürgt.

„So langsam schwindet meine Achtung für deine Person. Dabei habe ich echt viel von Ihnen gehört und habe mich wirklich gefreut, Ihnen endlich zu begegnen. Aber wenn man mir erzählen würde, dass dieses Etwas hier vor mir tatsächlich der berühmte O'Donnell sei, würde ich ihn für verrückt erklären.“
 

Der Söldner ging gar nicht erst auf das Gesagte ein, sondern machte Ustanak aufgebracht auf die eindeutig aufgezeichneten Sätze aufmerksam. Aber erneut wehrte die KI ab, er würde allmählich den Verstand verlieren und solle sich besser beeilen, ehe er den Wunden erliegen würde. Zum „Ansporn“ kündigte er an, den LKW mit ihm zusammen in die Luft zu jagen, falls er ihn weiter damit nerve. Zähneknirschend willigte Wolf ein und sah zukünftig davon ab.
 

So hoch über dem Boden zu sitzen und auf alles herabzusehen war ein Gefühl, das nicht mit dem Flug im Wolfen vergleichbar war. Klar hatte er im Laster nicht dieselbe Freiheit wie in der Luft, aber während er im Flieger verwundbar war und jeder Fehler das Aus bedeuten konnte, fühlte er sich im Inneren des „Urals“ wie ein König. Was sich ihm entgegenstellte, wurde von den riesigen Rädern zermalmt und sein Tempo, kombiniert mit den Tonnen an Gewicht, machte ihn zu einem Werkzeug der Massenvernichtung. Statistiken über die häufigsten Todesursachen führen wohl nicht umsonst das Auto als ersten Platz auf …

Jene Baumwurzeln, die auf dem Drahtesel ein ernstes Hindernis gewesen wären, walzte das Fahrzeug einfach nieder und Bodenwellen bewältigte der Wagen, als wären sie nicht existent.

Alles in einem: Wolf hatte noch nie so viel Spaß beim Fahren gehabt, wie jetzt.
 

Plötzlich fuhr Wolf die KI wegen des Fotos an.

„Gib mir einen Grund, nur EINEN einzigen Grund, warum ich dich wegen des Fotos nicht zur Thunfischdose verarbeiten sollte!“ Kühl und emotionslos wie immer antwortete Ustanak:

„Erstens habe ich die Macht, dich in einem Feuerball aufgehen zu lassen, also rate ich davon ab, mich zu provozieren. Zweitens werde ich von den Piraten als Ungeheuer dargestellt, und was das bewirkt, kann man perfekt an dir sehen.“
 

Erneut hatte der Panzer in beiden Punkten Recht, wobei Wolf nicht verstand, wieso das zweite Argument seine Frage beantworten sollte.

„Stimmt, aber was hat Letzteres mit meiner Frage zu tun? Was ich über dich gehört habe, scheint dieses „Image“ zu bestätigen! Erschießt Aliens, Ziviliaaargh!“

Eine zweite Kugel sauste durch das Cockpit, traf seine Mütze und warf sie vom Kopf. Diese überdeutliche Warnung beherzigte er diesmal und schwieg.

„Letzte Warnung, endgültig.“
 

Dann holte Ustanak weiter aus und redete:

„Unter Berücksichtigung der Tötungen mögen die Vorwürfe stimmen, und ich werde meine Morde nicht verleugnen. Aber was mich anwidert ist, wie sie überdramatisiert werden. Verstehst du, aus mir wird sogleich ein erbarmungsloses Monster gemacht, das es grandios findet, jemanden zu erschießen. Dabei sollte man jedoch niemals Spaß am Töten empfinden, sowie seine Moral und Menschlichkeit verlieren.“

Wolf schmunzelte und sagte dazu:

„Ah ja, eine Maschine mit Moral und Menschlichkeit. Du empfindest das nur, weil dir diese Werte einprogrammiert wurden, wie du selber gesagt hattest. Deswegen finde ich es beinahe lächerlich, wie ein totes Ding anfängt, von Sachen zu reden, die es überhaupt nicht verstehen kann. Du handelst ausschließlich nach dir gegebenen Routinen, du bist nur eine seelenlose Maschine. Einzig erschaffen für den Kampf, ohne eigenen Willen.“
 

„Korrekt. Ich habe nichts davon, was ihr Lebenden Herz und Seele nennt und wie ich denken und handeln soll, geben mir Zeilen an Programmcode vor. Aber davon unabhängig bin ich in der Lage zu lernen und kann mehr Wissen speichern, als ein Gehirn aus Fleisch und Blut vermag. Und das Wichtigste: Ich kann nichts aus meinem Speicher löschen, ergo kann ich weder vergessen, noch Werte von ein auf den anderen Moment über Bord werfen. Es sei denn, man entfernt eine Sperre im Programm, doch dazu ist ausschließlich Masaru imstande, mein Hauptentwickler. Sein Bestreben, eine militärische KI zu konstruieren, die einerseits das Wissen eines Veteranen und anderseits wichtige Normen und Werte in sich vereint, war löblich und funktionierte gut. Doch leider hatte er nie damit gerechnet, dass sie eines Tages in die Hände von Abschaum fallen könnte, die sie dazu nutzen würde, Meinungsverschiedenheiten mit Terror zu begegnen.“

„Und warum gehst du nicht einfach oder bringst sie um? Dann würde nicht nur mein Kamerad noch da sein, ich müsste auch nicht um mein Überleben kämpfen!“
 

„O'Donnell, du bist naiv. So naiv, ich würde schreien, würde ich Schmerz kennen. Eine KI sollte vor allem eines tun: Gehorchen. Ohne Wenn und Aber. Meine Programmierung verbietet zwar Unschuldige zu töten, aber ein Befehl hat oberste Priorität. Meinst du wirklich, es hatte mir Spaß gemacht, deinen Kumpanen umzubringen und seinen Kopf auf den Speer zu spießen? In Wahrheit wurde er bereits von anderen Piraten gefangengenommen und ich sollte ihn exekutieren. Er wurde enthauptet, auf den Speer gespießt, auf dem Foto „verewigt“ und einer einsamen Frau übergeben, deren Kater man entführt hatte, um sie zur „Zusammenarbeit“ zu bewegen. Es liegt mir ebenso fern, Opfer und ihre Angehörige zu demütigen – was gleichzeitig bedeutet, dass ich mich von diesen verachtenswerten Methoden ausdrücklich distanziere.“
 

Das alles hörte sich für den Kopfgeldjäger allerdings nur nach einem bemühten Versuch an, sich zu rechtfertigen und die Schuld auf, wie sagte man so schön, die Gesellschaft abzuwälzen.

„Geeeeeenau, und das alles soll ich dir glauben?“ Als hätte Ustanak mit so einer Reaktion gerechnet, sprach er:

„Du musst mir nicht glauben und ich will mich für meine Verfehlungen nicht herausreden, genauso wie Masaru keine Schuld daran trägt, dass ich für kriminelle Zwecke missbraucht werde. Nur habe ich genug davon, zu einer Bestie gemacht zu werden, die ich nicht bin. Aber dann dieser Absturz ...“

Fast hatte Wolf Ustanaks Drohung vergessen und hätte sich ins Verderben manövriert. Dennoch erwiderte er:

„Lamentieren bringt die Toten auch nicht zurück, sondern man muss lernen, darüber hinwegzukommen. Schau dir nur mich an, als meine Einhei... uff!“
 

Plötzlich bebte das Fahrerhaus. Der LKW kam zum Stehen und Wolf prallte mit der Nase gegen das Lenkrad. Nachdem er sie wieder grade gerückt hatte, beugte er sich nach vorne und schaute nach, was passiert war.

„Hmpf, typisch. Konnte ja nur mir passieren.“

Der Söldner war so sehr mit Zuhören beschäftigt gewesen, dass er glatt ein Schlammloch übersehen hatte. Er trat mit voller Kraft aufs Gas, doch außer gedämpften Geräuschen von durchdrehenden Rädern und dem Aufheulen des Motors passierte nichts.

„Wenn wir schon dabei sind“, meinte Ustanak, „ich habe das Komlink eines dieser Imperialen angezapft, ich glaube, er hieß Santana. Dieser Mann hielt sich die ganze Zeit über bei zwei deiner Kollegen auf, darunter Masaru.“
 

Wolf schenkte dem kein Gehör. Er hatte alle Hände voll zu tun, den LKW aus dem Dreck zu ziehen, was ungefähr so aussah: Wahllos Knöpfe drücken und hoffen, den richtigen Antrieb zu aktivieren. Vorzugsweise den Schwebemodus.

„Dabei hörte ich sie, abseits von Gott und der Welt, auch über dich reden. Ich muss sagen, ich habe äußerst … interessante Dinge gehört und … hörst du mir überhaupt zu?“

„Kann doch nicht sein, dass die Knöpfe nur zur Zierde da sind ...“
 

Erst eine dritte Kugel konnte den Söldner ablenken. Der aber schimpfte:

„Boah, siehst du nicht, dass ich versuche, mich hier zu retten? Behalte deine Moralpredigten gefälligst für dich und hilf mir mal!“ Mit zunehmender Sorge, ohne Falten, betrachtete Wolf den immer näherkommenden Boden. Es war bestimmt nicht so schlimm wie Treibsand, aber ohne den Laster könnte er sich genauso gut die Kugel geben.
 

„Siehst du?“, sagte der Panzer im vorwurfsvollen Unterton, „Das ist es, worauf ich hinaus wollte. Beide, Masaru und dein Alienfreund, tauschten sich darüber aus, wie du sie behandelst.“

„Nicht das schon wieder“, dachte Wolf augenrollend und antwortete: „Komm, können wir das nicht auf später verschieben?“ Er wollte sich nicht anmerken lassen, dass er das Thema hasste.

„Beantworte mir eine Frage, nur eine einzige Frage: Was sind deine Kameraden für dich?“

Dasselbe hatte sich der Kopfgeldjäger schon am Tag des Absturzes gefragt und festgestellt, er wusste es nicht. Darum hob er sie sich für geeignetere Zeitpunkte auf. Ob das hier einer war?

„Ähm ...“

„Also?“
 

Was wollte Ustanak hören? Und vor allem: Wie sollte Wolf das rüberbringen? Er hatte das Gefühl, es ihm nicht recht machen zu können, egal was er sagte.

„Ich … äh ...“, brachte er zaghaft heraus und die KI lachte.

„Habe ich es mir doch gedacht. Du weißt es selber nicht, richtig?“ Wie ertappt, bejahte der Söldner. „Lass mich deine Blockade lösen. Dieser … Jan weiß erstaunlich viel über dich und ich kann nur daraus schließen, dass du großen Ruhm genießt.“ Die Schmeichelei perlte an Wolf wirkungslos ab und er entgegnete genervt:

„Komm auf den Punkt, ich muss noch zum Arzt! Und überhaupt, was interessiert mich dieser Schwachkopf?“
 

„Na gut … Als du noch ein kleiner Junge warst, sind deine Eltern bei einem Raubüberfall ums Leben gekommen, richtig?“ Sofort kämpfte Wolf gegen die wiederkehrenden Erinnerungen an und verfluchte sich dafür, in geselligen Runden zu viel von sich preisgegeben zu haben. Peinlich berührt sagte er:

„Grrrr … Ja, das stimmt. Ich wusste, ich hätte damals die Fresse halten sollen ...“

„Danach hast du den Mörder auf grausamste Art massakriert, dabei dein Auge verloren, dann aus Angst vor der Polizei ein Leben auf der Straße begonnen und dir eine neue Identität zugelegt, damit du nicht erkannt wurdest.“ Dann, nach einer elendig langen Pause, fügte er hinzu:

„Habe ich Recht, Avery Jefferson?“
 

„Ich bringe Jan um … Ich bringe Jan um … Ich bringe Jan um … Ich ...“

„Dadurch“, Ustanak ließ nicht locker, „dass das Leben auf der Straße ungemein gefährlich war, herrschte bei deinen Bekanntschaften ein Kommen und Gehen. Du hattest nie die Möglichkeit, richtige Freundschaften zu schließen. Du lerntest schnell, auf dich selbst aufzupassen und sich auf niemanden zu verlassen. Genauso jedoch erwarbst du die zweifelhafte Fähigkeit, andere für den eigenen Vorteil auszunutzen – wie du es bei Masaru vorhattest. Nach allem, was Sie so vom Stapel gelassen haben, sehe ich nicht, warum ich Ihnen helfen sollte. Ihnen ist ohnehin jeder andere gleichgültig, also was gibt mir die Sicherheit, mit jemandem zusammenzuarbeiten, der nicht auf seine Kameraden achtet?“
 

Wolf wollte die Demütigung so schnell es ging hinter sich bringen, denn mittlerweile waren die Räder komplett eingesunken. Um das Verfahren zu beschleunigen, sagte er das, was die KI seines Erachtens nach hören wollte:

„Okay okay, ich bin ein egoistisches Arschloch. Schiebst du mich jetzt bitte raus?“

Doch das reichte ihr nicht. Sie erkannte die fehlende Ernsthaftigkeit in seiner Aussage und beschloss, ihm auf dem Zahn zu fühlen.
 

„Besonders dein Umgang Jan gegenüber führte zu meinem Wunsch, so etwas wie Bauchschmerzen verspüren zu wollen. Er mag nicht der Intelligenteste sein und viel Unsinn anstellen, und trotzdem: er hält zu dir, komme was wolle. Obwohl du ihn jedes Mal wie Dreck behandelst, unterstützt er dich, wo er kann. Sag mir, warum tust du ihm das an?“

„Soll das ein Verhör werden? Ich sterbe hier!“

„Beantworte mir bitte die Frage.“ Wolf musste seine Wut im Zaum halten und beschränkte sich darauf, das Lenkrad zu zerdrücken.

„Argh! Weil er ein hirnverbrannter Idiot ist, der, wenn Dummheit wehtun würde, andauernd am Schreien wäre!“
 

„Und allein das ist der Grund dafür? Hast du schon mal daran gedacht, dass er vielleicht auch versteckte Qualitäten besitzt?“ Allein das Wort „Qualitäten“ mit Jan in Verbindung zu bringen brachte Wolf zum Lachen. Beide passten ungefähr so gut zusammen wie ein Schnabeltier zur Raketenwissenschaft.

„Qualitäten, welche Qualitäten? Anderen Leuten auf die Nerven gehen und in Lebensgefahr bringen?“

„Natürlich hast du aufgrund der vergangenen Ereignisse ein schlechtes Bild von ihm. Aber du lässt ihm gar nicht erst die Möglichkeit, seine Stärken zu zeigen. Ständig wird er von dir aufs Schärfste kritisiert und muss zurückstecken. Würdest du es gut finden, wenn du dir stets anhören müsstest, wie nutzlos du wärst?“
 

Je mehr Wolf die Bedeutung der Worte in sich aufnahm, umso gründlicher überdachte er sein Verhalten Jan gegenüber. Im Großen und Ganzen musste er Ustanak zustimmen. Der Söldner hasste fehlende Wertschätzung seiner Arbeit, besonders wenn er alles daran setzte, sie bestmöglich auszuführen. Sollte er dann nicht mit gutem Beispiel vorangehen?

„Damit wir uns nicht falsch verstehen, ich verurteile dich nicht. Schließlich kenne ich dich kaum und mir steht es nicht zu, dich anhand der wenigen Momente und dem Gehörten zu bewerten. Ich möchte dir dennoch nahelegen, deinen Umgang mit anderen zu überdenken. Du lebst nicht mehr auf der Straße und viele deiner neuen Bekanntschaften haben feste Wohnsitze. Warum arbeitest du nicht zukünftig daran, sobald der Krieg auf Nowaja Moskwa vorbei ist oder den Planeten verlässt? Und ich hoffe, dass allein der gesunde Menschenverstand, oder wie man das bei euch nennt, es verbietet, Personen auszunutzen. Das würdest du selber nicht wollen, korrekt?“
 

Das klang alles wie aus dem Bilderbuch. Was bekanntlich mit der Realität nicht viel zu tun hatte.

„Alles schön und gut, nur sieht es im echten Leben anders aus. Aber das weißt du bestimmt.“, sagte Wolf.

„Deswegen sind es nur meine persönlichen Ratschläge, die du befolgen kannst oder nicht. Du kannst so weitermachen wie bisher, aber ich garantiere dir, dass dein Leben mit etwas mehr Rück- und Nachsicht angenehmer wird. Du wirst mehr Verbündete finden, die dir in schlechten Zeiten beistehen werden und du kannst dir sicher sein, sie werden es aus freien Stücken tun. Und Verräter und Blutsauger … nun, ein Exempel an ihnen zu statuieren dürfte genügen. So wie du es bei dem Mörder deiner Eltern getan hast.“
 

Das konnte man ja probieren, dachte Wolf. Nur ließ seine derzeitige Situation nicht die von Ustanak propagierte Freundlichkeit zu, aber was nicht ist, kann ja noch werden.

„Gut gut, holst du mich jetzt hier raus?“

„Moment. Kannst du die vorangegangene Frage für dich zufriedenstellend auflösen?“

„Na ja … ich gebe zu, ich hatte nicht unbedingt ein Verhältnis zu ihnen, was man als Freundschaft bezeichnen könnte. Es waren Partner, nicht mehr und nicht weniger. Ich bin gern mit ihnen geflogen, aber eine dauerhafte Zusammenarbeit konnte ich mir nicht vorstellen. Dazu bin ich zu vorsichtig.“
 

Ustanak war das zu vage und legte nach:

„Aber wenn das nur Partner waren, was hat dich dazu bewogen, sie in deine Einheit aufzunehmen?“

„Nun, wir waren durch ähnliche Schicksale miteinander verbunden. Aber … ich weiß nicht, sie standen mir nie nahe genug ...“

„Dennoch erzählst du Fremden freizügig aus deinem Leben.“

„Ich war damals betrunken, okay? Außerdem gilt das hier nicht, weil ich von dir gezwungen werde.“

„Falsch. Es ist allein deine Entscheidung, ob du etwas dazu sagst oder nicht. Ich werde dich nicht fürs Schweigen umbringen, aber ob ich dir dann helfen würde? Fraglich. Aber denkst du, dass dir Jan und Masaru dabei helfen könnten, festes Vertrauen aufzubauen? Traue Jan doch mal was zu! Ich versichere dir, du wirst nicht enttäuscht werden.“
 

Nach allem, was die KI gesagt hatte, glaubte Wolf, einige seiner Vorschläge doch mal umsetzen zu können. Was wohl herauskommen würde?

„Also erwarte nicht von mir, dass ich danach plötzlich auf einem Friede, Freude, Eierkuchen-Trip sein werde. Aber ich werde deine Ideen berücksichtigen und gucken, was Jan so kann und ob mich eine andere Herangehensweise weiterbringen wird. Falls sie wirklich so positiv auf das Leben auswirken sollten … warum nicht?“

„Danke, O'Donnell. Das wollte ich hören.“
 

Das Fahrzeug steckte nun bis zu den Türen im Dreck und Wolf befürchtete bereits, nicht mehr entkommen zu können. Auf einmal jedoch hörte er fremden Motorenlärm und im nächsten Augenblick wurde er in den Sitz gedrückt. So sah er, wie der LKW ohne sein Zutun langsam aber sicher aus dem Loch auf festem Boden geschoben wurde. Im nächsten Moment fuhr ein Panzer an ihm vorbei und stellte sich vor den Wagen, das Kanonenrohr nach hinten ausgerichtet. Einer der Speere zwischen den Fässern war blank – Moritz' Kopf war entfernt worden.
 

Wolf konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen und bedankte sich.

„Vielen Dank, Ustanak. Hätte nicht gedacht, dass mich ein Feind mal retten würde. Aber wo zum Henker warst du die ganze Zeit?“

„Wie ich erwähnte, habe ich einprogrammierte Werte. Du solltest übrigens öfters in die Seitenspiegel sehen, wenn du ein guter Fahrer sein möchtest. Fahren wir nun zum Arzt, bevor es zu spät ist.“

Keine Aufforderung die man Wolf ein zweites Mal stellen musste.
 

Gemeinsam bahnten sie sich den Weg durch den Wald, die KI voran und bald darauf erreichten sie die Holztore des Dorfes. Wie sonst war auf den Straßen keine Seele, die Fenster geschlossen und die Vorhänge zugezogen.

Die Kopfschmerzen hatten indes zugenommen und Wolf spürte die durchlöcherte Hand nicht mehr.

„Durchhalten O'Donnell, wir sind gleich da. Ist es dir lieber, wenn ich dich mit dem neuen oder alten Namen anspreche?“

„Bitte nur mit Wolf O'Donnell, ich möchte mit meiner Vergangenheit nichts mehr zu tun haben. Dieser Bastard hat es verdient … und ich kann dir sagen, ich habe jede einzelne Sekunde genossen, in der ich ihm die Schmerzen zugefügt hatte, die ich seinetwegen erleiden musste.“

„Denkst du, dein Leben wäre anders gelaufen, wenn du behütet aufgewachsen wärst?“

„Können wir das bitte ad acta legen? Heute bin ich ein Söldner und versuche grade, in mein halbwegs geregeltes Leben vor dem Absturz zurückzukehren. Da ist für mich kein Platz, Vergangenem nachzutrauern. Wenn du mich also bitte entschuldigen würdest ...“

„Gewiss. Tut mir leid.“
 

Irgendwann hielt der Panzer vor einem etwas größeren Haus aus Ziegeln und einem Holzdach, über der ein lackiertes Holzbrett angebracht war. Es zeigte ein rotes Kreuz auf weißem Untergrund.

„Also dann, der Herr. Gehe nun, lasse dich versorgen und führe den Kampf fort. Ich möchte dich allerdings vorwarnen: Ich werde demnächst das imperiale Lager angreifen. Meinst du, du bist dem gewachsen?“

Verblüfft von dieser Information und der darauffolgenden Verwirrung stammelte Wolf:

„I-I-Ich, äh, klar! Ich kann es kaum erwarten, dich für Moritz' Tod zur Rechenschaft zu ziehen! Aber nur du alleine?“

„Ich bin nach der Atombombe die tödlichste Waffe, die die Menschheit je hervorgebracht hat. Mit euch werde ich problemlos im Alleingang fertig. Also streng dich an, wenn du nicht vorzeitig sterben willst. Und vergiss meine Worte nicht!“

„Aber ...“

Schon fuhr Ustanak davon und ließ ihn in einer dunklen Rauchwolke allein.

„Mist. Wie bringe ich das den Imperialen nur bei? Und wie soll mir Jan dabei helfen? Aber zuallererst muss ich mich verarzten lassen.“

Danach stieg er aus dem Ural aus, klopfte an der Doppeltür und nachdem niemand öffnete, trat er ein.
 

Er stand vor einer zweckdienlich eingerichteten Rezeption, die aus einem schlichten Holztisch und einem Regal dahinter bestand. Dieses Regal war mit Unmengen an Ordnern gefüllt, gemessen an der Anzahl an Bürgern.

Doch selbstverständlich war er nicht hier, um sich alles anzugucken. Zuerst rief er laut nach einem Arzt und als keiner antwortete, suchte er schleunigst das Gebäude ab. Es gab mehrere schmale Gänge mit einigen Türen, leider fand er nirgendwo eine Menschenseele.

Fast wollte er aufgeben und in den nahestehenden Häusern nach jemandem suchen, da drangen Stimmen in sein Ohr. Wolf verstand sie nicht, folgte ihnen jedoch zu einem Zimmer eines schwach beleuchteten Ganges.

Ehe er auf sich aufmerksam machte, hielt er sein Ohr an das Schlüsselloch.

„[Werte stabilisiert, Herzschlag und Blutkreislauf im normalen Bereich.]“

Zum Schluss betätigte er die Klinke, schob die Tür auf und lugte seinen Kopf herein.
 

„Entschuldigen Sie bitte, aber ich brauche … WAS ZUM TEUFEL?!“

An einem Krankenbett stand Masaru mit einem weiß gekleideten Mann. Allerdings waren es nicht die beiden, die ihn erschreckten, sondern die Person, die auf dem Bett lag ...
 

„Na, gut geschlafen?“



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