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No Princess

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Nach einem halben Jahr Pause melde ich mich zurück mit einem neuen Kapitel. Ich hoffe, ihr habt immer noch Lust, das ganze Gesülze zu lesen und euch von mir in ein Abenteuer entführen zu lassen.
- Yin. Komplett anzeigen

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Das Monster im Loch

„Aki, wach auf.“. Eine Stimme flüsterte in sein Ohr. Eine Hand lag auf seiner Stirn, streichelte vorsichtig einige Strähnen seines Haares aus dem Gesicht. Einen Spalt weit öffnete Akira die Augen. Anna hatte sich angezogen. Sie war frisch geduscht, trug ihre Schuluniform. Der Duft von Vanille und Himbeere drang in seine Nase, als sie sich zu ihm beugte und seine Wange küsste.

„Morgen.“, knirschte er zerstört und streckte sich. Kopfschmerzen, so stark, dass sie ihn fast betäubten, dröhnten in seinem Kopf und pressten sich gegen die Augen. Es tat weh, sie zu öffnen.

„Geht's dir gut?“, Anna klang etwas besorgt und zog die Hand von seiner Stirn weg, die Akira aber sofort wieder an sich zog und streichelte.

„Ja, alles gut. Und dir?“, er schaffte es, ein müdes Lächeln zu zeigen. Verlegen schaute Anna zur Seite und nickte.

„Wir wollen gleich zur Schule. Willst du mit? Deine Stirn ist etwas warm, ich weiß nicht, ob das eine gute Idee wäre...“, murmelte sie leise. Akira streckte sich kurz, setzte sich auf und gab seiner Freundin einen kleinen Kuss.

„Mir geht’s gut.“, lächelte er. Als sein Daumen über ihre Wange streichelte, fiel ihm auf, dass ihre Haut angenehm kühl war. Anna nickte und stand auf.

„Schaffst du es, in 10 Minuten fertig zu sein? Ansonsten gehen wir schon einmal vor.“.

„Wir sehen uns dann unten.“.

Der Januarmorgen war frisch und klar. Es hatte seit einigen Tagen nicht mehr geschneit, doch immer noch lagen hier und da einige Flecken des weichen Eis. Heute waren fast alle zusammen zur Schule unterwegs: Mirai, Toki, Akira, Ren und Liam liefen gemächlich hinter Anna her.

„Wir hatten gestern einen Stromausfall.“, fing Toki plötzlich nachdenklich an.

„Ach echt?“, fragte Anna überrascht, „Sind die Sicherungen raus gesprungen?“.

„Ja. Aber wir wissen nicht, wieso.“, antwortete Toki. Liam räusperte sich kurz und fing sich dadurch Annas Blick ein, welcher genügte, um ihr zu zeigen, dass der Waldgott genau wusste, was passiert war. Die Wangen der Königin leuchteten leicht rot auf. Schnell drehte sie sich wieder um und schaute auf ihre Füße. Zu sagen, dass letzte Nacht nichts passiert war, wäre eine Untertreibung gewesen. Noch immer spürte sie, wie die Muskeln ihrer Innenoberschenkel ab und zu zuckten, als hätte sie einen Muskelkater. Ihr Herz zog sich sofort zusammen, als sie darüber nachdachte, dass Sex vielleicht doch eine Sportart wäre. Annas Blick wanderte unsicher zu Akira, der sich kaum für das Thema zu interessieren schien. Ging es ihm gut? Die ganze Nacht war er unruhig gewesen, doch sie hatte ihn nicht wecken können. Es hatte ausgesehen, als hätte er einen Albtraum gehabt. Ob er an dem Stromausfall schuld gewesen war?

„Wir können froh sein, dass es in der Nacht passiert ist.“, brummte Mirai genervt. Anscheinend hatte er nicht viel geschlafen. Dicke Augenringe machten sich unter seinen Augen bemerkbar. Er gähnte lautstark.

„Der erste Schultag...“, seufzte Akira melancholisch und streckte sich noch einmal. Ein Blick auf seine rote Armbanduhr ließ ihn jedoch kurz stocken. „Sind wir nicht ein bisschen früh dran?“, fragte er verwundert. Ren nickte.

„Heute fangen die Wahlen für den Schülerrat an. Ich hoffe, ihr seid nächstes Jahr wieder bereit, hier für Ordnung zu sorgen.“

„Ich dachte, das war nur für Anna...“, murmelte Mirai und wurde mit einem kurzen, strengen Blick von Liam zum Schweigen gebracht. Die Blondine kicherte kurz.

„Anna, wollen wir heute alle zusammen Mittagessen?“, fragte Toki schnell aufgeregt, doch das Mädchen musste überlegen.

„Ich wollte eigentlich mit Yuki und Kiki essen. Hab' die zwei schon lange nicht mehr gesehen.“, erwiderte sie nachdenklich.

„Sie können doch mit uns essen!“, schlug der Elf vor und Anna nickte zustimmend. „Gut, dann ist das ja geklärt.“. Die Straßen waren immer noch gut leer, als hätten die Schüler den Wunsch gehabt, das neue Jahr gemähchlicher angehen zu lassen. Langsam rückte die Schule immer näher. Ein kurzer, eisiger Windzug huschte durch Annas Haare an ihrem Nacken entlang und ließ sie zusammenzucken. Sie hatte ihren Schal vergessen. Akira nieste kurz.

„Alles okay, Aki? Du siehst nicht so gut aus.“. Mirai war es anscheinend auch aufgefallen.

Plötzlich überkam Anna ein Schauer.

„Alles gut.“, murmelte der Rotschopf und zog seine Nase hoch.

Etwas stimmte nicht.

Die Mauern der Schule glitten an der kleinen Schülertraube vorbei. Einige Meter weiter begannen die Jugendlichen auf das Tor zuzugehen. Anna blieb kurz stehen. Wie Maschinen betraten die Schüler, die einen guten Eindruck hinterlassen und pünktlich im neuen Jahr sein wollten, das Schulgelände.

Anna drehte sich um. Ihr Blick zerrte sie Richtung Zuhause zurück. Ein merkwürdiger Duft lag in der Luft. Wo war Shiro, wenn man ihn brauchte?

„Was ist denn da vorne los?“, fragte der Affenkönig nun verwundert, einige Schüler blieben kurz an dem Eingangstor stehen. Anna wandte ihren Blick wieder zur Schule. Ihr Herz war unangenehm stark am Pochen. „Die sollten einfach reingehen, die halten noch den ganzen Verkehr auf.“.

„Anna...“, Liams tiefe, ruhige und angenehme Stimme klang plötzlich kühl und warnend. Doch er brauchte es nicht sagen. Annas Beine trugen sie, wie von selbst, und der kalte Wind peitschte in ihr Gesicht, während sie die letzten zwanzig Meter zum Tor rannte. Murmeln erhob sich. Es war ein beunruhigendes, tiefes, nicht zu identifizierendes Gewirr aus Stimmen. Ein Zettel hang an einer Säule neben den eisernen Stangen, die das Tor bildeten.

„Liebe Schüler/innen,

ab sofort ist es Ihnen strikt untersagt, den Hinterhof beim Gartenhaus zu betreten.

Aufgrund von Renovierungsarbeiten ist dieser Teil des Geländes nicht zu betreten.
 

Mit freundlichen Grüßen,

Die Schulleitung“

Langsam gingen die Schüler weiter. Die Renovierungsarbeiten hatten doch schon letztes Jahr begonnen, wieso den Abschnitt jetzt sperren lassen? Annas Blick wanderte zu den Seiten. Irgendetwas war nicht richtig. Sie konnte nur nicht ihren Finger darauf halten. Die Schüler liefen an ihr vorbei, murmelten über Weihnachtsgeschenke oder wo sie Silvester verbracht hatten. Niemanden schien es zu interessieren, warum der Teil des Geländes gesperrt gewesen war oder … Oder dass Anna da war. Erneut sah Anna sich um. Die Schüler liefen an ihr vorbei, berührten sie sogar versehentlich dabei.

„‘Tschuldige.“, sagte einer kurz, doch würdigte er ihr keines Blickes. Das Gefühl der Angst, dass jeder in sich trug, wenn er Anna sah, war erloschen.

Schweigend stand die Gruppe junger Männer hinter ihr und beobachteten sie.

„Vielleicht kannst du jetzt endlich mal Freunde machen, die nicht in einer Gang sind.“, grinste Mirai sarkastisch und fing an, weiter zu gehen. Liams Blick bohrte sich in Annas Nacken.

„Das ist es nicht…“, fing Anna an, obwohl es sie ein bisschen störte, nicht den Respekt und die Distanz zu erhalten, die sie sich über den Lauf der Zeit angesammelt hatte.

„Hmm…“, Toki musterte das Blatt Papier für eine weitere Sekunde, ehe er Anna durch das Tor zu schieben begann. „Das heißt eigentlich nur, dass du ab sofort im Schülerrat essen kannst, oder?“

„Das geht nicht.“, brummte Ren sofort. „Der Schülerrat ist nur für Leute, die auch tatsächlich im Schülerrat sind.“ Sofort begann das Gezanke wieder. Doch die Stimmen der anderen drangen nicht an Annas Ohr. Sie fuhr sich über die Stirn. Sie war schweißnass.

„Ich möchte es sehen.“, murmelte sie kurz zu Akira und griff nach seinem Ärmel. „Unseren Platz. Vielleicht sind Yuki und Kiki da. Ich möchte kurz hin.“

„Sollen wir mitkommen?“, fragte Mirai sofort, doch Anna schüttelte den Kopf. „Nein, schon gut.“. Ihre Augen wanderten kurz zu den goldgelben Akiras. Sie konnte nicht sehen, was er dachte, doch sein Blick war menschlich genug um sagen zu können, dass er sich nicht ganz wohl fühlte. Nachdenklich, beunruhigt…

Sie ließ ihn los und wandte sich in der Mitte der Allee von der Gruppe ab, um sich auf den Weg zum alten Treffpunkt zu machen, an dem sie sich sonst immer mit den anderen traf. Das Gras knirschte unter ihren Füßen, die gefrorenen Grashalme brachen unter ihrem Gewicht. Erneut blieb Anna kurz stehen, um sich umzudrehen, doch sah sie niemanden. Wieso hatte sie heute das Gefühl, überwacht zu werden? Das Mädchen zog die Nase hoch und musterte die Plätze zwischen den Bäumen. Es rührte sich nichts. Sie zog das Tempo wieder an und lief weiter. War sie mittlerweile schon so paranoid, dass sie nicht einmal allein über das Schulgelände ihrer Schule laufen konnte?

Plötzlich schienen jegliche Geräusche zu sterben. Die Sonne, die auf den restlichen Schnee schien, versenkte alles in einen grell-grauen Farbton. Anna wurde kalt. Sämtliche Haare auf ihrer Haut streckten sich weg von dem, was um die Ecke des Gebäudes lag. Da, wo damals ihr alter Treffpunkt war, wo der Baum gestanden hatte, an dem sie sich immer so gerne anlehnte. Da, wo sie Ruhe gefunden hatte in Zeiten, in denen sie keine Ruhe hatte. Warum sträubte sich ihr Körper so sehr, dorthin zu gehen? Sie zwang ihre Füße zum Weiterlaufen. Das Pochen in ihrem Herz wurde stärker, unangenehmer. Es schnürte ihr den Brustkorb zu. Ihr Mund wurde trocken. Sie atmete tief durch. Das Gefühl zu ersticken machte sich in der Blondine breit. Es war, als würde sie eine verpestete Zone betreten. Doch es war kein Miasma, das ihr das Laufen erschwerte. Es war die ureigene Angst, der pure Instinkt, der ihr sagte, dort nicht hinzugehen, den sie zu bekämpfen hatte. Der Weg schien plötzlich sehr viel weiter als früher zu sein. Ihre Füße erreichten kaum ihr Ziel, erneut zog Anna das Tempo an. Sie war keine Frau, die lange warten konnte. Ehe sie sich versah, rannte sie schon. Da war die Ecke… nur noch um die Ecke und sie würde wissen, dass alles okay wäre.

Hier und da standen Baumaschinen. Über die Feiertage waren sie nicht zum Einsatz gekommen, also hatte sich eine gute Hand breit Schnee darauf niedergelassen. Das kalte Metall glänzte im Schatten des Gebäudekomplexes. Dort war der Stumpf des alten Baumes, der ihr so gefallen hatte. Doch dieser Stumpf trug keinen Schnee. Keine weißen, kalten Flocken, die es irgendwie hätten romantisch aussehen lassen können. Das einzige, was darauf einem Weiß glich, war aschfahle Haut. Haut, zerrissen, zerstochen, zerbissen, die sich über Knochen zog, als wären keine Muskeln mehr vorhanden. Haut, die aussah, als wäre sie …

Tot.

Annas Augen wanderten über den Körper, der sich ihr offenbarte. Es war ein Mädchen. Sie trug nur Unterwäsche, viel zu kalt für diese Jahreszeit, dachte sich die Königin. Ihre Beine lagen merkwürdig quer über dem kalten Boden. Der Stumpf bohrte sich in den Rücken des Mädchens, als wäre sie ausgerutscht und darauf gefallen. Ihre Arme streckten sich vom Körper weg und schwebten merkwürdig in der Luft. Unter der gefrorenen Pergamenthaut sah man Blutergüsse. Stiche. Bisse. Der Kopf streckte sich über den Stumpf hinaus und baumelte nahe über den Boden. Anna konnte das Gesicht nicht sehen. Wie angewurzelt blieb sie vor der Leiche stehen. Es war grotesk, widerlich. Alles in ihr wehrte sich, dem Körper nur einen Schritt näher zu kommen. Und doch tat Anna es. Vorsichtig lief sie um den Stumpf herum. Die Umgebung verschwand langsam, als würden Scheinwerfer langsam abgedimmt werden. Man erkannte das Kinn. Es war aufgeschlagen. Lippen so trocken und spröde wie Schmirgelpapier. Milchige, blaue Pupillen, die sich in geröteten Augäpfeln wiederfanden. Schmutziges, braunes und verfilztes Haar, das einst ihr ganzer Stolz gewesen war.

Atmen war nicht mehr möglich. Annas Gelenke waren eingefroren. Sie hockte dort und konnte sich nicht bewegen. Alles wurde still, alles wurde kalt. Sie traute sich nicht, das Mädchen zu berühren. Das Mädchen, das sie schon so oft in den Armen gehalten hatte. Das Mädchen, das sie seit Jahren gekannt hatte. Ein Windzug weckte Anna aus ihrer Stasis. Ein Rascheln folgte. Der Wind zerrte an etwas, das sich nicht aus dem Körper der jungen Frau lösen wollte. Eine Notiz. Heftklammern hatten das Blatt Papier tief im Bauch der Toten vergraben. Es war schwierig zu erkennen, was darauf stand. Als Anna ihre Hand ausstreckte, um nach dem Papier zu greifen, sah sie zitternde, dürre, weiße Finger, die sich von ihrem Körper wegstreckten. Ihr eigener Körper schien vor Angst schneeweiß geworden zu sein. Seit wann?

„Ich gib‘ sie dir wieder.

- XOX“

Müde ließ Akira seinen Beutel auf einen der Stühle im Schülerrat fallen, ehe er sich in einem Stuhl daneben plumpsen ließ.

„Was ist los, Akira?“, fragte Ren, sichtlich genervt davon, dass der Feuerteufel lauter war, als notwendig. Der Wasserdrache hatte sich bereits am Kopf des Mahagoni-Tisches gesetzt und ging einige Post durch.

„Nichts, ich bin irgendwie ziemlich müde.“, seufzte der Rotschopf und rieb sich über die Schläfe. Die Kopfschmerzen waren fast wie Folter, nur irgendwie anders: Er genoss sie nicht.

„Hat dich die kleine Königin etwa die ganze Nacht wachgehalten?“, schmunzelte Ren feist und selbst Liam, der sich im Schatten des Zimmers aufhielt, musste leicht lächeln.

„Ich… also.“, begann Akira etwas aus dem Konzept gebracht, schüttelte den Kopf und schloss erneut die Augen. „Du spinnst.“, schnauzte er genervt, ehe er die Arme hinter dem Kopf verschränkte. Ein Klacken bedeutete ihm, dass Liam gerade aus seinem Stuhl aufgestanden war.

„Was ist los?“, fragte Ren überrascht, doch Akira wünschte sich nur, die beiden würden Ruhe geben. Um der Sahne noch die Kirsche aufzusetzen, begann sein Rücken auch noch wieder weh zu tun, als würde etwas an der Haut kratzen.

„Liam?“, fragte Ren erneut, auch wenn es nichts Neues war, dass der Waldgott nicht antwortete.

„Lass‘ ihn doch endlich in Ruhe und mich schlafen, bitte.“, schnauzte der Feuerteufel genervt und ließ seine Arme wieder sinken. Er konnte nicht sitzen. Alles war unbequem. Unruhig rutschte der junge Mann in seinem Stuhl auf die Seite. Er wollte schlafen. Nun stand auch Ren auf.

„Anna.“. Liams Stimme löste eine Eiseskälte in Akira aus. Wie automatisiert öffneten sich seine Augen und starrten auf weiße Haut. Bebende, eiskalte Finger, die sich von seinem Körper wegstreckten, nach Luft griffen. Hunger überkam den Feuerteufel, Hunger, der ihm seit langer Zeit erspart geblieben war. Ren ging um den Tisch herum, um Liam aus der Tür zu folgen, die der Waldgott hastig geöffnet hatte. Auch Akira stand auf. Etwas stimmte nicht, doch wieso hatte er es erst jetzt bemerkt? Das plötzliche Aufstehen schien nicht gut für seinen Kreislauf zu sein. Sofort knickte der Rotschopf ein, alles drehte sich. Der junge Mann musste sich am Tisch abstützen, damit er nicht umfiel.

„Ren.“, fauchte er sofort und seine eigene Stimme kam Akira fremd vor. Irgendwie … schwach. Er hörte, wie Ren stehen blieb. Der Drachenkönig musterte seinen ehemaligen Konkurrenten.

„Was ist?“, fragte er genervt. „Wir haben keine Zeit für deine Heulerei, wenn Anna vielleicht …“

„Ich sehe nichts mehr.“, keuchte Akira sofort. Er öffnete seine Augen, versuchte, durch die Spalten seiner Finger zu sehen, doch nichts. Alles war schwarz. Langsam hob er den Kopf und sah durch den Raum. Nichts. Er starrte in die Richtung, aus der Rens Stimme gekommen war, die jetzt jedoch komplett erstarb.

Schritte gingen auf Akira zu. Es waren Rens, das konnte er hören. Kalte, weiche Hände legten sich in sein Gesicht und wischten ein paar Haarsträhnen weg.

Ren starrte in komplett schwarze Augen. Schwarz, wie die tiefe See es war. Dort, wo kein Licht mehr hin scheinen konnte.

„Was hast du getan…?“
 

Ein kurzes Beben. Wie fühlt es sich an zu sterben? Wie fühlt sich die Kälte des Schnees an, wenn man selbst noch kälter ist? Ist es wie eine warme Umarmung, wenn der Tod einen empfängt? Ein fernes, schrillendes Pfeifen. War das der Boden unter ihren Füßen? Wieso gab er so leicht nach? Ein Name klingelte kurz im Gedächtnis. Zu kurz, um es zu hören. Wieso lag sie hier? Dunkelheit. Dunkelheit in ihrer reinsten Form. Wer hatte nicht schon das Gefühl, in einem unendlich tiefen Loch zu versinken, von der Dunkelheit gefressen zu werden? Wer kannte nicht das Gefühl, wenn sich etwas aus seinem tiefsten Inneren heraus frisst? Wer kannte das nicht? Ein erneutes Beben. Der Name klingelte erneut in ihren Ohren. Alles tat weh, alles war taub. Alles drang an ihre Ohren, nichts kam im Kopf an. Sie sah alles und gleichzeitig schien alles vor ihr zu verschwinden. Wieso? Wieso? Wieso? Das Loch, in das sie fiel, schien plötzlich wie eine willkommende Gelegenheit. Eine Gelegenheit, von der Erdoberfläche zu verschwinden. Lass die Dunkelheit mich auffressen. Ich werde ihr alles opfern. Alles.

Ein erneutes Beben. Anna starrte auf ihre weißen Hände, die mit dem Schnee verschmelzen zu schienen. Die Sonne ließ die Kälte erstrahlen.

Langsam wurden Annas Wangen warm. Sie kniete vor der Leiche ihrer Freundin Mika. Alles schien wie ein Film zu sein, der vor ihren Augen ablief. Mikas Zehen waren wund, schmutzig, aufgerissen. Das war nicht die Mika, die sie einst kannte. Ihre Freundin hatte schon immer sehr viel Wert auf ihr Aussehen gelegt, nie würde sie ihrer Haut so etwas antun. Sie würde immer darauf achten, makellos auszusehen. Erst jetzt bemerkte Anna, dass sogar richtige Stücke Fleisch aus den Waden gerissen wurden. Hätte sie in dem Zustand überhaupt laufen können? Das schrillende Geräusch ertönte erneut. Wieviel Zeit war vergangen? Annas Blick wandte sich ab und wanderte über das Gelände der Schule. Personen rannten. Ein erneutes Beben. Ein Name, der wieder in ihren Ohren klingelte. Anna drehte sich wieder zu Mika. Erst jetzt bemerkte sie den Grund für ihre warmen Wangen: Tränen. Tränen, die nicht aufhörten. Tränen, die in ein unendlich tiefes Loch fallen wollten. Erneut streckte die Königin ihre Hand aus, streichelte über die leichenblasse Haut ihrer engsten Vertrauten. Das war gelogen. Ihre Hand zuckte, wagte es nicht, das Mädchen erneut zu berühren. Sie war eine Lügnerin. Sie nannte Mika Vertraute, obwohl sie ihr nichts erzählt hatte. Dieses tote Mädchen wusste nichts. Gar nichts. Nichts, dass irgendjemanden interessiert haben könnte. Hätte Anna das verhindern können, indem sie Mika eingeweiht hätte? Hätten Dämonen, Vampire und Königinnen der Finsternis für diese normale Person einen Sinn ergeben? Ein Name klingelte in ihrem Ohr, zusammen mit dem schrillen Pfeifen, das aus der Schule kam.

„Meinetwegen…“, flüsterte Anna leise, wusste aber noch nicht einmal zu wem sie sprach, „Meinetwegen könnten sie alle sterben, weißt du.“. Ihre Fingerspitze fuhr zögerlich über das leicht haarige, kalte Schienbein. Leichte Beulen hier und da verrieten ihr, dass das Bein wohl mehrmals gebrochen wurde. Es war, als wäre an diesem Ort allein die Stille noch vorhanden. Während sich Panik in der ganzen Schule ausbreitete, schien hier der Ort zu sein, der zeitlos war, weil der Tod zeitlos war. Nicht sie musste in einem Loch versinken, die anderen mussten es. Alle sollten in ein tiefes Loch fallen, das sie nie wieder raus lassen würde. Ein Fall so tief, dass er nie enden würde, damit jeder es fühlte: Die Angst, zu verlieren, die Angst, zu sterben, die Angst, die sich in einem ausbreitete, wenn man nichts mehr hatte, als den Tod, der auf einen wartete. Erneut schien die Umgebung zu verschwimmen und verschwinden. Was war es, das sie hier hielt? Warum war sie überhaupt noch hier? In der Schule, bei ihren Freunden, in dieser Stadt, in diesem Leben? Wenn alles, was sie hatte, nicht mehr da war?

Eine Hand zog das Mädchen zurück in die Realität. Sie war warm, stark und riss sie weg von dem toten Mädchen. Mit einem dumpfen Schmerz im Hinterkopf landete Anna auf dem kalten Boden. Ehe sie sich aufrappeln konnte wurde sie erneut zu Boden gedrückt, dieses Mal noch stärker. Ihre Augen konnten nicht erkennen, wer es war.

„Bring‘ sie weg.“, fauchte eine Stimme leise. Schmerz breitete sich in Annas Ellenbogen aus, als sie damit das Gesicht des Fremden erwischte. Sein Knochen machte ein merkwürdiges Geräusch, doch der Mann hielt sie weiterhin zu Boden.

„Wohin?“, fragte ihr Angreifer ruhig. Seine Stimme schien merkwürdig vertraut. Der Schmerz auf ihrer Brust, der durch den starken Druck ihres Angreifers entbrannte, wurde noch heißer, als sie sich dagegen aufbäumte und erneut zuschlug. Dieses Mal stärker. Sie würde sich nicht erneut von jemanden berauben lassen. Sie schlug erneut zu. Nun fiel der Fremde kurz zur Seite und das Gewicht seines Körpers verließ sie, sie konnte sich aufsetzen. Erneut schlug sie zu. Erneut machte sein Gesicht ein merkwürdiges Geräusch. Der zweite Fremde kam auf sie zu und hielt ihren Arm fest, bevor sie ein weiteres Mal zuschlagen konnte.

„Lass es, Anna.“, hauchte die Stimme. Anna musste nicht hinsehen. Sie konnte ohnehin nichts erkennen, denn die Sonne machte sie blind. Sie wollte auch nicht wissen, wer es war. Es war ihr egal. Dass ihr Arm wieder festgehalten wurde, war ihr egal. Ein plötzlicher, dumpfer Knall zog den zweiten Mann von ihr weg, befreite ihren Arm und ließ sie erneut zuschlagen. Aus dem Hintergrund hörte man ein Knurren. Ein erneutes, kleines Beben. Zähnefletschen. Ein leises Atmen. Sie schlug erneut zu. Ihre Faust war nass, schimmerte rot, brannte. Es reichte nicht.

Ihre Finger wickelten sich um den Feind, der sich unter ihr ergab. Sie drückte zu. Das Atmen wurde schneller. Das Knurren lauter. Sie wusste, andere würden folgen. Andere standen dort bereits und beobachteten sie. Erneut schrie jemand ihren Namen, doch wagte es nicht, auf sie zuzulaufen. Die Stimme war abermals bekannt. Wer waren diese Leute?

Anna spuckte. Ihr Mund war gefüllt mit Flüssigkeit, die sie nicht herunterschlucken konnte. Sie traf ihren Feind, doch das war ihr egal. Sie drückte weiterhin zu. Alle sollten in dem Loch verschwinden, jeder einzelne. Ein dumpfer Schlag auf den Rücken machte sich bemerkbar.

„Sie versuchen ihm zu helfen.“, zischte es leise. Ihr Griff wurde stärker. Das Gesicht des Angreifers wurde blau. Erneut schlugen sie auf Annas Rücken ein.

„Geht da weg.“, fauchte es laut im Hintergrund. Anna zuckte bei der Stimme zusammen. Etwas riss sie auf ihre Beine. Augen, so grau wie Asche, sahen sie angewidert an. Der Griff um ihren Oberarm war nicht zu lösen. Plötzlich wurde die Umgebung wieder klar.

„Satoshi…“, murmelte das Mädchen leise und sah sich um. Toki, aufgelöst in Tränen, stand gute zehn Meter entfernt. Ein paar Meter weiter lag Ren im kalten Schnee und schien sich nicht zu rühren. Annas Blick wanderte über die Hand, die sie festhielt, zu ihrem Arm auf den Boden. Sie stand halbwegs über einem Mann, dessen Gesicht wohl kaum wieder zu erkennen war. Alleine die Größe des Körpers und die Haare schienen jedoch Aufschluss darüber zu geben, wen sie da vor sich hatte: Liam. Anna sah an ihm vorbei. Das Zähnefletschen und Knurren, dass immer noch die Umgebung füllte, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Ein schneeweißer Wolf, durchzogen mit dicken, schwarzen Streifen bleckte seine Zähne. Shiros Augen waren so schwarz, als wären sie aus Teer. Er knurrte die anderen an. Anna folgte seinem Blick und sah neben Toki noch Mirai. Ein goldener Stab befand sich in beider seiner Hände, bereit zum Angriff. Er atmete schwer. Doch das Atmen, das sich in ihrem Nacken befand, war anderer Natur. Aus dem Augenwinkel heraus versuchte Anna einen Blick darauf zu erhaschen. Es war wie ein Nebel, schwarz und schleierhaft. Leise atmete es aus. War da ein Lächeln?

Ein schallender Knall und scharfer, heißer Schmerz erfüllte die Wange der Königin, ehe Satoshi schroff ihren Arm von sich wegriss.

„Sieh‘, was du getan hast.“, schnauzte er sie hasserfüllt an und beugte sich zu dem bewusstlosen Waldgott hinunter. Toki rannte zögerlich an Anna vorbei, machte sogar eine Kurve um sie. Mirai bewegte sich keinen Millimeter. Ein erneuter Blick auf den Affenkönig verriet ihr, dass seine Waffe nicht auf irgendetwas hinter ihr gerichtet war, sondern auf sie. Ein Stampfen großer Pfoten machte sich bemerkbar. Anna wandte ihren Blick erneut zu dem Wolf. Die Schwärze machte sich in seinem ganzen Fell bemerkbar. Das knurrende Bellen, das seinem Maul entwich, war ohrenbetäubend.

„Was machen wir wegen Shiro?“, knirschte Mirai ernst.

„Lass‘ ihn, solange du Anna in Ruhe lässt, wird er dich nicht angreifen.“, entgegnete Toshi genervt und fuhr über Liams Hals, um die Halsschlagader zu finden. „Er hat noch Puls.“. Tokis Tränen fielen über die Brust seines Freundes, die sowieso schon getränkt war von einer schwarzen Flüssigkeit. Langsam löste sich die Schwärze unter Tokis Tränen auf wie Tinte, die man zu Wasser gab.

„Was…“, flüsterte Anna leise und machte einen Schritt auf Liam zu, doch bevor sie einen zweiten Fuß in seine Richtung setzen konnte, spürte sie, wie Mirai die Distanz zwischen den beiden schloss. Es war, als würde der Stab Energie ausstrahlen, die sich in ihren Rücken brannte. Shiros Pfoten machten einen Satz und landeten dabei fast auf dem unbewussten Körper Liams.

„Haltet ihn zurück!“, fauchte Satoshi sofort und machte eine Handbewegung. „Mirai, fass‘ Anna nicht an, hab‘ ich dir gesagt!“.

„Sie hätte um ein Haar Liam umgebracht!“, schnauzte er zurück. Anna wandte sich Mirai zu, sein Stab richtete sich auf ihre Nase. „Anna… beruhige dich.“, knirschte er leise und die Worte schienen ihn noch mehr zu stören, als alles andere. Sie konnte es in seinen Augen sehen – er wollte Vergeltung.

„Beruhigen?“, fragte sie verwirrt nach. „Ich bin ruhig.“. Shiro bellte angriffslustig. Schwarzer Schlamm kroch aus seinen Tränendrüsen und liefen die schaumige Schnauze hinunter.

„Wo ist Akira?“, fragte Anna nun und sah auf Liam. Was war das für ein Gefühl? Satoshi stand auf und ging auf seine Königin zu.

„Anna…“, sagte er leise und sein Flüstern erinnerte das Mädchen an Adam. „Ist das Mika?“. Seine Hand deutete auf den toten Mädchenkörper. Anna nickte.

„Du hast sie so gefunden?“. Erneut nickte das Mädchen. Satoshis Blick wanderte über den Zettel, der in der Leiche steckte und schluckte kurz. „Sag‘ Shiro bitte, dass er sich beruhigen soll.“

Anna wandte sich zu Shiro. „Ist gut, mein Schatz. Komm.“ Der Wolf schluckte etwas an Schaum herunter und ging zu Anna, ehe er hinter ihr Sitz machte. Satoshis Augen bohrten sich in Annas Gesicht, unzufrieden verzog er seinen Mund.

„Dreh‘ dich um.“. Er riss an Annas Schulter und heimste sich dafür einen tötlichen Blick Shiros ein. Satoshi wandte sich unbekümmert Annas Rücken zu. Seine Hände waren rau und kalt, als sie über den Rücken streichelten. Nachdenklich gab der Shiki einige „Hmms“ von sich.

„Was zum Teufel ist hier los?“, fauchte Mirai, der immer noch nicht seine Waffe sinken ließ. Schnaubend ließ Shiro seine Schnauze in den kalten Boden fallen und begann mit den Pfoten seine Augen zu säubern.

„Wir haben ein Problem. Shiro, bring Liam und Ren bitte nach Hause.“

„Das Monster da?!“, schrie Mirai sofort auf, doch Satoshi hob die Hand und bedeute dem Affenkönig zu schweigen. „Es wird okay sein.“. Erneut schnaubte Shiro und stand auf. Toki half beim Aufladen der Körper.

„Toshi, ich schwöre bei allem was mir heilig ist, wenn du mir nicht sofort sagst, was los ist, dann…“.

„Dann was? Greifst du den Shiki der Königin an, der du deine Loyalität geschworen hast?“, antwortete Satoshi kühl, zog seinen Blazer aus und warf ihn Anna über. Verwirrt knöpfte das Mädchen ihn zu.

Sie sah Mirai an. Soviel Hass ihr gegenüber… was war das nur für ein Gefühl?

„Bis gleich…“, schniefte Toki bedrückt und lief mit Shiro weg.

„Ich kann’s dir erklären, aber nicht hier. Wir müssen Akira einsammeln und nach Hause. Die Polizei wird hier gleich auftauchen.“.

„Was? Wieso die Polizei? Es war der Alarm für ein Erdbeben.“

„Ich hab‘ sie angerufen.“. Annas Blick wanderte zu Satoshi, als er diese Worte sagte. Wieso hatte er die Polizei gerufen? „Mirai, ich sag das nur ein einziges Mal, aber: Bitte bring Anna nach Hause. Ich kümmer‘ mich um das hier. Akira ist wahrscheinlich noch im Raum des Schülerrats, ich bring‘ ihn später mit.“.

Mirai, schäumend vor Wut, starrte den Shiki an, ehe er unsanft nach Annas Arm griff. Kurz zuckte Toshi zusammen, sah die beiden aber nicht an.

„Toshi…“, murmelte Anna beunruhigt, ehe sie sich von Mirai wegzerren ließ.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Leele
2016-12-04T22:59:20+00:00 04.12.2016 23:59
Es geht weiter!!!
Ich hab die ganze Zeit wirklich gespannt gewartet, wie es nach der Wendung im letzten Kapitel weitergeht und bin echt nicht enttäuscht worden.
Danke!
Jetzt werde ich wohl wieder voller Aufregung aufs nächste Chapter warten ^^'
Antwort von:  Yinjian
05.12.2016 08:57
Haha freut mich, dass du noch dabei bist :) hab mit dem neuen Kapitel schon angefangen aber weiß noch nicht wann es kommt x)


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