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No Princess

von

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Puppenspieler

Der Schülerrat ist allgemein beliebt an der Schule. Jeder der Mitglieder hatte einzigartige Merkmale an sich und für die Mädchen gab es noch ein dickes Extra: Alle waren heiße Kerle. Sobald einer von ihnen den Raum betrat, füllten sich die Herzen der Mädchen mit Sehnsucht und Verlangen. Es war abnormal. Sie waren vom ersten Jahr an, als sie plötzlich und unangemeldet zusammen in der Schule aufgetaucht waren, beliebt gewesen. Es dauerte nicht lange bis sie die Räume des Schülerrates ihr Eigen nannten.

Ren, der Präsident der Schülervertretung, glänzte nicht nur mit seinem erwachsenen Auftreten, sondern auch mit seinen perfekten Noten und der überdurchschnittlich ausführlichen Buchhaltung, für die er sich freiwillig gemeldet hatte. Auch wenn er kalt wirkte, fühlten sich die Schüler unter seiner Führung sicher. Zwar vermied er es, Kontakt mit Schülern außerhalb seines Aufgabenbereiches zu pflegen, aber jeder verehrte ihn – still und heimlich, um ihm nicht auf die Nerven zu gehen.

Direkt im Anschluss an die Beliebtheitsskala kam Liam. Er kam wohl nicht von hier. Wo war das nochmal… Schweden? Man wusste es nicht mehr genau. Wahrscheinlich lag das auch daran, dass Liam nie etwas über sich erzählte. Tatsächlich redete er so gut wie nie. Selbst, wenn Lehrer ihn aufforderten, eine Frage zu beantworten, enthielt er sich jeglicher Sprache. Irgendwann schien es ihn so genervt zu haben, dass er immer weniger zum Unterricht kam. Und dennoch schaffte er es, seine Noten nahezu perfekt zu halten. Er schien immer in Gedanken versunken zu sein. Seine Augen wanderten oft zum Fenster, wo er irgendwas beobachtete. Jedes Mädchen, das seinem Blick zum Schulhof folgte, konnte aber nichts besonderes sehen. Irgendwann stand es fest: er war ein verträumter, stiller Mann, viel erwachsener und unantastbarer, als sonst irgendein Mann in seinem Jahrgang. Selbst Ren war ein bisschen sozialer.

Man sah Liam und Ren oft mit Mirai umher wandern. Mirai war cool und gelassen. Allerdings hasste er die Groupies. In den ersten paar Wochen, als er in die Schule kam, hatte er draußen mit den AGs trainiert, bis der Platz irgendwann so voller Mädchen war, dass er es sein ließ. „Ihr nervt.“ oder „Verschwindet endlich!“ waren die typischen Antworten. Er war eine Nuss mit harter Schale, aber weichem Kern – das war allen Mädchen von Anfang an klar. Jedes Mal, wenn sie daran dachten, wie er sie mit seinen starken Armen und breitem Rücken beschützen würde, bekamen die Mädchen weiche Knie.

Im Gegensatz zu Mirai machte sich Akira allerdings nichts aus den Groupies. Er machte weiterhin leidenschaftlich Sport und war vor allem oft beim Fußballspielen anzutreffen. Die Jubelrufe ignorierte er jedes Mal gekonnt, wenn es zum Torschuss kam, aber alles in allem schien er wirklich Spaß zu haben, wenn es um Sport ging. Seine ungewöhnliche Haarfarbe, ein stechendes Rot, gab jedem Zuschauer sofort einen Anhaltspunkt, wo er war. Doch am schönsten war es, wenn er vor Freude grinste, wenn sie gewonnen hatten. Denn da sah man genau, wie die goldgelben Augen funkelten. Die Kombination der Haar- und Augenfarbe war unschlagbar, aber es waren vor allem diese Momente, in denen er voller Emotionen steckte, die den Mädchen Grund zum Lieben gaben. Enttäuscht waren sie nur, wenn man Akira außerhalb des Sports antraf – er wirkte genervt, gelangweilt und unausgelastet. Man konnte kein richtiges Gespräch mit ihm anfangen.

Falls man mit jemandem aus dem Schülerrat sprechen wollte, waren es wohl Toki und Kai, mit denen man am besten klar kam. Toki schien unschuldig und lustig. Er hatte zwar oft eine große Klappe, aber das diente stets nur der Unterhaltung der gesamten Klasse. Vom ersten Tag des Transfers an war Toki der beliebteste Junge der Klasse gewesen. Und das beste war: Er war überhaupt nicht scheu. Man umarmte sich zum Abschied, sprach beim Mittagessen gemeinsam an den ungewöhnlichsten Orten (einmal sogar im Wintergarten) und sah sich nachmittags oder abends beim Ausgehen und Shoppen.

Auch Kai war einer der Lieblinge, die gerne für jedes Gespräch zur Verfügung stand. Allerdings begleitete jedes Gespräch ein kleiner Funke von Gefahr – er war ein Verführer. Einfach mit Mädchen. Viele waren schon mit ihm verschwunden, um zu Schwänzen, aber niemand nahm es ihm übel. Trotz des anfänglichen Meidens Kais von der Klasse aufgrund seiner Haarfarbe, war er nun leicht umgänglich. Niemand wusste genau, wann sich das geändert hatte; es war einfach so. Nicht nur innerhalb der Klasse war er beliebt. Das Gerücht, dass er jedes Mädchen lieben würde, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Doch er hatte nie eine Freundin.
 

„Ist das so?“ seufzte Anna und lehnte sich an die kühle Betonwand. Sie schloss die Augen und ließ die letzten Informationen in ihr Hirn schwappen. Mika sah sie konzentriert an.

„Das ist jedenfalls das, was man über sie sagt, ja.“ Sie hatte Anna gerade alles berichtet, was sie in den letzten Tagen über den Schülerrat gesammelt hatte. Die Gründe für die jeweiligen Transfers der Jungen waren immer noch Rätsel, die gelüftet werden mussten.

Es waren nun fast schon anderthalb Wochen vergangen, seit sich die Herren bei Anna vorgestellt hatten. Sie hatte jeglichen Kontakt mit ihnen gemieden. Es war Montagmorgen, die Luft heute war kühl und es sah nach Regen aus. Anna versank in ihrem karierten Blazer und lockerte ihre Krawatte. Mika seufzte.

„Wieso interessierst du dich eigentlich für die? Sie sind mega arrogant. Außerdem hast du dich bisher nie für Jungs interessiert.“ Sie blickte nachdenklich gen Himmel, während Annas Blick auf Mikas Schuhe gerichtet waren. Eine Ameise versuchte, ihren Weg zum Bau über den Schuh zu finden. Schweigen machte sich breit. Die Mädchen waren alleine. Der Schulhof war so gut wie leer, niemand hatte wirklich Lust, sich bei diesem Wetter draußen aufzuhalten.

„Man muss seine Feinde kennen, Mika.“ sagte Anna dann endlich gelassen. Sie hatte ihre Beine angewinkelt und ihre Arme über ihnen verschränkt, um ihren Kopf auf den Knien abzulegen. Mika guckte kurz zu ihr, seufzte dann und reichte ihr die Papiere mit Stichpunkten über den Schülerrat. „Hab's dir ausgedruckt. Ich geh mir 'nen Kaffee holen, wir sehen uns später.“

„Okay.“

Die Vögel zwitscherten nicht. Seit Tagen hatte Anna das Gefühl, keinen Schlaf zu kriegen. Es waren nicht Alpträume, die sie plagten. Einen festen Schlaf zu haben war eines der vielen Talente der zukünftigen Königin. Dennoch wurde es immer schwieriger, jeden Morgen aufzustehen und zur Schule zu kommen. Anna schloss müde die Augen und ließ die leichte Brise über ihren blonden Haarschopf gleiten. Ihr Pferdeschwanz wurde leicht vom Wind mitgetragen. Plötzlich: Schritte.

Anna war zu müde, um den Kopf zu heben.

„Ich hoffe, du hast mir einen mitgebracht, sonst schlaf ich gleich ein...“ murmelte Anna leise.

„Was mitgebracht?“ Es war eine junge, männliche Stimme, merkwürdig unbekannt. Anna hob den Kopf nun doch.

Toki stand da mit seiner Tasche. Es war halb elf, Zeit für Unterricht, und trotzdem stand er da im Hinterhof bei Anna. „Geht's dir nicht gut?“ man hörte unterschwellige Sorge in seiner Stimme. Das Mädchen seufzte.

„Mir geht’s gut.“ Sie sagte das, damit er gehen würde. Sie wollte sich im Moment nicht mit ihrer Verlobung auseinander setzen. Doch für Toki war es eine Einladung, nach zu fragen. Er ging die paar Meter, die ihn von Anna trennten, und hockte sich vor ihr ins Gras. Seine blauen Augen schimmerten. Sie waren ungewöhnlich groß und mit langen Wimpern geprägt. Nicht besonders männlich, aber irgendwie süß.

„Was?“ Anna konnte nicht anders, als genervt zu klingen. Das Wetter bereitete ihr Kopfschmerzen.

„Du siehst blass aus.“. Toki legte eine warme Hand auf Annas Stirn. „Und du bist ganz kalt. Ich glaub, du wirst krank.“. Seit wann ließ sich eine Königin von einem Fremden anfassen? Mit diesem Gedanken im Kopf drückte Anna die Hand des besorgten Jungen weg und machte Anstalten, aufzustehen. „Danke, mir geht’s gut.“. Tokis Gesicht verzog sich mit Sorgen. Er schien nachzudenken. Wäre sie nicht aufgestanden, hätte sie vielleicht hören können, was sich da in seinem Kopf abspielt.

„Kannst wohl nicht richtig schlafen, hm?“ sagte er mit einem Anflug von einem Lächeln. Es schaffte aber nur halb in seine Mundwinkel und gab Toki eher ein schiefes Grinsen, als sonst was.

„Ich schlafe wie ein Stein.“ entgegnete Anna schroff und griff ihre Tasche.

„Ich hab' 'ne Idee.“ erwiderte Toki und folgte Anna aus dem Hinterhof raus. „Wie wär's, wenn du mal früh schlafen gehst, um drei Uhr aufwachst und was trinkst? Am besten stellst du dir eine Wasserflasche neben's Bett.“. Was war das denn für ein Vorschlag?

„Was ich brauche ist wahrscheinlich MEHR Schlaf, nicht weniger. Ich stell' mir doch keinen Wecker um mitten in der Nacht aufzustehen.“ Nun lachte Toki endlich. Er schien nicht mehr besonders besorgt oder nervös zu sein.

„Da hast du wahrscheinlich recht, dumm von mir. Sorry.“ Er ging in den Seitenflügel des Hauptgebäudes, winkte nochmal kurz, und war weg. Wahrscheinlich trafen die Informationen über Toki zu, dachte sich Anna. Er gab bei weitem das klarste Gefühl, bei ihm willkommen zu sein.

Doch Anna war müde. Sie ging auf die Krankenstation, ließ Zuhause anrufen und wurde nach Hause geschickt. Ohne Umschweife zog sie sich in ihrem Raum aus und fiel ins Bett.

Gegen Nachmittag wachte sie auf. Man roch Reis und Eintopf. Annas Magen verdrehte sich vor Hunger. Ihre Mutter hatte wohl eine leicht verdauliche Suppe gemacht und Reis als Grundlage dazu gelegt, damit Anna etwas im Magen hatte. Adam war beim Fußball. Mittlerweile regnete es und Annas Mutter war immer noch nicht Zuhause. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es bereits halb vier war. Das Mädchen bewaffnete sich in der einen Hand mit einer Suppenschüssel und in der anderen Hand mit einer Wasserflasche. Vielleicht wurde sie wirklich etwas krank.

In ihrem Zimmer angekommen, schmiss sie die Wasserflasche ins Bett und setzte sich an ihren Schreibtisch, um die heiße Suppe zu essen. Eines ihrer Bücher lag neben ihr. Warum nicht neben dem Essen lesen?

Es war ein dickes Buch mit vergilbten Seiten, versteckt in einem schwarzen Cover. Es trug den Namen „Dämonologie und Esoterik“. Nicht besonders Annas Lieblingslektüre, aber seit sie vor ein paar Jahren bei Onkel und Tante gewesen war, schickten sie ihr alle paar Monate neue Bücher. Dämonen, Teufel, Vampire, Götter und Halbgötter… mittlerweile hatte sie wahrscheinlich schon fast alles darüber gelesen. Sogar Hexenzirkel oder Beschwörungsformeln waren seit langem keine Fremdsprache mehr für die 15-Jährige.

„Und das heutige Thema iiiiist….“ sagte sie in einem gelangweilten Ton und ahmte einen Talkshow-Moderator nach, während sie Seiten durch ihre Finger gleiten ließ. „Feuerteufel.“

Die genaue Herkunft oder Entstehung von Feuerteufeln ist unbekannt. Man sagt ihnen nach, sie seien Geister verurteilter Pyromanen, doch Mythen ranken sich schon seit mehreren Jahrhunderten um sie. Feuerteufel leben alleine. Man sagt, wenn man im Winter Glühwürmchen sieht, ist das ein Anzeichen dafür, dass einer von ihnen neue Opfer sucht und versucht, sie mit diesem Licht zu locken. Andere Legenden erklären, dass Seelen, die für tausend Jahre in der Hölle brennen, böse werden und zu solchen Feuerdämonen werden. Aha.
 

„Also nichts halbes und nichts ganzes...“ seufze Anna und ließ das Buch auf den Schreibtisch fallen. Die Suppe war leer. Wer würde denn so eine schwach belegte Legende glauben? Natürlich gab es immer wieder Geschichten über Vampire oder Dämonen, aber das ist heutzutage eher ein urbaner Mythos und meist leider auch die Grundlage jeder kitschigen Teenie-Show. Wenn man so darüber nach dachte, würden die meisten bösen Kreaturen doch wohl eher Angst und Schrecken verbreiten, als um die Liebe einer Sterblichen zu kämpfen, oder? Wie lächerlich. Und doch…

Anna ging wieder zurück ins Bett. Das Licht war aus und sie starrte an die Decke. Und doch war sie in dieser Situation. Diese Männer, die ihr Herz erobern wollten, waren keine Menschen. Selbst Anna war keiner. Doch sie waren nicht so, wie Anna. Sie waren nie menschlich gewesen, hatten nie eine Kindheit gehabt und die Wörter „Freunde“ oder „Liebe“ waren ihnen fremd. Selbst, wenn zum Beispiel Feuerteufel mal verlorene Menschenseelen aus der Hölle waren, haben sie mit dem Dämonensein wahrscheinlich jegliche menschliche Natur abgelegt, oder? Anna seufzte. Warum konnte sie keinen Menschen lieben? In den letzten paar Jahren hatten sich die Anfragen bezüglich ihrer Person gehäuft. Viele Jungen haben schon gefragt, ob sie Lust hätte, sich mal zu treffen. Manchmal bekam sie Liebesbriefe. In seltenen Fällen erklärten ihr sogar völlig Fremde ihre Liebe. Und in solchen Momenten dachte sie sich immer: Das soll es sein? Das soll Liebe sein? Ich fühle mich aber nicht anders. Kein Herzrasen, meine Brust zieht sich nicht schmerzhaft zusammen, ich bekomme keine weichen Knie, geschweige denn, dass ich rot werde. Nein. Sie konnte keinen Menschen lieben, nur ihre Familie, und das wahrscheinlich auch nur, weil ihre Mutter so behutsam mit ihr umging. Anna war sich auch ziemlich sicher: nur weil sie 'nicht menschlich' war, hieß das noch lange nicht, dass ihre Mutter und Adam keine Menschen waren. Das stand eigentlich so gut wie fest: Für sie war ihre Familie so menschlich, wie es nur ging.

Langsam fingen Annas Gedanken an, sich im Kreis zu drehen. Erschöpft schloss die Blondine die Augen und ließ die Gedanken vom Regen wegwaschen, bis sie wieder schlief. Einmal meinte sie, die Tür wäre aufgegangen und ließ ein Lichtstrahl vom Flur rein. Adam? Die Tür wurde wieder geschlossen. Nur wenig später, so schien es, öffnete Anna die Augen. Ihr Blick suchte automatisch ihre Uhr, die auf dem Nachttisch ruhte. Es war drei Uhr morgens. Ein Geräusch riss ihren Blick von der Uhr los, obwohl sie sich gerade mit dem Gedanken angefreundet hatte, weiter zu schlafen. Das Fenster stand offen. Es regnete nicht mehr, dennoch waren Tropfen auf der Fensterbank. Ein kleiner Halbmond gab Licht ins Zimmer: Der Schreibtisch, die Kommode, der Schrank, das Bett, das Regal. Nichts außergewöhnliches. Erschöpft stand Anna auf, um das Fenster zu schließen. Keine Schatten, die ihr Angst machten, keine Geräusche, die Unwohlsein in ihr auslösten, keine Blicke, die sich in ihren Nacken brannten. Nichts. Und als sie am nächsten Morgen aufwachte, war sie das erste Mal seit anderthalb Wochen wieder komplett ausgeruht.
 

„Kai, du siehst noch blasser aus, als sonst. Geht's dir gut?“ eines der Mädchen aus der Klasse fing den Jungen am Schultor ab. Er sah sie nachdenklich an. Schlafen war in letzter Zeit nicht wirklich drin für ihn. Seit Tagen musste er an das Gefühl von Annas Fingerspitzen auf seinen Lippen denken. Es war so ein liebliches Prickeln gewesen, sodass er jedes Mal, wenn er das Gefühl zurück in die Erinnerung rief, angenehme Gänsehaut bekam. Er lächelte. Das Mädchen schien überrascht. Er lehnte sich zu ihr, um seine süßen Worte in ihr Ohr zu hauchen. Sie wurde rot und nickte.

„Bis später.“Ihre Stimme war klein und beschämt.

Es war wie immer, oder? Niemand konnte nein zu ihm sagen. Fast niemand. Wieso träumte er nur von ihr? Anfänglich waren es nur die Erinnerungen an diesen Nachmittag. Dann wurde es mehr. Ren, Mirai, Liam, Toki und Akira verschwanden immer mehr aus diesem Tag. Plötzlich waren es nur noch sie und er gewesen. Sie war so leicht, dass er überrascht war, als sie auf seinem Schoß saß. Als ihre Haut seine Kleidung berührte, fühlte es sich an, als würde die Uniform verbrennen. Ihre Hände suchten seine Haut. Ihre Fingerkuppen, die er nur einmal schmecken konnten, fuhren erneut über seine Lippen und gaben ihm das Verlangen, sie küssen zu wollen. Seine Zunge streckte sich den schmalen, langen Fingern entgegen. Er schloss die Augen, wollte den leicht salzigen Geschmack der zarten Haut wertschätzen. Er hörte sie kichern und seinen Namen sagen. Es waren die süßen Seufzer, die er normalerweise anderen zuflüsterte, und plötzlich zu ihren wurden. Ihre Worte prasselten wie sanfter Regen auf seine Ohrmuschel, seinen Hals, seine Wangen. 'Komm noch ein bisschen näher.' dachte er sich in diesen Momenten immer, 'noch ein bisschen näher, damit ich diesem Mund solche Wörter verbieten kann.' Und dann würde er sie küssen. Unzählige Male. Und auch wenn ihr Körper leicht wie eine Feder wäre, so würde er sie nicht von seinem Schoß reißen können. Denn er mochte dieses leichte Gewicht. Es fühlte sich an, als würde es ihn an diesen Traum fesseln. Ein Traum, in dem ihre kleinen Hände seinen Rücken streichelten und warme Spuren der Zuneigung hinterließen. Wo ihre Zunge so weich war, dass ihm die Lippen bebten nach jedem Kuss, der sich löste. Wo er den Vanilleduft ihrer Haare einatmen konnte, so lange er wollte. Wo ihre Augen nur ihn anschauten. Es war dieses Verlangen, was nie gestillt werden könnte, und was es gleichzeitig so unwirklich schwer machte, sich im Schach zu halten.

Kai stand am Schultor. Geschlagene drei Minuten verbrachte er damit, sich an seinen letzten Traum zu erinnern. Seit wann ließ er sich von Mädchen kontrollieren? Sie waren seine Marionetten. Er würde diesen Traum nicht akzeptieren. Es ist das Verlangen, etwas haben zu wollen, was man nicht haben kann – sobald er es haben würde, würde Anna ihm wahrscheinlich zu langweilig werden. Und das war mehr Genugtuung als jeder Kuss. Der Ausdruck in ihren Augen, die im Moment noch so lebendig sind, im Vergleich zu ihrem Blick, wenn ihr komplett das Herz zerstört werden würde. Der Blick, wo ihr jede Hoffnung auf Liebe und Zukunft geraubt werden würde. Das ist der Moment, den Kai anstrebt. Denn nichts tut ihm besser, als verliebte Mädchen leiden zu sehen.

Seine Füße trugen ihn ins Schulgebäude. Seine Klasse war im 2. Stock, viele der Klassenmitglieder waren schon da. Es hatte gestern noch geregnet, doch hatte es gegen Mitternacht aufgehört. Trotzdem lungerte das Gefühl von Unwetter noch in der Luft, weshalb sich es wohl einige lieber im Bett gemütlich gemacht hatten, als zur Schule zu kommen. Doch Kai hasste dieses Wetter nicht.

Er ging zu seinem Platz und setzte sich hin. Vor ihm war der verhasste, schwarze Wuschelkopf, den er mittlerweile eindeutig Adam zuordnen konnte. Seit dem Gespräch letzter Woche hatte dieser Mensch ihn keines Blickes mehr gewürdigt. Was war seine Beziehung mit Anna? Hatten die beiden was am Laufen? Sein Blick ruhte auf den vermeintlichen Konkurrenten. Dann setzte Kai sich.

Die Minuten liefen an ihm vorbei. Sie fühlten sich an, wie zäher Kaugummi, den man nicht von der Schuhsole abkratzen konnte. Erste Stunde vorbei. Zweite. Er konnte es nicht mehr ertragen.

„Ayumi.“ sagte er laut in der Pause und winkte das Mädchen von heute morgen an sich ran. Sie war süß. Sie hatte voluminöses, braunes Haar, das einen leichten Rotstich hatte. Kastanienbraune Augen funkelten ihn erwartungsvoll an, als sie zu ihm rüber hastete.

„Ja?“ erwiderte sie liebevoll.

„Adam.“ sagte eine andere Stimme. Eine klare, helle Stimme. Sie hallte wie eine Trillerpfeife in Kais Ohr wieder. Er drehte sich um. Im Türrahmen stand ein großes, blondes Mädchen. Ihre Haare wurden in einen Dutt geknotet, während einige Strähnen wild umher zottelten.

„Aaah, Anna!“ Adams Antwort war voller Freude. Voller Glück. Kai hasste ihn in diesem Moment so sehr, wie sonst keinen.

„Wir haben ein Problem...“ Anna ging auf Adam zu. Was für ein Problem? Hatte sie heraus gefunden, wer die Leute vom Schülerrat wirklich waren? Gab es eine Schlägerei? Was? Ein zaghaftes Ziepen an seinem Kragen brachte Kai dazu, seinen Blick von Anna abzuwenden. Ayumi stand vor ihm, gerötete Wangen. Sie schien außer Atem zu sein. Waren alle Vorsätze, die Kai sich heute morgen gemacht hatte, alleine durch Annas Stimme zu Staub zerfallen?

„Ich… Ich hab den Text für Geschichte schon gelesen. Wir könnten schwänzen, wenn du willst.“ sagte das kleine Mädchen beschämt. Er blickte sie an. Sie war fast so groß, wie Anna. Nicht so lange, blonde Haare vielleicht. Ihre Gesichter sahen sich null ähnlich. Kai lehnte an seinem Tisch, blickte zu ihr hinunter. Der Größenunterschied erinnerte ihn an seine Vorstellung vor anderthalb Wochen. Ayumi schaute beschämt zur Seite.

„Warum starrst du so?...“ fragte sie nervös. Zwei Knöpfe ihrer Bluse waren geöffnet. Eine kleine Kette baumelte an ihrem Hals hinab und ließ den Anhänger in ihren Ausschnitt sinken. Wie kommt es, dass sie in so einer Situation so klein und zerbrechlich aussah, während Anna ihm das Gefühl gegeben hatte, zu unterliegen? Wie kommt es, dass er, der relativ groß war und sich vor Ayumi wie ein Riese fühlte, sich in Gedanken immer wieder in einer Situation wieder findet, wo Anna größer ist, als er?

„Ja, lass uns gehen.“ Kai grinste. Nein, er machte sich unnötig Gedanken. Die Träume verwirrten ihn. Er griff das Mädchen am Unterarm und ging Richtung Tür. Gesprächsfetzen drangen an sein Ohr.

„Ja, sie scheint Ärger zu haben.“.

„Nicht wirklich unser Problem, oder? So, wie sie sich das letzte Mal aufgeführt hat, braucht sie nicht glauben, dass wir ihr so einfach helfen kommen.“

„Adam, bist du blöd? Natürlich...“ Anna wollte ihren Satz beenden, aber sie bemerkte, dass Kai vor ihr stehen geblieben war. Schon wieder. Schon wieder diese Situation. Er war einen Kopf größer als sie, doch ihre Augen schienen auf der selben Höhe zu sein. Er schwieg. Zorn bebte in ihm. Anna sah an seiner Hand vorbei und erblickte Ayumi, die nun selbst in ihren Schritten erstarrte.

„Hey, ist das nicht…?“ fing die Brünette an, doch Kai gebot ihr mit einem festen Druck auf ihrem Arm, die Klappe zu halten. Anna lächelte.

„Hi.“ Ihre Stimme war charmant und man merkte, sie hielt sich nicht mit Freundlichkeit zurück. „Oh, stehe ich im Weg?“ fuhr sie fort. Ayumi versteckte sich hinter Kais Rücken und schien immer kleiner zu werden. Automatisch streckte er sich, um die Sicht von oben deutlich zu machen.

„Ja.“ seine Stimme, die sonst sanft und verführerisch klang, wurde kalt. Sein Blick, der sonst Mädchen zum Naschen einlud, wurde finster.

„Ah. Ich könnte zur Seite gehen, oder?“ lachte Anna und ging einen Schritt zur Seite, was sie sofort wieder rückgängig machte. „Andererseits...“ fuhr sie fort und spielte mit eine Strähne ihres Ponnies, „Warum sollte eine Königin anderen Platz machen?“.

Jedes Gespräch in der Klasse starb. Keiner schaute wirklich zur Tür, aber wenn Ohren sich drehen könnten, hätten es gerade viele getan. Niemand wollte Kais Reaktion verpassen, vor allem nachdem jeder das Gerücht gehört hatte, dass die Queen und der Schülerrat im Krieg waren. Was sollte Kai antworten?

Er ließ Ayumi los, legte seine Hand auf Annas Schulter und drückte sie schroff zur Seite. Sie prallte gegen den Türrahmen. „Ich sehe hier keine Königin.“ hisste er zwischen seinen Zähnen hervor, packte sich das braunhaarige Mädchen und verschwand im Flur. Adam war drauf und dran, Kai hinterher zu jagen, doch Anna hielt ihn davon ab: „Wir haben andere Probleme.“
 

Endloser Zorn. Es ist lange her, seit er so ein Herzrasen hatte. Kai lief hastigen Schrittes Richtung Treppenhaus. Er kannte ein leeres Klassenzimmer, das gerade als Lagerraum benutzt wurde. „Hey...Warte…!“ Ayumis Meinung war ihm egal. Er wollte sie gerade nur noch besitzen. Im Klassenzimmer angekommen, schmiss Kai die Tür hinter sich ins Schloss. Er setzte das Mädchen auf einen der Tische und sich selbst gegenüber. Nach drei tiefen Atemzügen fuhr er sich mit der Hand durchs violette Haar, schloss die Augen und seufzte tief.

„Was?“ fragte Ayumi genervt, als wüsste sie, was in ihm vorginge. „Sag mir nicht, du findest sie hübsch.“ Was denn, was denn? Eifersucht? Ernsthaft? Hat dieses dumme, kleine Mädchen die Situation nicht ganz begriffen? Kai schaute zwischen seinen Fingerspalten zu ihr hin, während er langsam die Hand sinken ließ. Dann lächelte er.

„Diesen Rambo hübsch finden?“ Er kicherte. Er klang wieder sanft und weich, der perfekte Verführer. Dann fuhr er mit seiner Hand durch ihr offenes, braunes Haar. Es war schulterlang. Vielleicht ein bisschen zu lang. Beim Sex hat man überall die Haare der Frauen, wenn sie die ganze Zeit durch die Gegend fliegen. Irgendwie fühlte es sich auch ein bisschen schmutzig an. Rostbraun ist auch keine besonders hübsche Farbe. Hätte sie vielleicht nicht zentimeterdick Make-Up auftragen können? Sein Zeigefinger fuhr über ihre Wange. Es war, als würde man Creme verstreichen. Die Hand zog Linien über ihren Hals, dann über ihre weiße Bluse. Sie trug einen rosafarbenen BH. Hoffentlich merkte sie nicht, dass er sich die Finger daran abwischte, während er die Knöpfe der Bluse öffnete. Er hatte keine Lust auf Stress. Ihre Hände suchten sein Gesicht. Warum waren die Finger so rau? Sie glitten über seine Wange, gingen unter sein Kinn und zogen es an sich heran. Ihre Lippen trugen Spuren von Lippenstift und sahen trocken aus. Er küsste sie und schmeckte Rauch. Nicht die erste, die so schmeckte. Ayumi setzte sich auf seinen Schoß. Was machte Kai sich eigentlich für Illusionen? Gerade saßen fast 60kg Frau auf ihm und es fühlte sich schwer an. Anna war größer, sie würde bestimmt sogar noch schwerer sein. Ayumi leckte über Kais Hals. Ihre Augen waren geschlossen. Anna würde sich auch nicht besser anfühlen, sagte der Junge sich. Sie hat zu lange Haare. Weiß nicht mal, wie man sich schminkt und hübsch macht. Kais Hand legte sich auf Ayumis Kopf und zogen ihn zur Seite, um ihren Hals zu entblößen. Die Kette war im weg, er riss sie ab. Nach kurzen, lieblosen Küssen, folgte seine Zunge, die fast unsichtbare Spuren über die Halsschlagader zog, bevor er rein biss.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2016-06-05T14:26:03+00:00 05.06.2016 16:26
"Grundlage jeder kitschigen Teenie-Show" ist das ein Verweis auf eine ganz bestimmte Geschichte in 4 Büchern, die verfilmt wurde :DDDDD oder geht da nur meine Fantasie mit mir durch :DDDD?

o_ô Kai scheint ja eine ausgesprochen nette Person zu sein, nett zu dem anderen Geschlecht, mannomann >.<. So wie diese Vorstellung beschrieben wurde, ist das keine harmlose Träumerei, sondern eine knallharte Tatsache :O

*hahaha* sich drehende Ohren, genial :DDDD
Von:  blackyoshi
2016-05-05T17:42:20+00:00 05.05.2016 19:42
Was sich da in Kai entwickelt bzw. brodelt macht den Charakter echt total interessant.


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