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Die Ausgestossenen

(vormals: An der Brücke des Seins)
von

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Besuch

Die Sonne ging auf und ergoss ihr Licht über das weite Tal, in dem das Mädchen Tirjam lebte.

Sie lebte in einem grossen Haus, in dem ihr aber nur die Hälfte eines winzigen Zimmers unter dem Dach gehörte.

Das Haus war eine Gaststätte, die sich am Eingang, beziehungsweise Ausgang, je nach dem, in welcher Richtung man reiste, des Tales befand.

Drang man weiter ins Tal hinein, so erreichte man bald die grosse Stadt Plintar, die den Mittelpunkt des Landes Grosn'hir darstellte. Der Gasthof befand sich also an einer ausgezeichneten Lage.

Die kleine Tirjam war erst einmal in der Stadt gewesen, als sie mit ihrem Stiefvater einkaufen durfte, doch dieser eine Besuch hatte ihr gereicht um zu merken, dass es ausser dem grossen Haus, das ihr einmal die ganze Welt gewesen war, noch viel, sehr viel mehr geben musste.

Danach hatte sie immer zusammen mit ihrem Bruder von der Welt geträumt, solange, bis dieser erwachsen geworden war. Wenn sie manchmal eine Weile nichts zu tun hatten, dann versteckten sie sich auf dem Heuboden und malten sich aus, was sie alles tun wollten in der Welt, wenn sie erst einmal gross waren.

Ihr Bruder zählte schon siebzehn Lenze und war schon lange ein Mann. Seit seiner Initiation hatte Tirjam alleine geträumt.

Heute würden sie ganz aufhören müssen, denn Tirjam war nun fünfzehn, das hiess, sie war eine Frau und sollte nicht mehr Kinderträumen nachhängen.

Ihr Bruder war schon siebzehn Lenze geworden und war schon lange ein Mann.

Seitdem hatte seine Schwester allein geträumt, doch jetzt musste auch das aufhören.

Sie wusste, die Götter mochten keine Erwachsenen, die sich nicht erwachsen benahmen und sie wusste auch, dass die Götter die straften, die ihnen nicht gefielen.

Sie war zwar erst einmal in einem Tempel gewesen und zwar damals, als sie mit dem Vater in die Stadt durfte. Doch einmal im Monat kam ein alter Priester vorbei und erzählte den Kindern der nahen Siedlung von den Göttern und Göttinnen. Manchmal war Tirjam an diesen Tagen ins Dorf gegangen und hatte mitgehört. Oft aber hatten sie Gäste, dann musste Tirjam bedienen.

Tirjam beschloss, dem nicht weiter nachzutrauern, sondern an die Arbeit zu gehen, wie es sich für eine erwachsene Frau gehörte.

Die ersten Gäste würden schon bald aufstehen und dann musste die Suppe angenehm duftend über dem Herd stehen.

Sie holte sogleich Wasser aus dem Brunnen und begab sich in die Küche.

Während sie das Wasser vorsichtig in den grossen Kessel goss und diesen mit einiger Anstrengung auf den Herd stellte, trat Tirjams Bruder ein.

Er schaute Tirjam eine Weile zu, bis diese gereizt sagte: "Hat dir Nakesh, die Göttin der Zeit die Ewigkeit vermacht, oder wieso stehst du da 'rum, ohne irgendwo mit anzupacken? Los, hilf mir doch!"

Er grinste. "Denkst du, du könntest mir Befehle erteilen, nur weil du erwachsen bist?"

Doch er begann trotzdem, das Fleisch zu zerhacken.

Wenig später drang unter der Küchentür der würzige Geruch von gewürzter Gemüsesuppe hindurch und der Duft schien die Frühaufsteher geradezu anzulocken. Einer nach dem anderen kam die Treppe hinunter und verlangte seinen Teller Brühe. Die meisten waren in Eile. Reichere Bauern aus dem Mittelstand, ärmere Kaufleute und wer sonst noch alles in die Stadt musste, hatten es alle eilig. Zu Fuss war es immer noch ein gutes Stück in die Stadt und heute war dort Markt.

Der Essraum war bald voll, ebenso bald wieder leer und Tirjam machte sich an den Abwasch und Mocish sah zu, dass niemand die Stube verliess, der noch nicht gezahlt hatte.

Danach half er Tirjam, die Küche aufzuräumen und schon bald war es blitzsauber, oder zumindest nicht schmutziger als vorher und sie hatten nichts mehr zu tun.

Früher hätten sie sich jetzt wahrscheinlich auf dem Heuboden versteckt und hätten sich Geschichten erzählt, doch nun warteten sie geduldig, bis der Rest der Familie aufgestanden war und die späteren Gäste auch noch ihre Mahlzeit verlangten.

Ein zweiter Topf voll Suppe stand bereit.

Als auch die letzten gegessen hatten, konnte sich die Familie an den Tisch setzen und ihr Frühstück verzehren.

"Marnin wird heute höchstwahrscheinlich zu Besuch kommen", sagte ihr Stiefvater, der ebenfalls Marnin hiess, zwischen zwei Bissen.

Marnin, der Jüngere war der Sohn Marnins, des älteren und dessen erster, verstorbenen Frau Naira, der in die Stadt gezogen war.

Er hatte es zu etwas gebracht, sagte er immer stolz und Brentja, Tirjams und Mocishs Mutter, stimmte zu. Auch sie war stolz auf ihren Stiefsohn. Er hatte die Tochter eines reichen Tuchhändlers geheiratet und lebte und von den 'geheimen Zusammenarbeiten, mit anderen Leuten seines Standes', wie er es ausdrückte. In Wirklichkeit lebte er vor allem vom Erbe seiner Frau, aber das sagte er nicht.

Manchmal kam er zu Besuch, jedesmal in neuen, massgeschneiderten Kleidern, hoheitsvoll wie ein Fürst in seiner teuer aussehenden Kutsche sitzend, für die er sogar einen Kutscher hatte.

Dann verschenkte er grosszügig Geld und Spielzeug und Tirjam mochte ihn deswegen, auch wenn sie ihn für einen Angeber hielt.

Das sollte nun nicht mehr so sein, beschloss sie bei sich, denn sie war nun eine erwachsene Frau und konnte nicht mehr einfach so Geschenke annehmen. Wenn ein Mann einem Kind etwas schenkte, war das eine Sache, schenkte er aber einer Frau etwas, war das etwas ganz anderes. Ihre Mutter hatte ihr oft schon eingeschärft, dass der Mann dann auch eine Belohnung von der Frau erwartete; zu Beginn mochte das nur ein Lächeln sein, aber man wusste nie, wohin das führte.

Sie stellte sich vor, wie Marnin nun Respekt vor ihr haben würde, weil sie endlich auch erwachsen war und er ihr dies nicht mehr voraus hatte.

Deshalb freute sie sich auf seinen Besuch.
 

Es war schon Nachmittag, als Marnin endlich ankam. Er war ein ausnehmend hübscher junger Mann gewesen, was ihm auch erlaubt hatte, weit über seinem Stand zu heiraten, doch der Reichtum hatte ihn dick und faul gemacht.

Er kam wie immer in der Kutsche daher gerast und liess den Kutscher eine gefährliche Vollbremsung machen. Er hielt dies wohl für eindrucksvoll.

Brentja hatte die Geschwister in die Küche verbannt, damit sie dem Gast eine geschmacksvolle Mahlzeit zubereiteten.

Tirjam war den Tränen nahe. Sie hatte sich so auf diesen Tag gefreut und nun würde Marnin vielleicht nicht einmal bemerken, welch grossen Schritt sie in ihrem Leben getan hatte.

Sie überlegte fieberhaft, wie sie ihn doch noch sehen konnte und ihn unauffällig darauf aufmerksam machen konnte.

Kurzerhand nahm sie das Essen in die Hand und marschierte ins Esszimmer, wo Marnin schon in ein Gespräch mit ihrem Stiefvater vertieft war.

Marnin beobachtete sie.

Tirjam war viel zu unschuldig, um zu merken, weshalb er sie beobachtete, sie war nur zufrieden, dass er sie bemerkte. Sie lächelte ihm zu. Sie hielt es für freundlich; Er hielt es für verführerisch.

Ihr Stiefvater betrachtete sie stirnrunzelnd.

Tirjam stellte den Topf auf den Tisch.

Sie holte Luft, um Marnin zu begrüssen, doch ihr Stiefvater sagte: "Tochter, willst du unserem Gast kein Brot anbieten?"

Tirjam zuckte zusammen. "Ja, Vater."

Sie ging zurück in die Küche, wo ihre Mutter am Herd stand. Tirjam ging zum Brotkasten, nahm den halben Laib Brot heraus, der eigentlich noch hätte zwei Tage reichen müssen, doch sie kannte ihren Stiefvater; Er wollte sich genauso freigiebig geben, wie Marnin. Er würde Tirjam später schelten, weil sie das ganze Brot gebracht hatte, aber im Grunde würde er froh sein.

Sie ging wieder hinaus, das Brot auf einem grossen, flachen Holzteller in der einen, ein Messer in der anderen Hand.

Sie legte die Dinge auf den Tisch und lächelte Marnin an. "Ich grüsse dich", sagte sie schnell, bevor ihr Vater sie wieder wegschicken konnte.

Marnin grinste sie an und klopfte zufrieden auf seinen Bauch. Das war eine für ihn typische Geste. "Die kleine Tirjam. Ich will doch mal sehen, was ich für dich dabei habe!"

Er fing an, in seinen Taschen zu kramen, doch Tirjam sagte, nicht ohne Stolz: "Oh nein, Marnin! Ich bin jetzt nämlich erwachsen!"

Er blickte sie verblüfft an. "Ja ... Dann ist das kleine Mädchen schon fünfzehn Lenze alt?"

Tirjam nickte bekräftigend.

"Nun ..." Marnin holte ein kleines, ledernes Täschchen, reich bestickt, hervor. "Dann willst du wohl das auch nicht ... Nun, dann werde ich es wohl wieder mitnehmen. Mirtren wird enttäuscht sein. Sie hat es selbst ausgesucht."

Mirtren war Marnins Frau. "Nein, nein!", sagte Tirjam schnell. "Ich will meine Schwägerin nicht kränken! Ich nehme es gerne an."

Sie dachte an die Worte ihrer Mutter. Doch was konnte schon dabei sein, es war ja nur ein kleines Täschchen, beruhigte sie sich.

Marnin lächelte wissend und reichte ihr das Täschchen. "Darin kannst du deine kleinen, geheimen Dinge aufbewahren, oder Nadel und Faden."

"Danke Marnin."

Sie ging zurück in die Küche und betrachtete entzückt das Täschchen; Beinahe wäre sie in die Tür hineingelaufen.

In der Küche stand ihre Mutter immer noch am Herd. Als Tirjam jetzt eintrat, blickte sie auf. "Was hast du da?"

Tirjam blickte beschämt zu Boden. "Ein Geschenk von Marnin, Mutter."

"Ein Geschenk!? Habe ich dir nicht gesagt, du sollst keine Geschenke annehmen? Du bist eine Frau!"

"Ja Mutter. Aber sieh her!" Sie reichte ihrer Mutter das Täschchen. "Schön, nicht? Und es ist doch nur ein Täschchen!"

Ihre Mutter erbleichte. "Das ist sehr wertvoll."

"Marnin hat das Geld ..."

"Nein, auch er kann nicht einfach so soviel Geld ausgeben! Auch er nicht."

Tirjam runzelte die Stirn. "Und?", fragte sie trotzig. "Er hat es nun einmal getan und damit Schluss!"

Ihre Mutter zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder den Kochtöpfen zu.

"Geh etwas nach draussen, Tirjam. Du solltest nicht den ganzen Tag in der stickigen Küche verbringen."

"Ja, Mutter."

Tirjam verliess die Küche durch den Garteneingang. Der Garten bestand aus einem kleinen Gemüsebeet, in dem ihre Mutter Salatköpfe, Karotten und Kohl zog und einem einsamen Beerenstrauch.

Tirjam lehnte sich an die Hauswand und blickte in den Himmel. Sie sah die Wolken vorbeiziehen, doch der Anblick konnte sie nicht lange faszinieren. Sie nahm wieder das Täschchen zur Hand. Noch nie hatte sie so etwas Schönes gesehen. Wenn sie es genauer betrachtete, fand auch sie, dass es ziemlich wertvoll aussah. Es war fein bestickt, mit Gold- und Silberfäden durchzogen, das Leder dunkelrot gefärbt und weicher, als normal gegerbtes Leder. Als sie die Verzierung, seltsame, rote Muster genauer betrachtete, erkannte sie, dass keine Regelmässigkeit vorhanden war. Es schien sich eher um Schriftzeichen zu handeln. Tirjam selbst konnte nicht schreiben, doch sie war sich sicher, dass es sich nicht um die gebräuchlichen handelte.

Da hörte sie laute Stimmen aus dem Haus. Wer konnte das sein? Doch nicht etwa Marnin und Marnin! Sie stritten sich nie.

Sie ging leise um das Haus herum zum Eingang. Sie öffnete die Tür einen Spalt. Ihr Stiefvater und ihr Stiefbruder waren in eine heftige Diskussion vertieft. Sie glaubte, zu sehen, dass der Blick Marnin des Jüngeren kurz abschweifte und auf ihr ruhte. Schnell zog sie das Gesicht zurück, doch sie hatte sich wohl getäuscht.

"Sie ist noch beinahe ein Kind!"

"Sie sagte selbst, dass sie fünfzehn Lenze zählt!"

"Und? Das hat nichts zu bedeuten."

"Versteh doch Vater -"

"Nein, ich verstehe nicht! Weshalb willst du ein unschuldiges Mädchen in die Stadt mitnehmen? Dort wird sie nur verdorben."

"Du vergisst, dass auch ich in der Stadt lebe!"

"Das ist etwas anderes!"

"In der Stadt werde ich ihr einen guten Mann finden. Sie wird dort glücklich sein, da bin ich mir sicher."

"Aber du kannst hier nicht einfach antanzen und meine Tochter verlangen."

"Sie ist nicht deine Tochter und ausserdem verlange ich nicht, ich bitte darum, dass du ihr meinen Vorschlag unterbreitest."

Marnin, der Ältere brummte. "Sie macht sich hervorragend hier im Haus."

"Ich bitte dich! Ein Mädchen in einer Gaststube! Andauernd den lüsternen Blicken fremder Männer ausgesetzt ... Ich kann den Gedanken nicht ertragen!"

Marnin legte sich theatralisch die Hand aufs Herz.

Tirjam hörte das Stirnrunzeln beinahe aus ihres Stievvaters Stimme heraus, als er antwortete: "Und in der Stadt? Da treiben sich die seltsamsten Gestalten 'rum. Ich bin nicht von gestern, mein Sohn! Ich weiss genau, was das dort für eine Schlammgrube ist, sittenlos und ohne Anstand! Was die Leute einem hier so erzählen -"

"... Ist dummes Geschwätz! Die Stadt ist ein sehr angenehmer Ort!"

"Nein. Dabei bleibt es. Das Mädchen ist das beschauliche Landleben gewöhnt und in der Stadt würde sie eingehen."

"Ich bin sicher, das Kind ... Die Frau will nicht so wie du das ganze Leben in diesem Gasthaus verbringen! Sie ist nicht unansehlich und die jungen, reichen Männer werden sich nur so um sie reissen! Verstehst du, es kann etwas werden aus ihr!"

Sie hörte, wie ein Stuhl über den Boden scharrte; ihr Vater hatte sich erhoben. Tirjam bekam es mit der Angst zu tun; ihr Stiefvater mochte es gar nicht, wenn sie lauschte. Sie drehte sich um und schlich davon. Das letzte, was sie noch hörte, war: "Ich denke, du zählst dich auch zu den jungen, reichen Männern, nicht wahr, mein Sohn?"



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