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Gegen die Schwerkraft

von

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Die Arbeit ruft

Mit einem lautlosen Schrei setzte ich mich auf und versuchte mich im ersten Moment zu orientieren, wo ich war. Wimmernd krallte ich mich in meinen Haaren fest und fing an vor und zurück zu schaukeln.

Ich konnte nicht mehr.

Wann hörte das alles auf?

Gab es nicht so etwas, wie einen Reset-Taste, die alles aus meinem Gedächtnis löschen konnte?
 

Erinnerungen an den Traum flimmerten vor meine Augen wieder und ich hielt den Atem an.

Warum nur konnte ich sie nicht vergessen? An wen konnte ich mich wenden? Wer würde mich nicht für eine Verrückte halten, wenn ich es erzählte? Verzweifelt fing ich an meinen Haaren zu ziehen und auch gegen meinen Schädel zu schlagen.
 

Die Träume sollten aufhören.
 

Warum tat mir das mein Gehirn nur an?

Ich wollte es doch vergessen.

Ich wollte gern ein normales Leben führen.

Ich wollte mein altes, langweiliges Leben zurück.
 

Um mich langsam zu beruhigen, lehnte ich mich gegen die kühle Wand und sah mich im Zimmer um. Kalter Angstschweiß rann mir über die Stirn. Ich war mit meinen Kräften am Ende.
 

Irgendwo in meinem Inneren wusste ich, dass ich verrückt wurde.
 

Geleitet vom Verfolgungswahn und regelmäßigen Panikattacken, verbarrikadierte ich mich im Zimmer und verschloss mich von der Außenwelt. Ich wusste, dass es falsch war. Ich wusste, dass ich Vater und Nina damit verletzte. Aber ich konnte nicht dagegen ankämpfen.
 

Nachdenklich musterte ich meine grüne Bettwäsche.

Ich hatte den Wald geliebt, in ihm etwas gefunden, dass mich beruhigt hatte. Doch jetzt empfand ich die Grüntöne angsteinflößen. Ich hätte dort im Wald sterben sollen. Sie war dort gewesen und hat mir mit bloßen Händen den Oberarm angebrochen. Mich wie ein lächerliches Stofftier in der Luft herumgeworfen. Mir so viel Schmerzen zugefügt.
 

Das Grün der Bettwäsche verschwamm in einander und plötzlich sah ich mich in jenem Wald.

Hörte ihr Lachen.

Ihre Worte.
 

Ein erstickender Laut entwich mir, als ich mich an ihre Grausamkeit erinnerte.
 

Ohne darüber nachzudenken, was ich tat, zog ich hektisch die Bettwäsche von meinem Kissen und meiner Decke. Mit zittrigen Beinen ging ich zum Schreibtisch und nahm eine Schere aus der obersten Schublade.
 

Ich wollte es nicht sehen.

Ich wollte mich nicht erinnern.
 

Wimmernd fing ich an meine Bettwäsche, die ich mir von meinem ersten Taschengeld einst gekauft hatte, zu zerschneiden. Ich nahm Abschied von meinem früheren Leben.

Nie wieder könnte ich so werden wie früher.

Sie hatte mich am Leben gelassen.

Ich lebte, doch jeden Tag starb ein weiterer Teil von mir.
 


 

***
 

Es war früher Nachmittag gewesen, als ich mich aus dem Zimmer traute. Vorsichtig schob ich meinen Schreibtisch zur Seite und öffnete die Tür ganz langsam. Ich schielte durch den Spalt, um mich zu vergewissern, dass niemand vor der Tür war. Dass sie nicht vor der Tür lauerte.
 

Erleichtert atmete ich aus, als die Luft rein war.
 

Auf Zehenspitzen schlich ich ins Bad.

Ich hatte entsetzliche Angst davor, dass ich mich zu laut bewegen würde und sie mir dadurch auflauern könnte. Es war wahnsinnig und total bescheuert, doch ich konnte es nicht abschalten, auch wenn ein kleiner Teil von mir entsetzt mit dem Kopf schüttelte.
 

Im Bad schob ich den Duschvorhang zur Seite und inspizierte jedes mögliche Versteck, wo sie vielleicht auflauern konnte.

Es war niemand da.
 

Erleichtert schloss ich die Tür ab und ging unter die Dusche. Sicherheitshalber legte ich ein großes Handtuch auf den Boden, da ich den Duschvorhang nicht zuzog und deshalb der ganze Boden nass werden würde.
 

In meinem früheren Leben, liebte ich es zu duschen. Ich stand oftmals einfach nur da und genoss die Nässe, die meinen Körper umspielte.

Doch auch das wurde mir genommen.
 

In Windeseile war ich fertig und trocknete mich ab. Es war so kurz, dass nicht einmal der Spiegel beschlagen war. Umschlungen von einem großen Handtuch, trocknete ich die Dusche ab und sah zum Spiegel.
 

Meine Haut hatte eine ungesunde Farbe angenommen. Ich war beängstigend blass und durch meine schwarzen Haare sah ich aus, wie das Mädchen aus diesem Horrorfilm, den ich mir mit Nina vor langer Zeit hatte ansehen müssen.
 

Ich fuhr mir leicht mit dem Zeigefinger meine Augenringe nach. Ich war froh, dass mich Embry nie so sehen würde. Sein Bild erschien vor meinen Augen.
 

Das Loch, was dabei in meiner Brust entstand, brachte mich aus der Bahn.
 

Ich verbot mir, dass ich an ihn dachte. Was brachte es schon? Aber meistens schaffte ich es nicht den Gedanken an ihn zu unterdrücken. Ich hatte ständig das Gefühl einen Fehler begangen zu haben, auch wenn mein Verstand wusste, dass es zu seinem Besten war.

Wahrscheinlich wurde ich immer mehr zu einem egoistischen Menschen.
 

Während ich mir die Zähne putzte, starrte ich ununterbrochen den Spiegel an, aus Angst jemand könnte hinter mir stehen. Ich hasste es, wenn ich mitten im Raum stand. Irgendwie überkam mich dann das Gefühl, dass sie hinter mir lauerte.
 

Ein Schauer lief mir über den Rücken, als meine Fantasie mir diesen Gedanken nur deutlich veranschaulichte. Ich sollte schleunigst wieder in mein Zimmer.
 


 

***
 

In meinem Zimmer schloss ich die Tür hinter mich und lehnte mich dagegen an.
 

Mein Herz schlug, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Hier in diesem Zimmer war ich sicher. Anders als draußen, wo ich verwundbar und schwach war. Um mich zu vergewissern, dass im Zimmer noch immer die Luft rein war, kniete ich mich nieder und sah unters Bett.
 

Alles sah so aus, wie immer. Ich ging zum Schrank und zog mir das erstbeste an, was ich in die Finger bekam. In diesem Falle, eine schwarze Leggins und ein übergroßen, dunkelgrünen Pullover.
 

Ein Poltern in der Wohnung ließ mich erstarren.
 

Entsetzt sah ich zur Tür, während mein Herz zu einem Sprint ansetzte. Wer konnte in der Wohnung sein? Es war Freitag und alle müssten weg sein. Meine Hände fingen an zu zittern. Ich wollte wegrennen, wollte schreien, doch ich stand einfach nur stumm da und starrte die Tür an.
 

Sie war hier!

Doch wie ging das?

Wer hatte ihr von meinem Überleben erzählen können?
 

Las sie die Zeitung und hatte von dem Opfer, das einen brutalen Überfall überlebt hatte, erfahren? Ich war außer mir gewesen, als ich es gesehen hatte.
 

Ich hörte Schritte, die sich meinem Zimmer näherten und von meiner Tür verharrten. Alles in mir schrie. Hätte ich bloß nicht den Schrank vor das Fenster geschoben, dann hätte ich hinausspringen können. Vielleicht hätte ich den Sprung aus dem ersten Stock überlebt und wenn nicht, wäre es auch nicht weiter tragisch gewesen.
 

"Ana? Können wir reden?", hörte ich meinen Vater gedämpft.
 

Verwirrt zog ich meine Augenbrauen in die Höhe. Warum war er hier? War das ein Trick? Konnten Vampire ihre Stimme verstellen?
 

"Ana?", die Stimme bekam einen besorgten Unterton.
 

Als ich immer noch angespannt schwieg und innerlich abwog, ob ich darauf vertrauen sollte, dass es Vater war, wurde die Tür langsam geöffnet.

Erst jetzt realisierte ich meinen Fehler. Ich hatte vergessen den Schreibtisch vor die Tür zu schieben! Wie konnte mir das nur passieren?
 

"Ana ist alles in Ordnung?", panisch sah mein Vater mich an, als er die Tür aufriss.
 

Erleichtert atmete ich aus und setzte mich auf mein Bett. Ich hatte keine Kraft mehr in den Beinen.
 

"Jag mir bitte nicht solche Angst ein! Ich dachte du …", er ließ den Satz offen.
 

Ich wusste, dass er dachte, ich würde mich jeden Moment umbringen und ich konnte es ihm nicht einmal verübeln.
 

"Wieso bist du hier Paps?"
 

Seit meinem Geburtstag, vorgestern, versuchte ich wieder mit ihm zu reden. Zwar nur mit ihm und nur das Nötigste, aber es war immerhin schon ein kleiner Fortschritt.
 

"Hast du das vergessen? Ich hab dir vor zwei Wochen erzählt, dass ich heute zu einem Seminar nach New York muss. Mein Chef erlaubt mir keine Auszeit", murmelte er, während er sich im Zimmer umsah.
 

Seine Augen weiteten sich entsetzt, als er die zerfetzte Bettwäsche sieht. Beschämt sah ich zu meinen nackten Händen. Seitdem ich nicht mehr aus dem Haus ging, machte ich mir auch nicht die Mühe meine Narben zu verstecken, war auch bis vorgestern durch den Gips nicht möglich gewesen.
 

"Ich sollte lieber das Seminar absagen", seufzte er und setzte sich zu mir aufs Bett.
 

Energisch schüttelte ich mit dem Kopf. Ich wusste, dass das nur zu Problemen führen würde. Ich konnte ihm sein Leben nicht noch mehr zerstören.
 

"Ist schon okay Paps. Ich komm alleine zurecht", murmelte ich ohne ihn anzusehen.
 

Er schnaufte nur.
 

"Du nimmst nicht einmal deine Medikamente und das", er deutete auf die Fetzen meiner Bettwäsche, "das ist doch der Beweis, dass du es nicht schaffst Ana."
 

Seine Stimme war von Trauer getränkt. Ich versuchte den Kloß in meinem Hals runterzuschlucken. Es tat weh, dass ich ihm so vieles zumuten musste. Er hatte mich nicht verdient.
 

"Ich nehme sie", murmelte ich und stand auf.
 

Ich ging zum Schreibtisch und holte die Päckchen heraus. Demonstrativ drückte ich die Pillen aus ihrer Form heraus und warf sie ein. Er sollte nicht seinen Job wegen mir verlieren. Wir brauchten das Geld und er liebte seine Arbeit.
 

"Paps. Ich bin neunzehn! Du musst zu diesem Seminar", sprach ich mit Nachdruck, als ich die Medikamente geschluckt hatte.
 

Er lächelte mich traurig an. Ich wusste, dass er sich dagegen sträubte, mich alleine zu lassen. Doch er tat es nicht, weil er wollte. Es musste so sein.
 

"Ich werde Nina darauf ansetzten, dass sie vorbei sieht", seufzte er.
 

Ich nickte ihm nur zu. Seinetwegen würde ich die Medikamente für diese kurze Zeit einnehmen. Nina könnte es ihm dann jeden Tag überbringen.
 

"Ich schaff' das schon", es klang wenig überzeugend, selbst in meinen Ohren.
 

Er jedoch nickte mir zu.
 

"Bitte ruf mich an, wenn du", er sah erneut zu meiner Bettwäsche, "egal um welche Uhrzeit es auch sein mag, egal wie banal es ist. Ruf mich an!"
 

"Mach ich Paps", versprach ich ihm.
 

"Ich muss dann los. Mein Flug geht um Vier."
 

Er sah zu seiner Uhr am Handgelenkt und als er den Blick hob, waren seine Augen glasig. "Bitte mach nichts Blödes, Spatz. Ich liebe dich! Ich hoffe, dass weißt du", er hob seine Arme, um mich zu umarmen, ließ sie aber dann kraftlos fallen.
 

"Ich dich auch, Paps", murmelte ich nur und folgte ihm zur Eingangstür.
 

"Also nicht vergessen! Wenn irgendetwas, selbst die banalsten Dinge, passieren sollten, ruf an! Sofort! Du brauchst keine Angst haben mich zu stören, Ana. Du bist das Einzige, was mir noch geblieben ist", verlegen kratzte er sich am Hinterkopf, als ich ihn überrascht ansah.
 

Mein Vater war schon immer schüchtern gewesen, wenn es um Gefühle ging.
 

"B-Bis bald. Bin nächste Woche, Sonntag, wieder da!", meinte er dann lächelnd und winkte mir noch einmal zu, ehe er die Tür hinter sich schloss.
 

Nachdenklich schloss ich die Tür ab und überlegte, ob ich einen Sessel unter den Türgriff klemmen sollte, verwarf es aber gleich wieder. Nina würde bestimmt am Abend vorbei sehen. Sie hatte einen Schlüssel und würde bestimmt ausflippen, wenn etwas die Tür blockieren würde. Bestimmt würde sie es auch gleich meinem Vater sagen, da sie nie Geheimnisse vor Eltern hatte.
 

Geheimnisse zerstören die Bindung, die man mit Menschen knüpfte, hatte sie einst gesagt. Sie hatte recht! Seitdem ich mit meinem lebte, brachen meine Verbindungen ab.

Ich fühlte mich dadurch noch miserabler, doch ich konnte nicht darüber reden.

Ich würde es auch niemals.
 


 

***
 

Nachdem ich eine Kleinigkeit gegessen hatte, ging ich zurück in mein Zimmer und verbarrikadierte mich darin, wie immer.

Langsam konnte ich die Effekte der Medikamente spüren. Ich fühlte, wie meine Sinne stumpfer wurden. Mit jeder Minute, die verstrich, wurde alles belangloser.
 

Meine Angst verschwand.
 

Entspannt schloss ich die Augen, als mich das längst vergessene Gefühl von Müdigkeit überrollte. Wie lange war es her, dass ich friedlich eingeschlafen war und nicht aus Erschöpfung?

Irgendwo in meinem Inneren meldete sich eine Stimme, die mich anschrie. Die panisch auf mich einredete, dass es ein Fehler war, die Medikamente einzunehmen.

Dass ich die Nacht nicht überstehen würde. Dass ich den nächsten Tag nicht erleben würde.
 

Ich ignorierte es.

Es war mir egal.

Alles war egal.



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