Karoshi
Aufblende:
TOKIO – AUSSEN – TAG
Frau (V.O.)
Japan. Ein Land in dem sich Tradition
und Moderne sehr nahe stehen. Ein Land,
in dem jeder darum bemüht ist, Teil eines
Ganzen zu werden.
Bilder, die die Stadt Tokio portraitieren. Arbeitende Menschen an verschiedenen Arbeitsplätzen. Ein BÜROANGESTELLTER, Mitte vierzig, steht in seinem Büro.
Frau (V.O.)
Die Maßstäbe sind hoch. Produktivität steht über alles.
Der Mann schließt seinen Laptop und rückt seinen Stuhl zurecht. Sein Arbeitsplatz ist aufgeräumt. Er geht auf das Fenster zu.
Frau (V.O.)
Jeder muss sein Bestes geben.
Der Leistungsdruck wiegt schwer.
Er wirft sich aus dem Fenster.
Frau (V.O.)
(dumpfes Geräusch)
Einige können dem nicht standhalten.
EINGEBLENDETER TITEL:
„KAROSHI“
HAUS DER FAMILIE WATANABE – INNEN – TAG (zwanzig Jahre später)
YUKINA sitzt mit einem Fotoalbum auf dem Sofa. Sie betrachtet ein Bild, auf dem der Büroangestellte abgebildet ist, der sich aus dem Fenster geworfen hat. Er lächelt mit einem Mädchen auf dem Arm. Die Finger der Frau streichen über die Wange des Mannes.
YUKINA
Wärst du noch am Leben ...
Sie zieht ein Ultraschallbild hervor und betrachtet es mit wehmütigem Lächeln. Sie erwartet ein Kind von ihrem Ehemann, HIRARI.
HIRARI (O.S.)
Yukina? Ich bin dann weg.
Hastig versteckt sie das Ultraschallbild im Album.
YUKINA
Hirari, könntest du mir einen Gefallen tun?
Er steckt den Kopf durch die Tür und sieht sie an. Dunkle Augenringe prägen sein Gesicht.
YUKINA
Bitte mach’ doch heute pünktlich Feierabend, ja?
Ich habe eine Überraschung für dich.
HIRARI
Ich versuch’s.
Muss jetzt aber los – bis später!
Er verlässt das Haus. Sie sieht lächelnd auf das Fotoalbum.
BAHNHOF – AUSSEN – TAG
Hirari steht am Bahngleis und wartet auf den Zug. Sein Blick fällt auf die Gleise und bleibt lange dort haften, bis ein Zug ZISCHEND vorbei schnellt.
BÜRO – INNEN – TAG
Hirari sitzt an seinem Schreibtisch und starrt den Computerbildschirm abwesend an. Nur das SURREN des Rechners ist zu hören. Es KLOPFT an der Tür. Sein CHEF kommt herein.
CHEF
Herr Watanabe, wir müssen reden.
Es ist dringend.
HAUS DER FAMILIE WATANABE – INNEN – NACHT
Yukina knallt die Hände aufgebracht auf den Esstisch. Vor ihr sitzt Hirari.
YUKINA
Eine Geschäftsreise?
Wann werden wir überhaupt noch Zeit füreinander haben?
HIRARI
Ich kann nichts dagegen tun.
YUKINA
(energisch)
Ist das alles, was du dazu zu sagen hast? Sieh’ dich doch an. Du bist völlig am Ende!
Sie deutet in seine Richtung, während er erschöpft zur Seite sieht. Er betrachtet ein Foto von ihnen beiden auf der Kommode.
YUKINA
Wann soll diese Geschäftsreise sein?
HIRARI
Bald, irgendwann. Ich weiß es nicht mehr.
YUKINA
Wie bitte?
HIRARI
Ich werde mich hinlegen...
Ich bin müde.
Sie sieht ihm mit offenem Mund nach, als er ins Schlafzimmer geht.
Folgende Szenen in schneller Abfolge:
BÜRO – INNEN – TAG
MUSIK setzt ein.
Hirari arbeitet am Computer.
HAUS DER FAMILIE WATANABE – INNEN – NACHT
Yukina und Hirari sitzen am Esstisch. Hirari stochert müde in seinem Essen rum. Sie beobachtet ihn aufmerksam, ohne, dass er es bemerkt.
SCHNELLZUGABTEIL – INNEN – TAG
Hirari döst zwischen anderen MENSCHEN im Zugabteil.
BÜRO – INNEN – TAG
Er druckt Rechnungen aus. Seine Schultern hängen, sein Gesichtsausdruck ist müde und lustlos.
HAUS DER FAMILIE WATANABE – INNEN – NACHT
Yukina erzählt Hirari etwas am Esstisch, merkt aber, dass er nicht zuhört. Sie hält inne und mustert ihn besorgt.
BÜRO – INNEN – TAG
Hirari steht vor dem Bürofenster und beobachtet die Dämmerung.
HAUS DER FAMILIE WATANABE – INNEN – NACHT
Yukina betritt das Haus. Sie trägt viele Einkaufstüten. Ihr fallen Hiraris Straßenschuhe auf.
YUKINA
(ruft)
Hirari?
Sie findet ihn im Schlafzimmer, wo er in Geschäftskleidung auf dem Bett schläft. Sie mustert ihn eine Weile, ehe sie leise das Zimmer verlässt und seinen Koffer für die Geschäftsreise packt.
HAUS DER FAMILIE WATANABE – INNEN – TAG
Früher Morgen. Hirari steht vor dem eingerahmten Bild von Yukina und sich. Er sieht es sehr lange an, bevor er sich abwendet und sich Yukina nähert, die auf dem Sofa eingeschlafen war.
HIRARI
Yukina.
Yukina, wach auf.
Sie blinzelt ihn müde an.
HIRARI (CONT’D)
(sanft)
Geh’ ins Bett. Das Sofa ist doch unbequem.
YUKINA
Du gehst?
HIRARI
(lächelt traurig)
Hm. Sonst verpasse ich den Zug.
Sie setzt sich verschlafen auf.
YUKINA
Pass auf dich auf. Und ruf mich an, wenn du da bist.
Er nickt und lässt sich von ihr umarmen. Danach verlässt er das Haus. Yukina tritt ans Fenster und sieht ihm hinterher.Ihre Brauen heben sich und sie öffnet den Mund, als sie sieht, dass Hirari sich ohne Koffer vom Haus entfernt.
STRASSE – AUSSEN – TAG
Hirari geht die Straße entlang.
WOHNZIMMER – INNEN – TAG
Yukina löst sich vom Fenster und sieht nachdenklich zu Boden, bis sie abrupt stehen bleibt und die Luft GERÄUSCHVOLL einzieht. Sie dreht den Kopf sofort zur Tür.
BAHNHOF – AUSSEN – TAG
Hirari erreicht den Bahnhof und schaut auf die Gleise.
LAUTSPRECHERDURCHSAGE
Es kommt zu Verzögerungen in Richtung Osaka.
Wir bitten Sie um Ihr Verständnis.
Hirari nähert sich den Bahngleisen. Im Hintergrund erreicht Yukina gerade hektisch den Bahnhof und erblickt ihn.
YUKINA
(beginnt zu weinen)
Hirari, stopp!
Ich flehe dich an, tu es nicht!
Hiraris bekommt große Augen bei Yukinas Stimme.
Sein Körper spannt sich an. Er steht immer noch mit dem Rücken zu ihr.
HIRARI
Geh’ nach Hause. Bitte.
YUKINA
Ich will dich nicht auch noch verlieren.
HIRARI
(überfordert)
Ich sagte, du sollst nach Hause gehen!
Sie wühlt verzweifelt in ihrer Handtasche.
YUKINA
Schau her! Es gibt ein Projekt,
das gerade erst begonnen hat.
Sie hält ihm das Ultraschallbild hin.
Er dreht langsam den Kopf über die Schulter zu Yukina. Im Hintergrund ist wieder das POLTERN des Zuges zu hören. Er fixiert das Foto eine ganze Weile. Er gräbt seine Hände in die Hose und dreht sich sehr langsam zurück zu den Gleisen.
Abblende
Nur noch das Geräusch des Zuges ist ganz nah zu hören, der gerade den Bahnsteig erreicht.
ENDE