Frohe Weihnachten!
In Capital City waren es exakt 21:46 Uhr am 24. Dezember, dem heiligen Abend. Aus einer der kleinen Wohnungen im obersten Stock des CrystalCloud-Buildings jedoch drangen Geräusche, die so gar nicht besinnlich und erst recht nicht heilig waren.
Motorengeheul. Quietschende Reifen. Panische Schreie. Polizeisirenen.
"Ey, voll geil, das is' ja genau wie im richtigen Leben!"
Trixie saß völlig gebannt vor Flynns Computer, die Nase höchstens zwei Zentimeter vom Bildschirm entfernt. In ihren Augen lag ein ungesundes Funkeln, auf ihrem Mund ein breites Grinsen. Sie schien es sich zum Ziel gemacht zu haben, so viele Verkehrsregeln, Autos und Knochen unschuldiger Bürger wie möglich zu brechen.
Dass Flynn ihr GTA V zu Weihnachten geschenkt hatte, hatte sich wirklich gelohnt. Trixie saß nun schon zwei Stunden an dem Spiel, fuhr systematisch alle Straßen der Spielewelt ab, um effizient so viel Chaos wie möglich anrichten zu können und hatte sichtlich Spaß dabei.
Flynn dagegen bereute ihre Entscheidung bereits und wagte gar nicht daran zu denken, wie sehr Trixie ausrasten würde, wenn sie zu der Folterszene kam.
Die gefürchtete Terroristin saß am Esstisch und stocherte in ihrem Kartoffelsalat herum, auf ihrem Gesicht lag eben jene unverwechselbare Mischung aus äußerster Genervtheit, Desinteresse und Langeweile, die sie so auszeichnete. Sie wartete nun schon seit anderthalb Stunden darauf, ihren Computer zurückzubekommen, ahnte jedoch, dass das noch eine ganze Weile dauern würde.
Gerade steuerte Trixie manisch kichernd einen weiteren Bürgersteig an, da piekste sie plötzlich etwas am Hinterkopf.
"Aua!", rief sie, mehr aus Prinzip als dass es tatsächlich wehgetan hätte. Empört über die Unterbrechung ihres zerstörerischen Tuns drehte sie sich halb um und fand hinter ihrem Rücken liegend einen kunstvoll gefalteten Papierflieger.
"Wer war das?!" Drohend ließ Trixie ihren Blick durch das Wohnzimmer schweifen. "Wer hat den geworfen?"
Ihr Blick blieb bei Drei hängen, die über ihren neuen Collegeblock gebeugt auf dem Sofa hockte. "Etwa DU?!"
Drei kritzelte eine neue Nachricht auf das nächste Blatt in ihrem Block, riss es ab und hielt es Trixie entgegen.
Oh, sorry, war das noch nicht offensichtlich genug? :D
"Ey, was soll das? Man wirft nich' einfach Leute mit Papierfliegern ab. Nur mit Kettensägen. Das is' lustig!"
Drei verdrehte genervt die Augen und schrieb etwas Neues auf das Blatt.
Falte ihn doch mal auseinander.
Widerwillig öffnete Trixie das Pausemenü des Spiels und faltete den Flieger auseinander. In der Mitte des zerknitterten Blattes war eine weitere Nachricht zu lesen.
Frohe Weihnachten, Trixie! ^-^
Hier kommt dein Geschenk.
"Hä?", fragte Trixie laut und sah auf. "Was denn für ein Gesche-"
Weiter kam sie nicht, denn die Kante eines großen Schuhkartons prallte gegen ihre Stirn und verfehlte ihr Auge nur knapp.
"Aua!", rief sie erneut, diesmal hatte es wirklich wehgetan. "Ey, kannst du mal aufhören, hier Sachen rumzuwerfe-BOAH, WIE GEIL! Sind das etwa die ultracoolen Lederstiefeletten aus der Werbung?!" Sofort war jeglicher Schmerz vergessen. Mit Feuereifer riss Trixie den Deckel des Kartons auf und hob ein Paar Stiefeletten aus glänzendem, geschmeidigem Leder heraus. Einige Sekunden lang hielt sie sie nur vor ihr Gesicht, sog genießerisch den Duft des frischen Leders ein und bewunderte die Lichtreflexionen auf seiner glatten Oberfläche. Dann blinzelte sie und schien damit aus einer Trance zu erwachen, denn urplötzlich riss sie ohne viel Federlesen das Preisschild von den Schuhen, sprang voller Vorfreude auf, kickte ihre alten Turnschuhe von den Füßen und schlüpfte in ihre neuen Stiefeletten.
"Altah, die sind sowas! Von! Cool!", jubilierte Trixie, während sie wie besessen auf der Stelle hüpfte und dann zum Probelaufen einmal quer durch das Zimmer stolzierte. Vor dem Esstisch hielt sie an und warf sich in Pose wie ein Model am Ende des Laufstegs.
Flynn, die improvisierte Jury, würdigte sie keines Blickes und starrte stur geradeaus, das tat Trixies Beschwingtheit jedoch keinen Abbruch.
"Sie sind perfekt!", schwärmte sie und drehte sich wieder zu Drei um. "Ey, vielen Dank! Ich steh auf solche Stiefeletten!"
Klar, es sind ja auch Schuhe. :'D, schrieb Drei und sah Trixie erwartungsvoll an, erntete jedoch nur einen verständnislosen Blick.
Na, es sind Schuhe... und auf Schuhen steht man... ach, vergiss es.
"Ach, apropos Vergessen!" Trixie hörte kurz auf, ihre neuen Schuhe zu bewundern. "Ich hätt' fast vergessen, dass ich noch'n Geschenk für dich hab'. Hier!"
Sie kramte ein zerknautschtes, in grellpinkes Geschenkpapier eingewickeltes Päckchen aus ihrer Rocktasche und hielt es Drei hin.
Drei runzelte die Stirn.
"Jaah, okay. Vielleicht hab' ich mich mal aus Versehen draufgesetzt. Oder zweimal. Funktioniert es dann überhaupt noch? Ach, lassen wir das, pack aus!"
Wenig enthusiastisch löste Drei die Tesafilmstreifen, die kreuz und quer über das Päckchen verteilt waren, und wickelte das Geschenk aus.
In den Händen hielt sie ein schwarzes, flaches Gerät, das mit seinem kleinen Bildschirm und der Tastatur aussah wie ein altmodisches Handy.
"Das ist so 'ne Art Sprechdings", erklärte Trixie sachkundig. "Da kannst du was eintippen und dann liest das Gerät es vor, mit voll der Roboterstimme und so. Du kannst sogar mehrere Stimmen einstellen. Ey, is' das nich' cool? Ich wollt' schon immer mit 'nem Droiden befreundet sein!"
Oh, wow, schrieb Drei beeindruckt unter die Kringel, die sie auf das nächste Blatt ihres Collegeblocks gemalt hatte. Dann legte sie den Stift zur Seite und betrachtete das Sprechdings in ihren Händen fasziniert, bevor sie den POWER-Knopf fand und es anschaltete. Ich probiere es gleich mal aus.
"Sag' was Lustiges!" Trixie wippte auf ihren Lederstiefeletten vor und zurück und starrte Drei und ihr Sprechdings gespannt an.
Drei starrte skeptisch zurück, dann jedoch zuckte sie mit den Schultern und ließ ihre Finger über die Tastatur fliegen.
"Test, Test, einszweidreivier", sagte eine roboterhafte Frauenstimme. "Rollt ein Fußball in die Ecke und fällt um. Ba-dum-tss."
Trixie brach auf der Stelle in hysterisches Gelächter aus und schlug sich auf die Schenkel. Auch Drei grinste unter ihrem Schal, das sah man daran, wie ihre Augen sich verengten.
"Nicht schlecht, Herr Specht", sagte die Roboterfrau. "Aber du musst zugeben, dass es eine entscheidende Schwäche hat."
Trixie wischte sich Lachtränen aus den Augenwinkeln. "Welche denn?"
"Na, ich kann es nicht werfen."
Einen Moment lang herrschte verblüffte Stille, dann prustete Trixie wieder los.
"Jaah, ein echter Brüller", knurrte Flynn vom Esstisch herüber. "Sag mal, Trixie, kannst du nicht einmal fünf Minuten am Stück still sein? Ich habe Kopfschmerzen, verdammt."
"Ach, du hast immer Kopfschmerzen, Schatz", flötete Trixie zurück. "Leg' dich doch mal etwas hin. Zum Beispiel auf meine Kettensäge!"
Drei stieß ihre magentahaarige Kollegin mit dem Ellbogen in die Seite.
"Hm? Was is'?"
Hattest du nicht noch etwas, was du ihr gebem wolltest?, schrieb Drei.
Trixie runzelte die Stirn und las sich die Nachricht noch einmal durch. "Was is' ein Gebem?", wollte sie dann wissen.
Diesmal brauchte Drei nichts zu sagen, ihr Gesichtsausdruck sagte sehr deutlich Hä?
"Na, da." Trixie klopfte mit ihrem glitzerpink lackierten Fingernagel auf die entsprechende Stelle in Dreis Nachricht. "Da steht gebem."
Da steht geben, Flachzange!, schrieb Drei genervt.
"Oooh nein, das is' aber sowas von ein m, noch mmiger geht's gar nich'!"
Drei schüttelte resigniert den Kopf. Wie auch immer. Du hattest doch noch ein Geschenk für Flynn, oder?
"Ey, stimmt ja. Wart' kurz." Trixie hüpfte summend aus dem Zimmer und kehrte nur einunddreißig Sekunden später wieder zurück, ein erstaunlich großes Paket mit erstaunlicher Leichtigkeit vor sich herschiebend.
"Flyhyyn, Liebling!", trällerte sie zum Esstisch hinüber, wo Flynn inzwischen mit ihrer Fonduegabel missmutig ein Stück Hähnchenfleisch malträtierte.
"Was?!" Flynn machte sich nicht einmal die Mühe, die Aggression in ihrer Stimme zu verbergen oder ihre Kollegin auf fehlplatzierte Kosenamen hinzuweisen.
"Ich habe ein Gescheeenk für diich!", verkündete Trixie.
Flynn gab ein Geräusch von sich, das sich wie ein Lachen angehört hätte, wenn es nur nicht so freudlos und verächtlich geklungen hätte.
"Du hast ein Geschenk für mich, ernsthaft? Bist du vielleicht der Meinung, mir etwas zu schulden? In dem Fall hast du wohl das Bedürfnis, Leute, die sich dauerhaft in deiner Nähe aufhalten, für diese Leistung zu belohnen, um die Ablehnung durch die restliche Gesellschaft damit zu kompensieren. Ich kenne einen guten Psychiater, der dir da helfen könnte, Ephraimsallee.
Oder schenkst du mir das etwa aus reiner Nächstenliebe? In dem Fall wärst du dann einfach nur eine arme bemitleidenswerte Idiotin."
Trixie legte die Stirn in Falten. "Also, ich hab' nur die Hälfte verstanden von dem, was du gesagt hast. Aber is' ja auch egal, komm jetzt gefälligst her und mach dein Geschenk auf! Ich will uuunbedingt deine Reaktion sehn!"
Flynn verdrehte demonstrativ die Augen, erhob sich betont langsam von ihrem Stuhl und schlenderte zu den beiden anderen hinüber.
"Los, mach's auf!" Trixie wippte schon wieder aufgeregt auf ihren neuen Stiefeletten.
Mit einem entnervten Seufzen ließ Flynn sich auf die Knie sinken und begann, das weihnachtlich gemusterte Geschenkpapier lustlos von dem Karton zu reißen. Fetzen von Sternen und Schneeflocken stoben durch das ganze Zimmer wie die Federn eines gerupften Huhns, bis Flynn den braunen Pappkarton schließlich völlig von Geschenkpapier befreit hatte.
"Was habt ihr mir denn da angeschleppt?", stöhnte Flynn. "Ein Auto vielleicht? Eine Villa? Einen Todesstern? Bitte sagt mir, dass es ein Todesstern ist."
"Besser!", antwortete Trixie ungerührt.
Derart ermutigt öffnete Flynn den Deckel- und erstarrte.
In dem Karton befand sich eine altmodische Holzkiste, die direkt aus einem Western zu stammen schien. In blutroter Farbe waren drei Buchstaben auf die Oberseite gemalt worden.
TNT.
"Frohe Weihnachten!", rief Trixie fröhlich.
"Frohe Weihnachten", sagte Dreis Sprechdings.
"Also...", begann Flynn. "Das..."
Ihr Gesichtsausdruck blieb völlig neutral, aber ihre Stimme zitterte leicht.
"Das ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe."
"Ausprobieren?", fragte Trixie hoffnungsvoll. Auch Drei legte den Kopf schief und sah Flynn bittend an.
Die Terroristin ließ ihre beiden Mitbewohnerinnen noch exakt sechs Sekunden lang zappeln und nutzte diese Zeit für einen theatralischen Seufzer.
"Na schön."
Drei ballte triumphierend die Hand zur Faust. Trixie sprang erst mindestens einen Meter in die Luft und begann dann, hyperaktiv um den Esstisch herumzuhüpfen.
"Yesss! Kommtschonkommtschonkommtschon! Unsere Partygäste warten nich'!"
Um Punkt 22 Uhr verließ das Trio schließlich die Wohnung, auf dem Weg zu ihrer ganz persönlichen Weihnachtsfeier.
Und so wurde es schließlich doch noch ein schönes Weihnachtsfest für alle.
Ausgenommen vielleicht die Partygäste.
Aber nun wollen wir nicht auf die Stadt blicken, stattdessen besinnen wir uns und blicken hoch zu den funkelnden Sternen, in eine hoffnungsvolle Zukunft. Und während wir den Geräuschen von läutenden Kirchenglocken und fernen Explosionen lauschen, werden wir innerlich still und zufrieden, heben unser Glas noch einmal und sagen uns:
"Frohe Weihnachten."