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Christmas Crush

[Secret Love]
von

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Es war der 22. Dezember und im Wohnheimblock C herrschte reges Treiben. Die Türen der meisten Zimmer standen offen und überall auf den Fluren lehnten Schüler an den Wänden und schwatzten, während andere versuchten, sich mit mehr oder weniger großen Taschen zwischen ihnen hindurch zu quetschen. Es war das reinste Durcheinander – doch über allem hing eine freudige Erwartung in der Luft: Morgen würden die Winterferien beginnen.

Wie die meisten anderen Schüler würde auch Takeda über Weihnachten und Neujahr nach Hause fahren. Da er jedoch nicht viel zu packen gehabt hatte, saß er längst abmarschbereit auf seinem Bett und ließ die Beine baumeln, während er seinen Mitbewohner dabei beobachtete, wie er zwischen seinem riesigen Rollkoffer und dem Wandschrank hin und her wirbelte.

„Willst du das wirklich alles mitnehmen?“, fragte er mehr aus purem Erstaunen denn aus Neugierde heraus.

„Nicht jeder legt sich in den Ferien auf die faule Haut, so wie du“, entgegnete Kimura in seinem üblichen überheblichen Tonfall, ohne sich auch nur umzudrehen, während er versuchte, einen seiner Seidenkimonos so vorsichtig wie möglich in den Koffer zu verfrachten.

Kimura wollte also während der Ferien Nô-Tanzen üben. Das hätte sich Takeda auch denken können. Auch wenn er sich ernsthaft fragte, ob Kimura nicht noch eine weitere Nô-Ausstattung zu Hause hatte. Schließlich war seine Familie stinkreich.

„Ich lege mich nicht auf die faule Haut“, gab Takeda schließlich leicht angesäuert zurück. „Es gibt Leute, die arbeiten müssen. Nicht jeder hat reiche Eltern, so wie du.“

Kimura warf Takeda einen finsteren Seitenblick zu. Es ärgerte ihn ganz offensichtlich, dass Takeda seinen eigenen Wortlaut gegen ihn verwendet hatte. Doch er verkniff sich den Kommentar.

Gerade als Takeda sich frage, ob er wirklich auf Kimura warten oder sich doch schon mal auf den Weg zum Bahnhof machen sollte, klopfte es an der offen stehenden Zimmertür. Überrascht hob Takeda den Kopf. Im Türrahmen stand Hirakawa. Vermutlich war er gerade dabei gewesen, in seiner Funktion als Wohnheimsprecher einen Rundgang zu machen. Seine dunklen Augen wanderten kurz zwischen den hektischen Packversuchen Kimuras und Takeda, der sich, die fertig gepackte Tasche zu Füßen, entspannt auf seinem Bett zurücklehnte, hin und her.

„Gehst du?“, fragte er nach einem raschen Blick auf die Wanduhr an Takeda gewandt.

„In ein paar Minuten“, gab dieser zurück und folgte Hirakawas Blick hinüber zu Kimura, der nun versuchte, den Reißverschluss des Koffers zu zukriegen und fluchte.

„Soll ich mich draufsetzen?“

„Bist du bescheuert?!“, fauchte Kimura zurück und Takeda konnte im Augenwinkel sehen, wie Hirakawa eine Augenbraue anhob. Rasch wandte er sich wieder ihm zu.

„Und du? Willst du wirklich hierbleiben?“, fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte.

Hirakawa würde über die Ferien die wenigen Schüler betreuen, die im Wohnheim blieben. Seine Mutter hatte eine Wohnung hier in Osaka, also würde er sie jederzeit besuchen können.

Und doch… Bei dem Gedanken, Hirakawa allein zurückzulassen, spürte Takeda im Herzen einen kleinen Stich. Es musste einsam für ihn sein – Takeda selbst würde einsam sein.

Seine Gedanken mussten sich auf seinem Gesicht abgezeichnet haben, denn etwas in Hirakawas Blick veränderte sich – wurde ernst, ernster als sonst. Und während er sprach, sah er Takeda direkt in die Augen: „Ich schreibe dir.“

Ohne, dass er sich bewusst dazu entschieden hatte, schloss sich Takedas Hand um sein Handy, das neben ihm auf der Bettdecke gelegen hatte. Er kannte diese Worte. Hirakawa hatte sie schon einmal zu ihm gesagt – damals, vor nun beinahe drei Jahren, als er aus Tokyo fortgezogen war. Jeden Tag hatte Takeda auf eine Nachricht von ihm gewartet – und jeden Tag war seine Hoffnung aufs Neue enttäuscht worden. Und doch hatte er niemals aufgehört zu warten. Wie ein Ertrinkender, der den Blick verzweifelt auf die Wasseroberfläche geheftet hält, obwohl er weiß, dass niemand ihn retten wird.

„Ich schreibe dir.“

Hirakawas Stimme riss Takeda aus seinen Gedanken. Ohne, dass er es bemerkt hatte, war Hirakawa zu ihm hinüber getreten und hatte sich neben ihn an die Bettkante gesetzt. Es war ein anderer Hirakawa als der aus Takedas Erinnerung – ein Hirakawa, der ihm sein Herz geöffnet hatte, der ihm fest in die Augen sehen und ein Versprechen geben konnte, das er halten würde.

„Ich schicke dir Fotos vom Weihnachtsmarkt in Roppongi“, sagte Takeda mit der zuversichtlichsten Stimme, die er sich abringen konnte - doch es gelang ihm nicht, sich ein Lächeln auf die Lippen zu zwingen.

„Schick mir lieber Fotos von dir“, gab Hirakawa in schelmischem Tonfall zurück und Takedas Herz tat einen Hüpfer.

„Ich muss gleich kotzen“, kam es prompt von der anderen Zimmerseite her.

Takeda wollte Kimura gerade entgegenschleudern, dass ihn das überhaupt nichts anging, als sein Blick auf den großen Rollkoffer fiel. Kimura hatte es offenbar endlich geschafft, den Reißverschluss zu schließen.

„Wenn wir uns beeilen, kriegen wir den Bus noch“, fuhr Kimura also unbeirrt fort und Takeda seufzte. Er war es schließlich nicht gewesen, der ihre Abreise so lange hinausgezögert hatte. Trotzdem hievte er sich vom Bett hoch und schob sein Handy in die Hosentasche seiner Jeans, bevor er sich die Reisetasche zu seinen Füßen über die Schulter schwang. Schließlich wollte er heute auch noch irgendwann mal in Tokyo ankommen.

Hirakawa war ebenfalls aufgestanden. Sie tauschten einen langen Blick und Takedas Herz wurde schwer.

‚Es sind doch nur zwei Wochen‘, sagte er sich und dieses Mal gelang es ihm zu lächeln.

„Schöne Ferien“, raunte Hirakawa ihm zu und seine Hand streifte noch einmal flüchtig Takedas Haar. Dann trennten sich ihre Wege.
 

***
 

Nirgendwo ist es so schön wie Zuhause. Takedas Meinung nach war dieses Sprichwort erstunken und erlogen. Oder doch zumindest eine schamlose Übertreibung.

Er hatte einen Aushilfsjob in einem kleinen Café nahe des Tokyo Towers gefunden, das über die Winterferien besonders gut besucht war und so jede helfende Hand gebrauchen konnte. Der Besitzer war ein schlecht rasierter Mittvierziger, der für Takedas Geschmack ein bisschen zu viel redete und sich ein bisschen zu wenig um das Café kümmerte - Herr Kanao. Seine Tochter, Mizuki Kanao, war ein oder zwei Jahre jünger als Takeda und half während ihrer Schulferien ebenfalls im Café aus. Allerdings unbezahlt, wie sie immer wieder gern betonte.

Gerade in diesem Augenblick betrat ein Pärchen das Café. Kaum hatte es sich an einen der kleinen Tische am Fenster gesetzt, drängte sich Mizuki auch schon an Takeda vorbei und knipste noch im Gehen ein strahlendes Lächeln an: „Willkommen im Nishi Machi. Darf ich Ihnen die Karte bringen?“

Als sie nur wenige Augenblicke später hinter die Theke zurückkehrte, war ihr Lächeln genauso schnell wieder verschwunden, wie es gekommen war.

„Kannst du mal eben die freien Tische abwischen?“, wies sie Takeda in geschäftlichem Tonfall an und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen.

Mizuki war unglaublich gut in ihrem Job. Sie hatte für jeden Kunden ein freundliches Lächeln auf den Lippen – selbst dann, wenn sie sich im Nachhinein bei Takeda mit einem genervten Augenrollen über den ein oder anderen beklagte. Und irgendwie gelang es ihr, trotz des regen Treibens im Café ständig den Überblick zu behalten. Sie brachte Karten, gab die Bestellungen an die Küche weiter, kassierte und schaffte es irgendwie auch noch nebenbei, Takeda zu sagen, was er zu tun hatte. Sie hatte deutlich mehr von einer Chefin als ihr Vater, der gerade mal wieder die Ellenbogen auf die Theke gestützt dastand, und mit einem seiner Stammgäste plauderte. Takeda hatte keine Zweifel daran, dass Mizuki nach ihrem Schulabschluss das Café übernehmen würde. Die Gäste mochten sie – und irgendwie mochte Takeda sie auch.

Er war gerade mit dem Abwischen der Tische fertig, als die Tür noch einmal aufschwang. Zwei Mädchen schlenderten kichernd zu einem der freien Tische nahe der Küche hinüber.

Takeda zog zwei Speisekarten aus dem Stapel hinter der Theke und wollte gerade zu ihnen hinübergehen, als er mitten in der Bewegung erstarrte. Die größere der beiden, die mit dem langen, schwarzen Haar, starrte auffällig zu ihm hinüber. Er kannte dieses Mädchen.

'Wieso hast du nicht angerufen?', hallte ihre vorwurfsvolle Stimme in Takedas Ohren wider. Ihr Name war Sadako.

In diesem Augenblick schob sich Mizuki mit einem Tablett voller gebrauchter Tassen und Teller an ihm vorbei.

„Versuchst du gerade mit der Wand zu verschmelzen?“, fragte sie in neckischem Tonfall und begann, das Geschirr in die Spülmaschine zu räumen.

Takeda wusste nicht, was er sagen sollte. Er konnte Mizuki seine Tische nicht auch noch aufhalsen, nur weil er nicht mit irgendeinem Mädchen reden wollte, das er vor eineinhalb Jahren mal flüchtig gekannt hatte...

„Ist das eine Ex von dir?“, bohrte Mizuki weiter nach und ihrer Stimme war deutlich anzuhören, dass sie innerlich lachte. „Du sollst auf der Mittelschule ja ein richtiger Draufgänger gewesen sein.“

„Woher weißt du das?“ Takeda war verblüfft.

„Jeder weiß das“, gab Mizuki ein wenig übertrieben echauffiert zurück und lachte dann.

„Das ist schon lange vorbei.“

Takedas Gedanken wanderten zu Hirakawa. Zu seinen dunklen Augen, seinem kühlen Lächeln. Seit Takeda mit ihm zusammen war, hatte er nicht einen Augenblick lang an irgendein Mädchen gedacht. Ob es ihm wohl genauso ging?

„Oh, wirklich?“, unterbrach Mizukis Stimme Takedas Gedanken. Für seinen Geschmack wirkte sie ein wenig ZU interessiert an diesem Thema.

„Ich muss jetzt bedienen“, sagte er schnell und wollte sich gerade auf den Weg zu den neuen Gästen machen, als Mizuki ihm die Speisekarten aus der Hand zog.

„Ich mach‘ das schon. Du kannst Tisch sieben übernehmen.“

Takeda blieb nichts anderes übrig, als ihr irritiert nach zu starren, als sie sich zurück in den vollen Gastraum drängte. Sie war wirklich etwas Besonderes. Takeda hatte während seiner Mittelschulzeit viele Mädchen kennengelernt – doch keines von ihnen war so gewesen wie sie.
 

***
 

Hirakawa schlenderte durch die leeren Flure des Wohnheims. Es war zu still. Die meisten Schüler waren bereits zu ihren Eltern und Verwandten nach Hause gefahren. Nur er war geblieben – wie ein Hausgeist, der auf die Rückkehr seiner Meister wartete.

An einem der großen Fenster, die einen weiten Blick über den Campus boten, blieb Hirakawa stehen. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen.

Ohne sich bewusst dazu entschieden zu haben, warf Hirakawa einen Blick auf das Display seines Handys. Er stellte sich vor, wie Takeda in diesem Augenblick genau dasselbe tat. Oder vielleicht dachte er auch überhaupt nicht an ihn.

Hirakawa schnitt den Gedanken ab. Er sollte mal wieder ein gutes Buch lesen. Die Bibliothek war während der Ferien zwar geschlossen, doch das hatte Hirakawa nicht überrascht. Im Gegenteil: Er hatte sich am letzten Schultag extra ein paar interessante Werke ausgeliehen. Am liebsten las er klassische westliche Literatur. Oder japanische Poesie. Er hatte vor einer ganzen Weile angefangen, selbst einige Haiku zu schreiben. Einfach so, nur für sich. Er würde sie niemals jemandem zeigen.

Noch einmal ließ er den Blick aus dem Fenster wandern, sog die Kälte des Betons und der kahlen Bäume in sich auf. Dann nahm er sein Handy zur Hand und schrieb:

Jouni gatsu ni

Kasumi de odoru

Matteiru yo

Dezembergrau

Ich tanze im Nebel

Und warte.

Als sich sein erster Arbeitstag endlich dem Ende neigte, war Takeda völlig erschöpft. Wer hätte gedacht, dass es so anstrengend sein würde, in einem Café auszuhelfen?

Die letzten Gäste waren gerade zur Tür hinaus und in der Küche konnte Takeda Herrn Kanao mit dem Koch witzeln hören. Er hatte sich bereits vor einer guten halben Stunde das erste Feierabendbier genehmigt und war seitdem noch weniger zu gebrauchen gewesen als ohnehin schon.

„Er ist so ein Nichtsnutz“, sagte Mizuki, die gerade mit den restlichen Speisekarten aus dem Gastraum zurückgekehrt war, plötzlich, als hätte sie Takedas Gedanken gelesen. „Seit meine Mutter tot ist, benimmt er sich so. Schrecklich.“

Takeda wusste nicht, was er dazu sagen sollte, doch Mizuki schien auch keine Antwort zu erwarten. Sie hatte sich bereits der Kasse zugewandt und begann nun, die Abrechnung zu machen.

„Tut mir Leid für dich, dass du Weihnachten arbeiten musst“, sagte sie beiläufig.

„Musst du doch auch“, gab Takeda zurück, doch Mizuki zuckte nur mit den Schultern.

„Ich bin das gewohnt. Das Café hat seit ich denken kann am 24. geöffnet. Also haben wir auch nie Weihnachten gefeiert.“

„Auch nicht, abends, wenn das Café geschlossen hat?“

„Nicht, dass ich mich erinnern würde. Ich habe auch noch nie Christmas Cake gegessen.“

„Aber ich dachte, ihr verkauft den?“

„Ja, eben.“

Sie legte ein Bündel Scheine zur Seite, wandte sich dann Takeda zu und grinste: „Du musst da übrigens nicht rumstehen. Du hast Feierabend!“

Das stimmte. Und Takeda hätte nichts lieber getan, als sich nach diesem anstrengenden Tag in sein weiches Bett fallenzulassen. Auf der anderen Seite wollte er Mizuki aber auch nicht mit ihrer Arbeit alleine lassen – er wollte SIE nicht alleine lassen. Was war das nur für ein Gefühl?

Mizuki musste sein Zögern bemerkt haben, denn ihr Grinsen wich einem ernsten Blick: „Du kannst wirklich gehen. Ich muss nachher noch mit Papa zur Bank, das kann noch ein bisschen dauern.“

Sie machte eine kurze Pause und lachte dann leicht: „Jetzt geh schon!“

Takeda zögerte noch einen Augenblick länger, nickte dann aber. Es hatte keinen Sinn zu protestieren, er würde Mizuki ohnehin nicht umstimmen können. Also legte er noch schnell seine Schürze ab und nahm seine Jacke von der Garderobe, bevor er sich in Richtung der Tür aufmachte.

„Also dann… Bis morgen!“, rief er Mizuki noch etwas unsicher über die Schulter zu und trat dann auf die hell erleuchtete Straße hinaus.

Kaum hatte er die Freundlichkeit und Wärme des Cafés hinter sich gelassen, fühlte sich Takeda plötzlich unbeschreiblich einsam. Die Menschen um ihn her hatten keine Gesichter, die anonyme Stadt schien ihn aufzufressen. Das hier war nicht sein Zuhause. In den letzten zwei Jahren war Tokyo ihm fremd geworden.

Mit vor Kälte klammen Fingern zog Takeda sein Handy aus der Hosentasche. Hirakawa hatte sich nicht bei ihm gemeldet. Aber sie hatten sich ja auch gestern erst gesehen. Er musste aufhören, so ungeduldig zu sein. Hirakawa würde ihm schreiben – er hatte es versprochen. Und bis dahin würde sich Takeda auf das Hier und Jetzt seiner Existenz konzentrieren.
 

***
 

Am 24. Dezember mussten Takeda und Mizuki besonders hart arbeiten. Das Café war den ganzen Tag über ausgebucht und Takeda musste sogar einige Gäste wieder nach Hause schicken, weil es keine freien Tische mehr gab.

Langsam dämmerte ihm auch, wieso Mizuki noch nie dazu gekommen war, ein Stück Christmas Cake zu probieren: Wenn die Geschäfte weiter so gut liefen, würde noch vor Ladenschluss kein einziger Krümel davon mehr übrig sein. Aber ein bisschen traurig war es schon...

Da hatte Takeda plötzlich eine Idee. Als er die nächste Bestellung aufnahm, schrieb er ein zusätzliches Stück Christmas Cake auf den Bon. Doch anstatt es zum Tisch zu bringen, schob er es unauffällig ganz hinten in den kleinen Kühlschrank, der unter der Theke stand. Er würde es später aus eigener Tasche bezahlen.

„Ich brauche hier jemanden zum Spülen!“, tönte es in diesem Augenblick aus der Küche und Takeda beeilte sich, die Bestellung an den Tisch zu bringen.

„Jemand muss meine Tische übernehmen“, rief er dann Mizuki und ihrem Vater zu, der gerade wieder einmal in ein Gespräch vertieft gewesen war und mit einem brummenden Laut antwortete.

„Mach dich nützlich“, zischte Mizuki ihm leise zu und drückte ihm Takedas Tablett in die Hand, ehe sie Takeda selbst ein strahlendes Lächeln schenkte und zu ihren Tischen zurück eilte. Es wirkte überhaupt nicht so, als sei sie gestresst – im Gegenteil: das volle Haus schien ihr die größte Freude zu bereiten. Takeda konnte nicht umhin, sie dafür zu bewundern.
 

***
 

Es war bereits nach Ladenschluss, als Takeda endlich mit dem Abwasch fertig war. Er seufzte erleichtert und trocknete sich gerade mit dem Geschirrhandtuch die Hände ab, als Mizuki in die Küche gestürmt kam.

„Wir haben heute einen neuen Umsatzrekord gemacht!“, rief sie und drehte sich vor Freude einmal um die eigene Achse. Dann wurde sie ernst. „Aber irgendwie stimmt die Kasse nicht. Es sieht so aus, als wenn 570 Yen fehlen. Ich habe zwei Mal nachgezählt.“

Takedas Herz setzte einen Schlag lang aus. Das Geld für den Kuchen. Das hatte er in dem ganzen Stress völlig vergessen.

„Warte kurz“, sagte er schnell, rannte hinüber zu seiner Jacke und zog sein Portemonnaie hervor. Dann zählte er 570 Yen daraus in Mizukis Hand.

Irritiert starrte sie darauf, doch Takeda hatte nicht vor, sie aufzuklären. Mit klopfendem Herzen winkte er sie aus der Küche zurück hinter die Theke. Er konnte es kaum erwarten, ihr überraschtes Gesicht zu sehen. Einen Augenblick lang kramte er in dem kleinen Kühlschrank unter der Theke herum, ehe er schließlich das Stück Christmas Cake hervorzog, das er vorhin zurückgestellt hatte.

„Für dich.“

Einen Augenblick lang war alles still. Takeda hielt den Atem an. Er konnte nichts von Mizukis Gesicht ablesen. Die Sekunden zogen sich in die Unendlichkeit; das Schweigen drückte auf Takedas Ohren.

Sie war doch nicht sauer auf ihn – oder?

Dann endlich, ganz langsam schüttelte Mizuki den Kopf: „Wow.“

Noch einen kurzen Moment länger stand sie einfach nur da und starrte den Kuchen an. Dann plötzlich, als hätte sie sich von einem eigentümlichen Zauber befreit, war sie wieder ganz die Alte.

„Komm, lass uns essen!“, sagte sie mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht, packte Takeda am Arm und zog ihn zu einem der nun verlassenen Tische hinüber.

„Der Kuchen ist für dich“, protestierte er, obwohl er wusste, dass es keinen Zweck hatte. Und er sollte Recht damit behalten.

Mizuki legte die Hände auf Takedas Schultern und drückte ihn auf einen der Stühle. Dann nahm sie ihm gegenüber Platz und schob ihm eine Kuchengabel in die Hand.

„Guten Appetit!“ Damit schlug sie ihre eigene Gabel in den Erdbeerkuchen. „Wow, der schmeckt köstlich. Los, probier!“

Takedas Herz schlug einen nervösen Rhythmus gegen seine Rippen, als er zögerlich die eigene Gabel nach dem Kuchen ausstreckte. Wenn sie beide jetzt jemand sehen könnte, würde er denken, sie seien ein Paar.

Doch noch im selben Augenblick kam Takeda der Gedanke absurd vor. Für Mizuki war offensichtlich nichts dabei, den Kuchen mit ihm zu teilen. Wie kam er bloß auf diesen Unsinn?

„Was denkst du?“

Mizukis Stimme rief Takeda in die Realität zurück. Erst jetzt bemerkte er, dass er sie die ganze Zeit über angestarrt hatte.

„Schmeckt super“, sagte er schnell und wandte sich wieder dem Kuchen zu. Dass Mizuki seine Gedanken erriet, war das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. Er wollte sie nicht anlügen – aber ehrlich antworten konnte er auch nicht. Wie sollte er auch, wenn er sich seine Gedanken nicht einmal selbst erklären konnte?

„Neujahr hat der Laden geschlossen. Was würdest du davon halten, wenn wir zusammen zum Tempel gehen?“

Die Frage traf Takeda unvorbereitet. An und für sich hatte er nichts dagegen, den Neujahrstag mit Mizuki zu verbringen. Hirakawa war 500 Kilometer entfernt in Osaka und es war besser als alleine zum Tempel zu gehen. Es war ja schließlich kein Date oder so.

„Okay“, sagte er also und Mizuki strahlte.

„Toll! Ich freu mich schon!“
 

***
 

Hirakawa legte den Gedichtband, in dem er bis eben gelesen hatte, zur Seite. Erst warf er einen Blick auf den Kalender, dann auf die Uhr. Es war der 26. Dezember, 15 Uhr 42 und Hirakawa entschied, dass er Takeda nun lange genug hatte warten lassen. Wahrscheinlich hatte er die halbe Nacht damit verbracht, auf das dunkle Display seines Handys zu starren. Er war so leicht zu durchschauen. Das mochte Hirakawa so an ihm – seine Geradlinigkeit. Wenn er in Takedas Nähe war, konnte er die Ketten des Alltags abstreifen und sich einfach fallenlassen. Das war das Besondere an ihrer Beziehung.

Völlig unterbewusst kräuselten sich Hirakawas Lippen zu einem leisen Lächeln. Es sah Takeda so ähnlich, sich nicht zu melden und auf seine Initiative zu warten - wie lange es auch dauern würde. Manchmal wollte er mit aller Macht mit dem Kopf durch die Wand und war auch sehr beharrlich dabei. Und dann wieder zog er sich zurück und überließ sich ganz Hirakawas Willen.

Es war das Spiel von Katz und Maus, das sie beide miteinander spielten. Und für Hirakawa war das der größte Reiz.

Atsume ga suki

Hikari ga kowai

Kuro no neko

Sie liebt die Wärme

Doch fürchtet das Licht

Die schwarze Katze.

Es war kein gutes Haiku – es hatte keinen Bezug zur Jahreszeit. Doch Hirakawa speicherte es trotzdem.

Dann wechselte er ins Nachrichtenfenster und schrieb eine SMS.
 

***
 

Takeda war gerade dabei, einige Tassen in die Spülmaschine hinter der Theke zu räumen. Tisch 12 war beinahe mit dem Essen fertig und an Tisch 10 hatte er gerade die Speisekarten gebracht – das Pärchen machte aber nicht den Eindruck, als hätte es sich schon entschieden.

In diesem Augenblick legte der Mann an Tisch 12 das Besteck ab und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, um anschließend einen Schluck aus seiner Kaffeetasse zu nehmen. Sofort machte sich Takeda auf den Weg zu ihm, um seinen Teller abzuräumen.

„Du bist ja richtig nützlich“, raunte Mizuki ihm neckisch zu, als er sich gerade an ihr vorbei schieben wollte. „Ganz im Gegensatz zu gewissen anderen Leuten“, fügte sie etwas lauter und an ihren Vater gewandt hinzu, der gerade an der Theke saß und sich eine Zigarette drehte und als Antwort nur ein leises Brummen von sich gab.

Tatsächlich hatte Takeda sich gut eingelebt. Er wusste inzwischen, was er zu tun hatte, auch ohne, dass Mizuki es ihm jedes Mal sagen musste und im Vergleich zum Ansturm vom Vortag, kam ihm der Betrieb heute regelrecht entspannend vor. Mittlerweile fühlte sich Takeda in dem kleinen Café richtig wohl – was sicher auch nicht zuletzt Mizukis Verdienst war. Sie war immer so fröhlich und aufgeweckt – in ihrer Nähe hatte Takeda gar keine Zeit, sich über irgendetwas Sorgen zu machen.

Auf einmal fragte er sich, wie es wohl sein würde, mit einem Mädchen wie ihr zusammen zu sein. Einfacher jedenfalls, da war er sich sicher.

'Was denke ich da eigentlich?'

Takeda schüttelte energisch den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben, doch er konnte sein Herz noch immer heftig gegen seine Rippen schlagen spüren. Vorsichtig warf er Mizuki einen Seitenblick zu. Sie stand gerade an einem ihrer Tische und nahm eine Bestellung auf. Sie lächelte. Was war nur so besonders an diesem Lächeln?

Plötzlich spürte Takeda sein Handy in der Hosentasche seiner Jeans vibrieren und sein Herzschlag beschleunigte sich erneut. Das war doch nicht etwa...

Rasch blickte er sich um. Nur etwa die Hälfte der Tische waren besetzt – es gab also nicht viel zu tun. Sicher würde es nicht schaden, einen kurzen Blick auf sein Handy zu werfen. Mit vor Nervosität zittrigen Händen zog er es aus der Tasche und aktivierte das Display.

Ich komme dich Neujahr besuchen. Ryo

Takeda starrte auf die Zeilen. Hirakawa wollte ihn besuchen. Er wollte extra nach Tokyo kommen, um ihn zu sehen. Und er hatte mit seinem Vornamen unterschrieben. Ryo... Alleine diesen Namen zu denken, löste ein merkwürdiges Gefühl in Takedas Brust aus. Früher hatten sie sich immer beim Vornamen genannt. Aber seit Hirakawa nach Osaka gezogen war, hatte immer irgendetwas zwischen ihnen gestanden – etwas Unsichtbares, nicht Greifbares. Eine Grenze, die keiner von ihnen überschreiten konnte.

Wie in Trance stricht Takeda mit dem Zeigefinger über den Namen auf dem Display. Er wollte Hirakawa sehen. Er wollte nichts mehr als das.

Ganz in der Nähe hörte er Mizuki lachen. Wahrscheinlich scherzte sie gerade mit einem der Stammgäste. Da durchfuhr es Takeda wie ein Blitz. Er hatte ihr versprochen, Neujahr mit ihr zum Tempel zu gehen.

Langsam hob er den Kopf und starrte in ihre Richtung. Er würde ihr absagen müssen. Doch er brachte es nicht übers Herz, dieses strahlende Lachen von ihrem Gesicht zu wischen. Irgendwann würde er es ihr sagen müssen – aber nicht jetzt.

Auch am nächsten und übernächsten Tag gelang es Takeda nicht, mit Mizuki zu sprechen. Nicht, dass er keine Gelegenheit dazu gehabt hätte – aber jedes Mal, wenn er sich vorgenommen hatte, ihre Neujahrsverabredung abzusagen, brachte er die Worte einfach nicht über die Lippen. Es lag an der Art, wie Mizuki ihn ansah – und wie sie lächelte. Er konnte es einfach nicht über sich bringen, es ihr zu sagen.

Und so verstrichen die Tage. Es war bereits der 30. Dezember, als Takeda allmählich begann sich zu fragen, ob es nicht vielleicht eher so war, dass er Mizuki schlicht nicht absagen wollte. Was erhoffte er sich davon, sie hinzuhalten? Je näher der Neujahrstag rückte, desto unangenehmer würde es für Mizuki sein, wenn er ihr absagte.

'Du bist so ein Arsch', fuhr es Takeda durch den Kopf, während er gerade in der Küche mit dem Abwasch aushalf. Er spürte das Gewicht seines Handys in seiner hinteren Hosentasche. Heute würde er es ihr sagen, heute nach der Arbeit. Er musste es einfach tun.

Und so ließ sich Takeda heute mit dem Abwasch besonders viel Zeit. So lange, bis Mizuki wie jeden Abend mit der Kasse in die Küche gestürmt kam und die Ergebnisse des Tages verkündete.

„Der Umsatz heute war nicht schlecht. Könnte aber besser sein“, sagte sie, während sie einige Münzen in ein großes, schwarzes Portemonnaie klimpern ließ. Dann erst fiel ihr Blick auf Takeda. „Was machst du denn da mit dem Teller? Meinst du nicht, der ist jetzt sauber genug?“

Überrascht wandte Takeda den Kopf. Er hatte überhaupt nicht bemerkt, dass er die ganze Zeit über mit dem Schwamm über denselben Teller geschrubbt hatte.

„Wenn du so weitermachst, bist du ja morgen noch nicht fertig. Was ist denn mit dir los?“, neckte Mizuki ihn und stieß ihm spielerisch den Ellenbogen in die Seite. Die unerwartete Berührung ließ Takeda zusammenzucken und beinahe hätte er den Teller zurück ins Spülwasser fallenlassen. Mizukis Gegenward machte ihn merkwürdig nervös.

„Ich helfe dir gleich damit. Ich drücke nur schnell Papa die Kasse in die Hand. Dann kann er das Geld schon mal einzahlen. Das wird er jawohl hinkriegen.“

Sie warf Herrn Kanao, der mit seinem Feierabendbier in der Hand im Türrahmen lehnte, einen zweifelnden Blick zu, reichte ihm dann aber das Portemonnaie.

„Sieh zu, dass du‘s auf dem Weg nicht versäufst“, schimpfte sie noch ein wenig übertrieben, ehe sie sich die Ärmel hochkrempelte und Takeda den Teller aus der Hand nahm. „Du trocknest am besten ab. Deine Finger sind schon ganz schrumpelig.“

Sie hatte Recht. Takedas Augen verharrten einen Augenblick lang auf seinen Händen, bevor er sich ein trockenes Handtuch schnappte und sich zurück an die Arbeit machte.

Mit Mizukis Hilfe war der Abwasch in Nullkommanichts erledigt und schon kurz darauf verließen die beiden Seite an Seite das Café.

Während Mizuki noch die Tür hinter ihnen abschloss, ließ Takeda den Blick zum dunklen Himmel hinauf wandern. Es war so kalt, dass ihm der Atem gefror – und es hatte angefangen zu schneien. Es waren nicht mehr als ein paar kleine Flocken, die sofort wieder verschwanden, sobald sie den Boden berührten – doch für Takeda waren sie etwas ganz Besonderes. Er streckte die Hand aus, um einige der Flocken aufzufangen. Sobald sie mit seiner warmen Haut in Berührung kamen, zerschmolzen sie zu feinen Wassertropfen.

Mizuki musste den Schnee ebenfalls bemerkt haben, denn sie rannte unter dem Vordach des Cafés hervor, breitete die Arme aus und drehte sich zweimal um die eigene Achse, das Gesicht gen Himmel gewandt.

„Wie wunderschön!“, seufzte sie. Einen Augenblick lang trafen sich ihre Blicke. Dann trat Mizuki ganz langsam auf Takeda zu, Schritt für Schritt, immer weiter, bis sie ganz nahe beieinander standen. Ihre hellen Augen fixierten Takeda mit festem Blick. Dann sagte sie: „Ich habe mich in dich verliebt.“
 

Hirakawa erstarrte. Er hatte sich von Takedas Mutter die Adresse des Cafés geben lassen, um Takeda nach der Arbeit abzuholen. Nun aber zog er sich um die nächste Straßenecke zurück, lehnte den Rücken gegen die nahe Hauswand. In ihm war alles taub - doch dieses Gefühl rührte nicht von der klirrenden Kälte oder dem Schnee. Es breitete sich ganz langsam von innen heraus in seiner Brust aus, durchfuhr ihn bis in die Fingerspitzen.

Takeda und dieses Mädchen...

Hirakawa hatte sich nie gefragt, wie Takeda dieses eine Jahr, in dem sie voneinander getrennt gewesen waren, verbracht hatte. Ob er... eine Freundin gehabt hatte.

Es lag doch auf der Hand. Takeda war immer beliebt bei den Mädchen gewesen, als sie noch zusammen in Tokyo zur Mittelschule gegangen waren. Nur hatte er sich nie recht dafür interessiert. Genauso wenig wie Hirakawa selbst. Sie waren immer zusammen gewesen; in ihrer kleinen Welt hatte es nur sie beide gegeben – niemanden sonst.

Aber dann hatte Hirakawa Takeda verlassen, ihn zurückgelassen. Allein.

Das taube Gefühl in Hirakawas Brust verwandelte sich in einen stechenden Schmerz.

Ganz langsam ballten sich seine Hände zu Fäusten. Seine Fingernägel gruben sich in seine Handflächen, doch er spürte es kaum. Dann stieß er sich von der Hauswand ab und ging mit zielstrebigen Schritten in die entgegengesetzte Richtung davon.
 

Ein Stein sank in Takedas Magen. Mizukis Worte hallten noch immer in seinen Ohren nach. Einen Augenblick lang wusste er nicht, was er sagen sollte, konnte er nichts weiter tun, als in diese hellen, ehrlichen Augen zu starren. Er hatte es sich nicht eingebildet – sie hatte sich tatsächlich in ihn verliebt. Und wenn Takeda ehrlich zu sich selber war, dann empfand er etwas Ähnliches für sie. Und doch konnte er ihr nicht antworten, war sein Herz nicht erfüllt von Glück, sondern zerrissen von widersprüchlichen Gefühlen. Hirakawa... Er konnte den Gedanken an seine dunklen Augen und das heimliche Lächeln, das so oft seine Lippen kräuselte, einfach nicht abschütteln.

Plötzlich veränderte sich etwas in Mizukis Blick. Ganz langsam trat sie einen Schritt zurück und sagte mit ernster Stimme: „Du hast eine Freundin, hab ich Recht? Deshalb hast du neulich gesagt, dass du kein Draufgänger mehr bist.“

Takeda erwiderte ihren Blick genauso fest, auch wenn der Drang, den Kopf zu senken beinahe unwiderstehlich war. Er hatte das Gefühl, es ihr schuldig zu sein.

„Einen Freund“, korrigierte er ehrlich und er konnte hören, wie Mizukis Lungen alle Luft entwich. „Es tut mir Leid.“

Nie zuvor hatte er diese Worte so ernst gemeint wie in diesem Augenblick.

Ganz am Rande nahm er wahr, wie das Handy in seiner Hosentasche vibrierte.

„Ach so ist das“, gab Mizuki leise zurück. Sie lächelte - doch Takeda konnte Tränen in ihren Augenwinkeln glitzern sehen.

„Tut mir Leid“, sagte sie und wandte sich ab, um es zu verbergen.

Am liebsten hätte Takeda sie in den Arm genommen, um sie zu trösten – doch damit hätte er ihr nur noch mehr wehgetan. Und so konnte er nichts weiter tun, als auf ihren Rücken zu starren, während sie das Gesicht in den Händen verborgen hielt.

„Wir arbeiten zusammen. Also lass uns einfach weiter Freunde sein, okay?“, sagte sie schließlich und ihre Stimme klang dabei unerwartet fest.

Takeda nickte – und obwohl sie ihn nicht sehen konnte, hatte er das Gefühl, dass sie ihn verstanden hatte. Als sie sich nun zu ihm umwandte, waren ihre Tränen getrocknet und ihre Mine wirkte ruhig und gefasst. Es gelang ihr nicht zu lächeln, doch ihre Stimme klang warm und freundlich, als sie sich von ihm verabschiedete: „Also dann, wir sehen uns morgen.“

Und damit machte sie sich auf den Weg die Straße hinab. Takeda sah ihr eine Weile nach, noch immer ein flaues Gefühl in er Magengegend, bis er sich plötzlich wieder daran erinnerte, dass er vorhin eine SMS bekommen hatte. Rasch zog er das Handy aus seiner Hosentasche.

Dezembergrau

Ich tanze im Nebel

Und warte.

Die Nachricht war von Hirakawa. Takeda hatte nicht viel Ahnung von Poesie, aber das war eindeutig ein Haiku.

Was sollte das bedeuten?

Als Takeda endlich nach Hause kam, war er völlig erschöpft. Immer wieder sah er Mizukis trauriges Gesicht vor sich – und auch die seltsame SMS von Hirakawa spukte ihm noch immer im Kopf herum. Er fühlte sich, als wäre jeder Muskel in seinem Körper verspannt.

„Bin wieder zu Hause…“

Sobald Takeda sich im Flur die Turnschuhe von den Füßen gestreift hatte, schlurfte er mit hängenden Schultern in die Küche hinüber, wo seine Mutter gerade eifrig dabei war, das Abendessen vorzubereiten.

„Es gibt Shabu Shabu, Schatz!“, rief sie auf ihre übliche, ein wenig zu schrille Art und Weise, sobald sie Takedas Schritte hinter sich wahrnahm. Erst dann wandte sie sich zu ihm um und runzelte die Stirn. „Wo hast du denn Ryo gelassen?“

Völlig perplex starrte Takeda sie an: „Wieso?“

„Er hat vorhin angerufen und gesagt, dass er dich von der Arbeit abholen will“, gab seine Mutter mindestens genauso erstaunt zurück.

Takedas Herzschlag beschleunigte sich. Hirakawa hatte ihn abholen wollen? Heute schon?

In Takedas Kopf drehte sich alles. Es war, als wäre er mit einem Mal in eine Traumwelt abgeglitten. Hirakawa konnte ihn unmöglich zusammen mit Mizuki gesehen haben – so viel Pech konnte ein Mensch alleine doch gar nicht haben.

„Ich rufe ihn an“, sagte Takeda rasch und rannte zum Telefon im Wohnzimmer hinüber. Er musste es herausfinden – und zwar sofort. Der Fernseher im Wohnzimmer war eingeschaltet, doch Takeda würdigte dem Nachrichtensprecher, der gerade für morgen und übermorgen weiteren Schnee ankündigte, keines Blickes. Mit hämmerndem Herzen riss er das schnurlose Telefon von der Station und wählte Hirakawas Handynummer.

'Bitte, geh ran.'

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis es endlich in der Leitung klickte. Takeda wollte schon erleichtert aufatmen – doch es war nur die Mailbox. Er hatte sich nichts zurechtgelegt, was er sagen konnte, doch er sprach trotzdem auf das Band: „Ähm, hier ist Takeda. Ruf mich zurück, wenn du das hier hörst, okay?“

Dann legte er auf.

Im Laufe des Abends versuchte er weitere unzählige Male Hirakawa auf dem Handy zu erreichen – ohne Erfolg. Entweder konnte oder wollte Hirakawa nicht mit ihm sprechen. Vermutlich letzteres. Und Takeda hatte keine Ahnung, wo er in Tokyo untergekommen sein konnte. Seine alte Wohnung war längst gekündigt und von anderen guten Freunden oder Verwandten wusste Takeda nichts. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als es weiter auf Hirakawas Handy zu versuchen.

Als schließlich die Nacht hereinbrach, starrte Takeda noch immer auf das Display seines Handys. Jede Sekunde, jeden Augenblick hoffte er, es würde sich aufhellen und eine Nachricht von Hirakawa verkünden. Doch nichts geschah. Es war, als hätte Hirakawa ihn aus seinem Leben verbannt – gestrichen wie einen Fehler, den man nicht wiederholen wollte.

Bei diesem Gedanken schloss sich eine eiserne Faust um Takedas Herz, als wollte sie es erdrücken. Er war allein. Die Einsamkeit hüllte ihn ein und zog ihn mit sich hinab in einen bodenlosen Abgrund. Er war allein.
 

***
 

Hirakawa starrte auf sein Handy. Zwölf verpasste Anrufe. Der letzte gestern Abend um 23 Uhr 37. Danach nichts mehr. Vermutlich war Takeda gerade auf der Arbeit. Vielleicht hatte er aufgegeben.

Ganz langsam und vorsichtig, als könnte er es zerbrechen, wischte Hirakawa über den Touchscreen seines Handys und rief die Mailbox ab.

„Ähm, hier ist Takeda. Ruf mich zurück, wenn du das hier hörst, okay?“

„Wo bist du gerade? Ich muss mit dir reden.“

„Hirakawa, bitte geh ran!“

Langsam ließ Hirakawa das Handy sinken und den Blick aus dem schmalen Fenster der Dachkammer schweifen. In der Ferne konnte er die Spitze des kleinen Tempels sehen, den Takeda und er jedes Jahr zusammen besucht hatten, als sie noch Kinder gewesen waren. Der Anblick weckte Erinnerungen. Erinnerungen an eine Zeit, in der noch alles einfach war.

Hirakawas Fingerspitzen berührten die Fensterscheibe - dort, wo die Spitze der Pagode hinter den Bäumen hervorblitzte.

In ihm war alles still.
 

***
 

Scherben.

Die Tasse war Takedas Hand entglitten und einmal vom Boden abgeprallt, als wäre sie auf wundersame Weise heil geblieben, dann aber doch in tausend Teile zersprungen.

Sofort ließ sich Takeda auf die Knie sinken, um die Scherben hinter der Theke aufzulesen. Zum Glück war die Tasse leer gewesen.

„Ist alles okay bei dir?“

Mizukis besorgte Stimme in seinem Rücken ließ Takeda zusammenfahren. Sofort schlug sein Herz einen schnelleren Takt an. Sie mochte ihn – das hatte sie ihm gestern Abend gestanden. Er musste sich zusammenreißen – zumindest ihr gegenüber.

Doch schon war Mizuki um ihn herum getreten und ging ihm gegenüber in die Hocke, um ihm mit den Scherben zu helfen. Ihr Gesicht war so nah – viel zu nah.

„Du siehst aus, als hättest du die ganze Nacht nicht geschlafen“, fuhr sie fort, da er nicht antwortete und begann die restlichen Scherben mit dem Handfeger aufzulesen, den sie mitgebracht hatte.

Takeda hielt mitten in der Bewegung inne. Tränen begannen sich in seinen Augenwinkeln zu sammeln. Er konnte sie nicht zurückhalten. Es war ihre Schuld – weil er sich in ihrer Nähe sicher fühlte.

Ohne darüber nachzudenken lehnte er den Kopf gegen ihre nur wenige Zentimeter von ihm entfernte Schulter. Er konnte spüren, wie sich ihr Körper unter der Berührung versteifte.

„Takeda“, begann sie hilflos. In ihrer Stimme schwangen Überraschung und Widerwille.

Es war nicht fair von ihm, sich bei ihr auszuweinen, Takeda wusste das. Und doch konnte er sich einfach nicht zurückhalten. Es war so angenehm, so leicht.

„Ich glaube, er hat uns gestern gesehen“, brachte er schließlich leise hervor und löste sich von Mizuki. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen.

„Wer?“, fragte sie zaghaft, als wollte sie ihn nicht verschrecken. „Dein Freund?“

Takeda nickte leicht. Die Scherben die er noch immer hielt, schnitten in seine Handflächen, doch er spürte es kaum.

„Gib das her!“, schimpfte Mizuki plötzlich resolut und warf die Scherben zu den anderen auf ihre Müllschaufel. Dann stand sie auf und entleerte sie in den Mülleimer unter der Theke.

Einen Augenblick lang schwiegen sie beide. Dann fragte Mizuki, Takeda noch immer den Rücken zugewandt: „Liebst du ihn?“

„Ja“, gab Takeda so leise zurück, dass er das Wort selbst kaum hören konnte. Und doch schien es bis zu Mizuki durchgedrungen zu sein, denn sie lachte leicht.

„Das war schnell.“

Sie hatte Recht. Takeda hatte nicht eine Sekunde über seine Antwort nachdenken müssen – obwohl er nicht wusste, ob er sich je wieder mit Hirakawa versöhnen würde. Obwohl er Mizuki mochte und sie nicht verletzen wollte. Bei allen widersprüchlichen Gefühlen, die in den letzten Tagen von Takedas Herz Besitz ergriffen hatten – an dieser einen Sache gab es keinen Zweifel: Er liebte Hirakawa. Ein Leben ohne ihn konnte er sich nicht vorstellen. Er konnte sich nicht vorstellen, ihn zu verlieren. Seinen kühlen Blick nie wieder auf der Haut zu spüren, das Glänzen in seinen Augen zu sehen. Sein leises Lächeln... Sich nie wieder mit ihm zu streiten, mit ihm zu lachen, ihn zu lieben und ihn zu hassen.

Ganz langsam stand Takeda vom Boden auf und zog sein Handy aus seiner Hosentasche. Noch einmal wählte er Hirakawas Nummer, wartete das verzweifelte Klingeln ab. Dann endlich meldete sich die Mailbox.

Takeda holte tief Luft. Dann sagte er: „Ich liebe dich, du Idiot!“
 

***
 

Das Herz Schlug Takeda bis zum Hals. Die Pagode des kleinen Tempels seiner Kindheit ragte über ihm auf. Er war allein, umringt von Fremden, die mit fröhlichen Gesichtern auf dem Weg zum ersten Tempelbesuch im neuen Jahr waren. Es war der erste Januar.

Mit zum Zerreißen gespannten Nerven sah Takeda suchend nach links und rechts. Er musste hier sein. Er musste einfach. Takeda konnte spüren, dass sonst irgendetwas zwischen ihnen zerbrechen würde – etwas, das sich niemals reparieren ließe.

Noch einmal warf er einen Blick auf sein Handy – doch kein verpasster Anruf und keine Nachricht verkündete, dass Hirakawa versucht haben könnte, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Eine eiserne Faust klammerte sich um Takedas Herz und nahm ihm den Atem. Vielleicht war es bereits zu spät.

Ganz langsam hob Takeda den Kopf und blickte zu den Stufen empor, die zum Tempel führten. Wie oft war er sie an Hirakawas Seite hinauf und wieder hinab gestiegen? Wie oft hatten sie hier gemeinsam das neue Jahr begrüßt, für die Erfüllung ihrer Wünsche gebetet und zusammen gelacht? Beinahe war es Takeda, als würde er Hirakawa noch immer bei dem Brunnen am Fuße der Treppe stehen und auf ihn warten sehen.

Takeda blinzelte. Es war keine Einbildung. Dort, an den Pfosten des Brunnendachs gelehnt, stand er, die Hände in die Taschen seines schwarzen Schurwollmantels geschoben, und starrte zu ihm hinüber: Hirakawa.

Einen Augenblick lang war Takeda wie erstarrt, unfähig sich zu zu bewegen. Dann, ganz langsam, trat er auf Hirakawa zu. Vorsichtig, als wäre er ein Geist, der sich genauso schnell wieder in Luft auflösen konnte, wie sie erschienen war. Er konnte spüren, wie sein Herz hart gegen seine Rippen schlug, sein Kopf war völlig taub. Er konnte einfach nicht begreifen, was er sah - auch dann nicht, als er endlich stehen blieb, nur eine Armlänge von Hirakawa entfernt.

„Ich wusste, dass du kommst.“

Als Hirakawas leise Stimme zu Takeda hinüber wehte, durchfuhr ihn ein kalter Schauder. Er war es wirklich – er war es wirklich.

Takeda konnte spüren, wie sich Tränen in seinen Augenwinkeln sammelten. Tränen der Erleichterung, der Freude, der Reue. Gefühle, die Takeda unmöglich in Worte fassen konnte. Er tat noch einen weiteren unsicheren Schritt auf Hirakawa zu – dann fiel er ihm um den Hals, drückte sich an seine Brust und weinte, weinte all die in seiner Brust gefangenen Gefühle in die Welt hinaus. Und Hirakawa hielt ihn fest – wie ein Anker, der ihn davor bewahrte, davon zu treiben.

Kein Wort entrang sich Hirakawas Lippen. Es gab keine Fragen, keine Anschuldigungen. Da war nichts als dieses tiefe Einverständnis, das Takeda einhüllte, bis seine Tränen schließlich versiegten.

Erst dann erhob Hirakawa erneut die Stimme. Die Augen über Takedas Kopf hinweg auf ferne Straßenschlucht geheftet, sagte er:

Nenshiaisatsu

sabishii watashi ha

iro ni naru



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