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Selbstmord ist keine Lösung......oder?

von

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Wortgefechte

Man konnte es Carina vielleicht nicht ansehen, aber noch während sie in einer fließenden Bewegung ihre Death Scythe zog und sie William anschließend an den Hals hielt, pochte ihr das Herz so schnell, dass sie den Puls in ihren Schläfen hämmern spürte. Dennoch meinte sie jedes einzelne Wort ernst, dass sie zu ihrem ehemaligen Vorgesetzten gesagt hatte. Sollte er auch nur die leiseste Intention zeigen sich ihrer Tochter weiter zu nähern, dann würde sie den Großteil seines Blutes in diesem Raum verteilen!
 

William traute seinen Augen nicht. War er jetzt schon dermaßen überarbeitet, dass er anfing zu halluzinieren? Er blinzelte zweimal, aber der Anblick direkt vor seiner Nase änderte sich nicht. Vor ihm stand noch immer die junge Schnitterin, die Grell ausgebildet hatte, und hielt ihm ihre Death Scythe unters Kinn. Fahrig nahm der Aufsichtsbeamte ihre blutende Lippe und die Platzwunde an ihrer Stirn wahr, sowie die kaputte und blutdurchtränkte Bluse, die sie am Leib trug. Eindeutige Indizien, die auf einen kürzlich stattgefundenen Kampf hindeuteten. Doch das war gerade wirklich seine geringste Sorge.
 

„Will-“, ertönte hinter ihm Grells Stimme, als er ebenfalls im Türrahmen auftauchte. Sobald der Rothaarige jedoch seinen Schützling entdeckte, brach er mitten im Satz ab. Nicht etwa aus Schock, wie William im allerersten Moment dachte, denn sein ehemaliger Mitprüfling belehrte ihn diesbezüglich sofort eines Besseren. „Carina, wie siehst du denn aus?“, fragte er fassungslos und diese Aussage schockierte William fast noch mehr, als das überraschende Auftauchen der totgeglaubten Schnitterin. Denn es implizierte… es hieß… Grell hatte ihn…
 

„Was hast du mit ihr gemacht?“, fauchte Grell plötzlich zu einer anderen Person, die scheinbar außerhalb von Williams Sichtfeld stand. Am liebsten hätte er den Kopf gedreht, doch er wollte nicht riskieren, dass die junge Frau dies womöglich falsch verstand. Man konnte vieles über ihn sagen, aber er hing an seinem Kopf!
 

„Das, was nötig war“, erklang eine weitere tiefe Stimme. Eindeutig männlicher Natur, aber ihm selbst vollkommen unbekannt. „Hatte ich euch nicht gesagt, ihr sollt auf meine Tochter aufpassen?“ Das war der letzte Satz, den William hörte, denn gleich darauf traf ihn etwas hart am Hinterkopf. Schmerz explodierte an besagter Stelle und mit einem erstickten Aufstöhnen sackte sein Körper nach vorne weg, während sich sein Bewusstsein in eine nichtssagende Schwärze flüchtete.
 

Carina konnte gerade noch rechtzeitig ihre Klinge von Williams Kehle wegziehen, nachdem der Undertaker ihm mit der Seite seiner Todessense, an dem das beeindruckende Skelett hing, einen heftigen Schlag gegen den Kopf versetzt hatte. Der Beamte war bewusstlos, bevor er auf dem Boden aufschlug und jetzt entfuhr Grell ein entsetzter Schrei. Er kniete sich sogleich neben den Mann, für den sein Herz schlug, und umfasste vorsichtig seinen nun blutenden Kopf. Carina ergriff sogleich ein schlechtes Gewissen, aber sie wusste, dass Cedric die einzig mögliche Wahl getroffen hatte. Im Gegensatz zu Ronald hätte William sicherlich nicht so einfach mit sich reden lassen. Dazu mussten sie ihn schon zwingen.
 

„Wird das so etwas wie ein Running Gag bei euch?“, fragte Ronald in diesem Moment und schaute mit halb geschockter, halb sarkastischer Miene auf seinen Chef hinab. „Dass ihr jeden zuerst einmal niederknüppelt, der hinter euer kleines Geheimnis kommt?“ „Du weißt ganz genau, dass es mir bei dir auch schon nicht gefallen hat“, verteidigte Carina sich und erhob sich langsam. „Und bei William hatten wir ja nun wirklich keine andere Wahl.“ „Stimmt“, pflichtete Cedric ihr in diesem Moment bei und schaute Ronald ernst an. „Und vergiss nicht, dass wir damit auch euch beiden den Arsch gerettet haben. Er hätte wohl kaum über eure Regelverstöße hinweggesehen.“ „Auch wieder wahr“, seufzte Ronald und kratzte sich leicht nervös am Hinterkopf. „Nur was machen wir jetzt mit ihm?“
 

„Das Gleiche, was wir auch bei dir gemacht haben“, erwiderte Carina und seufzte leise. „Grell?“, fragte sie bekümmert und kniete sich neben ihren besten Freund. „Es tut mir wirklich leid, dass es so weit gekommen ist und ich wünschte, wir hätten eine Wahl, aber-“ „Hör auf damit, Carina“, unterbrach Grell sie und atmete zittrig ein. „Mir war doch von Anfang an klar, dass es zu solch einer Situation irgendwann kommen könnte. Ich hatte zwar die Hoffnung, dass es nicht passieren würde, aber… sei es, wie es sei. Ich nehme meine Worte nicht zurück. Ich werde mich immer für deine und Lilys Sicherheit entscheiden, auch wenn es um William geht.“ „Trotzdem hasse ich es, dass ich dich in diese Lage gebracht habe“, murmelte sie und half Grell dabei den Schwarzhaarigen auf seinen Rücken zu drehen. „Bringen wir ihn nach unten in die Küche. Da können wir gleich seine Platzwunde versorgen.“
 

„Ja, und deine“, erinnerte Grell sich nun wieder und schaute sie noch einmal von oben bis unten an. Er warf dem Bestatter erneut einen zornigen Blick zu. „Ihr solltet miteinander kämpfen und nicht versuchen euch gegenseitig umzubringen.“ „Wenn er das ernsthaft versucht hätte, Grell, dann würde ich jetzt nicht hier stehen“, verteidigte die 19-Jährige den Vater ihrer Tochter mit trockener Stimme. „Ich schätze mal, du hast verloren?“, fragte Ronald interessiert nach und die Blondine seufzte einmal, ehe sie nickte. „Ja, das habe ich“, gab sie zu, stand erneut auf und ging jetzt endlich zu ihrer Tochter, die immer noch leise Klagelaute ausstieß. „Shh, Mäuschen. Es ist alles gut“, flüsterte sie sanft und nahm das Baby auf den Arm, drückte sie zärtlich gegen den Teil ihres Oberteils, der noch weiß war.
 

Das kleine Mädchen reagierte sofort auf die Stimme ihrer Mutter und wurde ruhiger. „Kein Wunder, dass sie weint“, dachte Carina sich, während sie ihr Kind sanft hin und her wiegte. Bei dem ganzen Geschrei…
 

20 Minuten später hatte sich die ganze Situation im Bestattungsinstitut merklich beruhigt. Lily war, nachdem Carina sie gestillt hatte, wieder eingeschlafen und befand sich nun wieder in ihrer Wiege. Währenddessen hatte Grell den bewusstlosen William nach unten in die Küche getragen und auf einen der Stühle verfrachtet, wo Cedric ihn sogleich mit den dicken Stahlketten gefesselt hatte, die auch schon Ronald festgehalten hatten.
 

Nun saßen sie alle zusammen in der Küche. Ronald und Grell hatten auf der länglichen Sitzbank Platz genommen, sodass sie nun genau gegenüber William saßen. Währenddessen hatte Carina am Kopfende Platz genommen und ließ sich von Cedric verarzten, der mit dem nötigen Verbandsmaterial vor ihr saß. Die Wunde an ihrem Rippenbogen hatte er zuvor oben in ihrem Schlafzimmer behandelt, als die 19-Jährige sich umgezogen und die zerrissenen, blutverschmierten Klamotten im Müll entsorgt hatte. Jetzt fehlte nur noch ihr Gesicht.
 

Ein leises Zischen verließ ihren Mund, als der Bestatter gerade ihre aufgeplatzte Lippe mit einem Tupfer bearbeitete. Ein spitzbübisches Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln, als er sie ansah. „Im Kampf so ein taffes Biest, aber beim Verarzten dann doch wieder wie ein kleines Mädchen.“ „Ich geb‘ dir gleich taffes Biest“, antwortete Carina leise und versuchte ihn mit ihrem finsteren Blick niederzustarren. „Hehe~, gerne“, murmelte er ebenso leise zurück. Die Todesgöttin ließ seinen letzten Satz unkommentiert, freute sie sich doch schon viel zu sehr auf ihre ganz persönliche Rache, die sie ihm zuteil lassen würde.
 

„Das muss Liebe sein“, grinste Ronald und besah sich die beiden voller Interesse. „Wenn du dich so von ihm zurichten lässt“, fügte er an Carina gewandt hinzu und grinste nur noch breiter, als er sie daraufhin laut schnauben hörte. „Ich weiß noch nicht, ob ich dich dafür nicht verprügeln sollte“, warf Grell in den Raum, woraufhin der Totengräber ihn breit angrinste. „Kannst es ja gerne versuchen“, entgegnete er in einer Art Sing-Sang Ton, was nun wiederum Grell schnauben ließ. „Lass es lieber sein, Grell“, warnte Carina ihn vor. „Du bist zwar der beste Shinigami des ganzen Dispatchs, aber glaube mir, wenn ich dir sage: Er ist besser.“ Sie verdrehte gleich darauf die Augen, als sie in Cedrics selbstgefällige Miene sah. „Und das sage ich, weil es stimmt. Kein Grund jetzt arrogant zu werden, Undy“, sagte sie an ihn gerichtet, mit besonderer Betonung auf dem letzten Wort. Angesprochener zog einen leichten Schmollmund, während er nun die Platzwunde an ihrer Stirn versorgte. „Du gönnst mir aber auch gar keinen Spaß“, beschwerte er sich und wechselte wieder einmal in diesen kindischen Modus, bei dem Carina nie genau wusste, wie sie reagieren sollte. Ronald scheinbar auch nicht, denn er warf ihr einen, mit erhobenen Augenbrauen gepaarten, Blick zu und stellte stumm die Frage „Und ihn hast du mir vorgezogen? Ernsthaft?“ Auch diesen stummen Satz ignorierte die junge Frau gekonnt. Denn gerade wurde ihr irgendwie klar, dass alle Bezugspersonen, die sie hatte, auf die ein oder andere Art unglaublich seltsam waren. Und seltsam war da noch das freundlichste Wort, das ihr einfiel. Herrgott, wie hatte das nur passieren können?
 

„Ich muss mich dringend bei Gelegenheit noch einmal mit Elizabeth treffen. Sie ist die Einzige, die mir gerade einfällt, die wirklich noch halbwegs normal ist“, dachte sie und seufzte erleichtert auf, als Cedric endlich von ihren Wunden abließ und die Utensilien wieder zurück in den Verbandskasten räumte.
 

„Nur, dass das klar ist, Carina: Das Thema ist noch nicht erledigt. Ich will alles wissen. Alles!“, sagte Grell und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und ich werde dir alles erzählen. Aber nicht jetzt“, gab Carina unmissverständlich zurück. „Momentan haben wir weitaus größere Probleme oder siehst du das anders?“ Sie deutete auf William.
 

Grell seufzte tief. „Ich fürchte nicht“, gab er niedergeschlagen von sich und sah überall anders hin, nur nicht zu dem bewusstlosen Todesgott. Es brach Carina beinahe das Herz ihren besten Freund so zu sehen, war er doch sonst immer das genaue Gegenteil - lebenslustig, laut und gut gelaunt. „Also, was machen wir mit ihm?“, fragte Ronald. Carina und Grell warfen Cedric gleichzeitig einen warnenden Blick zu, ganz nach dem Motto „Wehe, du sagst jetzt wieder sowas wie ‘Wir müssen ihn umbringen‘.“ Der Silberhaarige seufzte. „Wir werden ihm die Wahrheit sagen. Wenn es so funktioniert wie bei dir, dann ist es in Ordnung. Nicht unbedingt großartig, aber hinnehmbar. Falls nicht…“, er machte eine schwere Kunstpause, „…nun ja, das werden wir ausdiskutieren, wenn es soweit ist.“
 

„William wird mit ziemlicher Sicherheit nicht so locker reagieren, wie Ronald es getan hat“, murmelte Carina und seufzte. „Ich hatte zwar nicht ständig mit ihm zu tun, aber dass er kein Freund von Regelverstößen ist, das weiß selbst ich. Geschweige denn von Verrat und in seinen Augen wird das, was ich getan habe, nichts anderes sein.“ Sie rieb sich gedankenverloren die Stirn. „Ich will nicht, dass wir vor dem Dispatch fliehen müssen. Aber ich bin auch nicht bereit ihn einfach so umzubringen.“ Grell wurde bleich, als er ihre letzten Worte hörte. Er vergrub das Gesicht in den Händen und sagte kein Wort und Carina hatte auch nicht die geringste Ahnung, was sie noch sagen konnte, um ihn aufzuheitern.
 

Eine schwere Stille senkte sich über die Anwesenden und genau diesen Moment suchte sich William aus, um leise stöhnend zu sich zu kommen. Die Stimmung kippte sofort deutlich, jedoch nicht ins Positive. Waren sie bisher alle angespannt gewesen, war das nichts im Vergleich zu der Spannung, die nun in der Luft lag.
 

Die Augenlider des Schwarzhaarigen zuckten schwer und öffneten sich schließlich langsam. Die Pupillen wirkten verklärt, aber mit jeder weiteren Sekunde wurden sie klarer und als der Aufsichtsbeamte schließlich zweimal schnell hintereinander blinzelte, schien auch der letzte Rest seines Bewusstseins zurückgekehrt zu sein.
 

Das Erste, was William auffiel, als er endlich wieder zu sich kam, waren die hämmernden Kopfschmerzen, die von einer Stelle auf seinem Hinterkopf ausgingen. Es war Ewigkeiten her, dass er gekämpft hatte und dementsprechend war es auch schon länger her, dass er verletzt worden war und sich mit Schmerzen hatte auseinandersetzen müssen. Als nächstes bemerkte er, dass seine Arme eng – gar fest – an seinem Körper lagen und er sich nicht einen Zentimeter bewegen konnte. Die Erinnerungen an das, was passiert war, kamen relativ schnell zurück, als er aufblickte und in gleich vier Gesichter schaute, deren Augenpaare alle auf ihn gerichtet waren. Der Todesgott war kein kategorischer Schwarzseher, aber eins war ihm klar – er saß in der Klemme und zwar ganz gewaltig.
 

Dennoch war der erste Satz, der seinem Mund entfloh, alles andere als geschäftlicher Natur. Sondern persönlicher.
 

„Du hast mich hintergangen“, sagte er und starrte Grell dabei mitten ins Gesicht. Er sah, wie dem ohnehin bereits blassen Rothaarigen der letzte Rest an Farbe aus dem Gesicht wich, aber es war ihm egal. Das hier übertraf alles, was Grell in seiner gesamten bisherigen Laufbahn zustande gebracht hatte. Dieser Vertrauensbruch ließ sich nicht mit den Regelverstößen vergleichen, die er in der Vergangenheit begangen hatte. Über das Töten von Menschen, die nicht auf der Liste standen oder das unerlaubte Modifizieren einer Death Scythe konnte William bis zu einem gewissen Grad hinwegsehen. Aber das hier…
 

„Will, bitte“, begann Grell beinahe schon mit einem flehenden Unterton, doch der Schwarzhaarige wandte sich von ihm ab, wollte kein einziges Wort mehr von ihm hören. Stattdessen durchlöcherte er nun Carina mit seinem zornentbrannten Blick, die jedoch nicht mal mit der Wimper zuckte, sondern sogar vollkommen ausdruckslos seinen Blick erwiderte. Das Mädchen – nein, die junge Frau korrigierte er sich sofort – hatte sich eindeutig verändert. Ihre Haare waren kürzer, als er sie in Erinnerung hatte und ihre Augen befanden sich unter dem Schleier einer Tarnung, aber das meinte er damit nicht. Es war ihre Aura, ihre Haltung, ihr gesamtes Auftreten, das sich nicht mit ihrem bisherigen Eindruck vergleichen ließ, den sie bei ihm hinterlassen hatte. Körperlich war sie nicht gealtert, aber ihre Seele war gereift. Stärker. Selbstbewusster.
 

„Ich hätte wissen müssen, dass mit Ihnen etwas nicht stimmt“, sagte er an sie gewandt und starrte sie weiterhin nieder. „Wenn nicht schon durch die Tatsache, dass sie Grells Schülerin waren, dann doch durch die merkwürdigen Vorfälle, die mit Ihnen in Verbindung standen.“ Es juckte den Beamten in den Fingern sich aus reiner Gewohnheit die Brille auf der Nase zurechtzurücken, doch leider blieb ihm diese und jegliche andere Bewegung weiterhin verwehrt.
 

„Ach ja?“, fragte Carina und runzelte irritiert die Stirn. „Und von welchen merkwürdigen Vorfällen sprechen wir hier?“ „Wollen Sie die ganze Liste?“, fragte er trocken und entwickelte trotz seiner innerlichen Nervosität doch eine gewisse Standhaftigkeit, als er mit seiner Aufzählung begann. „1. Sie standen damals nicht auf der Liste der neuen Todesgötter. Jedenfalls gehe ich mittlerweile davon aus, damals habe ich ja noch Grells Lüge geglaubt, dass er einfach nur vergessen hat Bescheid zu sagen.“ Grell schluckte einmal kurz, versuchte aber nicht wieder das Wort zu ergreifen. „2. Ihre Entführung von der Campania und das plötzliche Wiederauftauchen nach mehreren Wochen. Im Nachhinein hätte mir klar sein müssen, dass Ihre Geschichte von dieser Entführung zusammengesponnener Schwachsinn war.“ Die Blondine zog daraufhin eine fast beleidigte Miene. Gut, ihre Geschichte war vielleicht nicht die beste Ausrede aller Zeiten gewesen, aber bis zum heutigen Tage hatte sie immerhin niemand in Frage gestellt. Selbst Grell hatte ihr damals geglaubt. „Und an 3. Stelle wäre da Ihr erneutes Verschwinden. Natürlich ist es nichts Ungewöhnliches, dass Todesgötter in ihrem Dienst verschwinden und in Ihrem Fall sind wir alle stark davon ausgegangen, dass es entweder wieder der Verräter war oder ein Dämon, der Sie erwischt hat. Ich hätte genauer nachforschen müssen, immerhin hatten Sie kurz zuvor erst hinreichend unter Beweis gestellt, wie gut Sie in Ihrem Job sind. So eine hohe Seelenstatistik erreicht nun einmal nicht jeder.“
 

Er seufzte. „Und dennoch habe ich mir damals nicht die richtigen Fragen gestellt. Vorzugsweise deswegen, weil ich alle Hände voll damit zu tun hatte Sutcliff zu beruhigen, der sich aufgeführt hat wie ein angeschossenes Reh. Mit voller Absicht, wie mir inzwischen klar geworden ist.“
 

Carina verspürte mit einem Mal den Anflug eines schlechten Gewissens. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie Grell sich dann erst fühlen musste. „Ich weiß, es macht nichts von dem besser, was passiert ist, aber glauben Sie mir bitte eins, Mr. Spears. Ich hatte nichts von alldem geplant.“ Sie zögerte kurz. „Nun ja, bis auf ihren drittgenannten Punkt. Das hatte ich tatsächlich geplant.“ „Sie haben Recht“, erwiderte William kühl. „Es macht nichts besser.“ „Ich hatte keine andere Wahl.“ „Weil Sie schwanger waren.“ Es war keine Frage, lediglich eine harte Feststellung. Für keinen der Anwesenden war es eine sonderlich große Überraschung, dass William diese Worte aussprach. Immerhin hatte Carina ihre Verbindung zu dem kleinen Mädchen mehr als deutlich gemacht.
 

„Ja“, bestätigte sie vollkommen neutral. „Von ihm“, fuhr der Beamte anschließend fort und warf dem Deserteur einen vernichtenden Blick zu, den Cedric lediglich mit einem amüsierten Grinsen quittierte. „Ja“, sagte Carina erneut und wandte ihren Blick nicht eine Sekunde lang von William ab. „Und das war im Übrigen auch nicht geplant.“ „Das Ergebnis nicht, der Weg dorthin jedoch…“, begann der Silberhaarige, unterbrach sich allerdings selbst, als Carina ihm einen wütenden Blick zuwarf. Ronald kicherte neben ihm leise, als er die Anspielung verstand. William sah hingegen alles andere als begeistert aus.
 

„Geben Sie mir wenigstens die Gelegenheit Ihnen die ganze Situation zu erklären“, fuhr die junge Todesgöttin bittend fort und ihr ehemaliger Boss schnaubte. „Habe ich denn eine andere Wahl?“, fragte er genervt, erwischte sich aber selbst dabei, wie er in der nachfolgenden halben Stunde wie gebannt an den Lippen der 19-Jährigen hing.
 

„Und diesen Mist soll ich Ihnen glauben, ja?“, sagte er anschließend und belog sich damit selbst, denn seine fachkundige Meinung sagte ihm eindeutig, dass Grells Schülerin die Wahrheit sagte. Sie war weder verrückt, noch geisteskrank und welches Wesen, das noch bei klarem Verstand war, würde sich so eine irrsinnige Geschichte ausdenken, wenn sie nicht der Wahrheit entsprach?
 

„Es ist alles wahr“, erwiderte Carina ernst. „Ich kann Ihnen gerne die Narbe auf meinem Rücken zeigen, wenn Sie möchten.“ „Gar nichts wirst du“, warf Cedric dazwischen und warf ihr einen mahnenden Blick zu. Ronald öffnete bereits den Mund, doch Grell reagierte rechtzeitig und trat ihm mit seinem spitzen Absatz fest auf den Fuß. Während der junge Todesgott sich auf die Lippe beißen musste, um nicht vor Schmerz aufzuheulen, wechselte der Rothaarige schnellstmöglich das Thema.
 

„Verstehst du jetzt, warum ich das alles getan habe, Will?“ „Erwartest du etwa jetzt Verständnis von mir?“, zischte Angesprochener, mehr als nur erbost, und funkelte seinen Gegenüber zornig an. „Keine von ihren Erklärungen kauft dich von deiner Schuld frei. Du warst zu keiner Zeit gezwungen ihr bei auch nur irgendetwas zu helfen. Nichts von alldem hat dem Dispatch in irgendeiner Art und Weise geholfen. Ganz im Gegenteil, es hat ihm eher geschadet.“ „Aber ich wollte ihr helfen, William. Sie ist wie die kleine Schwester, die ich nie hatte. Ich hatte überhaupt keine andere Wahl!“ „Doch, die hattest du. Du wolltest sie nur nicht sehen“, fuhr William ihm über den Mund und jetzt mischte sich auch Carina in das Gespräch ein; machte sie die Art, wie Grell gerade behandelt wurde, doch nun auch wütend.
 

„Ich mag den Dispatch zuerst hintergangen haben, das stimmt. Aber glauben Sie nicht, dass ich den entsprechenden Preis dafür schon längst bezahlt habe? Das, was Crow mir angetan hat-“ „-ist nicht die Schuld des Dispatchs. Davon distanziere ich mich ganz deutlich“, unterbrach der Aufsichtsbeamte sie rüde, doch Carina ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Aber der Dispatch hat auch nichts gegen ihn unternommen. Und warum? Weil keiner, nicht einmal der so erhabene Rat der Shinigami, etwas davon wusste. Weder von den geheimen Aufgaben der Ordnungsabteilung, noch von den wahren Absichten, die Crow in all seiner Zeit dort hegte. Haben Sie eigentlich eine Ahnung, neben was für einem Monster Sie bei meiner praktischen Prüfung gesessen haben?“
 

William schwieg. Diese Tatsachen über seinen langjährigen Kollegen zu hören, hatte ihn schwer erschüttert. Er wusste, dass seine Menschenkenntnis oft nicht die beste war, aber er hatte wirklich geglaubt den Mann zu kennen. Noch nie hatte er sich in jemandem so sehr getäuscht.
 

„Dieser Mistkerl hat Unmengen an Menschen und auch Todesgöttern auf dem Gewissen. Von der vorherigen Folter ganz zu schweigen. Denken Sie nicht, dass ich dem Dispatch einen großen Dienst erwiesen habe, als ich ihn umgebracht habe?“ Cedric lächelte stolz. Da war er wieder. Dieser Funke in seiner Brust, der jedes Mal auf die Größe eines Flächenbrandes anschwoll, wenn Carina ihren Intellekt unter Beweis stellte.
 

„Wie darf ich das verstehen?“ „Nun, wenn ich seinen Plan nicht vereitelt hätte, dann wäre Samaels Plan vermutlich aufgegangen und er hätte schon längst die Kontrolle über den gesamten Dispatch und somit auch über alle Shinigami an sich gerissen. Sie können mir nicht erzählen, dass Sie gerne unwissentlich für einen Dämon der übelsten Sorte gearbeitet hätten, oder etwa doch?“ William knirschte mit den Zähnen. Die Kleine war clever, das musste er ihr lassen. Mit ihren Worten hatte sie direkt ins Schwarze getroffen.
 

„Ich muss gestehen, dass Sie in diesem Punkt möglicherweise Recht haben. Aber das ändert überhaupt nichts“, entgegnete er und unterdrückte erneut den unbändigen Drang seine Brille zurechtrücken zu wollen. „Sie mögen den Dispatch in diesem Fall vor größerem Schaden bewahrt haben, aber das ist schließlich auch ihre Aufgabe als Shinigami. Wir sind dazu verpflichtet dem Dispatch zu dienen, bis wir für unseren Selbstmord gesühnt haben. Sie hingegen haben gegen so viele Regeln verstoßen, dass es mich Stunden kosten würde, um sie alle aufzuzählen. Das werde ich nicht akzeptieren! Und nichts, was Sie vorbringen, wird mich vom Gegenteil überzeugen können.“
 

Grell schloss geschockt die Augen und Carina biss sich leicht in die Wangeninnenseite, während Ronald einen tiefen Seufzer ausstieß. „Ich schätze, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem wir ausdiskutieren, was wir mit ihm machen“, warf Cedric trocken in den Raum hinein. Er zuckte mit den Schultern und sah seine Gefährtin an. „Bist du immer noch der Meinung, dass wir ihn am Leben lassen sollten?“ Und dann tat Carina etwas, was Grell beinahe das Herz brach.
 

Sie zögerte.
 

Entsetzt starrte er die Blondine an. „Du denkst doch wohl nicht ernsthaft darüber nach?“, fragte er sie fassungslos, woraufhin sie sich ihm zuwandte. „Was erwartest du denn von mir, Grell?“, fragte sie ihn ruhig. „Er leugnet nicht einmal, dass er uns in der Sekunde verraten wird, in der er die Gelegenheit dazu bekommt. Ich will ihn nicht umbringen, ganz gewiss nicht, aber er lässt uns nicht wirklich eine Alternative. Wenn es hier nur um uns beide gehen würde“, sagte sie und deutete dabei auf sich und den Bestatter, „dann wäre es mir ja noch egal. Aber hier steht auch Lilys Leben auf dem Spiel und das werde ich auf gar keinen Fall in Gefahr bringen. Nur über meine Leiche.“ Sie machte eine kurze Pause, um die Worte auf alle Anwesenden wirken zu lassen. „Oder hast du eine andere Idee, wie wir ihn gleichzeitig zum Schweigen bringen können ohne ihn zu töten?“
 

Grell schluckte schwer und wandte sich dann William zu. „Sie meint das vollkommen ernst, William“, begann er, nun schon beinahe ein wenig hysterisch. „Das weiß ich, Sutcliff“, knurrte der Schwarzhaarige und sah Angesprochenem dabei genau in die Augen. „Aber lieber sterbe ich für das, an was ich glaube, als mit dem weiterzuleben, an das ich nicht glaube.“ Carinas Augen weiteten sich minimal. Scheiße, dieser Spruch hätte auch von ihr selbst kommen können. Und ob sie es wollte oder nicht: Sie bewunderte William für seine Einstellung. Aber er stellte sie unweigerlich an einen Wendepunkt. Der Wendepunkt, an dem sie herausfinden würde, wie weit sie bereit war zu gehen, wenn es um die Sicherheit ihrer Familie ging.
 

Doch eigentlich belog sie sich in diesem Punkt selbst, das wurde ihr gerade klar. Eigentlich brauchte sie es nicht erst herauszufinden. Carina wusste es schon.
 

Nur das Ergebnis gefiel ihr nicht sonderlich.
 

„William, bitte“, flüsterte Grell flehend, doch der Beamte blieb eisern. „Bringen wir es hinter uns“, sagte er und schaute an Carina vorbei zu Cedric, der sich nun langsam von seinem Stuhl erhob. Die junge Schnitterin wandte sich zu ihm um. „Cedric, du musst nicht-“, begann sie, doch der Totengräber unterbrach sie. „Doch, ich muss“, sagte er, denn diese Bürde würde er ihr auf gar keinen Fall auferlegen. Er würde niemals zulassen, dass Carina tötete, wenn sie es nicht unbedingt selbst tun musste. Dafür war sie einfach nicht gemacht. Seine Hand glitt unter seinen Mantel und ertastete den Griff seiner Sense. „Und ich werde!“
 

„Heute wird hier niemand sterben.“
 

Die Köpfe der fünf Todesgötter wirbelten aufgrund der plötzlich ertönenden Stimme herum und während Ronald und William keine Ahnung hatten, wer sich dort vor ihnen befand, erkannten dir restlichen drei ihn sofort. „Uriel“, stieß Carina irritiert hervor und starrte den Erzengel überrascht an. Ronald klappte der Mund auf und selbst der sonst so verschlossene William konnte seine Fassungslosigkeit nicht hinter einer Maske aus Gleichgültigkeit verstecken.
 

„Was soll das heißen?“, gab Cedric sich als einziger in der Runde unbeeindruckt und schaute den Engel fragend an. „Es wird nicht notwendig sein ihn umzubringen, nachdem ich mit ihm gesprochen habe“, entgegnete der Mann mit den schneeweißen Flügeln sachlich, was den Bestatter nun erst recht irritierte. „Ich dachte, Engel dürfen sich nicht in die Angelegenheiten von Menschen und Todesgöttern einmischen.“ „Das ist richtig. Aber Versprechen dürfen sie halten.“ Seine goldenen Augen wanderten zu Carina. „Ich habe dir bei unserer letzten Begegnung versprochen, dass ich euch so gut es geht unterstützen werde und das habe ich ernst gemeint. Einen weiteren unnötigen Mord zu verhindern ist da eine Kleinigkeit.“
 

Carina musste Cedric und Grell nicht erst ansehen um zu wissen, dass sie nun von beiden angestarrt wurde. Noch ein unangenehmes Gespräch, was sie heute wohl endlich würde führen müssen. Dieser Tag wurde aber auch immer besser und besser…
 

„Heißt das, du hast ein Argument, das ihn überzeugen wird?“, lenkte sie vom Thema ab und schaute den blonden Mann zweifelnd an. Dieser nickte leicht und wandte sich nun direkt an William, auf dessen Stirn sich mittlerweile tiefe Falten gebildet hatten. „Mr. Spears, ich respektiere ihre Einstellung. Auch bei meiner Rasse werden Regelverstöße nicht toleriert und das ist auch gut so. Ohne gewisse feststehende Regeln kann keine Gesellschaft lange überdauern.“ William wirkte von der Ansprache positiv überrascht. „Wenn Sie es verstehen, dann wissen Sie auch, dass ich mich nicht umstimmen lasse werde“, erwiderte er neutral. „Auch dann nicht, wenn der Bestand des Dispatchs auf dem Spiel steht?“ Williams Falten vertieften sich. „Was meinen Sie damit?“
 

„Seit mehreren Jahrhunderten besteht zwischen den Engeln und dem Dispatch ein Pakt, das wissen Sie sicherlich.“ „Natürlich“, bestätigte William und rollte gleich darauf mit den Augen, als er Ronalds verständnislose Miene sah. „Haben Sie im Unterricht eigentlich einmal aufgepasst, Knox? Der Pakt regelt den Frieden zwischen uns und den Engeln. In ihm wurden alle Regeln festgelegt. Unter anderem auch, dass sie sich nicht in unsere Angelegenheiten einmischen. Wir erwidern dies im Umkehrschluss.“ „Eine dämliche Regel, wenn man diesen Einzelfall hier bedenkt“, murmelte Carina leise und fing sich daraufhin von William einen bösen Blick ein, was sie allerdings nicht sonderlich störte.
 

„Es gibt viele Engel, die mittlerweile der Meinung sind, dass die Zuständigkeitsgebiete der Todesgötter viel zu weit gehen und einige Verfahrensweisen eigentlich wieder in unserer Hand liegen sollten.“ Der Himmelswächter sagte dies ohne jegliche Wertung, aber bei seinen nächsten Worten schlich sich ein leicht provokanter Unterton in seine Stimme. „Wenn ich eine Abstimmung in unserem Rat anregen würde, der genau diese Meinung wieder zum Thema macht… Was glauben Sie, was dann passiert?“ Carina konnte nicht verhindern, dass sich auf ihren Lippen ein langsam breiter werdendes Grinsen ausbreitete, als sie in Williams geschockte Miene sah.
 

Uriel: 1

William: 0
 

Der Engel wusste, wie man spielte, das musste sie ihm eindeutig zugestehen.
 

„Das können Sie nicht machen“, hauchte William. „Ich kann. Und ich werde“, entgegnete Uriel ruhig. „Vergessen Sie eines nicht, Mr. Spears. Sie legen sich gerade mit einem Erzengel an. Carina und ihre Familie stehen unter meinem persönlichen Schutz. Das ist das Mindeste, was ich nach allen Geschehnissen für sie tun kann. Und Sie wollen nicht herausfinden, wie weit ich gehen würde, um drohendes Unheil von ihnen fernzuhalten und gleichzeitig Samael Einhalt zu gebieten.“ Eine ungläubige Stille machte sich im Raum breit. „Ich wusste doch, dass ich ihn mag“, dachte Carina sich und warf einen kurzen Seitenblick zu Cedric. Dieser hatte mittlerweile wieder die Hand von seiner Sense genommen und schaute den Engel mit einem Ausdruck im Gesicht an, der die 19-Jährige davon überzeugte, dass auch er begann Uriel zu akzeptieren. Gleich darauf glitt ihr Blick wieder zurück zu William. Dem Schwarzhaarigen war deutlich anzusehen, dass er innerlich mit sich haderte. Sicherlich wog er gerade die Vor- und Nachteile gegeneinander ab, stellte vielleicht sogar Analysen und Wahrscheinlichkeitsrechnungen an. Carina stellte sich Williams Gehirn generell wie einen Computer vor, der immer jegliche Daten, die er erhielt, sofort entsprechend verarbeiten konnte.
 

Wenn sie nur wüsste, wie Recht sie damit hatte. In William Kopf lief es gerade auf Hochtouren. Er war ein Mann, der guten Gewissens behaupten konnte, dass er immer nach seinem Verstand handelte. Aber gerade passierte es ihm zum ersten Mal, dass sich sein Verstand einen ernsthaften Kampf mit seinem Herzen liefern musste. Sein Verstand sagte ihm ganz deutlich, dass der Erzengel keine leere Drohung aussprach und es wirklich ernst meinte. Nach dem Abwägen aller relevanten Belange war er zu dem Ergebnis gekommen, dass es die Ahndung der Regelverstöße tatsächlich nicht wert wäre, die Sicherheit des gesamten Dispatchs aufs Spiel zu setzen. Aber sein Herz sagte ihm ganz klar und deutlich, dass er die Todesgötter für ihr Verhalten nicht einfach so ungestraft davonkommen lassen konnte. Allein wenn er an Grell dachte, kochte in ihm wieder die Wut und – was wesentlich schlimmer war – die Enttäuschung hoch. Nein, er konnte sie nicht nur nicht damit davon kommen lassen, er wollte es auch nicht!
 

Nach mehreren langen Minuten, in denen alle Anwesenden dem Aufsichtsbeamten die Zeit gaben, die er für seine Überlegungen brauchte, ergriff William dann endlich wieder das Wort. Allerdings wirkte er nach wie vor wenig erfreut. „Ich unterbreite Ihnen einen Vorschlag“, sagte er langsam und schaute dabei Carina an, denn mit Ihr wollte er die Verhandlungen führen. „Ich höre“, sagte sie und meinte es ganz neutral interessiert, nicht aber unfreundlich. „Ich werde Stillschweigen über die ganze Angelegenheit behalten und Sie sogar dabei unterstützen, diesen Samael zu besiegen. Einen Dämon mit solchen Kräften darf man nicht einfach frei herumlaufen lassen.“ „Das wäre tatsächlich äußerst hilfreich“, meinte die Schnitterin. „Aber wir wissen beide, dass zu einem Deal mehr gehört. Also: Was schwebt Euch als Gegenleistung vor?“ „Ich habe drei Bedingungen.“ Carinas Augenbrauen wanderten ein wenig nach unten, als sie die Augen leicht verengte. „Die da wären?“
 

„Erstens“, begann William und schaute nun Grell und Ronald an, „werde ich die beiden nach meinem Ermessen bestrafen dürfen und keiner der hier Anwesenden wird etwas dagegen sagen.“ Carinas Blick huschte ebenfalls kurz zu ihren beiden Freunden. Beide waren eine Spur blasser im Gesicht geworden. „…So lange es ihre Sicherheit und Gesundheit nicht gefährdet“, sagte sie langsam und als William ihr kurz zunickte, wartete sie auf ein kurzes Zeichen von Grell und Ronald. Beide nickten ihr ebenfalls unmerklich zu, sodass die junge Frau sich wieder guten Gewissens dem gefesselten Todesgott zuwenden konnte. „In Ordnung.“
 

„Zweitens“, fuhr der Schwarzhaarige fort, „werden Sie mir hier und jetzt versprechen, dass solche Vorkommnisse wie auf der Campania nie wieder geschehen werden. Keine wandelnden Leichen mehr, nie wieder.“ „Das verspreche ich Ihnen“, erwiderte Carina wie aus der Pistole geschossen und musste dazu nicht einmal Cedric ansehen. Das war immerhin eine Sache, die sie untereinander bereits geklärt hatten. William warf einen flüchtigen Seitenblick auf den Bestatter, der ebenso flüchtig nickte.
 

„Gut“, meinte er und wirkte bereits merklich besänftigter als zu Anfang des Gespräches. „Und drittens?“, fragte Carina nun und wirkte dabei beinahe neugierig. Meistens waren die dritten Bedingungen diejenigen, die sich am schwersten erfüllen ließen und auf die der Fordernde am meisten pochte. Die phosphoreszierenden Augen ihres Gegenübers leuchteten kurz auf, als er sie jetzt mit einem eindringlichen Blick musterte. „Sie werden wieder für mich arbeiten.“
 

Carina blinzelte. „Was?“, fragte sie verblüfft und war sich im ersten Moment nicht sicher, ob sie den Beamten wirklich richtig verstanden hatte. „Natürlich nicht offiziell. Niemand im Dispatch wird etwas davon erfahren. Sie werden Grells Partnerin und werden mit Ihm zusammen die Schichten absolvieren. Anschließend schreiben Sie die Berichte und Grell wird sie unter seinem Namen einreichen. Somit kann ich auf Nummer Sicher gehen, dass Sie zum einen darauf achten, dass er keinen Unsinn anstellt und zum anderen bekomme ich die Berichte pünktlich, die er immer viel zu spät einreicht. Außerdem wissen Sie sicherlich von unserem Personalproblem. Ich brauche dringend fähige Schnitter in meiner Abteilung, die wissen, wie sie ihren Job zu erledigen haben. Und bei Ihnen weiß ich, woran ich bin. Also. Was sagen Sie?“
 

„Einverstanden“, hörte Carina sich selbst sagen, bevor sie überhaupt wirklich darüber nachgedacht hatte. Sie sah aus den Augenwinkeln, wie die Köpfe von Grell und Ronald zu ihr herumwirbelten. Aber viel schlimmer war das empörte „Wie bitte?“, das von Cedric kam. Für den Moment ignorierte sie es. „Ich werde wieder für Sie arbeiten, Mr. Spears. Vorerst aber mit reduziertem Stundenumfang, bis die Sache mit Samael geklärt und meine Tochter ein wenig älter ist.“ „Das ist akzeptabel“, erwiderte William und wirkte nun wirklich vollauf zufrieden. Himmel, wenn Carina gewusst hätte, dass sie mit ihm bloß eine bürokratische Diskussion führen musste, hätte sie sich weitaus weniger Sorgen gemacht.
 

Auch Uriel wirkte recht zufrieden. Mit einem Schnipsen seiner Finger – wie zur Hölle machte er das bloß? – fielen die Ketten, die William auf dem Stuhl festhielten zu Boden. Der Schwarzhaarige erhob sich langsam, bewegte kurz seine steifen Glieder und rückte sich dann in alter Manier die Brille auf der Nase zurecht. „Dann haben wir einen Deal“, sagte Carina und streckte ihm ihre geöffnete Handfläche entgegen. Ihr neuer/alter Chef sah sie noch einmal kurz prüfend an und besiegelte ihre Verhandlung dann mit einem festen Händedruck. „Ich hoffe, wir kommen gut miteinander aus“, sagte er vollkommen neutral. Carina konnte nicht anders, sie lächelte süffisant. „Sie wissen, was für mich auf dem Spiel steht, Mr. Spears. Glauben Sie mir, ich werde persönlich dafür sorgen, dass wir gut miteinander auskommen.“ William rückte sich erneut die Brille zurecht, sodass sich das Licht in seinen Gläsern spiegelte. „Zumindest eine Person in diesem Raum, die scheinbar versteht, was ich will“, sagte er und warf dabei einen kalten Blick zu Grell, der spürbar zusammenzuckte. „Dann werde ich mich jetzt verabschieden. Knox, Sutcliff… Sie beide erwarte ich in einer Stunde in meinem Büro.“
 

Ronald schluckte, nickte aber gehorsam. Grell hingegen schien zur Salzsäule erstarrt zu sein, denn er gab überhaupt kein Lebenszeichen mehr von sich. Wahrscheinlich war er mit seinen Gedanken längst ganz woanders.
 

„Ich werde ebenfalls gehen. Ich hab noch ein paar Menschen auf meiner Liste stehen“, sagte Ronald schnell, denn er wollte William auf keinen Fall noch weiter verärgern. Mit einem Grinsen auf den Lippen zwinkerte er Carina kurz zu und hob die schwarz behandschuhte Hand. „Bis dann, Kollegin.“ Besagte Kollegin lächelte und zwinkerte ihm zum allerersten Mal in ihrem Leben zurück. „Bis dann“, sagte sie und sah dabei zu, wie sich zuerst William und dann Ronald in Luft auflösten. Schwer seufzend wandte sie sich anschließend an den Himmelswächter. „Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll, Uriel“, meinte sie und der Engel lächelte ehrlich. „Wie ich bereits sagte: Ich halte meine Versprechen. Aber auch ich muss mich jetzt verabschieden, meine Zeit in der Menschenwelt ist begrenzt. Sollte ich etwas von Bedeutung herausfinden, lasse ich es euch wissen.“ „Danke“, antwortete die 19-Jährige und der Erzengel verschwand ebenso schnell wie die letzten beiden Male, innerhalb eines einzigen Wimpernschlages.
 

Nun waren nur noch Carina, Cedric und Grell in der Küche. Letzterer schwieg immer noch eisern und Erstgenannte ließ sich lediglich müde auf einen Stuhl fallen. „Kann eigentlich auch mal ein Tag vergehen, an dem ich nicht um unser aller Leben fürchten muss?“, fragte sie erschöpft in die Runde und als sie daraufhin mit Schweigen gestraft wurde, drehte sie sich zu Cedric um. Der Totengräber hatte beide Arme vor der Brust verschränkt und bedachte sie mit einem Blick, der Carina ganz genau sagte, dass dieser Tag noch lange nicht zu Ende war. Erst jetzt fiel der Deutschen wieder ein, dass sie noch einige Dinge zu erklären hatte. Sie biss sich auf die Unterlippe.
 

„Sei bitte nicht sauer“, versuchte sie die Anspannung ein bisschen zu lösen, doch dieser Versuch ging nach hinten los. „Sauer? Wieso sollte ich denn sauer sein?“, entgegnete er ironisch und machte dabei von seiner besten Unschuldsstimme Gebrauch. „Cedric“, stöhnte sie bittend, doch das erweichte den Bestatter kein bisschen. „Wann wolltest du mir bitteschön mitteilen, dass du dich noch ein weiteres Mal mit Uriel getroffen hast?“ „Ich wollte es dir ja sagen, aber irgendwie hab ich nie den richtigen Zeitpunkt erwischt und dann schien es mir nicht mehr so wichtig zu sein-“ „Schwachsinn“, unterbrach Cedric sie rüde und stand nun von seinem Stuhl auf, sodass sie zu ihm hoch schauen musste. „Du verschweigst mir etwas und ich will jetzt sofort wissen, was es ist.“ Carina stockte und das ließ Cedrics ohnehin schon dünnen Geduldsfaden endgültig reißen. „Sofort, hörst du nicht?“
 

Seine laute Stimme ließ Carina erschrocken zusammenzucken. Grell hingegen wurde bleich, denn William hatte heute genau die gleichen Worte benutzt.
 

„Reden Sie und zwar auf der Stelle.“

„William, ich-“

„Auf der Stelle, hören Sie nicht?“
 

Er hasste es, von William angebrüllt zu werden. Dennoch waren die leise gesprochenen Worte, die William nach seinem Aufwachen zu ihm gesagt hatte, tausend Mal schlimmer gewesen.
 

„Du hast mich hintergangen.“
 

Ja, das hatte er. Und er hatte keine Ahnung, wie er das je wieder gutmachen sollte…
 

Carina konnte ihn nicht mehr ansehen. Ihr Blick ging stur zu Boden, als sie ihre nächsten Worte sprach. „Ich weiß nicht, wie du darauf reagieren wirst“, gab sie zu und verschränkte ihre Finger fest ineinander. „Schlimmer als Williams Reaktion am heutigen Tage wird es nicht sein“, mischte Grell sich trocken ein und richtete seine gesamte Aufmerksamkeit auf seine beste Freundin. Vielleicht konnte er sich so von der Vorstellung ablenken, dass William ihn bis zu seinem Lebensende hassen würde.
 

„Du wirst es nie herausfinden, wenn du es mir nicht sagst“, antwortete der Totengräber ruhig und setzte sich nun doch wieder. Was aufgrund der Informationen, die er gleich erhalten würde, vermutlich auch besser war.
 

„Ihr erinnert euch noch daran, dass ihr mich nach der Entführung gefragt habt, warum Crow eigentlich auch Elizabeth Midford entführt hat?“ Die beiden Männer nickten. „Damals habe ich euch gesagt, dass ich darüber gerne ein anderes Mal sprechen würde.“ „Stimmt“, erinnerte sich Grell. Das hatte er bereits komplett vergessen und scheinbar war es dem Undertaker damit nicht anders ergangen. Immerhin hatten sie auch genug andere Probleme, um die sie sich Gedanken machen mussten.
 

„Also hat Elizabeth Midford etwas mit dem Gespräch zu tun, das du mit Uriel geführt hast?“, fragte der Rothaarige und erntete ein Nicken seiner Schülerin. „Ja, das kann man so sagen. Es war an dem Tag, als ich mit Lily spazieren war und dabei zufällig Elisabeth getroffen habe. Nachdem sie gegangen war, konnte ich einfach nicht anders. Ich musste Uriel einfach fragen, was in Zukunft mit ihr passieren wird.“ Cedric runzelte die Stirn. „Dein Interesse für die Verlobte des Earls in allen Ehren, aber wieso interessierst du dich so für ihre Zukunft und was hat das Ganze mit Crow zu tun? Es gibt keine sichtbare Verbindung zwischen den beiden und ein Engel, der sich so akribisch an die Regeln hält, wird dir wohl kaum etwas verraten haben, dessen Weitergabe ganz eindeutig verboten ist.“
 

Carina schluckte, als ihr Mund plötzlich staubtrocken wurde. „Augen zu und durch“, dachte sie sich und begann den beiden Todesgöttern die Angelegenheit zu erklären. „Als Crow damals überprüfen wollte, ob ich eine Zeitreisende bin, hat er im Zuge dessen die Geburtsbücher überprüft. Dabei dachte er sich, dass es vielleicht nützlich sein könnte eine DNA Probe von mir zu haben. Da in den Geburtsbüchern der jeweilige DNA Schlüssel genauestens verzeichnet ist, wollte er diesen mit meinem Namen abgleichen. So hätte er zu 100 Prozent sicher gehen können, dass es sich dabei auch wirklich um mich handelt.“
 

„Klingt logisch“, gab Grell zu. „Der DNA Schlüssel ist die sicherste Methode, um die frühere Identität eines Shinigami festzustellen.“
 

„Richtig“, erwiderte Carina und seufzte erneut. „Er meinte, dass er meine DNA schlussendlich nicht gebraucht hätte, weil sich seine Theorie ja bewahrheitet hatte und ich wirklich aus der Zukunft kam. Aber bei der ganzen Sucherei ist ihm dann doch etwas Interessantes ins Auge gefallen. Nämlich, dass es ein paar Datensätze gab, die meinem Schlüssel ein wenig ähnlich waren. Jedoch gab es zusätzlich noch andere Datensätze, die dem meinen verdammt ähnlich waren, sogar nahezu identisch. Also hat er ein wenig nachgeforscht und herausgefunden, dass es für diese Übereinstimmung nur eine Erklärung geben kann.“
 

Carina konnte beinahe sehen, wie sich die Puzzlestückchen in Cedrics Kopf langsam zu einem Bild formten, als er die einzelnen Informationen miteinander verknüpfte. Im Gegensatz zu Grell, der scheinbar die Schnauze voll hatte für heute. „Schön, und die wäre?“
 

„Elisabeth Midford ist meine Vorfahrin. Wir sind miteinander verwandt. Daher konnte ich Uriel nach ihr fragen.“ Grell klappte der Mund auf und selbst Cedrics Augen weiteten sich ein wenig, als die 19-Jährige es aussprach und die Fakten somit offen auf den Tisch legte. „M-moment“, stotterte Grell und schaute von ihr zu Cedric. „Heißt das, ihr seid-“ „Nein, sind wir nicht“, unterbrach Carina ihn schleunigst, um jegliche Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. „Ciel und Elizabeth bekommen keine gemeinsamen Kinder. Und Elisabeths Mutter hatte einen anderen Vater als Vincent, ihr Halbbruder. Wir sich also nicht miteinander verwandt, keine Sorge.“
 

„Warum hast du es mir dann nicht einfach gesagt?“, fragte der Silberhaarige neutral nach und jetzt schaute Carina ihn zum ersten Mal wieder richtig an. Man musste sie nicht besonders gut kennen, um die Verletzlichkeit in ihren Augen sehen zu können. „Du weißt wieso“, murmelte sie zurückhaltend und die gelbgrünen Augen des Undertakers wurden eine Spur sanfter. „Claudia“, sagte er und die Schnitterin nickte. „Ja“, hauchte sie und schluckte schwer. „Du musst das verstehen. Zum damaligen Zeitpunkt wusste ich doch nicht, woran ich bei dir bin. Ich habe gedacht… ich habe gedacht, dass du dann möglicherweise nur bei mir bleiben würdest, weil ich mit ihr verwandt bin. Und das wollte ich unter allen Umständen verhindern. Deswegen habe ich nichts gesagt.“
 

Hitze sammelte sich in ihren Wangen, als sie weitersprach. „Ich gebe es nur ungern zu, aber diese Frau ist einfach ein rotes Tuch für mich.“ Sie zuckte ein wenig hilflos mit den Schultern, wie um zu sagen „Ich kann doch nichts dafür.“
 

Grell, wie immer der verständnisvollste Mann auf dem gesamten Planeten, stand auf und klopfte ihr sachte auf die Schulter. „Das ist doch ganz natürlich, Carina“, sagte er. Die Todesgöttin konnte in seinen Augen ablesen, dass er gerne noch mehr zu diesem Thema gesagt hätte, dies aber lieber nicht vor Cedric tun wollte. Scheinbar Dinge, die laut Grell unter “Mädels“ geklärt werden sollten.
 

Auch der Vater ihrer Tochter schien momentan nichts im Beisein des rothaarigen Reapers sagen zu wollen. Jedenfalls hakte er das Thema vorerst kommentarlos ab. Was aber nicht hieß, dass er nicht etwas anderes ansprach, was ihm auf der Seele brannte.
 

„Und was sollte das gerade eben mit dem Jobangebot, das du einfach mal so angenommen hast?“ Er wirkte überhaupt nicht erfreut und stellte mit der Einstellung das genaue Gegenteil von Grell dar, denn dieser wirkte geradezu euphorisch bei der Vorstellung, wieder mit seiner Schülerin zusammenzuarbeiten. „Streng genommen war es kein Jobangebot. Es war mehr eine Aufforderung und noch dazu Teil des Deals.“ „Den du hättest ausschlagen können“, meinte der Bestatter streng, doch Carina rückte nicht von ihrer Meinung ab. „Den ich aber nicht ausschlagen wollte.“ Cedric blinzelte; etwas, was er nur tat, wenn er wahrhaft irritiert war. „Wie bitte?“, fragte er zum zweiten Mal am heutigen Tag und Carina konnte sich nur mit allergrößter Mühe ein schelmisches Grinsen verkneifen. Der ach so weise Cedric K. Rosewell war von ihrer Antwort überfordert? Diesen Tag musste sie sich rot im Kalender markieren!
 

„Ich habe schon länger darüber nachgedacht mir wieder eine Arbeit zu suchen, wenn Lily etwas älter ist. Ich hatte bisher einfach nur keine Ahnung, was ich machen wollte. Aber im Seelen sammeln bin ich gut. Wirklich gut sogar. Und es war gleichzeitig Williams Bedingung, also ist es schon in Ordnung so.“ „Hast du eigentlich eine Ahnung, worauf du dich da einlässt?“, entgegnete Cedric und verschränkte anklagend die Arme vor der Brust. „Wer für den Dispatch arbeitet, befindet sich in einer Einbahnstraße. William wird dich nie wieder freiwillig gehen lassen, wenn du einmal angefangen hast wieder für ihn zu arbeiten.“ „Es hat ja auch niemand etwas von freiwillig gesagt“, antwortete sie und grinste ihn spitzbübig an. „Du hast ihn doch gehört. Nichts von alldem wird offiziell sein. Ich muss also auch keinen Vertrag oder ähnliches unterschreiben. Und wenn ich irgendwann wieder aufhören möchte, dann mache ich das auch.“ „Aber dann ist der Deal hinfällig“, warf Grell besorgt ein. „Ja, schon. Aber in diesem Fall können wir immer noch vor dem Dispatch davon laufen, denn ich werde nicht mit der Arbeit aufhören, bis Lily aus dem Gröbsten raus ist. Ich habe aber das Gefühl, dass wir uns selbst dann keine großartigen Sorgen machen müssen. William würde sich ins eigene Fleisch schneiden, wenn er vor den Oberen zugibt, dass er die ganze Zeit von unserem Aufenthaltsort gewusst und keinen Ton gesagt hat.“
 

Nun begann auch Cedric zu grinsen. „Hehe… Du kleines Schlitzohr“, meinte er belustigt und tippte sich mit seinem Zeigefinger gegen das eigene Kinn. „Was meinst du?“, fragte Grell verwirrt. „Selbst, wenn William mit dem Argument kommen würde, dass er nur geschwiegen hat, um einen Krieg zwischen den Engeln und den Shinigami zu verhindern, wird das nichts bringen. Ich kenne den Rat. Denen sind Beweggründe egal. In ihren Augen hat er den Dispatch hintergangen und das ist alles, was dann für sie zählen wird.“ „Und du hast das gewusst?“, fragte Grell und schaute dabei Carina an, die mit den Schultern zuckte. „Ich habe es vermutet. Und alles, was ich bisher über den Rat gehört habe, deutet auch daraufhin. Sicherlich wird sich William dessen auch bewusst sein. Es ist also für beide Seiten von Vorteil, wenn wir gut miteinander auskommen.“
 

„Du hättest mich trotzdem zuerst einmal nach meiner Meinung fragen müssen“, sagte der Undertaker. Er war nicht wirklich zornig, wirkte aber immer noch beleidigt. „Müssen? Das war nicht deine Entscheidung, Cedric, sondern meine. Und darf ich dich daran erinnern, dass wir nicht verheiratet sind und ich auch somit keinerlei Erlaubnis von dir brauche?“ Sie schnaubte. „Und selbst dann würde ich immer noch machen, was ich verdammt nochmal will!“
 

„Hatten wir die Diskussion heute nicht schon einmal?“, fragte der Silberhaarige trocken und spielte damit auf das direkte Gespräch nach ihrem gemeinsamen Kampf an. Carina hielt es an dieser Stelle für schlauer zu schweigen und drehte sich stattdessen zu Grell. „Grell, das alles tut mir wirklich, wirklich leid. Ich weiß, wie schlimm das alles gerade eben für dich gewesen sein muss. Und wenn ich irgendwas tun kann, um es wieder gut zu machen, dann-“ „Das hatten wir doch gerade eben schon, Carina. Es ist nicht deine Schuld. Ich wusste die ganze Zeit, worauf ich mich einlasse. Es war meine Entscheidung und jetzt muss ich eben damit leben, dass William vermutlich den Rest unserer Unsterblichkeit sauer auf mich sein wird.“
 

„Das glaube ich kaum“, murmelte Carina leise, doch der Rothaarige hatte es dennoch gehört. „Was meinst du damit?“, fragte er auch sogleich nach, doch die Todesgöttin schüttelte den Kopf. „Nichts, schon gut. Kann ja auch sein, dass ich mich irre.“ „Häh?“, machte Grell ganz unladylike und jetzt war es Cedric, der das Wort beinahe schon genervt ergriff. „Herrgott, das kann sich ja keiner mit ansehen.“ Er schaute den anderen Mann im Raum eindringlich an. „Sie meint, dass William sich wohl kaum so sehr über deinen Verrat aufgeregt hätte, wenn du ihm vollkommen egal wärst.“ Grells Augen wurden groß wie Untertassen und um Bestätigung suchend fixierte er Carina, die nickte und somit die Aussage ihres Gefährten bestätigte. „Aber… aber das heißt gar nichts! William würde sich bei jedem so aufregen, das liegt in seinem Charakter. Er verachtet Regelverstöße nun einmal.“ „Mag sein, aber Ronald hat er nicht halb so schlimm behandelt, wie dich gerade eben. Nicht einmal mich und ich bin die Übeltäterin des Ganzen. Na ja, wenn wir mal von ihm absehen“, sagte sie und deutete auf den Silberhaarigen, der daraufhin eine Schnute zog. „Meine Flucht ist bereits 50 Jahre her, das sollte eigentlich niemanden mehr kümmern.“ „Wenn du den Mist mit der Campania nicht abgezogen hättest, würde es das auch nicht“, antworteten Grell und Carina synchron.
 

„Na ja, jedenfalls bist du ihm nicht egal, Grell, da bin ich sicher“, fuhr Carina fort. „Ich meine… die ersten Worte, die er nach seiner Ohnmacht in den Mund genommen hat, bezogen sich darauf, dass du ihn hintergangen hast. Nicht den Dispatch, sondern ihn.“ Grell zog eine säuerliche Miene. „Kann es sein, dass du da etwas zu viel rein interpretierst?“ „Da weißt du mal, wie ich mich ständig gefühlt habe, wenn du mir mal wieder wegen meiner nicht vorhandenen Beziehung in den Ohren gelegen hast.“ „Ja, aber jetzt hast du immerhin eine Beziehung, oder etwa nicht?“, konterte Grell grinsend, doch das war genau die Antwort, auf die Carina gebaut hatte. Ihr Grinsen war daher um einiges breiter als Grells. „Eben. Deswegen sag ich’s ja. Hör also auf mich und vielleicht gibt das ja doch noch was mit euch beiden.“
 

Der Bestatter konnte nicht anders, er musste bei Grells überrumpelten Gesichtsausdruck einfach anfangen zu lachen. Carina hatte ihn gerade nach allen Regeln der Kunst ausgespielt. „Touché“, grummelte der Rothaarige und seine Schülerin zwinkerte ihm kurz zu. Ihr Plan war aufgegangen. Grell war bereits wesentlich besser gelaunt als zu Anfang des Gespräches.
 

„Na ja, ich schätze, ich sollte mich langsam auf den Weg machen. Vielleicht werde ich Ronald noch schnell erklären, was er gleich bei dem Treffen auf gar keinen Fall sagen sollte. William ist auch so schon auf 180“, seufzte der Schnitter und umarmte seine Freundin fest. „Lass dich bloß nicht unterkriegen“, flüsterte sie ihm ins Ohr und der Reaper nickte, ehe sich sein Körper dematerialisierte und er die beiden Bewohner des Bestattungsinstitutes somit allein in der Küche zurückließ.
 

Carina schloss die Augen und rieb sich müde über die Stirn, während sie darüber nachdachte, was sie jetzt als erstes machen sollte. Eigentlich wollte sie nur noch etwas kochen, sich nach dem Essen baden und dann todmüde ins Bett fallen.
 

Im nächsten Moment zuckte sie jedoch erschrocken zusammen, als Cedric eine Hand an ihre Wange legte. Sie schlug die Augen wieder auf und schaute ihn fragend an. Kam jetzt etwa das, was er vorhin in Grells Anwesenheit nicht hatte sagen wollen? „Wegen Claudia…“, begann er und bestätigte somit Carinas Verdacht, „du musst nicht eifersüchtig sein.“ „Bin ich nicht“, gab sie von sich und erntete dafür sofort einen wissenden Blick. „Nun gut, vielleicht ein kleines bisschen…“, murmelte sie und schaute kurz zur Seite weg. Der Bestatter ergriff jedoch sogleich ihr Kinn und zwang sie mit sanftem Druck ihn wieder anzusehen. „Wie gesagt: Du musst dir keine Sorgen mehr machen. Ich habe mich für dich entschieden, Carina. Und das werde ich auch immer wieder tun.“ Er hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und streifte dann mit seinen Lippen ihr Ohr. „Ich liebe dich“, flüsterte er leise, obwohl sie ganz allein im Raum waren und ihn sowieso niemand sonst hätte hören können.
 

Carina errötete, lächelte aber gerührt. „Ich liebe dich auch“, wisperte sie ebenso leise zurück und schlang gleich darauf fest ihre Arme um ihn. Der Todesgott erwiderte die Umarmung und einige lange Sekunden standen sie lediglich schweigend dar, genossen die Zweisamkeit und die Nähe des jeweils anderen.
 

„Aber“, sagte der Silberhaarige plötzlich und die junge Mutter konnte sofort den schelmischen Unterton in seiner Stimme hören, „du hast mich schon wieder angelogen, dieses Mal wegen deinem Treffen mit Uriel. Hast du schon vergessen, was ich dir letzte Woche gesagt habe?“
 

„Jedes Mal, wenn du mich anlügst, wiederholen wir diese nette Geschichte von vorhin.“
 

Carina verdrehte die Augen und löste sich wieder von ihm, trat jedoch keinen einzigen Schritt zurück. „Also erstens habe ich dieser Regel nie zugestimmt. Zweitens war das Treffen mit Uriel weit vor dieser Geschichte und würde, wenn überhaupt, gar nicht in diese Regelung mit rein fallen. Und drittens“, sagte sie und schaute ihn besserwisserisch an, denn jetzt würde sie ihn genauso austricksen, wie zuvor bereits Grell, „habe ich dich nicht angelogen. Ich habe dir nur nicht die Wahrheit gesagt.“ „Das ist das Gleiche“, ging Cedric auch prompt darauf ein, was die Deutsche nur dazu veranlasste ihn unverschämt breit anzugrinsen. „Etymologisch betrachtet nicht.“
 

Der Totengräber lachte, als er die Anspielung verstand. Immerhin war er selbst es gewesen, der ähnliche Worte an sie gerichtet hatte, als es darum ging, dass er sie nicht übers Knie gelegt hatte. „Heute bist du sehr wortgewandt, kann das sein?“, murmelte er und drückte ihr einen leichten Kuss auf den Mund. „Du stehst doch drauf, gib es zu“, raunte sie ihm entgegen und beobachtete mit Freude, wie sich seine gelbgrünen Augen verdunkelten. „Oh ja, allerdings“, erwiderte er und wollte sie erneut an sich ziehen, doch Carina entfernte sich genau in diesem Moment wieder von ihm.
 

Nicht, dass sie keine Lust gehabt hätte. Die hatte sie, ohne Frage. Allerdings war sie zum einen wirklich todmüde und zum anderen war da immer noch ihre Rache, die nicht halb so gut werden würde, wenn sie ihrem Verlangen jetzt nachgeben würde.
 

„Nimm es mir nicht übel, aber ich bin total fertig. Meine Rippen schmerzen immer noch und ich will eigentlich nur noch etwas essen und dann schlafen.“ Der Undertaker nickte verständnisvoll, wenn jedoch auch leicht enttäuscht. „Ich helfe dir, dann sind wir schneller fertig und du kannst dich früher hinlegen“, meinte er lediglich und die Blondine nickte erfreut. Während sie sich in Richtung der Schränke bewegte, blickte Cedric ihr nach und seufzte innerlich. Das letzte Mal, dass sie miteinander intim geworden waren, war jetzt schon über eine Woche her und er verspürte mittlerweile wirklich Sehnsucht.
 

Vielleicht würde sie ihn ja morgen von seinen Qualen erlösen…
 

Grells Herz raste. Ein dünner Schweißfilm bedeckte seine Stirn und seine Hände zitterten unablässig in den dünnen schwarzen Handschuhen. Nicht einmal damals vor seiner theoretischen Prüfung hatte er sich so aufgeregt und verrückt gemacht. Dazu hatte es immerhin schlichtweg keinen Grund gegeben. Jetzt allerdings sah die Sache bereits ganz anders aus…
 

„Jetzt beruhige dich doch mal, Kollege“, meinte Ronald, der bisher stillschweigend neben ihm hergegangen war und zusammen mit ihm nun genau vor Williams Bürotür stehen blieb. „Er wird nichts tun, was unsere Sicherheit oder Gesundheit gefährden wird, das war immerhin Teil des Deals mit Carina.“ „Das weiß ich, aber darum geht es hier auch nicht“, erwiderte Grell und schluckte, weil seine Kehle mittlerweile der Sandwüste Sahara große Konkurrenz machte. Er hatte keine Angst vor körperlichen Konsequenzen. Vielmehr fürchtete er sich vor dem seelischen Zustand, in dem er sich befinden würde, wenn sie dieses Büro wieder verlassen würden.
 

„Das wird schon“, sagte Ronald. Der junge Todesgott fuhr sich einmal durch seine perfekt gestylten Haare, schien sich zu straffen und klopfte dann fest gegen die Tür. Grell schluckte, als er das gedämpfte „Herein“ vernahm. Auch er straffte sich innerlich, seufzte einmal tief und betrat dann dicht hinter Ronald das Büro ihres gemeinsamen Vorgesetzten.
 

Oder wohl eher die Höhle des Löwen…



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