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Selbstmord ist keine Lösung......oder?

von

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Zusammentreffen I

Es war ihr egal.
 

Es war ihr egal, dass er mit seiner Death Scythe tief in ihren Oberarm schnitt.

Es war ihr egal, dass gleich darauf gelbgrüne Cinematic Records rasend schnell durch den Raum flogen.

Es war ihr egal, dass er sie mit einem sonderbaren kleinen Gerät einscannte und die Kopie anschließend in einer kleinen Filmdose verstaute.
 

Carina war das alles vollkommen egal!
 

Was machte es schon, wenn er bekam was er wollte? Was kümmerte sie es schon, wenn genau in diesem Moment die Welt untergehen würde? Das war sie für sie persönlich doch bereit, als ihr ehemaliger Lehrer ihre beste Freundin enthauptet hatte. Die Schnitterin bemerkte nicht einmal, wie er leise lachend den Raum verließ und die schwere Tür mit einem dumpfen Dröhnen wieder im Schloss einrastete. Immer noch hielt sie Alice’ Kopf fest in ihren Armen, wich jedoch dem Blick dieser starren, leeren Augen aus.
 

Elizabeth hatte inzwischen die Hände von ihrem Gesicht genommen und betrachtete den grauenhaften Anblick vor sich. Obwohl sie für ihr Alter schon relativ viel gesehen hatte und auch nicht zimperlich war, was den Anblick von Blut und abgetrennten Körperteilen betraf, konnte dennoch keiner sie auf dieses schreckliche Bild vorbereiten.
 

Die blonde Frau kniete halb zusammengesunken auf dem blutbespritzten Boden, den abgetrennten Kopf der Schwarzhaarigen dicht an ihren Körper gepresst. Aber nicht nur der Boden war vollkommen in Rot getaucht, auch das ehemals blaue Kleid der Schnitterin war mittlerweile mit riesigen roten Flecken bedeckt. Die seltsamen gelbgrünen Augen der Frau, die Elizabeth sogar in dieser Dunkelheit klar und deutlich sehen konnte, hatten ihren Glanz verloren. „Sie steht unter Schock“, dachte die Midford traurig. Vermutlich bemerkte sie nicht einmal mehr, dass sie immer noch schrie.
 

Doch auch die Schreie wurden nach mehreren Minuten leiser. Nicht etwa, weil Carina damit aufhörte. Es war vielmehr der Tatsache geschuldet, dass ihre Kehle inzwischen so rau und überanstrengt war, dass sie langsam den Geist aufgab. Auch die Tränen versiegten mit der Zeit, sodass die 19-Jährige jetzt nur noch lediglich auf dem Boden saß und ihr Körper automatisch immer wieder vor- und zurückwippte. „Carina“, wisperte Elizabeth zaghaft und erneut kullerten ihr zwei große Tränen über die Wangen. Gott, was hatte dieser Mann nur angerichtet?
 

Carina zeigte keinerlei Reaktion. „Es wird alles gut“, rief Elizabeth nun ein wenig lauter und wiederholte somit die Worte, die die Shinigami ihr vor ein paar Stunden selbst gesagt hatte. „Sie hört mich nicht“, ging es ihr verzweifelt durch den Kopf, als erneut keine sichtbare Reaktion erfolgte. „Ciel wird uns retten. Ganz sicher“, flüsterte sie. Er musste einfach!
 


 

Die junge Mutter war unterdessen in ihrer ganz eigenen Welt gefangen. Es war, als wäre der kerkerähnliche Raum um sie herum verschwunden und hätte einer alles verschlingenden Dunkelheit Platz gemacht, die sich nun hartnäckig an sie klammerte. Sie zu ersticken drohte. Alles, woran sie fortwährend denken konnte, war Alice. Sie konnte sich mit erschreckender Klarheit an alles erinnern. An die ganze Geschichte, die ganzen Worte, die sie beide miteinander geteilt hatten. An ihre allererste Begegnung beispielsweise.
 

„Du musst die Neue sein, richtig?“

„Ja, mein Name ist Carina. Freut mich.“

„Alice.“
 

Mit Alice war es von Anfang an so leicht gewesen. Normalerweise brauchte sie bei neuen Bekanntschaften immer ein wenig Zeit, um mit diesen warm zu werden und sich auf sie einzustellen. Nicht so bei der quirligen Schwarzhaarigen.
 

„Du kannst dich zu mir setzen, wenn du magst.“
 

Die Rezeptionistin hatte sie vom ersten Tag an gemocht und das hatte auf Gegenseitigkeit beruht. Sie war so schnell zu ihrer Freundin geworden, dass Carina es zu Anfang gar nicht richtig realisiert hatte. Die Schwarzhaarige war zu einem festen Bestandteil ihres Lebens geworden. Immer hatte sie ihr von ihrem Arbeitsplatz aus zugewunken, wenn sie mal wieder Schicht gehabt hatte.
 

„Komm bald wieder und pass auf dich auf.“
 

Das hatte sie zu ihr gesagt, kurz bevor sie und Ronald zu der Campania aufgebrochen waren. Danach hatte die 20-Jährige wochenlang um sie bangen müssen, hatte nicht gewusst, was mit ihrer Freundin passiert war. Carina hatte sich nach ihrer Rückkehr so sehr gefreut Alice wiederzusehen. Die Sorge ihrer besten Freundin hatte ihr dabei geholfen, das ganze Vorrangegangene besser verarbeiten zu können.
 

„Du dumme Kuh! H-hast du eigentlich eine Ahnung, was für Sorgen ich mir gemacht habe? I-ich dachte wirklich, d-dass du tot bist.“
 

Und selbst, nachdem sie Wochen später der Schwarzhaarigen die ganze Wahrheit gebeichtet und zugegeben hatte sie angelogen zu haben, hatte sie nicht einen Moment lang gezögert und weiterhin fest hinter der Schnitterin gestanden.
 

„Wie lautet der Plan und wie kann ich helfen? Also ernsthaft Carina, dachtest du wirklich ich würde dich aufhalten wollen? Du bist meine beste Freundin. Ich will, dass du glücklich bist. Und wenn dieses Baby dich glücklich macht, dann werde ich dich so gut es geht unterstützen.“
 

Selbst, als sie den Entschluss gefasst hatte zu gehen…
 

„Es würde mich freuen die Patentante von deinem Baby zu werden.“
 

Und auch, als sie nach ihrer erneuten Begegnung mit Cedric am Boden zerstört gewesen war, hatte Alice ihr den Rücken gestärkt.
 

„Vergiss diese Claudia und hab mal ein wenig mehr Selbstvertrauen. Du bist stark, du bist schön und wirst in nicht allzu ferner Zukunft die Mutter seines Kindes sein. Alles genug Gründe, dass er sich für dich entscheiden wird.“
 

Ohne ihre Unterstützung hätte Carina all das nie im Leben überstanden. Und wie oft die Schwarzhaarige ihr in der Schwangerschaft geholfen hatte. Seien es Tipps, das Abnehmen von Arbeit oder einfach nur gutes Zureden. Sie hatte sich stets auf sie verlassen können.
 

„Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dich in den letzten Wochen noch alleine lassen würde?“
 

Sie hatte sogar einen Nervenzusammenbruch für sie vorgetäuscht, um während des letzten Monats ihrer Schwangerschaft bei ihr bleiben zu können. Hatte sie ermutigt, als die Blondine ihr von ihrer Angst bezüglich der baldigen Geburt erzählt hatte.
 

„Das ist doch ganz normal. Nenn mir eine Frau, die keine Angst vor der Geburt hat.“
 

Und als es dann endlich soweit gewesen war, war sie an ihrer Seite geblieben. Die ganzen langen, unerträglichen 20 Stunden war Alice nicht von ihrer Seite gewichen. Niemals hätte sie die Geburt ohne sie heil überstanden, das wusste sie!
 

„Es wird nicht mehr lange dauern, Carina. Du hast es bald geschafft, da bin ich sicher.“

„Mach genau so weiter. Und bloß das Atmen nicht vergessen.“

„Du hast es fast geschafft. Jetzt nicht nachlassen.“

„Herzlichen Glückwunsch, Carina.“
 

Alice hatte sie gerettet. In jeglicher Hinsicht, wie man einen anderen Menschen nur retten konnte. Und jetzt…
 

„Danke. Für alles. Ich liebe dich, Carina.“

„Lebewohl.“
 

Jetzt war sie tot. Sie war gegangen, für immer, und Carina war dazu verdammt weiter zu leben. Nie wieder würde sie ihre Stimme hören, nie wieder ihr Lachen. Nie wieder konnte sie sich mit Grell über die kleinste Kleinigkeit streiten, nie wieder würde sie an ihrer Seite und für sie da sein. Nie wieder würde sie mit ihr sprechen…
 

Und es war allein ihre Schuld!
 

Hätte sie sich nicht von Mr. Crow gefangen nehmen lassen, wäre das alles nicht passiert! Hätte sie ihre Dolche dabei gehabt, als sie die Wäsche raus gebracht hatte, dann hätte sie sich gegen ihn wehren können! Hätte sie ihn nicht so provoziert und ihn einfach mit ihrem Körper machen lassen, was er wollte, dann könnte Alice noch leben!
 

Und nun hatte ihr Lehrer endlich das bekommen, was er schon so lange wollte. Bei Carinas Glück wären ihre Aufzeichnungen auch noch lesbar und der Todesgott würde nach all den Jahren endlich einen Weg finden in seine eigene Zeit zurückzukehren. Aber vorher würde er in diese Zelle zurückkommen und sie umbringen. Und wenn das passierte… dann wäre Alice’ Tod wahrlich vollkommen sinnlos gewesen.
 

Aber hatte sie den Tod nicht verdient? Vielleicht war das die Strafe dafür, dass sie auf ganzer Linie versagt hatte. Vielleicht wäre es besser, wenn sie nicht mehr da wäre. Wer würde sie denn schon vermissen? Der Einzige, der jetzt noch um sie trauern konnte, war Grell und er wäre ohne sie auch besser dran. Ohne sie würde er sich nicht weiterhin des Verrates am Dispatch schuldig machen. Es wäre vielleicht am Anfang schwer für ihn, aber er war stark! Er würde sich schon wieder fangen. Was machte es also schon, wenn sie starb?
 

„Du dumme Kuh“, hallte es urplötzlich in ihrem Kopf wieder. Diese Stimme… diese Stimme, die sie sich definitiv einbildete, klang erschreckend genau nach Alice. „Denk an Lily. Soll sie etwa ohne ihre Mutter aufwachsen?“
 

Lily…
 

Ein Bild schob sich vor Carinas inneres Auge. Das Bild ihrer kleinen, süßen Tochter. „Lily“, dachte sie und es war der erste klare Gedanke, den sie seit Stunden fassen konnte. Ihr Baby, ihr Mädchen… Sie dürfte sie nicht allein lassen! Das konnte sie ihr nicht antun, das ging nicht!
 

Ihr Verstand klärte sich ein Stück weit und dort, wo bis zuletzt die Dunkelheit gewesen war, konnte sie nun wieder ihre Umgebung erkennen. Mit leeren Augen schaute sie auf Alice’ Kopf hinab, der immer noch in ihrem Armen ruhte, und auf das ganze Blutspektakel. Unter normalen Umständen hätte sie sich vermutlich ein weiteres Mal übergeben, aber in ihrem Bauch und in ihrer Brust klaffte lediglich ein großes, schwarzes Loch. Träge wanderte ihr Blick nach vorne, zu der blutüberströmten Leiche, die Mr. Crow wie Abfall hatte fallen lassen.
 

Erst jetzt fiel Carina das Medaillon auf, das sie ihrer Freundin zu Weihnachten geschenkt hatte. Anscheinend war es ihr nach ihrem Tod vom Hals gerutscht, denn jetzt lag es auf halbem Weg geöffnet auf dem Boden. Und wie Carina es sich damals vorgestellt hatte, war ein kleines Bild dort aufbewahrt worden. Sie selbst stand mit Lily im Arm vor der Hütte, direkt hinter ihr Alice und Grell. Alle grinsten in die Kamera, die Grell damals auf einen kleinen Tisch gestellt hatte, um anschließend die Selbstauslösung zu aktivieren. Der Rothaarige machte natürlich seine Death-Pose, während Alice eine Hand auf Carinas Schulter abgelegt hatte und mit der anderen fröhlich winkte.
 

Die Tränen, die nun erneut über ihre Wangen strömten, brannten in ihren Schürfwunden. Überraschenderweise war es die plötzliche Wut in ihrem Inneren, die Carina aus ihrer Schockstarre herausholten. Mr. Crow hatte dieses Bild für immer zerstört. Es war das einzige Foto, das in dieser Form jemals existieren würde. Alice würde nie wieder mit ihnen zusammen ein Foto machen können. Lily würde ihre Patentante niemals richtig kennenlernen. Sie würde sich nicht an die kurze, gemeinsame Zeit mit ihr erinnern. Es war ungerecht! Ungerecht, weil Alice so viel für ihre kleine Maus getan hatte.
 

Nein, sie dürfte jetzt hier nicht sterben! Sie musste dafür sorgen, dass ihre Tochter eine Mutter hatte und behütet aufwuchs und irgendwann erfuhr, dass sie eine Patentante gehabt hatte, die sie über alles geliebt hatte.
 

„Und er wird büßen“, dachte sie, während sich eiskalter Hass durch ihre Adern fraß, wie sie es noch nie erlebt hatte. Nicht einmal auf die Männer, die sie in den Selbstmord getrieben hatten, war sie so zornerfüllt gewesen. Wenn sie hier herauskam, würde sie ihn in der Luft zerreißen. Sie würde dafür sorgen, dass er niemals in seine Zeit zurückkehrte und wenn es das Letzte war, was sie tat!
 

Carina wollte ihn tot sehen.

Und eins stand fest, dieses Mal würde sie dies im Nachhinein ganz sicher nicht bereuen.
 

Elizabeth zuckte zusammen, als die Blondine gegenüber von ihr sich mit einem Mal bewegte und ganz sanft den Kopf in ihrem Armen zu Boden sinken ließ. „Oh Gott sei Dank“, murmelte sie erleichtert, erstarrte aber sogleich, als sie den Ausdruck in den Augen der 19-Jährigen sah. Dieser hasserfüllte Blick… seltsamerweise erinnerte Carina sie gerade an Ciel. Ihr Verlobter hatte diesen Blick auch schon einige Male gehabt und Elizabeth gefiel das ganz und gar nicht. Keine Frage, sie liebte Ciel, aber diese Seite an ihm machte ihr irgendwie Angst. Wenn er wütend war, dann wirkte er immer so unberechenbar. Und genau dieses Gefühl strömte Carina gerade auch aus und zwar in rauen Mengen.
 

„Wir müssen hier rauskommen“, sagte die Schnitterin in diesem Moment und richtete sich leicht auf, das Blut an ihrem ganzen Körper vollständig ignorierend. „Ich kann nicht darauf warten, dass uns irgendjemand retten kommt. Sobald er die Aufzeichnungen entwickelt hat, wird er kommen und uns beide töten. Wir müssen selbst einen Weg hier raus finden.“ „Aber wie?“, fragte Elizabeth und zog einmal kräftig an ihren Ketten, die natürlich nach wie vor standfest blieben.
 

Carinas Blick glitt in den vorderen Teil des Raumes zu ihrer Death Scythe. „Wenn ich nur mein Katana hätte“, seufzte sie und verfluchte die Welt tausendfach dafür, dass sie den Shinigami nicht die Gabe der Telekinese geschenkt hatte. Die könnte sie nämlich jetzt einmal in ihrem Leben wirklich gut gebrauchen. „Selbst das würde nichts bringen“, seufzte nun auch Elizabeth, woraufhin Carina sie zum ersten Mal seit Stunden wieder ansah. Die Verwirrung stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. „Na ja“, meinte die Midford, „ich habe bereits versucht diese Fesseln mit meinem Degen zu öffnen, aber da ließ sich nichts machen. Sie sind einfach zu robust.“
 

„Das wäre kein Problem“, entgegnete die Schnitterin ohne nachzudenken, „mein Schwert bekommt alles durchtr-“ Sie hielt mitten im Satz inne, als sie die Worte der Adeligen Revue passieren ließ. „Moment mal. Du hast deinen Degen dabei?“ Elizabeth nickte und zog, wie von Geisterhand, ihre versteckte Waffe aus dem Kleid hervor, wie sie es damals bereits auf der Campania getan hatte. Carina – die sich nur schwer die Frage verkneifen konnte, wie man den Degen unter einem Kleid verstecken konnte – fragte stattdessen: „Mr. Crow hat ihn dir nicht abgenommen?“ Elizabeth schüttelte den Kopf. „Nein, hat er nicht. Ich war zwar einige Zeit bewusstlos, aber er scheint mich auch da nicht durchsucht zu haben.“ „Typisch“, murmelte die 19-Jährige. Das sah diesem Drecksack ähnlich. Einfach so eine Frau zu unterschätzen. Er hatte es damals in ihrem Unterricht getan und tat es jetzt erneut. Dabei müsste er es doch auch seiner eigenen Zeit eigentlich besser wissen.
 

Ein weiteres Mal fiel ihr Blick auf ihre Death Scythe. „Wirf ihn mir mal rüber. Ich habe da so eine Idee.“ Elizabeth zögerte kurz. „Du… du willst dir aber nichts antun, oder?“ Carina seufzte. „Eine Waffe dieser Art kann mich nicht umbringen, kleines Mädchen“, dachte sie, sagte aber laut: „Natürlich nicht. Ich habe noch eine offene Rechnung, die ich begleichen muss.“ „In Ordnung“, gab die 15-Jährige schließlich nach und warf ihre einzige Waffe mit einer ziemlichen präzisen Bewegung auf die anderen Seite des Raumes, wo Carina sie gekonnt auffing. „Du bist wahrhaftig die Verlobte des Wachhundes der Königin“, sagte die junge Frau und wollte lächeln, was ihr allerdings reichlich misslang. Der Hass und diese unglaubliche Wut waren momentan das Einzige, was sie aufrecht hielten. Wer wusste schon, was sie tun würde, sobald sie dieser Situation entflohen war?
 

„Konzentrier dich“, ermahnte sie sich selbst. „Du hast nur diese eine Chance. Nutze sie!“ Sie atmete einmal tief durch, ein und wieder aus, bevor sie den Griff um den Degen festigte und mit verengten Augen zu zielen begann. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Nach wie vor schmerzte ihr ganzer Körper. Die Schnittwunden begannen zwar teilweise schon zu verheilen, aber die Knochenbrüche machten ihr zu schaffen. Aber das war ihr egal. Sobald sie Mr. Crow gegenüberstand, wäre all das vergessen, das wusste sie. Wenn sie eines stark machte, dann war es Rage. In diesem Zustand war sie fast zu allem fähig, das hatte sie bereits damals bemerkt, als sie die drei Mistkerle umgebracht hatte und auch, als sie auf der Campania gegen die Bizarre Dolls gekämpft hatte. Womöglich tatsächlich etwas, was sie mit ihren Vorfahren der Familie Phantomhive gemein hatte?
 

„Finde dein Ziel“, flüsterte sie und warf den Degen mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte. Die dünne Klinge zischte durch Luft, beschrieb einen leichten Bogen und schlug dann tatsächlich mit derart viel Druck gegen ihre Death Scythe, das diese ihren Halt an der Wand verlor und halb durch den Raum schlitterte, um anschließend knapp hinter der Liege zum Stehen zu kommen. „Verflucht“, knurrte sie verärgert. Das würde verdammt eng werden.
 

Soweit es ihre Ketten zuließen, kroch sie nach vorne. Sie machte ihre Arme so lang sie konnte, ihre Fesseln rieben dabei unangenehm über ihre ohnehin schon aufgescheuerten Handgelenke. Doch schließlich schaffte sie es mit einiger Anstrengung den Griff ihres Katana mit den Fingerspitzen zu berühren, sodass sie es mit einigen Anläufen näher zu sich ziehen konnte. „Gott sei Dank“, stöhnte sie erleichtert auf und zog die blitzende Klinge aus ihrer Schwertscheide. Mr. Crow würde es bitter bereuen, dass er so dumm gewesen war und ihre Death Scythe nicht vor ihr versteckt hatte, dafür würde sie schon sorgen.
 

Fassungslos sah Elizabeth ihrer Zellengenossin dabei zu, wie sie mit diesem seltsamen Schwert die Ketten zerteilte, als wären sie aus heißer Butter gemacht. „Wie machst du das?“, hauchte sie fasziniert, während Carina endlich aufstehen konnte und sich die schmerzenden Gliedmaßen rieb. „Das sollte dir besser dein Verlobter verraten“, antwortete sie und löste nun auch die Fesseln der Adeligen. „Steh auf. Es wird Zeit, dass wir von hier verschwinden und die Sache selbst in die Hand nehmen.“
 


 

„Und du bist dir auch sicher, dass wir hier richtig sind, Sebas-chan?“, fragte Grell zweifelnd, während die Gruppe – bestehend aus zwei Todesgöttern, einem Teufel und einem kleinen Jungen – durch einen dichtbewachsenen Wald rannte. „Natürlich“, erwiderte der Butler kühl. Ciel, der von seinem Diener getragen wurde, gab ebenfalls seinen Kommentar dazu ab. „Sebastians Spürsinn ist ungeschlagen, das kann ich euch versichern. Scheinbar habt ihr Shinigami ja nicht allzu viel Ahnung davon.“
 

„Wir sind dazu berufen Seelen einzusammeln und nicht dazu, sie aufzuspüren und zu verschlingen“, fauchte Grell. Dieser ungezogene Bengel nahm den Mund wirklich viel zu voll. So langsam konnte er nachvollziehen, warum Carina ihn nicht leiden konnte…
 

Cedric sagte nichts, sondern konzentrierte sich viel mehr auf seine Umgebung und die Bäume, die um sie herum immer dichter zu werden schienen. Außerdem gefiel ihm der Gedanke weiterhin nicht, dass sie seine Tochter bei der Zofe von Elizabeth Midford gelassen hatten, die Sebastian in Windeseile zu der kleinen Hütte gebracht hatte. Die junge Brünette schien zwar vertrauensvoll zu sein und sich auch gut mit Kindern auszukennen – ganz im Gegensatz zu ihm selbst – aber trotzdem hatte er seine Bedenken gehabt. Wodurch er zum ersten Mal mit Grell ein und derselben Meinung gewesen war. Erst, als Ciel vollkommen entnervt bei seiner Ehre und seinem Status als Earl Phantomhive geschworen hatte, dass dem Baby nichts passieren würde, hatten die beiden Todesgötter sich besänftigen lassen.
 

Seine Tochter…
 

„Da vorne“, bemerkte Sebastian und lenkte somit die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf eine kleine Ausbuchtung am Beginn eines höher werdenden Hügels. Mit zwei Handgriffen schob er Äste und grünes Moos beiseite, sodass schließlich eine Art Luke zum Vorschein kam. Grells Finger berührten den massiven Stahl. „Sieht aus wie der Eingang zu einem unterirdischen Bunker. Vielleicht noch aus früheren Kriegszeiten?“ Ciel schüttelte sogleich den Kopf. „Das kann nicht sein. Ich kenne alle unterirdischen Bunker in ganz England.“ Grells warf ihm einen ungläubigen Blick zu, woraufhin der Junge leicht rosa anlief. „Was denn, ich bin der Wachhund der Königin!“, verteidigte er sich sogleich.
 

Sebastians behandschuhte Finger legten sich nachdenklich an sein Kinn. „Wenn ihr darüber nicht Bescheid wisst, junger Herr, dann heißt das lediglich eines. Nämlich, dass dieser Bunker nicht von Menschenhand errichtet wurde.“
 

„Scheint, als wären wir hier tatsächlich richtig“, entgegnete Cedric und bevor der Dämon ihm zuvor kommen konnte, hatte er bereits seine Sense gezückt und stieß sein Schneideblatt mitten durch die Luke hindurch. Ein unschönes Ächzen und Quietschen ertönte, als er seine Death Scythe wieder zurückzog und die gesamte Konstruktion aus ihrer Halterung herausriss. „Nun, so geht’s natürlich schneller“, meinte Grell trocken und Ciel sah gegen seinen Willen beeindruckt aus. Sebastian verengte lediglich seine roten Augen. Immerhin hatte er am eigenen Leib erfahren, zu was diese Sense alles fähig war.
 

Die phosphoreszierenden Augen des Silberhaarigen blitzten in der aufkommenden Dunkelheit der baldigen Nacht auf. „Gehen wir.“ Grell nickte entschlossen und zog seine Todessense nun ebenfalls. „Holen wir Carina da raus und machen dieses Schwein fertig.“ „Sebastian. Elizabeths Sicherheit hat die oberste Priorität, verstanden? Ich befehle dir sie da heil rauszuholen.“ Der Butler verneigte sich lächelnd. „Jawohl, junger Herr.“ Cedric konnte sich ein kleines, schmales Lächeln nicht verkneifen. Zwei wütende Todesgötter und einen Teufel, der alles tun würde, um den Befehl seines Meisters auszuführen? Dieser Crow hatte ja nicht die geringste Ahnung, worauf er sich da eingelassen hatte…
 


 

„Wie sollen wir hier nur jemals rauskommen?“, stöhnte Elizabeth genervt auf, was Carinas Laune sogar kurz aufhellte. Das war ja jetzt ausnahmsweise mal gar nicht so ladylike…
 

Als sie die Tür geöffnet hatte, hatten die beiden Frauen sich in einem engen Flur wiedergefunden, der mehrere Abzweigungen hatte. Auf gut Glück waren sie losmarschiert, aber mittlerweile taten sich immer mehr Kreuzungen auf, neue Gänge kamen im Minutentakt hinzu. Einige Türen hatte sie bereits ausprobiert, doch dahinter befanden sich meistens nur Abstellkammern, Gefängniszellen und einfache Schlafzimmer. Ein einziges Labor hatte Carina gefunden, das allerdings schon lange nicht mehr benutzt worden war.
 

Das hier schien ein äußerst vertracktes Netzwerk aus verschiedenen Räumen, Tunneln und Fluren zu sein. „Ob er sich das in den letzten Jahrhunderten selbst aufgebaut hat? Zuzutrauen wäre es ihm ja in seinem Fanatismus.“ „Wir finden schon einen Weg, keine Sorge. Noch weiß er nicht, dass wir entkommen sind. Aber das kann sich jeden Moment ändern. Also sollten wir so viel wie möglich über seinen Unterschlupf herausfinden, bevor er uns suchen kommt.“
 

„Klingt nach einem Plan“, erwiderte Elizabeth. „Allerdings gefällt es mir immer noch nicht, wie das ausgehen wird.“ „Wovon sprichst du?“, erwiderte Carina, während sie gleichzeitig alle Türen zu beiden Seiten des Flures betrachtete. „Du willst ihn töten, nicht wahr?“ Das Mädchen schaute sie mit ernster Miene an und die Schnitterin konnte einfach nicht anders, als ihr die Wahrheit zu sagen. „Ja.“ „Das verstehe ich“, antwortete die Adelige ruhig. „Aber kannst du ihn besiegen? Er scheint stark zu sein. Was, wenn du ihm nicht gewachsen bist?“ „Gute Frage. Die ich aber leider nicht beantworten kann. Bisher hat er sich mir immer nur entgegengestellt, wenn ich nicht damit gerechnet habe oder nicht dazu bereit war. Aber dieses Mal nicht.“ Die unsagbare Wut packte sie erneut. „Diesmal nicht“, flüsterte sie.
 

Die Shinigami schritt mit der kleinen Fechterin weiter den Gang entlang, bis eine bestimmte Tür im Vorbeigehen ihre Aufmerksamkeit erregte. Auch Elizabeth bemerkte es. „Hier war vor kurzem noch jemand. Da ist kein Staub auf der Türklinke.“ „Du hast ein scharfes Auge, Verlobte des Wachhundes der Königin“, entgegnete Carina, denn auch ihr war dieser Umstand durchaus aufgefallen. Außerdem schien diese Tür generell etwas anders zu sein, als die anderen. Der Spalt, der sich normalerweise zwischen einer Tür und dem Boden befand, war hier nicht vorhanden und das musste einen Grund haben.
 

Zielgerichtet erfasste sie die Klinke und drückte sie hinab, woraufhin die Tür sich widerstands- und geräuschlos öffnete. „Noch ein Zeichen dafür, dass hier vor kurzem jemand drin war. Sie quietscht nicht, wie zum Beispiel die Tür im Labor vorhin.“ Carinas Augen weiteten sich, als sie unendliche Dunkelheit sah – oder eben nicht sah – die sich in diesem Raum befand. Ihr Gehirn brauchte nicht lange, um die einzelnen Gedankenstränge miteinander zu verknüpfen. „Hier sind wir richtig“, knurrte sie und trat ohne zu zögern in die Dunkelheit hinein. Elizabeth folgte ihr nur sehr langsam. Ihre menschlichen Augen gewöhnten sich nur nach und nach an die Schwärze. „Was meinst du?“
 

„Ach ja, das kannst du ja nicht wissen.“ Carina seufzte. Sie war eigentlich nicht so gut in Erklärungen über die Zukunft, aber sie versuchte es trotzdem einmal. „Das klingt jetzt vielleicht ziemlich verrückt in deinen Ohren, aber es gibt Fotos… nein, warte… besser sage ich Bilder, die sich bewegen. Die sozusagen eine Situation wiedergeben-“ „Meinst du diese neue Erfindung, die es vor zwei Jahren gab?“, unterbrach die Adelige sie, woraufhin die 19-Jährige sie fragend ansah. „Dieser Franzose, seine Name war glaube ich Louis Le Prince, entwickelte doch in Leeds, also hier in England, so etwas. Er nannte es Filmkamera mit nur einem Objektiv. Und 1888 drehte er damit diese bewegten Bilder. Das stand ganz groß in der Zeitung.“
 

Carina hatte absolut keine Ahnung von der Geschichte und der Entwicklung des Films, aber wenn die Kleine ihr schon solch eine Vorlage lieferte, wäre sie dumm das nicht für sich ausnutzen. „Ganz genau, das meine ich. Und es gibt sozusagen eine Weiterentwicklung davon, so eine Art Streifen mit sehr vielen kleinen Bildern. Diese Bilder bewegen sich zwar nicht selbstständig, sind aber in solch kurzen Abständen hintereinander auf diesem Streifen zu sehen, dass es einem fast so vorkommt. Verstehst du?“
 

„Ich glaube schon. Klingt zwar tatsächlich ein wenig verrückt, aber warum solltest du lügen? Aber was hat das jetzt mit dieser Dunkelheit zu tun?“ „Damit man diese Bilder erkennen kann, müssen mit den Streifen einige Dinge gemacht werden. Ich kenne mich jetzt ehrlich gesagt nicht so gut mit den ganzen Fachdetails aus, aber eines weiß ich. Ganz zum Schluss müssen diese Bilder getrocknet werden. Und das wird gemacht, indem der nasse Film mit Klammern senkrecht in einem möglichst staubfreien und dunklen Raum aufgehängt wird.“ „Ich verstehe. Du willst diese… diese Bilder also holen?“ Carina nickte. Bei der Vorstellung wie rasend ihn das machen würde, breitete sich Genugtuung in ihr aus. Das wäre der erste Schritt zu ihrem Plan. „Eigentlich wäre es schlauer den Film sofort vollständig zu vernichten. Aber… das ist ein Teil meiner Vergangenheit. Vielleicht kann ich mit ihm endlich Antworten auf meine Fragen finden.“
 

Zielstrebig ging sie auf einen braunen Schrank zu, von dem sie wusste, dass er speziell dafür geeignet war die Filmstreifen schnell trocknen zu lassen. Tief durchatmend öffnete sie die doppelseitige Tür und nahm sogleich die schwarzen, länglichen Streifen in Augenschein. Der gelbgrüne Schein war komplett verblasst und Carina konnte mit einem Blick klar erkennen, dass es sich dabei um ihre eigenen Aufzeichnungen handelte. Was nicht sonderlich schwer, denn eines der kleinen Fenster zeigte sie selbst, als kleines Kind auf einem Fahrrad mit Stützrädern, ihren Vater dicht hinter ihr. Sie ignorierte den schmerzhaften Stich in der Brust, den der Anblick ihres Vaters, den sie so lange nicht gesehen hatte, in ihr auslöste und ergriff vorsichtig das Material. Während sie das Band vorsichtig aufrollte, suchten ihre Augen den Raum weiter ab und schon bald fand sie eines dieser kleinen Filmdöschen. Dort steckte sie den fertig aufgerollten Record hinein und verschloss ihn sorgfältig mit einem kleinen, grauen Deckel. „Ich werde dafür sorgen, dass dieser Mistkerl meine Aufzeichnungen niemals zu Gesicht bekommt“, murmelte sie und verstaute das Döschen seitlich in ihrem BH. Erst würde er sie töten müssen!
 

„Wir sollten uns beeilen so schnell wie möglich von hier wegzukommen. Oder zumindest so weit weg von diesem Raum, wie es nur irgendwie geht“, sagte Elizabeth und sah unruhig zur Tür, als befürchtete sie Mr. Crow würden jeden Moment hindurch treten. Carina nickte zustimmend. „Gehen wir!“
 

Dummerweise hatte Carina sich gewaltig verrechnet. Natürlich, sie wusste, dass ihre Abwesenheit nicht lange verborgen bleiben würde, aber bereits 10 Minuten nachdem sie den Film eingesammelt hatten, ertönte ein knackendes Geräusch über ihnen, was beide Frauen zusammenzucken ließ. Carinas Kopf fuhr nach oben. Unterhalb der Decke befand sich ein glatter Kreis, der der jungen Frau seltsam bekannt vorkam. „Sieht aus wie eine Art Lautsprecher…“ Und bereits in der nächsten Sekunde sollte sich ihre Vermutung bewahrheiten, denn die laute Stimme ihres persönlichen Erzfeindes hallte laut durch den gesamten Bunker. Und er klang alles andere als erfreut.
 

„Carina!“, grollte sein Knurren durch die Hallen und automatisch erfasste eine Gänsehaut den Körper der Angesprochenen. Scheinbar hatte er bereits bemerkt, dass sein Freifahrtsschein nach Hause nicht mehr dort war, wo er sein sollte. Und so war es auch.
 

„Du hast da etwas, was mir gehört.“ Carina schluckte. Allein schon sein Tonfall war eine Drohung an sich. „Glaube mir, wenn ich dich in die Finger bekomme, dann wirst du dir wünschen niemals geboren worden zu sein.“
 

„Weiter“, drängte Carina ihre Vorfahrin, packte sie am Arm und gemeinsam rannten sie den Gang weiter entlang. Doch natürlich konnten sie seiner Stimme nicht entkommen. „Dagegen wird dir das, was ich bisher mit dir angestellt habe, wie ein Spaziergang vorkommen. Das verspreche ich dir. Du hinderst mich nicht an meinem Plan. Du nicht!“ „Das werden wir ja sehen“, zischte Carina, obwohl er sie natürlich nicht hören konnte. Aber sie würde auch keine Probleme damit haben ihm das direkt ins Gesicht zu sagen, wenn er schließlich live vor ihr stünde. „Ich werde dich rächen, Alice. Ich verspreche es dir!“
 

Mittlerweile hatten sie einen größeren Raum erreicht, der sogar noch über ein zweites Stockwerk verfügte. Zu beiden Seiten der oberen Etage gab es jeweils einen weiteren langen Flur. Diese liefen am anderen Ende des Raumes in einer Treppe zusammen, die runter zu ihnen führte.
 

„Wie ihr schon bald bemerken werdet, habe ich ein paar meiner neuen Gehilfen losgeschickt, um euch wieder einzufangen. Dafür darfst du dich bei deinem Bestatter bedanken, der mir sozusagen die Idee dazu geliefert hat. Also macht euch keine Hoffnungen hier jemals lebend wieder rauszukommen.“ „Wovon spricht er da?“, keuchte Elizabeth, die bloße Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Hoffentlich nicht, wovon ich denke, dass er spricht“, antwortete Carina. Es gab nur eine einzige Sache, die Mr. Crow sich von Cedric abgeguckt haben konnte. Eine einzige Sache, die Grell und Ronald damals ausführlich zu Protokoll gegeben hatten. Doch wie es so oft am heutigen Tag der Fall gewesen war, wurde ihre Hoffnung auch dieses Mal gnadenlos zerstört.
 

Sie hörte sie, noch bevor sie sie sah. Obwohl Carina sie bereits so oft gesehen hatte, war es doch wieder ein Schock, die wandelnden Leichen hinter ihnen um die Ecke biegen zu sehen. Die Bizarre Dolls. „Verdammte Scheiße nochmal“, fluchte sie, was ihr einen tadelnden Blick von Elizabeth einbrachte. Aber sie hatten jetzt keine Zeit für Benimmunterricht, das sah selbst das jüngste Mitglied der Familie Midford ein. In einer fließenden Bewegung zog sie ihren Degen und richtete die Spitze nach vorne. Ihr Körper ging automatisch in die Grundstellung über. „Wir haben sie auf der Campania beseitigt, dann schaffen wir das auch noch ein weiteres Mal. Richtig?“
 

Carina grinste, zog ihre Death Scythe und stellte sich parallel zu ihr auf. „Richtig, Verlobte des Wachhundes der Königin.“ Die 15-Jährige verzog leicht den Mund. „Mein Name ist Elizabeth.“ „Nun gut, Elizabeth“, verstand die Schnitterin die stumme Aufforderung. „Gibst du mir Rückendeckung?“ Angesprochene lächelte leicht. „Nur zu gerne.“
 


 

„Mir gefällt das hier ganz und gar nicht“, gab Grell zu, während sie durch die stockdunklen Gänge wanderten. „Das hier scheint ja fast so etwas wie ein Labyrinth zu sein. Wie sollen wir die beiden denn hier nur jemals finden?“ „Na, mit unserem Seelendetektor natürlich“, grinste der Totengräber und handelte sich sogleich einen genervten Blick des Butlers ein. „Was sagen denn die Sinne, Teufel?“ Sebastian schloss kurz die Augen, als würde er um Beherrschung ringen. „Wir sind auf der richtigen Spur“, sagte er nur.
 

Ciel schien von Minute zu Minute nervöser zu werden. „Wenn er Lizzy etwas angetan hat…“, zischte er und ließ den Satz unbeendet. Das brauchte er auch gar nicht, Grell und der Undertaker konnten sich das auch so ganz gut zusammenreimen. „Unterschätzt Eure Verlobte mal besser nicht“, grinste der Rothaarige. „Auf der Campania haben wir schließlich gesehen, dass sie um einiges besser allein zurecht kommt als ihr, nicht wahr?“ Ciel wurde rot im Gesicht und selbst Sebastian musste ein kleines Lächeln hinter seiner Hand verbergen. „Wo er Recht hat“, begann er, wurde aber mit einem einzigen Blick seines Meisters zum Schweigen gebracht.
 

Alle Anwesenden zuckten ein wenig zusammen, als plötzlich eine laute Stimme durch die einzelnen Gänge hallte. „Carina!“ Cedric verengte die Augen, während Ciel sich suchend umschaute. „Ich sehe niemanden. Wo kommt diese Stimme her?“ „Hört sich an wie ein Lautsprecher“, meinte Grell angespannt. Ciel sah ihn nur fragend an. „Ein was?“ Der Reaper verdrehte die Augen. „Nicht so wichtig.“ „Du hast da etwas, was mir gehört“, erklang die Stimme erneut. Grell konnte einfach nicht anders, er grinste. „Scheint, als hat Carina die Sache selbst in die Hand genommen. Dieser Dreckskerl scheint sie aus den Augen verloren zu haben.“ Doch die nächsten Worte des Shinigami wischten das Grinsen restlos von seinen Lippen. „Glaube mir, wenn ich dich in die Finger bekomme, dann wirst du dir wünschen niemals geboren worden zu sein. Dagegen wird dir das, was ich bisher mit dir angestellt habe, wie ein Spaziergang vorkommen. Das verspreche ich dir. Du hinderst mich nicht an meinem Plan. Du nicht!
 

Die beiden Todesgötter warfen sich einen Blick zu, der nur eines klar und deutlich zum Ausdruck brachte: Wenn sie diesen Kerl in die Finger bekämen, dann wäre er es, der sich wünschen würde niemals geboren worden zu sein!
 

„Ich würde ja nur zu gerne wissen, von welchem Plan er da spricht“, murmelte Sebastian, während sie sich nun wieder in Bewegung setzten, dieses Mal schneller. Das fragte sich Cedric auch schon seit geraumer Zeit. Was für eine Erklärung mochte es wohl für das alles geben?
 

„Wie ihr schon bald bemerken werdet, habe ich ein paar meiner neuen Gehilfen losgeschickt, um euch wieder einzufangen. Dafür darfst du dich bei deinem Bestatter bedanken, der mir sozusagen die Idee dazu geliefert hat. Also macht euch keine Hoffnungen hier jemals lebend wieder rauszukommen.“ Grell und Sebastian warfen besagtem Bestatter einen bösen Blick zu. Sie konnten sich schon ziemlich genau denken, um welche Idee es sich hier handelte. Cedric hingegen ignorierte die beiden, war er doch ebenfalls alles andere als begeistert. Die Bizarre Dolls waren sein Experiment!
 

„Verflucht, nicht schon wieder“, regte sich Grell auf, als dann tatsächlich Dutzende von den wandelnden Toten in ihrem Sichtfeld erschienen. „Niemand bedroht ungestraft meine Verlobte. Sebastian, töte sie! Endgültig!“ „Jawohl, junger Herr“, wiederholte der Butler gehorsam und stürzte gleichzeitig mit den beiden Shinigami los. Es dauert nicht lange, da hatten die Drei in dem schmalen Gang aufgeräumt. „Das können nicht alle gewesen sein“, gab der Undertaker von sich. „Stimmt, mit denen wäre Carina spielend leicht fertig geworden“, erwiderte Grell. Genau in diesem Moment ertönten von nicht allzu weit weg ebenfalls Kampfgeräusche.
 

„Lizzy“, flüsterte Ciel atemlos und rannte los, dicht gefolgt von Sebastian. „Könnten wir wirklich mal so viel Glück haben?“, murmelte Grell und lief ebenfalls los. „Finden wir es raus“, antwortete der Bestatter, Grell dicht auf den Fersen. Sie sprinteten zwei weitere Gänge entlang, bogen einmal links und dann schließlich wieder rechts ab, immer darauf bedacht, dass die Geräusche lauter wurden. „Da vorne“, rief Grell und deutete auf das Ende des Ganges, wo es heller wurde. Möglicherweise ein größerer Raum?
 

Sebastian und Ciel erreichten den Ausgang als erstes. Vollkommen außer Atem klammerte sich der Earl an dem Geländer des oberen Stockwerks fest und ließ seinen Blick nach unten wandern. Er japste laut nach Luft und genau in diesem Augenblick erreichten auch Cedric und Grell die Brüstung. Mit dem, was sich unter ihnen abspielte, hatte wohl keiner so recht gerechnet.
 

Unzählige der wandelnden Leichen lagen bereits blutüberströmt am Boden, die meisten davon ohne Kopf. Mindestens 20 weitere standen dicht gedrängt im Erdgeschoss und schritten alle in dieselbe Richtung. Lediglich ein kleiner Kreis am anderen Ende des Raumes wurde nicht von den Bizarre Dolls besiedelt.
 

Und in diesem Kreis standen Carina und Elizabeth, Rücken an Rücken, beide Waffen hoch erhoben und kämpften. Und Herrgott, wie sie kämpften. Ihre Klingen wirbelten beinahe schon kunstfertig durch die Luft, durchschnitten alles, was in ihre Reichweite kam. Die Bewegungen der beiden Frauen wirkten routiniert und meisterhaft aufeinander abgestimmt. Als hätten sie es einstudiert, als würden sie schon Jahrzehnte Seite an Seite kämpfen. In diesem Moment sahen sie sich seltsamerweise irgendwie ähnlich.
 

Ciel und Cedric öffneten den Mund, vergaßen jedoch vollkommen ihn wieder zu schließen. Während der Earl sich lediglich auf seine Verlobte konzentrierte, lagen die Augen des Silberhaarigen auf Carina. Ihre Hiebe waren erstaunlich schnell, die Beinarbeit nahezu perfekt. Ihre Haare – die, wie er jetzt erst bemerkte, nur noch schulterlang waren – wirbelten hinter ihrem Kopf umher, während sie gekonnt vor und zurück sprang, jede Bewegung der Leichen mit Argusaugen verfolgte und ihren Körper zum richtigen Zeitpunkt in die korrekten Richtungen neigte.
 

Apropos Körper: Auch dieser hatte sich ganz eindeutig verändert. Ihre Rundungen traten nun deutlicher hervor und selbst aus dieser Entfernung konnte er mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass ihre Brüste größer waren als zuvor. Vermutlich alles Nebenwirkungen der Schwangerschaft.
 

Blut spritzte um sie herum, berührte sie jedoch dank ihren schnellen Bewegungsabläufen nicht. Es hatte fast schon etwas Ästhetisches an sich.
 

Plötzlich wummerte sein Herz ganz komisch in seiner Brust. Der Bestatter konnte es einfach nicht leugnen. Carina wirkte in diesem Zustand gerade einfach absolut umwerfend auf ihn. Und dennoch… da gab es ein paar Dinge, die ihm ganz und gar nicht gefielen. Das ehemalige blaue Kleid, das sie am Leib trug, war an vielen Stellen zerrissen und hatte sich größtenteils mit Blut vollgesogen. Auf ihrem Gesicht, den Armen und Beinen befanden sich verheilende Schnittwunden und Blutergüsse. Doch das waren Dinge, die ein Shinigami ohne Weiteres wegstecken konnte. Viel mehr Sorgen machten ihm ihre Augen. Da war etwas in den Tiefen der gelbgrünen Seelenspiegel; etwas, das vorher noch nicht da gewesen war. Er war sich nicht sicher, konnte es nicht genau benennen. War es Wut? Resignation? Oder doch etwas gänzlich anderes? Es verpasste ihr jedenfalls eine vollkommen andere Aura, sie wirkte plötzlich wesentlich erwachsener. Was auch immer es war: Cedric gefiel es nicht im Geringsten.
 

Endlich schien Ciel seine Sprache wiedergefunden zu haben. „Lizzy“, schrie er nach unten und sogleich wandte Angesprochene ihren Kopf nach oben. Sofort leuchteten ihre jadegrünen Augen vor Freude auf. „Ciel“, rief sie überglücklich zurück.
 

Carina hörte den Ruf ihrer Kampfpartnerin, als sie gerade damit beschäftigt war die Spitze ihrer Death Scythe in einen weiteren Schädel zu rammen und gleichzeitig zwei andere der Puppen abzuwehren. Der Earl schien also endlich auf der Bildfläche erschienen zu sein. Wurde auch langsam Zeit! Eine Art der Erleichterung machte sich in ihr breit. Wenn Sebastian und Ciel hier waren, dann wäre ihre erste Priorität Elizabeth in Sicherheit zu bringen. „Perfekt. Dann kann ich mich endlich um ihn kümmern!“
 

Doch dann ertönte eine erneute Stimme. Ein Ruf, der sie vollkommen aus dem Konzept brachte. „Carina.“ „Grell?“, dachte sie überrascht, zog ihr Katana ruckartig aus dem Kopf der nun wirklich toten Gestalt zurück und riss ihren eigenen Kopf nun ebenfalls nach oben. Tatsächlich, neben Ciel und Sebastian stand wirklich Grell und sah sie mit unendlicher Erleichterung im Gesicht an. Doch im Gegensatz zu sonst konnte Carina sich ausnahmsweise einmal nicht so sehr freuen ihn zu sehen. Seine Anwesenheit würde ihren Plan um einiges erschweren. Grell würde sie sicherlich nicht einfach so zurück zu ihrem Peiniger marschieren lassen, darüber war sich die 19-Jährige im Klaren.
 

Gerade, als die Schnitterin den Mund öffnen wollte, erregte eine Bewegung unmittelbar neben Grell ihre Aufmerksamkeit. Carinas Augen wanderten weiter nach links und als sich ihr Blick schließlich mit einem anderen gelbgrünen Augenpaar kreuzte, erstarrte alles in ihr zu Eis. Auch ihr Herz fror mitten in ihrer Brust plötzlich ein.
 

Nein, das… das war unmöglich! Er… er konnte nicht hier sein! Ihr Verstand musste ihr einen bösen Streich spielen. Aber genau in diesem Moment trat er einen Schritt nach vorne, dicht an das Geländer heran, und räumte auch noch ihren allerletzten Zweifel aus dem Weg. Sie musste sich der Realität stellen. Er war hier! Cedric war tatsächlich hier!
 

Und Carina hatte ihn noch nie weniger sehen wollen, als in diesem Augenblick…



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  lula-chan
2018-05-22T16:16:17+00:00 22.05.2018 18:16
Tolles Kapitel. Gut geschrieben. Carinas Gefühle kamen sehr gut rüber.
Carina und Lizzy konnten sich also befreien. Das ist gut. Weniger gut ist jedoch das, was Carina vor hat.
Ich bin schon gespannt, wie es weitergeht, und freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Von:  Haji
2018-05-22T14:12:15+00:00 22.05.2018 16:12
Ein super Kapitel vielen Dank.
Ich habe mich sehr gefreut :D. Ich bin schon auf das nächste gespannt *~*


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