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Blauregen

von

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Katsuya blinzelte. Die frühe Morgensonne, die durch das schmale Fenster des Appartements auf das Bett fiel, hatte ihn wachgekitzelt. Einen Augenblick lang fühlte er sich merkwürdig desorientiert, so als hätte er zum ersten Mal an einem unbekannten Ort geschlafen. Sicher, das hier war eindeutig sein Appartement, doch irgendetwas war anders als sonst; irgendetwas stimmte nicht… Irritiert setzte Katsuya sich auf und die Bettdecke glitt von seinen Schultern.

„Morgen.“

Vor Schreck wäre Katsuya beinahe aus dem Bett gefallen. Diese Stimme… Das war doch, das konnte nicht sein… Neben ihm auf dem Bett saß Subaru, nackt wie Gott ihn schuf, die Knie mit den Armen umschlungen und den Blick aus dem Fenster gerichtet.

Katsuya räusperte sich, um seine Verwirrung zu überspielen: „Irgendwie dachte ich, wenn ich aufwache, bist du längst über alle Berge.“

„Tja…“

Was war das denn für eine Antwort? Sicher, ein Teil von Katsuya hatte heimlich gehofft, dass Subaru nicht verschwinden würde – aber was war mit dieser abweisenden Haltung? Der Kerl tat ja gerade so, als wäre das hier sein Appartement.

„Gibt es einen bestimmten Grund dafür, dass du immer noch hier bist?“, hakte er also in bemüht sachlichem Tonfall nach, doch Subaru machte sich noch immer nicht die Mühe, ihn auch nur anzusehen.

„Weiß nicht, wo ich hin soll“, antwortete er knapp. Katsuya konnte seinen Ohren kaum trauen. War das etwa alles?

„Es gibt doch eine Menge Schwulenbars in der Stadt. Wieso reißt du dir da nicht einfach einen netten Typen auf, der dich mit nach Hause nimmt?“, fragte er mit kalter Stimme und schlug die Decke zurück. Er hatte nicht vor, auch nur eine Sekunde länger mit diesem Kerl im selben Bett zu verbringen – auch wenn er selbst nicht sagen konnte, was genau ihn eigentlich so wütend machte.

„Da kann ich nicht mehr hin.“

Subarus Stimme war genauso tonlos wie zuvor, doch irgendetwas an diesen Worten ließ Katsuya aufhorchen.

„Wieso nicht?“, fragte er nach einer kurzen Pause vorsichtig und beobachtete Subarus von der einfallenden Morgensonne beschienenes Profil. Er hatte das Gefühl, dass sich seine Augen ein klein wenig verengt hatten – aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein.

„Die suchen nach mir“, gab Subaru zurück und Katsuyas Augen weiteten sich.

„Wer?“

Doch Subaru schien nicht in der Stimmung, die Frage zu beantworten. Oder vielleicht konnte er sie nicht beantworten. Waren die Typen, die hinter ihm her waren, so gefährlich? Oder hatte er sich die ganze Geschichte vielleicht nur ausgedacht, um sich bei Katsuya einzunisten? Doch ganz gleich was es war – sein Schweigen ließ auch den letzten von Katsuyas Geduldsfäden reißen.

„Du wirst also verfolgt. Und da dachtest du dir, du schmeißt dich einfach dem nächstbesten Polizisten an den Hals, der wird das Problem schon für dich lösen, oder was?“

„So ungefähr.“

Damit griff Subaru nach einer kleinen Schachtel, die er irgendwann heute Nacht auf dem Beistelltisch neben dem Bett deponiert haben musste, und zog eine Zigarette heraus. Was war bloß los mit dem Kerl?

„Hey, du kannst hier drinnen nicht rauchen!”

„Wieso nicht?”

„Weil das ein Nichtraucherappartement ist. Außerdem stinkt es.”

„Hm...”

Katsuya konnte nicht sagen, ob Subaru wirklich verstanden hatte, worauf er hinaus wollte, doch zumindest schob er die Zigarette zurück in ihre Schachtel. Seltsamerweise genügte diese kleine, einsichtige Geste, um die Wut, die sich in den letzten Minuten in Katsuyas Brust angestaut hatte, vollständig verpuffen zu lassen.

Subaru war wirklich nicht gerade der umgänglichste Typ. Er sagte und tat nur das, was ihm gefiel und scherte sich einen Dreck darum, wie es anderen dabei erging. Und eine vernünftige Antwort war aus ihm auch nicht rauszukriegen. Ehrlich gesagt wusste Katsuya nicht einmal, wieso er ihn nicht einfach ohne Umschweife vor die Tür setzte. So lief das doch normalerweise bei einem One-Night-Stand – oder? Man blieb genau eine Nacht. Nicht mehr und nicht weniger. Nicht, dass Katsuya besonders viel Erfahrung in diesen Dingen gehabt hätte ... Doch irgendetwas hielt ihn davon ab, Subaru einfach nackt wie Gott ihn schuf aus dem Appartement zu jagen und ihm seine Kleider hinterher zu werfen. Etwas an ihm faszinierte den Polizisten – und das hatte nichts mit dem zugegebenermaßen wahnsinnig guten Sex zu tun, den sie vergangene Nacht gehabt hatten. Er hatte es bereits gespürt, als er Subaru zum ersten Mal gesehen hatte, am Geländer dieser Hochstraße, von den Scheinwerfern der vorbeifahrenden Autos beschienen ...

„Hör mal”, begann er schließlich ein wenig unsicher, „wenn du mit aufs Revier kommst und den Kollegen deine Geschichte erzählst, können wir dich vielleicht in ein Schutzprogramm aufnehmen.”

„Das bringt doch nichts.”

Subarus negative Einstellung war für Katsuya wie eine persönliche Beleidigung. Ganz offensichtlich hatte er kein besonderes Vertrauen in die Polizei. Wieso zur Hölle hatte er sich dann ausgerechnet an ihn rangemacht? Hatte er nicht gesagt, dass er sich einen Polizisten ausgesucht hatte, damit er seine Probleme für ihn löste? – Nein, halt. Die Worte hatte Katsuya ihm in den Mund gelegt. Aber er hatte es auch nicht bestritten, also...

„Jetzt raus mit der Sprache, was hast du angestellt?”, hakte Katsuya noch einmal nach, doch ganz wie er erwartet hatte, blieb der erwünsche Erfolg aus.

„Ich will nicht darüber reden.”

Damit schwang Subaru sich aus dem Bett und sammelte seine Kleider ein, die noch immer auf dem Boden verstreut lagen. Da die Klimaanlage das Appartement auf angenehme zwanzig Grad herunterkühlte, war sie sicher noch klamm vom gestrigen Regen, doch Subaru schlüpfte trotzdem in Shorts und Hose und streifte sich das schlichte, schwarze T-Shirt über den Kopf.

„Wie soll ich dir helfen, wenn du nicht darüber reden willst?”, startete Katsuya einen letzten verzweifelten Versuch, Subaru eine vernünftige Antwort abzuringen, und dieses Mal wandte er sich endlich zu ihm um. Seine Augen wirkten stumpf und leer, genau wie gestern Nacht ... Der Anblick ließ Katsuya einen Schauder über den Rücken laufen. Er würde doch nicht wieder versuchen, sich umzubringen – oder?

Subaru zog etwas aus der Tasche seiner Jeans und warf es zu Katsuya hinüber, der es reflexartig auffing. Erst als er auf seine geöffneten Hände hinab sah, erkannte er, was es war.

„Das ist der Schlüssel für ein Schließfach der Shoko Chukin Bank. Da drin sind 100 Millionen Yen – in Kokain.”

„Wie bitte?”

„Das Geheimwort ist Blauregen.”

Katsuya suchte in Subarus Augen nach einem Hinweis auf einen schlechten Scherz, doch alles, was er fand, war nüchterner Ernst.

„Dann bist du also ein Kurier.”

Das Wort hinterließ einen bitteren Nachgeschmack auf Katsuyas Zunge. Man musste kein Genie sein, um sich zusammenzureimen, was passiert war. Subaru hatte im Auftrag irgendeines mächtigen Tiers des Tokyoer Untergrunds Kokain nach Japan geschmuggelt, doch anstatt es wie ausgemacht zu übergeben, hatte er sich damit aus dem Staub gemacht und nun war sein Auftraggeber hinter ihm her.

„Kein Kurier”, wandte Subaru ein. „Eher ein Hund.”

Katsuya wusste nicht, was er damit meinte, doch das war in diesem Augenblick auch die letzte seiner Sorgen.

„Warum gibst du mir den Schlüssel?”

Wenn Subaru seinen Auftraggeber hintergangen hatte, dann doch wohl, um Profit aus der Sache zu schlagen. Was ergab es da für einen Sinn, den Schlüssel zu diesem potentiellen Reichtum einem völlig Fremden zu übergeben – und dann auch noch einem Polizisten?

„Mach damit, was du willst. Stell das Zeug sicher oder verkauf es – mir egal.”

„Wie, dir egal? Hey, warte doch mal!”

Doch Subaru war bereits an der Tür. Katsuya hatte ein verdammt schlechtes Gefühl dabei, ihn gehen zu lassen, doch was hätte er tun sollen? Er konnte ihn schließlich nicht fesseln und knebeln, um ihn zu zwingen, sich der Polizei zu stellen.

„Bye.”

Das war Subarus letztes Wort. Die Tür des Apartments fiel hinter ihm ins Schloss und Katsuya hörte noch, wie sich seine Schritte draußen auf dem Flur entfernten – dann war es still.

Ungläubig starrte der Polizist auf den Schlüssel, der noch immer in seiner geöffneten Hand ruhte. Die ganze Situation war so absurd, dass sich sein Kopf weigerte, die vielen neuen Informationen zu verarbeiten. Wo war er da bloß reingeraten?

Die Stille drückte auf Katsuyas Ohren. Das Appartement war eigentlich viel zu klein für zwei Personen – doch nun, da Subaru verschwunden war, wirkte es merkwürdig leer. Vielleicht hätte Katsuya ihn doch aufhalten sollen ...

Langsam ließ er den Blick aus dem Fenster schweifen – gerade rechtzeitig, um Subaru aus dem Hauseingang kommen zu sehen. Er schien es sehr eilig zu haben, so wie er die Auffahrt hinab rannte. Katsuya wollte gerade den Blick abwenden, als er einen auffällig teuren Wagen am Straßenrand bemerkte, der ganz und gar nicht in diese Gegend zu passen schien. Eine schwarze Limousine ... Gestern Abend, als er mit Subaru nach Hause gefahren war, hatte der Wagen ganz sicher noch nicht dort gestanden.

Dann plötzlich, als Subaru das Ende der Anwohnerparkfläche beinahe erreicht hatte, näherte sich ihm ein Mann im schwarzen Anzug. Als Subaru ihn bemerkte, machte er Anstalten zu flüchten, doch der Mann packte ihn am Handgelenk und zerrte ihn hinüber zur Limousine. Subaru kämpfte wie ein Tier, um sich aus seinem Griff zu befreien, doch der Mann war einen guten Kopf größer als er und mindestens doppelt so breit. Subaru hatte keine Chance.

Katsuya ballte die Hände zu Fäusten. Die Erkenntnis seiner eigenen Machtlosigkeit traf ihn wie ein Hieb mit einem stumpfen Schwert. Selbst wenn er jetzt nach unten gerannt wäre, hätte er den Wagen nie rechtzeitig erreicht, um ihn aufzuhalten. Er war Zeuge eines Verbrechens – er war Polizist, verdammt. Und doch war er in diesem Augenblick so hilflos wie ein Kind.

Als die schwarze Limousine in Richtung Hauptstraße davon fuhr, hefteten sich Katsuyas Augen auf das hintere Nummernschild. Adachi 357 ki 83-12. Ohne den Blick vom Fenster abzuwenden, tastete er auf dem Nachttisch nach seinem Diensthandy – doch alles, was er fand, war die Schachtel Zigaretten, die Subaru dort zurückgelassen hatte. Natürlich, das Handy musste noch immer am Gürtel seiner Hose sein.

Katsuya wirbelte herum und stolperte zu seiner Kleidung hinüber, die auf einem großen Haufen nahe der Tür auf dem Boden lag. Die Sekunden zogen sich in die Länge. Endlich fand er seine Hose, riss das Handy hervor und wählte eine Kurzwahl. Sein Herzschlag dröhnte in seinen Ohren, während das Klingelzeichen ertönte. Dann endlich klickte es in der Leitung.

„Tatsumoto? Kannst du ein Kennzeichen für mich überprüfen? Adachi 357 ki 83-12.”

Katsuyas Stimme war völlig ruhig. Es war ganz so wie immer – je schneller sein Herz schlug und je stärker sich seine Nerven spannten, desto mehr klärten sich seine Gedanken. Es war die Art von Konzentration, die alles Überflüssige von ihm abfallen ließ – alle Gedanken, alle Zweifel, alle Gefühle. Dieselbe Konzentration, die seinen Finger keine Sekunde zögern ließ, wenn er den Abzug seiner Dienstwaffe drückte – schießen oder erschossen werden, fressen oder gefressen werden. Es war mehr ein Instinkt als die Frucht des Trainings auf der Polizeischule. Und auch wenn Katsuya als Streifenpolizist meist eher weniger aufregenden Aufgaben nachging, hatte er ihm schon mehr als einmal den Hals gerettet.

„Katsuya... Hast du nicht heute Spätschicht?”

Tatsumoto klang ehrlich verwundert, doch Katsuya hatte nicht die Muße, seinem langjährigen Freund und Kollegen die Situation zu erklären. Er hätte ohnehin nicht gewusst, wo er anfangen sollte.

„Das ist doch jetzt egal. Machst du‘s oder nicht?”

Es folgte eine kurze Stille, doch dann hörte Katsuya Tatsumoto seufzen.

„Die Suche läuft schon. Warte ... Der Wagen ist auf Keisuke Iwasaki registriert.”

Katsuyas Augenbrauen zogen sich zusammen. Yakuza – er hatte es geahnt. 100 Millionen Yen in Kokain – das war kein Spielzeug für jemanden außerhalb des organisierten Verbrechens, auch wenn er nicht hatte glauben wollen, dass Subaru tatsächlich so tief in den Sumpf der Yakuza hineingezogen worden war. Keisuke Iwasaki war der offizielle Kopf der Matsuba-kai, einer eher kleinen, dafür aber umso brutaleren Organisation in Tokyo Taitou.

„Du weißt, was das heißt, oder?”, meldete sich Tatsumoto am anderen Ende der Leitung wieder zu Wort. „Was immer du gesehen hast: vergiss es. Das geht uns nichts an.”

Katsuya konnte nicht antworten. Es war ihm sehr wohl bewusst, dass alles, was mit der Yakuza zu tun hatte, nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fiel. Mehr als das: Es war ein ungeschriebenes Gesetz, sich nicht in die Machenschaften des organisierten Verbrechens einzumischen und die wenigsten der in diesem Rahmen verübten Straftaten kamen je vor Gericht. Die Yakuza hatte mächtige Freunde in Wirtschaft und Politik – und auch bei der Polizei. Katsuya ballte die freie Hand zur Faust, bis seine Fingerknöchel knackten.

„Hast du gehört, Katsuya? Mach keinen Mist, ja? Katsuya!”

Doch Katsuya hatte bereits aufgelegt. Er konnte Tatsumotos Standpunkt verstehen und er hatte nicht vor, ihn noch weiter in die Sache mitreinzuziehen. Katsuya hätte sich selbst ebenfalls raushalten sollen, das wäre vernünftig gewesen. Doch er konnte es nicht. Sein Blick fiel auf den Schlüssel zum Schließfach der Shoko Chukin Bank, den er auf das Bettlaken hatte fallen lassen, als er nach seinem Handy gesucht hatte. Die Sache ging ihn längst etwas an ...

Plötzlich machte sich sein Diensthandy mit einem lauten Piepen bemerkbar. Überrascht hob Katsuya es ans Ohr.

„Hast du mich gerade abgehängt? Dir ist schon klar, dass du mich angerufen hast und nicht umgekehrt, oder? Also: Was ist passiert?”

Einen Augenblick lang war Katsuya wie vor den Kopf gestoßen. Selbst Tatsumoto musste sich an allen zehn Fingern abzählen können, dass Katsuya irgendwie in die Geschäfte der Yakuza verwickelt worden war, und er kannte ihn gut genug um zu wissen, dass Katsuya es nicht einfach auf sich beruhen lassen konnte. Jeder normale Mensch hätte so getan, als hätte das Gespräch gerade eben nie stattgefunden. Nicht aber Tatsumoto, dieser Idiot. Das war sicher einer der Gründe, wieso seine Frau nichts mehr von ihm wissen wollte.

„Ich kann das nicht am Telefon erklären”, gab Katsuya ausweichend zurück und war drauf und dran wieder aufzulegen, als sich Tatsumoto erneut zu Wort meldete.

„Gut, dann komme ich zu dir.”

„Was? Moment mal, du bist doch im Dienst.”

„Dann bin ich eben krank.”

„Spinnst du?”

„Oah, mein Magen...”, stöhnte Tatsumoto in offensichtlich gespielter Qual. „Ich bin in fünfzehn Minuten bei dir.”

Und noch ehe Katsuya etwas erwidern konnte, wurde das Gespräch unterbrochen.

Tatsumoto war wirklich ein Vollidiot. Aber wenn es hart auf hart kam, konnte man sich immer auf ihn verlassen.



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