Zum Inhalt der Seite

My Dear Brother 2

The Humans
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Futter

»Oh Hiro, es blutet so stark!«, wimmerte Kiyoshi los, als er mich weiter in den kleinen Wald zog und durch Büsche schleifte. Ich lief zwar noch von alleine, humpelte aber vor mich hin, als wäre ich ein abgestochenes Tier und seufzte nach jedem Schritt. Mein Unterschenkel blutetet tatsächlich ziemlich stark, hinterließ eine 1a Spur, sodass wir Vincent wohlmöglich noch die Fährte legten.

»Schon okay ... noch geht's ...«, säuselte ich und sah bereits Sternchen. »Lauf einfach weiter, ich komm nach.«

»Vielleicht ... Vielleicht verstecken wir uns mal! In einem Baum oder so?«

»Ja ... wieso nicht?«

Kiyoshi und seine Äffchen Anwandlungen.

Mein Bruder blieb sofort stehen, sah sich um, lief auf einen relativ dicken Baum zu, der große und breite Äste wachsen ließ, und kletterte hoch. Mit Schwung sprang Kiyoshi auf einen Ast und lehnte sich zu mir runter, reicht mir eine Hand und lächelte überzeugend. »Ich zieh dich hoch!«

»Sicher, dass du das schaffst? Ich bin ... nicht leicht«, brummte ich, nahm trotzdem seine zarten, weißen Hände an, die mich sofort ein Stück vom Boden hoben. Gekonnt beugte er seinen Oberkörper nach vorn und rollte sich um den Ast. Es wirkte, als wäre er seit Kind auf ein Athlet gewesen. Zwar brauchte ich eine kleine Sekunde, um mich am Ast festzuhalten, schaffte es aber erstaunlich gut mich mit beiden Beinen auf das Holz zu ziehen und lehnte schlussendlich erschöpft gegen den Hauptstamm. Ich saß auf einem Baum. Blutend und verreckend, dachte ich. Und im Nacken lag uns Vincent. Ob er schon eine Fährte aufgenommen hatte?

»Geht's? Hast du Schmerzen?«, fragte Kiyoshi, immer noch sichtlich aufgeregt und nervös.

»Ach ...«, brummte ich und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Kann nur besser werden, hm?«

Anstatt auf meine indirekte Frage zu antworten, setzte sich Kiyoshi neben mich und schob mein Hosenbein hoch. Ein weiterer Durchschuss, der ziemlich blutete. Ein wenig Kruste hatte sich bereits um den Einschuss gebildet, sodass die Vermutung offen blieb, ob mein Körper bereits dagegen ankämpfte oder nicht.

»Wieso … heilt es nicht?«, murmelte mein Bruder, traute sich nicht mit seinen dreckigen Fingern an die Wunde zu gehen.

»Ich bin keiner von euch … weißt du doch«, schmunzelte ich und fuhr über meine fast verheilte Wunde am Oberschenkel. Erstaunlich, wie schnell dieser Durchschuss verschwunden war. »Ich bin ein Noneternal. Das Privileg unbeschadet aus so gut wie jedem Kampf zu gehen habe ich leider nicht.«

»Das ist doch Quatsch! Jeder normale Mensch wäre längst verblutet!« Kiyoshi wurde laut, hob seine Brust und sah sich energisch um. »Hier, trink was«, sagte er und hielt mir sein Handgelenk hin. »Wenn du was trinkst, wird die Wunde schneller heilen!«

Ich schüttelte den Kopf und drückte die weiße Hand weg. Stattdessen küsste ich seinen Handrücken und zog ihn an mich. »Nein. Du hast selbst kaum noch Blut in dir. Es dir jetzt zu rauben wäre egoistisch und dumm.«

Kiyoshis Blick wurde mit einem Mal stur. Er zog die Augenbrauen zusammen, presste die Lippen aufeinander und atmete geräuschvoll aus. Sein trotziges Verhalten ließ mich nur schmunzeln.

»Komm her … bemuttere mich ein wenig, das hilft mir genauso gut.« Sanft zog ich ihn an mich heran und streichelte seine Arme. Fast widerspenstig ließ er sich zwischen meinen Beinen nieder und lehnte an meine Brust. Ihm passte es ganz und gar nicht in einer machtlosen Situation zu stecken.

 

Schließlich hörten wir Schritte. Es waren leise, vorsichtige Treter durch das Unterholz. Ich hielt die Luft an, während Kiyoshi in meinen Armen wie erstarrt zu sein schien. Vincents Mantel bewegte sich im Wind; ich hörte regelrecht das Leder aneinander reiben. Seine schweren Boots machten ebenfalls leise Gummigeräusche, wenn sie über Moos traten. Nur ein stummer Blick aus der Richtung meines Bruders, zeigte mir, dass er sich nur einige Bäume weiter befand. Die langen Haare bewegten sich zu den Bewegungen seines hektischen Suchens. Zwar ging er langsam seinen Weg, bedacht, keinen Mucks zu machen, drehte jedoch wie wild seinen Kopf, um die Umgebung zu durchforsten. Er suchte uns, bereit zum Angriff, wann immer er uns finden würde.

Weiterhin wie erstarrt, warteten wir, dass er weiterging. Er bewegte sich nur langsam fort, da er nur wenige Schritte nacheinander tätigte. Hier und da sah er in unsere Richtung, schien uns aber nicht zu sehen oder generell zu vernehmen.

Als ich kurz gen Boden blickte und sofort meine Blutspur sah, wurde mir etwas heiß ums Herz. Wenn er diese Spur sehen würde, hätte er uns. Und ein Schuss in unsere Richtung wäre unser Ende gewesen. Diese UV-Kugeln waren generell der pure Tod in Metall geformt.

Vincents Schritte blieben für einen Moment stehen. Seine scharfen Augen wanderten durch die Blätter der umliegenden Büsche. Sie stachen regelrecht durch seine langen Haare, die der Wind in sein Gesicht wehte. Hatte er uns gerochen? Gefühlt? Gesehen?

Meine Hände verkrampften sich an Kiyoshis Arm, der ebenfalls still dicht an mir dran gepresst saß. Er sah in Vincents Richtung, wartete seine Aktionen ab. Seine Beine zitterten vor Anspannung der Muskeln jeden Moment losrennen zu müssen. Ich spürte das Blut an meiner Wade aus der Wunde entlanglaufen, wie es sich seinen Weg über meine weißen Haare bahnte und schließlich auf den Ast floss. Es tropfte hier und da hinunter – ich konnte nur beten, dass es nicht das Tropfen war, was er vernahm.

 

Er schnaufte leise los, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und raunte leise vor sich hin. »Ich weiß, dass ihr hier seid … Ich werde euch finden. Da könnt ihr euch drauf verlassen.«

Mit diesen murrenden Worten setzte er sich wieder in Bewegung und ging langsam und vorsichtig den kleinen Pfad über das Gras und Moos weiter. Die Schritte entfernten sich, wir verloren ihn aus dem Sichtfeld und atmeten auf.

Auch nach mehreren Minuten schwiegen wir, darauf horchend, dass ein wiederkehrendes Treten des Unterholzes zu hören war.

Aus Minuten wurden Stunden; gefühlt eine Ewigkeit. Irgendwann wurde mein Körper immer schwacher, ich sah Sternchen und schluckte schon lange keinen Speichel mehr, sondern nur noch trockene Luft. Es war, als würde meine Atmung jeden Moment aufhören und ich hinüber sein. Als würde ich noch vor meiner Verwandlung den Löffel abgeben.

Mein Kopf war blank. Ich dachte an nichts, jedenfalls an nichts Bestimmtes. Mein Blick ging ins Leere, an Kiyoshis Haarschopf vorbei. Er lehnte noch immer an meiner Brust und strich beruhigend über meine Arme. Diese fühlten sich schwer an, vielleicht sogar ein wenig taub. Auch die Beine lagen wie Zement auf dem Ast des großen Baumes, dessen Blätter unheilvoll im Wind wehten. Die schwarze Nacht erschien ewig zu dauern, als würde die Sonne nie wieder aufgehen. Und selbst wenn sie irgendwann aufgehen würde, so würde ich das wahrscheinlich nicht mehr mitbekommen, dachte ich kurz an meinen baldigen Tod. Dieses Auf und Ab, diese Tortur, die ich meinen Körper aussetzte. Flucht, Wunden, Ruhen, wenig Schlaf, wenig Ruhe, ständige Angst. Das Adrenalin in meinem Körper hatte mit Sicherheit mehr zerstört, als es sollte.

Ob ich Angst hatte?

Nein, ich war nur schwach.

Zu wenig Blut ... schafft wenig Emotionen.

 

Irgendwann ertönte eine leise Stimme neben mir.

»Hiro?«, fragte er zögerlich, als er sich zu mir umdrehte und vorsichtig nach meinem Gesicht griff. »Bist du noch bei mir?« Seine Stimme zitterte, als wäre er bereits mit der Wahrheit konfrontiert worden, dass ich so langsam verblutete. Oder anderweitige Infektionen mich in die Knie zwangen. Er strich verzweifelt über mein Gesicht und musterte meine leblose Mimik.

»Hiro«, wimmerte er los und holte tief Luft. »Bitte nicht!« Kalte Hände gingen immer wieder über meine Wangen, strichen über meine Kratzer und blauen Flecken.

Er dachte, ich sei bereits tot? Aber mein Herz schlug doch noch ... oder nicht?

Als ich mich doch durchrang und mit viel Kraft meine Augen öffnete, sah ich in glasige blau-lilane Knöpfe, die sofort aufblickten und neugierig in meine sahen.

»Du bist noch bei mir?«, fragte er recht rhetorisch, da ich nicht die Kraft hatte zu antworten. Kiyoshi strich sich über seine Augen, sah sich um und schluckte. »Halte durch, ja? Ich hol dir was ... was zu trinken.«

»Mh«, brummte ich und verzog mein Gesicht schmerzerfüllt. Es war viel zu gefährlich für Kiyoshi jetzt durch den Wald zu laufen und nach Wild zu suchen, was er für mich reißen könnte. Wenn Vincent auch nur einen Knacks wahrnehmen würde, wäre er schneller hier als ein D-Zug.

Doch mein Bruder tat so, als wäre meine Mimik von keiner Bedeutung, strich noch einmal über meine Wange und sprang recht geräuschlos vom Baum. Ich hörte leises Tapsen über Blätter und Gras, welches mit der Entfernung abnahm.

Meine Sicht wurde wieder dunkler und ich schloss meine Augen. Ich war so schwach, so müde und einfach nicht mehr lebensfroh. Fast wünschte ich mir, ich könnte endlich einschlafen und dieses ganze Gehetze nicht mehr spüren. Etwas in mir hielt mich von genau dieser Sterbeaktion ab. Etwas in mir schrie weiterzukämpfen, nicht aufzugeben, weiter zu leben und Kiyoshi beizustehen, bei was auch immer ihn jemals belasten würde. Sei es der jetzige Vincent oder irgendetwas anderes, was ihn in die Enge treiben könnte. Auch Jiro und Alexander, welche durch diese kurze Reise einen wahrlich nahen Platz an meinem Herzen gewonnen hatten, sollten nicht alleine kämpfen. Wo sie wohl waren? Ob sie in Sicherheit waren? Vielleicht würden sie Hilfe holen? Letztendlich nicht mehr darauf achten, keinen der "Erwachsenen" mit in die Sache zu ziehen?

Vater und Mutter ... sie würden mich Sicherheit austicken, wenn sie in die toten Gesichter ihrer Söhne blicken würden. Vincent würde seine gerechte Strafe erhalten. Aber was war gerecht?

Ich seufzte tief auf, als ich daran denken musste, Mutter und Vater nie wieder zu sehen. Vielleicht die letzte Nacht hier zu verbringen. Wir saßen in der Falle, kein Weg führte an Vincent vorbei. Mit Sicherheit warteten schon sämtliche Vögel in diesem Wald auf uns, die ihn sofort über unsere Bleibe unterrichten würden. Wie oft war mir dieser Gedanke nun schon gekommen? Wie oft hatte ich nun schon in den letzten Tagen an meinen Tod gedacht? War ich so schwach oder die anderen nur so stark? Dass sie fast keinerlei Zweifel an unserer Flucht zu haben schienen ...

 

»Hiro«, flüsterte die dunkle Stimme, die mich aus meinen ungeordneten Gedanken zog. »Hier, ich hab was!«

Als ich meine Augen öffnete, zuckte ich vor Schreck zusammen und blickte in aufgerissene Fuchsaugen.

»Hm?!«, presste ich aus meinen geschlossenen Lippen und schüttelte leicht den Kopf. Niemals würde ich einen Fuchs trinken oder aussaugen oder gleich töten!

Er hatte hell rötliches Fell, sah wirklich flauschig und weich aus, blutete jedoch wie eine Sau in Kiyoshis Armen, dessen Mund ebenfalls mit Blut befleckt war. Mit aller Wahrscheinlichkeit hatte er ihn wie das Kaninchen gerissen, indem er ihm ins Genick gebissen hatte. Denn der Fuchs atmete noch, zuckte hier und da an den Füßen.

Doch mein Bruder blieb eisern und hielt mir den Fuchs unter die Nase. »Trink!«

Ich sah die kleinen Einschüsse in seinem Fell, aus denen die rote Flüssigkeit schimmernd im Mondlicht glänzte. Immer wieder schüttelte ich den Kopf, rückte sogar etwas von dem halb toten Tier ab.

»Nein«, murmelte ich, atmete angestrengt ein und aus. Ich spürte mein Herz wieder anfangen zu rasen; wie das Adrenalin erneut durch meinen Körper gepumpt wurde. Nein, dachte ich. Einen weiteren Schub von Aufregung und Fluchtverhalten würde ich nicht packen.

Kiyoshi verzog wütend das Gesicht und nahm den Fuchs wieder an sich. »Du musst lernen, auf deinen Körper zu hören! Du verdurstest! Du bist verletzt! Du brauchst das!«, rügte er mich fast schon ein wenig zu laut. Ich sah mich nervös um, horchte auf Schritte und schluckte abermals trockene Luft. Je länger ich zögerte, desto nervöser wurde auch Kiyoshi. Wir wussten, dass es nur eine Zeit lang dauern könnte, bis er uns entdecken würde. Wie viel Zeit war vergangen, seitdem wir ihn gesehen hatten? Vielleicht ginge er ja auch davon aus, dass wir das Gelände verlassen hatten?

»Du bist wirklich stur! Noch sturer als ich!«, meckerte mein Bruder, zog den Fuchs an sich und presste die Lippen an das dichte Fell des Tieres. Er trank mit großen Schlucken das Blut, während das Tier fiepste. Der Anblick war grauenvoll und ich war mir sicher, dass ich mich niemals daran gewöhnen könnte, einfach so hilflose Tiere zu reißen und auszutrinken; wo wir doch genug Blutpräparate zur Verfügung hatten. Jedenfalls in normalen Situationen.

Ehe ich mich versah und wieder meine Augen schließen wollte, nahm Kiyoshi den Fuchs von seinem Mund, beugte sich zu mir, presste seinen Körper dicht an meinen und küsste mich liebevoll auf die Lippen. Ich dachte erst, er würde sich versöhnen wollen und genoss den kalten Mund an meinem, bis ich eine Zunge spürte, die blutbenetzt meine Lippen aufschob und den Lebenssaft in meinen Rachen fließen ließ. Zwangsernährung, dachte ich. So weit war es also schon gekommen.

Ich spürte das Blut wie eine kalte Oase meinen trockenen Rachen hinunter gleiten und schluckte es gierig runter. Eine heiße Welle durchfuhr meinen Körper, der wahrscheinlich noch immer nicht ganz mit dieser Art Nahrung umgehen konnte. Kiyoshi löste sich von mir, trank erneut vom Fuchs, der wieder quälend aufjaulte und flößte mir das Blut ein, als wäre ich zu schwach gewesen, überhaupt nur einen Finger zu rühren.

Es dauerte nicht lange, da verstarb der Fuchs endlich und hörte auf zu atmen. In dem Moment hörte Kiyoshi auf zu saugen und gab mir noch das letzte bisschen Blut in seinem Mund. Ich fühlte mich noch nicht viel besser, aber lebendiger. Die Augen offen zu halten ging viel leichter von statten und ich hatte ebenso das Gefühl meine Stimme wieder gefunden zu haben.

»Geht es dir besser?«, fragte mein Liebster leise nach und legte den Kadaver an die Spitze des Astes.

»Etwas«, murrte ich und hob langsam meine Hand, um Kiyoshis blutverschmierte zu streicheln. »Danke.«

Er schüttelte den Kopf, sah mich rügend, aber doch froh über die Tatsache an, dass ich am leben war und nicht nur am Rande des Existenzminimums krebste. Vorsichtig lehnte er sich wieder zu mir vor und küsste meine Lippen; diesmal wesentlich sanfter und genießender. Als ich meine Augen schloss, um den Kuss zu genießen, lehnte sich der schmale Körper wieder an mich und umschlang meine Taille. Im ersten Moment dachte ich daran, dass wir uns in dieser Stellung etwas wärmen könnten, als jedoch keinerlei Wärme von meinem Bruder ausging, erinnerte ich mich wieder an die Tatsache, dass er tot war. Da war keine Wärme. Da würde auch nie eine kommen.

Einige Minuten verstrichen, in denen wir uns einfach nur küssten und streichelten. Liebevolle Gestiken, die die furchtbare Situation, in der wir uns befanden, für einen Moment ausblenden konnten.

»Wenn du noch etwas brauchst, hole ich dir noch ein Tier«, schlug Kiyoshi schließlich vor und nickte zuversichtlich. Doch ich schüttelte sofort den Kopf.

»Keine ... Tiere mehr. Du kannst doch nicht einfach wie wild geworden wildern.«

Mein Gegenüber schien nicht ganz zu verstehen, was ich damit sagen wollte. »Ich wildere doch nicht, ich beschaffe uns was zu Essen!«

»Ein Fuchs steht unter Tierschutz, man ... du kannst ... den nicht einfach abmurksen.«

Da raunte Kiyoshi genervt auf. »Ein toter Fuchs wird die Tierart nicht auslöschen!«

Ich musste schmunzeln. Kiyoshi war wie immer uneinsichtig, stur und kindisch. Wann immer er mit mir stritt, verhielt er sich wie 13. Eine gute Streitkultur sollte gelernt sein und ich konnte für meinen Teil behaupten, dass ich diese mit meiner Mutter jahrelang gut üben konnte. Durch die dominante Art von Vater hingegen konnte ich mir keine wirklich gute Diskussion mit ihm vorstellen.

»Woher hast du das ... eigentlich?«, fragte ich immer noch leicht am grinsen. »Dieses Jagen?«

Mein Bruder wurde schlagartig ruhig, lächelte dann auch, als wäre niemand mehr in Gefahr. Als wäre das alles gerade nicht geschehen. Vielleicht war es gut so, so zu tun, als würden wir wie vor ein paar Tagen in meinem Zimmer sitzen, Chili essen und giggeln.

»Zu Hause ...«, begann er und sah dabei auf meine Brust, die er liebevoll strich. »... ist doch der Wald. Und auch da gibt es Tiere. Als ich jung war und Vater mir verboten hatte einen Computer zu besitzen, wusste ich mich nicht anders zu beschäftigen ... Als hier und da mal jagen zu gehen.«

»Das ist krank«, bemerkte ich spitz und schüttelte den Kopf. »Andere Kinder gehen auf Spielplätze spielen oder haben Bauklötze.«

Kiyoshi verstand den Teil "das ist krank" natürlich vollkommen falsch und verzog wütend das Gesicht. »Ich bin nicht krank. Ich habe halt keine anderen Kinder gehabt. Die meisten Vampire werden erst später verwandelt.«

»Verstehe ...«, brummte ich nur und zog die Augen leicht nach oben, um eine Diskussion zu vermeiden. Dafür, dass die Situation so angespannt war, stritten wir recht human. Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt mit einer kleinen Diva, die bisher nichts, außer ihr wohlbehütetes Zuhause kannte, unterwegs zu sein. Außerdem nahm Kiyoshi wesentlich schneller meinen Lebensstil an, als gedacht. Denn schließlich seufzte er auf und sagte den für mich unfassbaren Satz:

»Jetzt eine Zigarette ... das wäre schön.«

Sofort hob ich eine Augenbraue und musterte meinen Bruder, der sehnsuchtsvoll in die Kronen der Bäume blickte. Durch das Mondlicht schimmerten seine weißen Haare, die sanft und leicht wellig auf seinen Schultern lagen, wie weißes Garn.

»Ich hab mich wohl verhört?« Meine Augen hafteten weiterhin auf Kiyoshis Erscheinung, die sofort schmunzelte, aber nichts erwiderte, als wolle er mir damit sagen, dass ich genau richtig gehört hatte. »Habe ich dich also wirklich zum Raucher gemacht?«

Er zuckte mit den Schultern und strich über meinen Oberschenkel. »Wahrscheinlich.«

»Wie das? Am Anfang warst du so dagegen und jetzt schmachtest du schon? Wird man als Vampir schneller Nikotinsüchtig?«

Da lachte er auf, unbeschwert, amüsiert und ein bisschen verlegen. »Ich weiß nicht, vielleicht? Aber ich denke nicht, dass ich schon Nikotinsüchtig bin ...«

»Ach nein? Was ist es dann?«, hakte ich mit hochgezogenen Augenbrauen nach. Erst rügte er mich, als wäre Rauchen das wohl ekligste und schädlichste Ding der Welt; und jetzt würde er selber gerne Kette rauchen?

»Es ... schmeckt.«

»Es schmeckt?! Rauch schmeckt so widerlich, wie es nur sein kann!«, prustete ich los und dämpfte sofort meine Stimme, als ich ein Knacken aus dem Wald hörte. Es folgte jedoch kein weiterer Laut, sodass ich neugierig wieder zu meinem Bruder sah. Der sah verlegen zur Seite und zuckte abermals seine Schultern.

»Nein, es schmeckt nicht gut. Es schmeckt einfach ... anders.« Als ich ihn weiterhin unsicher ansah, sprach er weiter und erklärte, was ihm am Rauchen so gefiel. »Wenn man in seinem Leben nur Erde und Blut kennt ... ist dieser eklige Rauch was anderes. Er schmeckt nicht gut, er schmeckt anders. Es ist seit Jahren ein Geschmack, der nicht wie Erde und nicht wie Blut ist. Es ist fast wie ein Segen«, beschrieb er das sonst tödliche Rauchen von Zigaretten.

Doch mir wurde klar, was Kiyoshi da von sich gab. Ein Leben lang nur zwei Geschmacksrichtungen – wovon eine mit Verlaub wirklich furchtbar war – zu kennen: das war hart. Und jetzt kam der dumme Bruder daher, bot dem kleinen, unerfahrenen Bruder eine Zigarette an und eröffnete ihm somit eine völlig neue Geschmackswelt. Rauch regte die Geschmacksknospen wohl auf eine andere Art und Weise an, als es Essen oder Trinken tat.

»Wenn du so scharf darauf bist ... es gibt etliche Formen von Rauchen«, schmunzelte ich. »Das wird dir gefallen.«

»Wirklich?«, hakte mein unschuldiger Bruder nach und sah mich mit leuchtenden Augen an.

»Ja«, lachte ich leise auf. »einen ganzen Vergnügungspark voller krebserregenden Dingen kann ich dir bieten.«

»Aber wir ... können das doch nicht kriegen«, besänftigte Kiyoshi meine sarkastische Bemerkung.

»Weiß ich doch.« Mit einer sanften Handbewegung strich ich über seine Wangen. Kalt und weich. Er hatte tatsächlich keinen Bartwuchs. Jedenfalls nicht mal ansatzweise so einen starken, wie ich ihn hatte. Denn mir wuchsen schon einige Stoppel an Kinn und Hals.

»Was gibt es denn da so?«, fragte Kiyoshi nach, kuschelte sich wieder an meine Seite und lauschte meiner Stimme, als würde ich ihm eine Kindergeschichte zum Einschlafen erzählen wollen.

»Es gibt ... verschiedenen Arten von Zigaretten. Mit Menthol, Nelken, gesüßtem Filter ... dann gibt es noch Shisha ...«

»Was ist das?«

»Eine Wasserpfeife. Gibt es in allen möglichen Geschmacksrichtungen und kratzt nicht so im Hals wie normale Zigaretten.«

»Hast du so was?«, fragte er sofort neugierig und knibbelte nervös an meinem Shirt, als könne er es kaum erwarten, bei so vielen Geschmacksrichtungen sowas auszuprobieren.

»Nein, aber Jiro hat eine«, kicherte ich und dachte an die vielen schönen Abende, an denen ich mit Jiro benommen auf dem Bett lag und Shisha rauchte. Damals war das Nikotinhigh noch besonders gewesen.

»Hoffentlich ... können wir das irgendwann mal machen«, seufzte mein Bruder und sah sofort betrübt in den Wald. Ja, das hoffte ich auch. Wir alle zusammen, in Ruhe, ohne einen Mörder im Nacken zu haben, an einem Ort, Shisha am Rauchen. Am besten noch mit Alexander, der ein noch viel schlimmerer Raucher als Jiro zu sein schien.

»Und was noch?«, hakte Kiyoshi weiter und schien mir regelrecht an den Lippen zu hängen.

Vincent schien auf einmal völlig vergessen zu sein. Oder Kiyoshi tat das mit Absicht, dass wir auf andere Gedanken kommen würden.

»Äh ... es gibt noch Zigarren und Zigarillos. Alexander hatte eine geraucht, erinnerst du dich?«

»Diese etwas dickere, braune?«

»Genau, die schmecken je nach Art auch sehr lecker. Rauchig, würzig.«

»Toll ...«, kam es fast sehnsuchtsvoll aus Kiyoshis Mund, der sich bereits jetzt auszumalen schienen, was für Geschmackserlebnisse er erleben könnte.

»Na ja und Gras. Mehr fällt mir jetzt nicht ein.« Mit den Worten kratzte ich mich am Nacken.

»Gras? Du rauchst Gras?« Ein rügender, aber nicht ganz verstehender Blick folgte.

»Na ja, hier und da mal ... schon mal ausprobiert, nichts wildes.«

»Und wie raucht man das? Zupft ihr euch Gras ab?«

Erst dann realisierte ich, was Kiyoshi beim Wort "Gras" nicht ganz verstanden hatte.

»Oh, das ist kein Gras ... wie auf der Wiese. Das ist Marihuana.«

»Ja, aber – Das ist eine Droge!«, prustete Kiyoshi sofort los und öffnete empört den Mund. »Du nimmst also wirklich Drogen? Mutter hat nicht übertrieben.«

»Ja, also ... äh«, begann ich, endete den Satz jedoch recht schnell und schluckte abermals einen Kloß hinunter. »Keine harten Drogen.«

»Du bist wirklich in einem komischen Umfeld!«

Ich seufzte nur leise und nickte zustimmend. Mir war egal, was er über meine Freunde dachte, denn ich musste zugeben, dass einige davon wirklich ein schlechter Umgang waren. Ich kannte hier und da einige Drogendealer, Knastis und Kleinverbrecher. Aber alles ganz nette Leute, zumindest so lange, wie man sich mit ihnen verstand.

 

»Glaubst du«, begann ich leise und sah mich verstohlen um. »Vincent ist weg?«

Als auch Kiyoshi sich drehte und umblicke, die Schultern zuckte und mich wieder mit großen Augen ansah, murrte er vor sich hin. »Vielleicht hat er das Gelände verlassen.«

»Oder er wartet nur, dass wir wieder den ersten Schritt machen. Er scheint ja ein ganz geduldiger Mann zu sein«, spottete ich und sah verkniffen auf mein Bein, welches zumindest aufgehört hatte zu bluten. Die Wunde war noch klaffend offen und zwiebelte, wann immer ich mit meiner Hose dran kam.

»Wir sollten die anderen beiden suchen«, schlug ich vor und erhob mich ächzend vom Ast. Kiyoshi half mir, schien jedoch unsicher zu sein.

»Meinst du? Nicht, dass wir sie wieder in Gefahr bringen ...«

»Ich denke ... in der jetzigen Lage sind sie ebenso in Gefahr wie wir. Vincent macht keinen Halt mehr vor den beiden. Ich wollte mich nur von ihnen trennen, weil ich Vincent von ihnen weglocken wollte.«

Doch jetzt kamen in mir die Zweifel hoch, das erreicht zu haben. Vincent war nun schon für mehrere Stunden still, sodass ich langsam Panik bekam, wo er steckte. Hoffentlich, so dachte ich, hatte er die beiden noch nicht gefunden.

Als ich mich vom Baum gleiten lassen wollte, vibrierte es in meiner Hosentasche.

Das Handy des Brummifahrers!

Kiyoshi griff schnell in meine Hosentasche, zerrte es raus und starrte auf das Display. »Unbekannte Nummer!«

»Geh nicht ran«, bat ich meinen Bruder, der seinen Daumen schon auf dem grünen Knopf hatte. »Wer weiß, wer es ist. Es ist nicht unser Handy ... vielleicht ist es sogar die Polizei, die uns sucht!« Und die konnte wir bei Gewissheit nun gar nicht gebrauchen.

»Okay ...«, seufzte Kiyoshi und drückte auf den roten Knopf. Ich raunte sofort auf, nahm Kiyoshi das Handy aus der Hand und schmiss es in ein entferntes Gebüsch.

»Bist du verrückt?«, zischte mir Kiyoshi zu und sah entsetzt in die Richtung des Handys. »Was, wenn er uns jetzt gehört hat?«

»Deswegen verschwinden wir jetzt auch schnell, bevor jemand das Handy ortet und durch dein Auflegen weiß, dass wir noch im Besitz dieses Handys waren.«

Mit schnellen, jedoch ungeschickten Bewegungen sprang ich vom Ast und landete mit lautem Knirschen auf den Boden. Ich konnte mich kaum auf den Füßen halten, hielt mich jedoch für stark genug, einige Meter zu gehen. Das Blut gab mir Kraft; fragte sich nur für wie lange ...

»Wir gehen ... zum öffentlichen Strand. Dort sind sie hingelaufen«, murmelte ich und deutete auf das Ende des Waldes.

»Meinst du, wir finden sie dort?«

Ich nickte stumm, nahm Kiyoshi an die Hand, der mich mehr stützte, als dass er liebevoll meine Hand hielt. »Bestimmt.«

 

Ein Blick in den Himmel zeigte mir, dass tatsächlich Vögel über uns schwirrten. Ob es jedoch Möwen oder Vincents Vögel waren, konnte ich nicht erkennen.

Der Himmel verfärbte sich langsam heller.

Der Tag brach an – endlich.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Nach so einer Nach Ruhe wird man schnell unvorsichtig... ;-)

Noch 2 Kapitel! Und noch ein Epilog - klar! *Trommelwirbel* Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Veri
2015-10-26T18:53:43+00:00 26.10.2015 19:53
Aber meine beiden Engel werden hoffentlich nicht zuuuuu unvorsichtig werden :(

Bald ist es wieder vorbei :((((
Von:  Sunai
2015-10-26T18:47:59+00:00 26.10.2015 19:47
Oh Gott die Spannung :3 Irgendwie möchte man sofort weiterlesen xDD das ist echt schlimm. Aber es ist wie immer ein sehr gutes Kapitel geworden :3


Zurück