Prolog: Das ist kein Traum.
Es heißt, wenn man stirbt, zieht das ganze Leben an einem vorüber. Kieran hatte bislang nie daran geglaubt, doch als er auf der Straße lag und gleichzeitig durch einen dunklen Tunnel lief, der auf beiden Seiten mit Bildern aus seinem Leben gespickt war, musste er einsehen, dass er sich entweder immer geirrt hatte – oder er aber nur durch allerlei Medienberichte beeinflusst worden war.
Er sah Situationen aus seiner Kindheit, seine Mitschüler, die ihn stets mieden, Lehrer und Therapeuten, die ihn mit skeptischen Blicken ansahen; seine Zeit als Jugendlicher an der High School, wo er längst als wunderlicher Außenseiter gebrandmarkt worden war; sein Berufsleben, in dem er endlich gezeigt hatte, wie sonderbar er eigentlich war – und schließlich sein Sturz vom Dach, weswegen er nun überhaupt auf der Straße lag.
Doch am Ende dieses Tunnels kam kein helles Licht, keine strahlende Treppe in den Himmel und auch kein Highway in die Hölle. Stattdessen blickte er zum sternenklaren Firmament hinauf, das Atmen fiel ihm schwer, aber beides verriet ihm, dass er noch lebte – und das war gut!
Kieran richtete sich auf, worauf der Schmerz in seiner Brust endlich verschwand. Ohne diese Ablenkung versuchte er nun, sich zu erinnern, was geschehen war. Er war auf einem der Dächer gewesen, dann war da plötzlich jemand aufgetaucht und …
War da wirklich noch jemand gewesen?
Er hob den Kopf und erhaschte tatsächlich einen kurzen Blick auf eine vermummte Gestalt, die sich über das Dach lehnte, vermutlich um sicherzugehen, dass er ausgeschaltet war.
Kieran erhob sich hastig, um wieder nach oben zu kommen – doch bevor er auch nur einen Schritt machen konnte, sprang die Gestalt bereits herab und stand nun direkt vor ihm. Dabei bemerkte Kieran, dass es ein Mann war, ein wenig größer als er, mit breiten Schultern. Er trug einen grauen Kapuzenpullover und noch dazu einen Schal, um sein Gesicht zu verbergen, so dass Kieran nur seine eisblauen Augen sehen konnte, die allerdings direkt durch ihn hindurchzusehen schien.
„Hey!“, versuchte Kieran, auf sich aufmerksam zu machen. „Was sollte das eben?“
Doch der Mann ignorierte ihn. Stattdessen ging er auf Kieran zu – und trat direkt durch ihn hindurch. Ein unangenehmes Kribbeln erfüllte ihn im selben Moment und begab sich in einen Wettstreit mit dem unangenehmen Gefühl in seinem Magen, das ihm zu sagen versuchte, dass etwas hier ganz und gar nicht in Ordnung war.
Kieran fuhr herum und entdeckte eine Person, die auf dem Boden lag – und der Fremde lief genau auf diese zu. Da er nach wie vor nicht beachtet wurde, hastete Kieran an ihm vorbei, um einen genaueren Blick auf den am Boden Liegenden zu werfen und ihn gegebenenfalls zu warnen.
Aber als er die Person erkannte, hielt er geschockt wieder inne.
Es war er selbst. Er lag gerade auf dem Boden, rührte sich nicht, atmete nicht.
Unfähig, das zu akzeptieren, sah er an sich selbst herab. Erst in diesem Moment fiel ihm auf, dass er ungesund blass erschien, fast durchsichtig. Wirklich glauben konnte er das aber erst, als er die Hand gegen das Licht hob und die Straßenlaterne tatsächlich hindurchschimmern sah.
„Was zum …?“
Eine plötzliche Bewegung des Vermummten, lenkte Kierans Aufmerksamkeit wieder auf diesen. Der Fremde hatte ein Schwert hervorgezogen, mit diesem holte er aus.
„Nein!“
Doch ungeachtet Kierans Protest wurde die Klinge nach unten geschwungen – und nur einen Bruchteil einer Sekunde später wurde sein Kopf sauber abgetrennt. Gleichzeitig durchfuhr ihn ein scharfer Schmerz, ausgehend von seinem Hals. Er griff sich an diesen, aber in seiner derzeitigen Form war der Kopf noch an seinem Platz, lediglich eine fein glühende goldene Linie zog sich an seiner Kehle entlang.
Das muss ein Traum sein, dachte er sich. Ein furchtbarer Albtraum ...
Aber egal, wie er es betrachtete, er sah sich weiterhin tot auf der Straße liegen, sein Kopf viel zu weit von seinem Hals entfernt. Er musste es einsehen, aber er wollte nicht, denn es war einfach zu lächerlich.
Der Blick auf seinen leblosen Körper hinab, unter dem sich eine Blutlache auszubreiten begann, bereitete ihm Magenschmerzen, obwohl er über einen solchen nicht einmal mehr verfügte. Also wandte er sich lieber seinem Mörder zu, der gerade im Begriff war, wieder zu verschwinden.
„Hey, bleib stehen!“ Kieran lief ihm hastig hinterher.
Wenn er seinen Tod schon nicht hatte verhindern können, wollte er ihn zumindest rächen. Das stand ihm immerhin zu!
Doch all seine Griffe nach dem Täter, all seine Versuche, ihn anzugreifen, gingen geradewegs durch ihn hindurch. Der Vermummte bemerkte nicht einmal, dass er verfolgt wurde. Schließlich machte der Mann einen überwältigenden Sprung – und verschwand auf dem nächsten Häuserdach.
Kieran folgte ihm mit den Augen, bis er ihn nicht mehr sehen konnte, mit unbändigem Hass in seinem Inneren. Wer war dieser Kerl? Warum hatte er ihn einfach getötet? Und vor allem auf diese Weise? Das wollte ihm nach wie vor nicht in den Kopf.
Aber eines wusste er nun zumindest sicher: „Das ist kein Traum ...“