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Cor Umbrarum

von

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Kapitel 3: Er würde es Ihnen wohl kaum auf die Nase binden.

Dr. Belfonds Praxis befand sich in einem der ärmsten Viertel der Stadt. Es mochte schon vor dem Erweckungskrieg ein heruntergekommenes Viertel gewesen sein, mit seinen riesigen Gebäuden, die kaum Sonnenlicht durchließen und deswegen eine bedrückende Atmosphäre schufen, aber inzwischen war es wesentlich mehr als das. Der sich stapelnde Müll verströmte einen unangenehmen Geruch, der auch die Menschen, die hier lebten, umgab, als gehöre er zu ihnen. Sie wandelten umher wie Leichen, denen es gelungen war, die starren Fesseln Rigor Mortis' abzuschütteln und nun vollkommen ziellos ihrer Wege gingen, bereits derart dumpf, dass sie nicht einmal mehr andere Menschen angriffen, um sich zu ernähren. Vielleicht waren sie aber auch schon so lange unter ihresgleichen, dass sie nicht mehr wussten, dass sie Menschen zerfleischen müssten, um sich zu ernähren. Konnten Zombies etwas Derartiges überhaupt vergessen?

Zwischen diesen Personen liefen vereinzelt, sie überragend, Wesen umher, die von einem hellblauen Glühen begleitet waren. Sie verfügten nur entfernt über menschliche Konturen, ein Körper, der eine einzige unförmige Masse war, lange dicke Arme, die fast bis zum Boden reichten und in grobschlächtigen Klauen endeten, die baumstammartigen Beine besaßen keine Füße, doch dort, wo sich das Gesicht befinden sollte, war nur ein Loch zu sehen. Es war, als wären sie Abstraktionen des menschlichen Wesens, aber man nannte sie Dämonen. Nun, jedenfalls waren diese Exemplare nur ein Teil davon, ausnahmsweise einer, der sich nicht im Mindesten dafür interessierte, Menschen zu zerfetzen und zu verspeisen. Mehrere dieser Art liefen hier ziellos umher, blickten ohne Augen in die Welt, blieben manchmal mitten auf der Straße stehen, als gäbe es nichts, was es wert wäre, zu erleben. Sie waren keine Gefahr, deswegen wurden sie nicht bekämpft und nur ignoriert.

Ich stand nur wenige Minuten hier, um das alles beobachten zu können, aber das half mir bereits, die Gegend einzuschätzen. Gleichzeitig fragte ich mich, wann die Jäger wohl kämen, um diesen Arzt zu befragen. Bislang war das noch nicht geschehen, aber es konnte nur eine Frage der Zeit sein, wenn sie immerhin bereits zu diesem Schluss gekommen waren. Mit Sicherheit beschränkten sie sich nicht nur einfach darauf, ihn im Auge zu behalten.

Von meinem Beobachtungsposten aus, konnte ich feststellen, dass vor allem Patienten aus diesem Bezirk die Praxis aufsuchten – und sie auch wieder verließen – aber keine Jäger und auch niemand, der sich eine Behandlung bei einem anderen Arzt leisten könnte. Deswegen spann ich mir bereits Theorien zurecht, laut denen die Bezahlung der Behandlungen durch unlautere Mittel oder gar Organhandel zustande käme. Möglicherweise gab es sogar jemanden, der dafür bezahlte, wenn man spezielle talentierte Kinder direkt aussortierte und an gewisse Kreise weiterreichte.

Mir grauste bei dem Gedanken, was aus mir und meinem Bruder hätte werden können, wären wir damals an eine derartige Person geraten.

Damit ich nicht allzulange derartige Dinge in meinem Kopf umherwerfen müsste, setzte ich mich in Bewegung, überquerte die Straße und betrat ohne weiteres die Praxis, die ich durch eine Glastür erreichte. Ich erwartete, dass sich dahinter alte Räume befanden, mit ausgedienten Geräten und wenig motivierten Angestellten – doch ich wurde mit einer schneeweißen, modernen Rezeption überrascht, hinter der sich eine allzeit lächelnde junge Empfangsdame befand, deren Zähne mit der sie umgebenden weißen Farbe um die Wette strahlten. Nicht einmal die übel riechenden, dumpf dreinblickenden Patienten, die vor ihr warteten, konnten ihre gute Laune erschüttern. Genausowenig wie der Dämon, so einer wie draußen, – manchmal verirrten sie sich in öffentliche Gebäude – der in der Ecke stand, und schwer atmend, bewegungslos, an die Wand starrte. Sein Rücken zeigte verkümmerte Ansätze von Flügeln, die beinahe wie Äste aussahen. Die Rezeptionistin war davon nicht im Mindesten beeindruckt.

Fast war ich neidisch, während ich sie betrachtete, wie sie sich immer mal wieder in einer lässigen Geste das fast schon golden funkelnde blonde Haar zurückstrich, das zu widerspenstig für ihre Frisur war – aber dann verspürte ich eher den Wunsch, ihr das Blut in den Adern gefrieren zu lassen, weswegen ich froh darüber war, endlich an der Reihe zu sein, damit ich auf andere Gedanken kommen könnte.

„Willkommen“, begrüßte sie mich mit ihrem blitzenden Lächeln, das sich keine einzige Nuance änderte, obwohl ich nicht dem Hauptklientel entsprach. „Was kann ich für Sie tun?“

Mein Blick strich nur kurz über den modernen Computer, der sogar noch jenen übertraf, den wir in unserem Labor hatten, aber das genügte, um meinen Neid wieder aufblitzen zu lassen. Ich spürte bereits, wie meine Fingerspitzen kalt wurden, deswegen konzentrierte ich mich lieber wieder auf die Frau selbst und auch auf mein Anliegen. „Mein Name ist Konia Dragana. Ich möchte gern mit Dr. Belfond sprechen.“

Es gab hier nur einen solchen, deswegen verzichtete ich auf seinen Vornamen. Die Rezeptionistin vertiefte sich auch direkt auf die Angaben auf ihrem Monitor, während sie gleichzeitig die Finger über die Tastatur fliegen ließ. Dabei bekam ich die Gelegenheit, festzustellen, dass ihr der weiße Laborkittel – mit eingesticktem Praxisnamen sogar – besser stand als mir.

„Und um welche Angelegenheit handelt es sich?“, fragte sie weiterhin lächelnd, womit sie meine Gedanken sofort wieder vom Neid ablenkte.

An dieser Stelle fiel mir auf, was ich in all den Überlegungen des heutigen Tages vergessen hatte: Einen Grund, um bei ihm vorzusprechen. Ich konnte nicht behaupten, dass ich hier war, um in dieser Mordserie zu ermitteln, ich war kein Jäger und besaß keinerlei offizielles Dokument, das man mit Sicherheit würde sehen wollen, sobald ich etwas Derartiges vorgab.

Könnte ich überzeugend vorgeben, krank zu sein? Ich fürchtete, viel zu gesund zu wirken. Das, was bislang einer meiner größten Vorteile gewesen war, drohte hier, mein Nachteil zu werden.

Je länger die Rezeptionistin auf meine Antwort wartete, desto deutlicher wurde mir, dass ihr Lächeln einer aufgesetzten Maske glich, die sich nie veränderte, nur für den Betrachter unheimlicher wurde, wenn dieser sich zu sehr darin vertiefte.

Da ich nicht antwortete, war ich es wohl, die gerade für meinen Gegenüber unheimlich wurde. Ihr Blick wanderte hilfesuchend zu einem Punkt hinter mir, schon nach wenigen Sekunden klärte sich ihre Stirn. Und als hinter mir eine Stimme erklang, wusste ich auch, weswegen: „Gibt es hier ein Problem?“

Die Stimme war die außergewöhnlichste, die ich jemals gehört hatte. Sie war so tief, dass ihre Schwingungen geradezu einen jeden Knochen vibrieren zu lassen schien, gleichzeitig so wohltuend, als befände man sich in einer nicht spürbaren Umarmung – und sie sorgte dafür, dass mein gesamter Körper sich anspannte. Jemand, der eine derart angenehme Stimme besaß, konnte kein einfacher Mensch sein und mit Sicherheit benutzte er sie nicht nur für gute Dinge.

Ich machte mich darauf gefasst, was für ein charmanter, unwiderstehlicher Mann mir gegenüberstünde, wenn ich mich umdrehte, damit er mich nicht einfach ebenfalls verzaubern könnte – doch als ich ihn dann ansah, wurde ich reichlich enttäuscht.

Es gab keinerlei charmante Ausstrahlung, kein Aussehen, das jedes Model erblassen ließe. Stattdessen stand mir ein Mann gegenüber, an dem mir direkt zwei Dinge ins Auge stachen: Seine enorme Körpergröße, die mich sofort an Basketball denken ließ – unabhängig davon, dass ich nie ein solches Spiel beobachtet hatte –, und sein langes braunes Haar, das ihm in einer Kaskade über die Schulter fiel und dabei so seidig weich und glänzend war, dass mein Neid sich nun vollkommen auf ihn konzentrierte. Seine braunen Augen streiften mich mit einem desinteressierten Blick, seine Mundwinkel schienen nicht einmal zu wissen, dass man sich der Schwerkraft widersetzen konnte. In der Brusttasche seines weißen Kittels – ebenfalls mit eingesticktem Praxisnamen – konnte ich eine Brille und einen Kugelschreiber erkennen. Er trug ein Klemmbrett unter dem Arm, vermutlich war er gerade von einem Patientengespräch gekommen.

Die Rezeptionistin atmete hörbar auf. „Dr. Belfond, schön, Sie zu sehen.“

Er war also Belfond. Ob sein zuletzt gesehener Patient bald das nächste Opfer wurde?

„Diese Frau hier möchte mit Ihnen sprechen, aber sie sagt mir nicht, weswegen.“

Endlich fokussierte sich sein Blick auf mich, aber wirklich interessierter wurde er auch nicht. Beeindrucken ließ ich mich davon aber auch nicht so einfach. „Es ist wirklich wichtig, dass ich mit Ihnen spreche, Dr. Belfond. Ich verspreche auch, dass es schnell gehen wird.“

Ich erwartete, dass er mich fragte, warum ich mit ihm sprechen wollte und weswegen ich mich für derart wichtig hielt, dass er mich den anderen Patienten vorziehen sollte. Aber er sagte nichts, sah stattdessen ins Wartezimmer, schien innerlich die Wartenden zu zählen – und nickte mir dann zu. „Kommen Sie mit mir.“

Ich konnte mich gerade noch davon abhalten, erleichtert aufzuatmen, und folgte ihm in eines der Behandlungszimmer. Ich war in meinem Leben nicht oft beim Arzt gewesen, eigentlich nur einmal bei einer notwendigen Untersuchung, als ich aus dem Waisenhaus entlassen werden sollte. Pflichtgemäß sollte zu diesem Zeitpunkt eine ärztliche Untersuchung stattfinden, die Aussage darüber gab, ob man gesund genug war, entlassen zu werden oder ob man weitere Unterstützung benötigte. Diese Untersuchung fand standardmäßig in einem Krankenhaus statt, aber nicht einmal jenes war derart modern ausgestattet gewesen wie dieses Zimmer, das sogar über ein Ultraschall-Gerät verfügte. Woher kam das Geld für all das?

Belfond zog eine silberne Taschenuhr aus seinem Arztkittel und warf einen Blick darauf. „Sie haben genau fünf Minuten, dann muss ich mich wieder meinen Patienten widmen.“

Er bedeutete mir, mich auf einen der Stühle vor dem Tisch zu setzen, während er auf dem dahinter Platz nahm und die Beine übereinander schlug. „Was kann ich für Sie tun, Ms. …?“

„Dr. Konia Dragana.“ Ich beobachtete, wie er das Klemmbrett auf dem Tisch ablegte und sich dann die Brille aus seiner Brusttasche aufsetzte, womit er schon wesentlich mehr wie ein Arzt wirkte; gleichzeitig überlegte ich, ob ich ihm die Wahrheit sagen oder ihn vielleicht doch anlügen sollte.

Ehe ich etwas sagen konnte, runzelte Belfond aber schon die Stirn. „Sind Sie auch Medizinerin?“

„Nicht direkt. Ich habe kein Medizin studiert, nur Biologie und Chemie. Ich praktiziere auch nicht als Ärztin, sondern habe mich auf die Physiologie von Dämonen spezialisiert und forsche nun auch in dieser Richtung.“

Er hob kaum merklich eine Augenbraue. „Klingt beeindruckend.“

„Es ist weniger glamourös als man glauben möchte.“

Und eigentlich auch weniger aufregend als man meinte, wenn man das hörte. Aber ich beließ es dabei, niemanden darüber aufzuklären, wie anstrengend es sein konnte.

Belfond räusperte sich, dann kehrte auch die Augenbraue wieder an den ihr bestimmten Platz zurück. „Nun, weswegen sind Sie hier, Dr. Dragana?“

Mir blieben nur wenige Sekunden, um mich für die Wahrheit oder die Lüge zu entscheiden, weswegen es doch spontaner ausfiel, als ich eigentlich wollte: „Ich versuche, Gemeinsamkeiten der bisherigen Opfer zu finden – und anscheinend waren sie alle Patienten bei Ihnen.“

Ich musterte sein Gesicht, um einen Funken von Ärger, Gewissensbissen, irgendetwas zu finden, aber da war nichts. Seine Miene blieb vollkommen ausdruckslos, als kenne er so etwas wie Emotionen gar nicht.

„Das ist mir bereits bewusst.“ Zumindest seine Stimme ließ erahnen, dass er von den Vorfällen ergriffen war; entweder war er ein sehr guter Schauspieler – was seine Stimme betraf jedenfalls – oder es bekümmerte ihn wirklich, was mit ihnen geschehen war. „Aber ich frage mich, inwiefern Sie darin involviert sind.“

Mir blieb wohl nichts anderes übrig, wenn ich etwas von diesem Mann erfahren wollte, als ihm die gesamte Wahrheit zu erzählen. „Ich habe Grund zur Annahme, dass der Mörder für den Einbruch in das Labor verantwortlich ist, das ich mit meinem Partner teile. Deswegen liegt mir auch persönlich daran, den Täter zu finden, aber ich benötige dafür jeden Hinweis, den ich bekommen kann.“

Immer noch keine Reaktion in seinem Gesicht. „Warum überlassen Sie das nicht der Polizei?“

Eine berechtigte Frage, die mich aber nicht aus der Bahn werfen durfte. Nein, ich musste ihn an dem einzigen Punkt zu fassen bekommen, den ich bislang als seine Schwachstelle herauslesen konnte: „Wenn ich das tue, besteht die Gefahr, dass es zu noch mehr Opfern kommen wird.“

Immer noch war in seinem Gesicht nichts zu lesen, aber seine Augen sagten da etwas anderes. Für nur den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, einen Schatten zu sehen, der das Braun fast zu einem unheilvollen Schwarz verdüsterte. War das gut oder schlecht für mich?

Mit einem schweren Seufzen fuhr er sich durch das Haar, das in dem künstlichen weißen Licht zu glänzen schien. „Ich denke dennoch nicht, dass ich eine große Hilfe sein kann. Von einem Einbruch in ein Labor weiß ich nichts. Genausowenig wie ich weiß, warum bislang nur meine Patienten Opfer geworden sind. Möglicherweise liegt es einfach an den Umständen, in denen sie leben.“

Er vollführte eine Geste zum Fenster hin. Die Jalousie war geschlossen, aber ich war sicher, dass es ohnehin nur in einen schmutzigen Hinterhof zeigte. Da er nicht mehr sagte, griff ich diesen letzten Punkt einfach auf: „Aber sie wurden in vollkommen unterschiedlichen Stadtteilen gefunden.“

Und falls der Mörder sie nicht erst dorthin verschleppt hatte, bedeutete das, sie hielten sich freiwillig an diesen auf. Ich kannte die einzelnen Umstände nicht, aber ich glaubte, dass die ein oder andere auch in besser gestellten Vierteln lebten. Warum aber waren sie dann hier zum Arzt gegangen?

„Wie können Ihre Patienten sich eigentlich die Behandlungen hier leisten?“

„Ich denke nicht, dass es etwas mit dem Fall zu tun hat“, erwiderte er, antwortete aber dennoch: „Einige meiner Patienten sind durchaus vermögend und zahlen für die Behandlungen gern und großzügig. Außerdem finanzieren wir uns durch Spenden gemeinnütziger Vereine.“

Dass solche noch existierten und es ihnen möglich war, derart fleißig Spenden zu verteilen, überraschte mich. Waren sie mit den Waisenhäusern nicht ausgelastet genug? Die ganze Sache kam mir zunehmend fragwürdig vor.

„Wie finanzieren Sie sich denn?“, fragte er, in einem neutralen Tonfall, der mich dennoch denken ließ, dass er einen Gegenangriff startete. „Wenn Sie sogar Forschungsergebnisse haben, die es wohl wert sind, gestohlen zu werden.“

„Mein Partner finanziert uns gänzlich.“ Was vielleicht unfair klingen dürfte, aber wenn Jarl nun einmal Geld besaß und es für uns ausgeben wollte, warum sollte ich das dann ablehnen? „Diese Quelle erscheint mir wesentlich legitimer.“

Diese Spitzfindigkeit konnte ich mir nicht verkneifen. In seinen Augen funkelte Zorn, aber es war wieder verschwunden, ehe ich es wirklich verarbeiten konnte.

Seine Stimme blieb aber weiterhin vollkommen ruhig: „Ich nehme an, Sie sind nicht hier, um mit mir über die finanzielle Situation dieser Praxis zu sprechen. Wenn es sonst nichts mehr gibt, widme ich mich nun wieder meinen Patienten.“

Das war wohl doch zu viel des Guten gewesen. Aber ich hatte ohnehin nicht den Eindruck, dass er mir mehr erzählen wollte.

Ich folgte seinem Beispiel und erhob mich von meinem Stuhl. Dann fuhr ich herum, damit ich den Raum als erstes verlassen könnte, aber er war mit wenigen Schritten bereits vor mir an der Tür und öffnete diese. Allerdings wartete er dann noch, gewährte mir den Vortritt, den ich auch sofort in Anspruch nahm, indem ich hinausging.

Die Rezeptionistin telefonierte gerade, zwitscherte mit unnatürlich hoher Stimme in den Hörer, während sie gleichzeitig auf der Tastatur tippte. Sie war nicht allein, aber diesmal waren es keine Patienten, die nebeneinander an der Rezeption standen. Die eine Person war eine junge Frau, die denselben Kittel wie jene hinter dem Schalter trug, er unterschied sich darin vom Ärztekittel, dass er ärmellos war. Also war sie wohl ebenfalls eine Arztgehilfin – und sie hatte langes violettes Haar, das im Moment in einem geflochtenen Zopf über ihrer Schulter hing. Sie wartete geduldig darauf, dass der Arzt neben ihr mit dem Lesen der Akte fertig wurde.

Als ich diesen ins Auge nahm, sank mein Mut und meine Zuversicht ins Bodenlose. Das kurze weiße Haar, die gebräunte Haut, die goldenen Augen, die jeden stets durch die Gläser seiner Brille verurteilten, die immerzu gerunzelte Stirn … ich kannte ihn und ich besaß keine guten Erinnerungen an diesen Mann.

Mein spontan gefasster Plan, schnell an ihm vorbeizulaufen und zu verschwinden, ehe er mich entdecken konnte, wurde von Belfond zunichte gemacht: „Ich hoffe, Sie sind nun zufrieden, Dr. Dragana. Einen schönen Tag noch.“

Im selben Moment, in dem er meinen Namen hörte, hob der andere Arzt den Blick und richtete diesen auf mich. Sein Gesicht verdüsterte sich noch mehr. „Konia.“

„Jii“, erwiderte ich genauso trocken wie er.

Belfond sah zwischen uns beiden hin und her. „Ihr kennt euch?“

„Ja, von der Schule“, antwortete ich.

„Leider“, ergänzte Jii.

Jii Tharom war mir im selben Jahr begegnet wie Jarl, aber die Begeisterung für ihn hatte sich in Grenzen gehalten. Während zwischen Jarl und mir eine Freundschaft erwuchs, war eine Feindschaft zwischen Jii und mir entstanden, die sich nie hatte beilegen lassen. Unsere Noten waren stets identisch gewesen, egal wie viel Arbeit wir hineingesteckt hatten, wie viele Sonderprojekte, wie viele Nächte es uns auch gekostet hatte. Deswegen war ich froh gewesen, dass wir uns nach dem Schulabschluss nicht mehr begegnet waren, da wir an unterschiedlichen Universitäten angenommen worden waren. Und nun war er ausgerechnet hier.

„Was tust du hier?“, fragte er sofort misstrauisch, als fürchtete er, ich könne ihm hier irgendetwas wegnehmen wollen, und wenn es sich dabei nur um Belfond handelte.

„Ich hatte eine Frage an Dr. Belfond, bezüglich der Mordserie.“

Warum sollte ich mir für jemanden wie Jii eine Ausrede einfallen lassen? Selbst der schockierte Blick der Arzthelferin neben ihm, ließ mich nicht bereuen, es gesagt zu haben.

Jii sah zu Belfond hinüber, dieser winkte müde ab. „Ich habe ihr gesagt, dass ich nichts darüber weiß. Und nun“ – er wandte sich mir zu – „möchte ich Sie bitten, zu gehen.“

In seinen Worten lag eine unausgesprochene Drohung, ich bevorzugte es, diese nicht zu provozieren, außerdem wollte ich lieber schnellstens weg von Jii. Also verabschiedete ich mich knapp, entschuldigte mich für die Störung und verließ die Praxis.

Ich war mir nicht sicher, ob ich enttäuscht sein sollte über die Ergebnisse oder ob es genau das war, was ich erwartet und erhofft hatte. Belfond sagte, er wusste nichts darüber, aber ich glaubte ihm nicht. Die Finanzen der Praxis erschienen mir suspekt, dieser Mann war nicht gerade vertrauenserweckend – und dass er mit Jii arbeitete, machte es auch nicht besser. Vielleicht war auch Jii derjenige, der unsere Ergebnisse gestohlen hatte und aus irgendeinem Grund war das entstandene Wesen auf Belfond geprägt. Möglicherweise arbeiteten sie auch beide zusammen. Jii traute ich alles zu, besonders wenn es mit mir im Zusammenhang stand. Er mochte sich früher nie aggressiv gezeigt haben, aber möglicherweise war das nun anders.

Wie sollte ich weiter vorgehen? Ich könnte es den Jägern überlassen, die bestimmt auch noch auftauchten, aber vielleicht wechselten sie auch schnell wieder den Verdächtigen und wandten ihr Augenmerk jemand anderem zu, was ein fataler Fehler wäre, wie ich glaubte.

„Entschuldigung.“

Eine fremde Stimme bewahrte mich davor, zu sehr in meine Gedanken abzudriften. Ich drehte mich um und sah mich der jungen Arzthelferin gegenüber, die mich verlegen lächelnd ansah. Sie zwirbelte das Ende ihres Zopfes zwischen ihren Fingern. „Ein Glück, dass ich Sie noch erreicht habe.“

Ich hoffte sofort, dass sie mit mir sprechen wollte, weil ich eben doch recht hatte und sie mir das beweisen wollte – aber natürlich wurde ich enttäuscht: „Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Dr. Belfond ein guter Mensch ist. Er leidet sehr unter dem Tod seiner Patientinnen. Ich bin überzeugt, dass er nichts damit zu tun hat.“

Ich war davon allerdings gar nicht überzeugt und konnte das auch nicht verbergen: „Woher wollen Sie das wissen? Er würde es Ihnen wohl kaum auf die Nase binden.“

Statt über meine Widerworte empört zu sein, lächelte sie nur ein wenig strahlender. „Das ist gar nicht so schwer zu bemerken, wenn man viel Kontakt mit ihm hat. Sein Gesicht sagt vielleicht nicht so viel aus, aber dafür so einiges anderes. Wenn man das erst einmal gelernt hat, kann man so viel mehr von ihm erfahren~.“

Sie war wirklich begeistert von diesem Mann. Kein Wunder, dass sie ihn derart in Schutz nahm. Aber ich ließ mich davon nicht blenden. Er arbeitete mit Jii zusammen, also musste ich auch ihm alles zutrauen. Und dieser Arzt war meiner Meinung nach das passende nächste Thema: „Was ist mit Dr. Tharom? Trauen Sie es ihm auch nicht zu?“

„Natürlich nicht.“ Ihr Lächeln wandelte sich um keine Nuance. „Dr. Tharom ist ein sehr guter Arzt. Er könnte niemals jemanden umbringen. Oder mit dem Wissen herumlaufen, dass wegen ihm jemand stirbt. Und das weiß ich auch ganz sicher.“

Entweder hatte sie recht – oder die beiden Männer waren einfach nur sehr gut darin, ihr etwas vorzuspielen, vielleicht war sie sogar noch naiv, dann hätten sie es auch noch leicht.

„Warum erzählen Sie mir das?“

Mir extra nachzulaufen, nur um mir zu versichern, dass man selbst nicht glaube, dass es sich bei den Vorgesetzten um Mörder handele, kam mir doch ein wenig fragwürdig vor. Wer machte denn so etwas? Mir käme es jedenfalls nicht in den Sinn.

Dieser Frau aber wohl schon. Sie lachte verlegen, aber nicht gekünstelt. „Ich glaube, Dr. Belfond findet Sie sympathisch, sonst hätte er am Ende nicht noch mit Ihnen gesprochen. Ich wollte deswegen verhindern, dass Sie eine so schlechte Meinung von ihm bekommen.“

Was für eine erbärmliche Ausrede! Möglicherweise war sie auch diejenige, die neue Opfer markierte. Ich sollte wohl wirklich auf mich aufpassen in der nächsten Zeit. Aber ich würde sie keinesfalls wissen lassen, dass ich etwas ahnte.

„Ich werde darüber nachdenken. Aber jetzt muss ich wirklich gehen.“

„Oh, ich muss auch zurück“, erwiderte sie, als ihr wohl bewusst wurde, wie lange sie hier bereits stand. „Einen schönen Tag noch, Doktor.“

Sie fuhr herum und ging eilig wieder in die Praxis zurück. Ich blieb noch einen Moment stehen, um ihr hinterherzusehen und mir darüber Gedanken zu machen, was ich tun sollte. Auf jeden Fall wurde es Zeit für einen Besuch im Labor. Dort sollte ich vielleicht mit Jarl darüber sprechen, wie wir weiter vorgehen sollten. Gemeinsam mit ihm wäre es uns mit Sicherheit möglich, etwas zu tun, um den Einbrecher und den Mörder zu schnappen – und das am besten, bevor er noch einmal zuschlug.



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