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Bruderliebe

von

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Wie oft ich auf dieser Autofahrt an Darian denken musste, konnte ich nicht mehr an einer Hand abzählen. Es war zu oft.

Waren es nicht meine Eltern, die ich zuerst sehen wollte, oder Susan?

Ich bekam Gewissensbisse. Tief im Inneren wusste ich es ganz genau, warum ich tatsächlich zurückkehren wollte, und das war nicht direkt meine Familie oder meine ehemalige Freundin. Klar waren sie wichtig, aber der eigentliche Grund war mein Bruder, den ich sehen wollte.

Ich hatte über vier Ecken über Freunde herausgefunden, dass Miguel zu seinem Freund nach München gezogen war. Und wer der Freund war, konnte ich leicht erraten. Es missfiel mir, dass sie immer noch zusammen waren.

Während der Fahrt beschlich mich eine Angst, unbegründet, aber sie war da – war Darian auch wirklich in München? Freunde konnten vieles erzählen, das wusste ich zu genau und manchmal lagen sie auf dem Holzweg. Fast fünf Jahre waren seit meiner Flucht vergangen, und nun würde ich in meine Heimat zurückkehren.

Die Fahrt zog sich hin, auch wenn ich relativ früh losgefahren war, kam ich doch in den üblichen Berufsverkehr, wenn ich größere Städte passierte.

Mein Handy summte leise und ich seufzte, als ich auf das Display starrte – es war Ina. Ich schaltete das Headset ein.

„Ja, was gibt’s schon wieder ...“ Sie hatte bereits schon einmal vor einer Stunde angerufen und daher ließ ich sie nicht zu Wort kommen, sondern machte einfach weiter. „Und nein, mir geht’s gut. Ich habe mir noch nicht die Pulsadern aufgeschlitzt oder sonst was.“ Ich wirkte beinahe impertinent und entschuldigte mich: „Sorry.“

„Ich wollte nur hören, wie es dir geht und ob du aufgeregt bist? Du warst beim ersten Anruf etwas kurz angebunden“, beklagte sie sich und ich stöhnte innerlich. Frauen!

Ich war nicht kurz angebunden, hatte starken Berufsverkehr und musste mich darauf konzentrieren, aber Frauen sahen das nun Mal anders. Ich seufzte.

„Ja, Mama, es geht mir gut ... ich lieb dich auch und nein, ich bin nicht aufgeregt.“ Grinsend hatte ich das Gespräch weggedrückt, und ihr somit keinerlei Gelegenheit gegeben, noch darauf antworten zu können. Das Handy blieb nun still, sie hatte es kapiert. Heute Abend würde ich mich melden ...

Von Kilometer zu Kilometer, die mich näher an meinen Heimatort brachten, wurde ich aufgeregter. Das Lächeln auf meinem Gesicht verschwand und eine undefinierbare innerliche Unruhe hatte sich breitgemacht. Ich war eine Zeit lang auf der A7 gefahren, was mir mein Tom Tom zuerst auch empfohlen hatte, Baustellen hatte er mir aber nicht gesagt und so kam ich hier einmal in einen Stau. Daher wechselte ich dann aber auf die A14. Den Tipp bekam ich von Inge, als ich ihr von meinem Vorhaben berichtet hatte. Meinem Navigationsgerät passte es nicht ganz so, was mir aber galant am Hintern vorbeiging. Nicht immer hatten diese elektronischen Routenberechner recht.

Nachdenklich fuhr ich eine Weile weiter, wechselte noch einmal die Autobahn auf die A9, bis ich endlich in München ankam. Nur einmal in der kompletten Zeit hatte ich eine Rast gemacht in Form einer Pinkelpause, was gegessen und von meinen Kaffee getrunken der eher lauwarm war. Es war mir wichtig, schnell anzukommen, und mich wunderte es, wie weit doch Hamburg von München entfernt war. Eine Reise durch ganz Deutschland. Im Gesamten war die Fahrt sehr anstrengend gewesen, Schneefall und zähflüssiger Verkehr erschwerten das Ganze und stellenweise musste der Streudienst seine Arbeit verrichten und wir Autofahrer waren gezwungen, im Schritttempo zu fahren. Dann wiederum gab es Stellen, in denen es flott zur Sache ging. Aber nun war ich angekommen, nach fast neun Stunden Fahrt und es war schon weit in den Abend hinein. Mein erster Schritt jedoch würde nicht Susan werden oder gar Darian, für den musste ich mir etwas einfallen lassen, so unverhofft bei ihm aufzutauchen, nein, es war meine Mutter. Dies hatte ich kurz vor München für mich entschieden, weil es doch schon zu spät dafür war. Aber nicht zu spät, seine Mutter zu besuchen.

Ich parkte unweit von ihrer Wohnung. Mir fiel erst jetzt ein, dass ich gar nicht überlegt hatte, ob sie noch dort wohnte und stieg daher unsicher und in Gedanken aus, ging auf die Haustür zu. Als ich nur den Nachnamen von ihrem Lebensgefährten las, stockte mir der Atem – dann aber sah ich beide Vornamen. Gerda und Helmut. Der Nachname Müller war verschwunden. Meine Mutter hatte also geheiratet und hieß nun Gerda Grothe. Ich seufzte, weil ich ihn immer noch nicht leiden konnte, und weil Erinnerungen hochkamen, in denen wir uns angegiftet hatten. Vieles kam hoch. Wie würde ich empfangen werden, würde ich es überhaupt, oder sogar abgewiesen werden?

Ich drückte auf die Klingel, die sich wie immer schrecklich blechern anhörte, wie aus dem letzten Jahrhundert stammend, und trat einen Schritt zurück, rieb mir dabei die kalten Hände. Meine Handschuhe lagen auf dem Beifahrersitz und ich war zu faul, nochmals zurückzugehen, um sie zu holen. Ich mummelte mich tiefer in meinen Anorak, um der Kälte nicht ganz eine Chance zu geben, mich auskühlen zu lassen. Dennoch bereitete sich etwas anderes aus, Unbehagen. Fast fünf Jahre war es nun her, seit ich das letzte Mal hier war und ich hatte das Gefühl, mich fremd zu fühlen – nicht mehr hierher zu gehören. Kurz war ich gewillt, einfach umzudrehen, mir ein Hotelzimmer zu suchen und morgen zurückzufahren.

Ich scharrte mit der Schuhspitze auf dem Asphalt liegen gebliebenen Schnee, der mit Streusalz und Granulat versehen war und bald graue Schlieren hinterließ. Nein, ich hatte nicht die lange Autofahrt gemacht, um dann den Schwanz einzuziehen. Ich beschloss, nicht aufzugeben, etwas, was ich Carsten zu verdanken hatte. Als ich eine kleine Weile vor der Tür wartete, frierend und schon fast steif vor Kälte, kam mir kurz der Gedanke, dass womöglich keiner zu Hause war, und wusste zuerst nicht, was ich machen sollte. Daher schaute ich hoch in den dritten Stock, sah, dass hinter dem Rollladen Licht brannte. Es war jemand zu Hause. Also entschied ich mich für ein weiteres Klingeln – wieder nichts.

Sollte ich anrufen? Ich tastete nach meinem Handy. Der Gedanke, mich vorher anzukündigen, kam auf und wäre vielleicht sinnvoller gewesen, entschied mich dann doch dagegen und beschloss, mir ein Hotelzimmer zu suchen und morgen vorbeizukommen. Ich wollte schon auf dem Absatz kehrt machen, da hörte ich den erlösenden Summer der Haustür.

Aha!

Ich drückte sofort dagegen und begab mich in den dritten Stock, während das Licht automatisch im Flur angegangen war. Nichts hatte sich verändert, noch immer der alte verblichene braune Anstrich, der langsam an einigen Stellen abblätterte. Jetzt noch mehr, wie ich feststellte, da eine gewisse Zeit verstrichen war, seit ich hier war. Der muffige Geruch, der einem um die Nase wehte, wenn Wohnungen verlebt waren – alles war mir noch vertraut. Ein Wohnblock wie viele andere auch, in der die Eigentümer oder Baugesellschaften keinesfalls mehr für ihr Eigentum ausgeben wollten, als notwendig erscheint, Hauptsache die Mieten wurden pünktlich bezahlt. Wie hatte ich es doch mit Carsten und seinem Haus gut getroffen gehabt. Der Luxus wurde mir erst jetzt bewusst. Als ich die letzten Steinstufen erklommen hatte, stand schon Mamas Lebensgefährte, Pardon, Ehemann im Türrahmen. Er hatte seine Hände in die Hüfte gestemmt und sah mich mit seinen kleinen Augen ernst an. Dabei merkte ich sofort, dass er sich kaum verändert hatte, vielleicht ein paar Kilo leichter, da mehr Falten im Gesicht zu sehen waren, konnte aber auch der Zahn der Zeit sein.

„Hallo Jaden, du hast Nerven, nach so langer Zeit hier aufzukreuzen. Du hast deiner Mutter viel Kummer bereitet“, waren die schroffen Begrüßungsworte, die zwar überrascht, aber keineswegs besorgt klangen.

„Schön auch dich zu sehen! Ist Mama überhaupt zu Hause? Ich dachte schon, es wäre keiner da“, klang ich pikiert, weil man mich in der Eiseskälte so lange hatte warten lassen. Ich rieb mir meine Hände aneinander, damit sie etwas wärmer wurden, weil ich immer noch durchgefroren war.

„Ja, nachdem sie aus dem Fenster gesehen hatte und dich unten stehen sah, musste sie sich erst mal von dem Schock erholen. Deshalb hat es etwas gedauert, um dir aufzumachen. Du hast Nerven“, wiederholte er sich und ich erwiderte nichts darauf, da mir womöglich Sachen herausrutschen würden, die ich eventuell später bereuen würde. Ich wartete einfach ab, wie meine Mutter auf mich reagierte.

Helmut öffnete komplett die Tür, trat zur Seite, so konnte ich in die Wohnung eintreten. Ich wartete auf ihn im Flur, bis er vorging. Auch wenn ich da gewohnt hatte, war ich nur Gast und wusste, was sich gehörte. Still folgte ich ihm in die Küche.

„Reg sie nicht auf“, ermahnte er mich.

„Ist ja gut“, zischte ich. Da hatte man eine lange Fahrt hinter sich, war müde, zudem einen langen Zeitraum weg gewesen und dann so etwas. Zum Glück ließ er mich alleine. In dem Augenblick fehlte mir Basta, der ihn bestimmt angeknurrt hätte. Der Hund hätte mich verteidigt, da war ich mir sicher.

Warum hatte ich ihn nicht mitgenommen – als Schutz? Ich verstand mich nicht, warum ich so gehandelt hatte.

Mein Blick fiel auf den Rücken meiner Mutter.

„Hallo Mama“, begrüßte ich sie so ruhig ich nur konnte. Innerlich war ich nervös. Sie stand am Herd und kochte – um diese Zeit? Bereitete sie das Essen für Morgen vor? Seit ich die Küche betreten hatte, hatte sie kein Wort gesagt oder sich zu mir umgedreht. Und doch konnte ich sehen, wie aufgewühlt sie war. Ich wollte zu ihr gehen.

„Bleib stehen! Bleib bitte da stehen, wo du bist.“ Sie drehte sich endlich um und ich erschrak gewaltig. Wie war sie in der Zeit gealtert. Ihr Gesicht war mit Kummerfalten überzogen. Wegen mir etwa? Reue und ein schlechtes Gewissen überkamen mich. Kurz beschlich mich das Gefühl, das sie wieder ein Alkoholproblem hatte. Jetzt wusste ich, wo ich meine Labilität oder Instabilität herhatte. Innerlich betete ich für sie, dass es nicht so war. Schnell scannte ich mit den Augen die Küche nach Alkohol, aber es sah sauber aus. Ein Alkoholiker konnte keine Ordnung mehr halten, nicht ab einem gewissen Stadium. Was sich hinter den Türen der Schränke befand, das wusste ich nicht.

„Ich bin clean. Willst du einen Kaffee?“, sagte sie nur und wischte sich die Hände an ihrer ziemlich sauberen Schürze ab. Ihre Kälte, die Härte in ihrer Stimme, sie schmerzte, auch dass sie sofort meinen nach Alkohol suchenden Blick bemerkt hatte. Keine Umarmung, keine Wiedersehensfreude war zu sehen. Irgendwie hatte ich mir eine andere Begrüßung vorgestellt.

Ich nickte – mechanisch und setzte mich unbehaglich auf den Küchenstuhl. Auf Kaffee um diese Zeit hatte ich zwar keine Lust, aber ich wollte nicht aufmüpfig wirken und nickte nur. Mich beschlich ein Gefühl, mir heute noch ein Hotelzimmer suchen zu müssen. Hatte ich wirklich geglaubt, ich könnte bei ihr ein paar Tage bleiben – bei dieser Kälte, die zwischen uns herrschte? Hatte ich geglaubt, ich könnte alles ins rechte Lot rücken, könnte Darian besuchen gehen und Susan – alles wäre dann gut? Auf einmal hatte ich weder Lust auf Susan noch auf Darian und das, obwohl ich mich nach ihm verzehrte.

 

 

 

©Randy D. Avies 2012



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