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Bruderliebe

von

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Später, bei dem üblichen Leichenschmaus, brachte ich keinen Happen hinunter. Wie auch!

Ich saß verloren zwischen den Stühlen und beteiligte mich weder an den Gesprächen noch war ich gedanklich wirklich hier. Es war mir zuwider, mich zu unterhalten, oder wie toll Carsten früher war und dass alles wieder gut werden würde. Die hatten alle gut lachen, ich hatte meinen Partner verloren.

Warum war er von mir gegangen? Warum war uns kein längeres Glück beschert? Warum hatte mir meine Fantasie so einen Streich gespielt und ich mir Darian auf der Beerdigung eingebildet – dazu noch mit Miguel? All die vielen Fragen, auf die die Antworten komplett fehlten, brachen über mir zusammen.

Meine Augen waren auf den trockenen Rotwein vor mir fokussiert, den ich das dritte Mal bestellt hatte. Der Griff nach dem Weinglas jedoch wurde sofort von einigen mit missbilligenden Blicken quittiert, was mir nach zwei Gläsern davon galant am Arsch vorbeiging. Ich nahm großzügig mehrere Schlucke. Ich brauchte den Alkohol, der jetzt langsam meine Sinne umnebelte. Der Chianti rann wohltuend meine Kehle hinunter und füllte meinen Bauch mit Wärme aus, die mir ansonsten fehlen würde.

Iris, Carstens Cousine, hatte sich zu mir gebeugt, und ihre Hand über meine rechte gelegt, die ich auf den Tisch abgelegt hatte. Warum sie neben mir saß, war mir schleierhaft. Sowieso lernte ich auf der Beerdigung Menschen kennen, die ich zu Carstens Lebzeiten niemals richtig gekannt hatte.

„Zeit heilt alle Wunden, doch solltest du etwas essen, statt nur Wein in dich hinein zu schütten“, waren ihre beinahe mahnenden Worte.

Was wusste sie von Trauer? Ich wusste nicht, was schlimmer war, ihre Worte oder das Bemuttern, weil sie selbst keine eigenen Kinder hatte. Ich wusste, ich war ungerecht, doch konnte ich nicht aus meiner Haut. Meine Hand, die noch immer unter ihr gefangen war, bebte. Ich riss sie wütend an mich und stand vom Platz auf. Der Stuhl, auf dem ich gesessen hatte, fiel um. Ich ignorierte das Poltern hinter mir.

„Was bist du? Meine Mutter, mein Vormund? Auf dumme Sprüche habe ich keinen Bock.“ Um mich herum war es urplötzlich still geworden, doch ich war zu wütend, um mich in meinem Wortfluss zurückzunehmen. „Was glotzt ihr alle so blöde?“, war nun die Frage an alle, die ihre Augenpaare auf mich gerichtet hatten, als wäre ich ein Superstar. Nur war ich hier keine Berühmtheit und dies hier war keine Showbühne, in der ich all meine Fans beeindrucken musste. Ich war angewidert. „Mir geht’s gut, sieht man doch.“ Dann nahm ich, immer noch stehend, mein Glas andächtig in die Hand und trank demonstrativ den Rest in einem Schluck aus. Der Alkohol beruhigte mich, während ich unsanft das Glas abstellte. Ich entfernte mich leicht schwankend von der Trauergemeinde, die immer noch blöd glotzend am Tisch saß und nicht wusste, wie sie mit mir umzugehen hatten. Einige waren dann doch aufgestanden, unter anderem auch Inge, um mich zurückzuhalten, doch ließ ich nichts an mich heran. Schon gar kein Mitleid. Ich machte eine ablehnende Handbewegung. „Lasst mich in Ruhe, ich komme schon klar.“ Ich straffte die Schultern und versuchte, im normalen Gang die Gaststätte, die dafür extra angemietet war, zu verlassen, was mir auch glücklicherweise gelang.

Ich nahm ein Taxi, denn ich war ja mit Inge und ihrem Mann gekommen, und selbst wenn ich mit einem eigenen Auto da gewesen wäre, fahren hätte ich in dem Zustand sowieso nicht gekonnt.

Zu Hause angekommen bröckelte jedoch die Fassade rapide wie der Untergang von Atlantis. Ich sank in mich zusammen, ließ mich auf den Flurboden gleiten, umschloss meine Beine mit meinen Armen und wiegte mich im Sitzen hin und her. Ich wurde von einem Tränenfluss erfasst, der nicht aufhören wollte. Das Haus wirkte auf mich zu groß, zu leer. Zudem fehlte mir Basta auf einmal sehr. Der Vierbeiner, der mich getröstet hätte. Er war nicht bei der Beerdigung dabei gewesen.

Ich bekam einen Zorn auf seine Familie, wurde ungerecht. Warum hatte ich nur zugestimmt, dass Inge Basta mitgenommen hatte, ich konnte mich doch um den Hund kümmern? Was sollte das?

Aber im Grunde genommen lag ein anderes Problem vor, und das war ich. Ich war unfähig, mich um mich selbst zu kümmern. Basta fehlte mir. Carsten fehlte mir.

 

Die Trauerfeier, sie war nun eine Woche her und seit gestern war auch die Baumbeerdigung vorbei, bei der ich seine Urne selbst getragen hatte. Es war nur die Familie anwesend. Doch dieses Mal hatte man mich in Ruhe gelassen. Ich hatte mir davor ein wenig Mut antrinken müssen, um dies alles zu überstehen. Ich schaffte den Tag mit einer Disziplin, die ich mir selbst nicht zugetraut hätte, doch innerlich war ich kalt und leer. Eine deutsche Eiche hatte Carsten sich vor seinem Tode gewünscht, die hatte er nun bekommen mit einem kleinen Namensschild dran.

Das ist nun alles, was von ihm übrig geblieben war, dachte ich und die Panik vorm Alleinsein brach über mich rein. Kein Strohhalm, an den ich mich klammern konnte. Nun war es endgültig vorbei. An dem Tag hatte ich mich in den Schlaf getrunken. Ich wusste, ich trank zu viel.

Die zahlreichen Beileidsbekundungen hingegen nahmen nicht ab. All seine Patienten, frühere Freunde, Nachzügler, die jetzt von seinem Ableben erfahren hatten, wünschten mir Beileid. Dabei ertappte ich mich dabei, in der Post nach Darians Beileidswünschen zu suchen, doch fand ich keine darunter. Ich war wie betäubt und fühlte in der Zeit rein gar nichts mehr.

Basta, den ich wieder zu mir nahm, in dem ich Inge gegenüber beteuerte, mich wirklich um ihn kümmern zu können. Das war an einem Tag, da hatte ich nicht all zu viel getrunken, und ich hatte einen soliden Eindruck hinterlassen, denn Inge und ihr Mann gaben schließlich nach.

Mit dem Vierbeiner an der Leine schloss ich die Wohnungstür auf. Der Hund winselte, fühlte ebenso die Leere, dass Carsten nicht mehr hier war, was für mich im Innern einen schmerzlichen Ruck auslöste. Ich tröstete mich mit seinem Hund, schmiss mich regelrecht an ihn und heulte in sein weiches Fell hinein. Nach über zwei Wochen wuchs die Trauer immer weiter an.

„Basta, wie soll es nur ohne Carsten weitergehen?“ Der Hund legte als Antwort seinen Kopf schief und starrte mich aus seinen ebenfalls traurigen Augen an, als ob er mir sagen wollte: „Ich verstehe, was du durchmachst, ich vermisse ihn auch, aber lass dich nicht hängen, ich bin doch auch noch da.“

Lange hielt ich Basta in meinen Armen, bis ich wieder in mein altes Schema fiel. Ich brauchte etwas zu trinken. Wirklichen Trost verspürte ich nur, wenn ich eine Flasche Wein, oder auch zwei am Abend mit ein paar Beruhigungstabletten herunterspülen konnte und eine: Leck - mich - am - Arsch - Manier sich darüberlegte, wie ein Mantel um einen frierenden Körper. Zudem quoll der Aschenbecher über, denn ich rauchte wie ein Schlot. Die Illusion, in der ich mich durch Alkohol, Tabletten und Nikotin befand, hielt nur wenige Stunden an, dann fiel ich auf den harten Boden der Realität zurück.

Meistens wachte ich frierend auf dem Wohnzimmerboden, mit einer Flasche danebenliegend, auf. Und wenn ich von Carsten geträumt hatte, war meine Unterhose mit Sperma befleckt. So fehlte er mir, dass mein Körper auf ihn reagierte. Wenn dies der Fall war, fühlte ich mich noch leerer.

Die Haushälterin hatte inzwischen gekündigt, als ich sie betrunken angeschrien hatte, weil ich in meinem Rausch Sachen sah, die so nicht da waren. Irgendwann hielt es die gute Frau mit mir nicht mehr aus. So war ich mit Basta ganz alleine in dem großen Haus. Auch wenn sie nur zweimal die Woche gekommen war, hatte sie sich wenigstens um die Hygiene gekümmert. Jetzt stapelte sich die schmutzige Wäsche in dem schon längst überfüllten Wäschekorb und das dreckige Geschirr fand den Weg in die Spülmaschine nicht mehr. Ich sah wohl den Verfall, doch fühlte ich mich zu schwach, um etwas dagegen zu unternehmen, obwohl ich Carsten vor seinem Tod versprochen hatte, es nicht zu tun, hatte ich das Versprechen gebrochen. Das Einzige, was ich nicht vernachlässigte, war der Hund. Den versorgte ich so gut ich konnte. Das war aber auch das Einzige, worauf man einigermaßen stolz sein konnte.

Was mich anging, da sah es ebenfalls nicht so gut aus. Ich duschte nur einmal die Woche, wenn überhaupt. Mit den Klamotten sah es so ähnlich aus. Sie wurden nur dann gewechselt, wenn selbst mir der Duft zu unangenehm wurde. Meine Haare, sie verfilzten immer mehr, weil ich Krieg mit sämtlichen Bürsten und Kämmen abgeschlossen hatte und Arbeit hatte ich auch keine mehr. Zwar hatte Carsten vor seinem Tod dem Nachfolger gesagt, dass ich weiterhin helfen würde, doch der bestellte mich nicht mehr ein, als ich zweimal wütend: „Hab keine Lust auf den Mist hier“, ins Telefon gebrüllt hatte. Anstatt mich zu entschuldigen, beließ ich es so.

Basta schaute mich die meiste Zeit nur stumm an, bellte weder, noch machte er groß Arbeit. Er verkroch sich dezent in sein Körbchen zurück, wo sein Fressnapf für ihn bereitstand, wenn ich wieder durch das Haus torkelte und irgendwelche Lieder, die im Radio liefen, schief nachsang.

Der AB war inzwischen vollgesprochen und es passten keine Nachrichten mehr drauf. Ich hörte ihn schon lange nicht mehr ab. Auf Telefonanrufe reagierte ich abweisend und ging meistens nicht ran – genauso war es mit den Besuchen, von seiner Familie und meinen Freunden. Ich ließ sie hoffnungslos an der Haustür klingeln.

Sie alle zogen sich von mir zurück, konnten meine Garstigkeit nicht mehr ertragen. Inge konnte mir Basta nicht ein zweites Mal wegnehmen, denn das Einzige, was nicht vernachlässigt aussah, war der Hund, auch wenn sie einmal den Versuch startete.

 

Sechs Wochen waren seit der Beerdigung vergangen, der Nachlass geregelt, denn Carsten hatte mir in seinem Testament, das er kurz vor seinem Tode durch seinen Anwalt hatte aufsetzen lassen, sein Haus und all sein Erspartes vermacht. Ich könnte also sorglos leben. Nur war ich zu sehr in meinem eigenen Mitleid versunken, sodass ich nicht merkte, wie ich mehr und mehr abstürzte.

Es war an einem Freitagabend, ich war gerade dabei, die zweite Flasche Wein zu köpfen, um mein viel zu schnell ausgetrunkenes Glas wieder zu füllen, da fiel mein Blick auf den verwaisten Flügel, der tot und leblos im Raum stand. Wie sein Herrchen jetzt. Ich stellte die angebrochene Flasche zurück in die Bar und behielt aber mein volles Glas in der Hand, während ich den letzten Rest meiner Zigarette aufrauchte und den Stummel dann im Aschenbecher ausdrückte. Ich atmete tief durch.

Die ganze Zeit über hatte ich bewusst das Klavier gemieden, hatte es nicht Mal richtig ansehen können. Doch aus irgendeinem Grund konnte ich dieses Mal den Blick nicht davon abwenden. Eine kleine Staubschicht hatte sich auf dem hochwertigen Teil abgelagert und milderte den herrlichen Glanz des schönen tiefenschwarzen Musikinstruments ab. Mein Herz zog sich bei dem Anblick schmerzvoll zusammen. Wie hatte Carsten es geliebt und ich ehrte es nicht in seinem Sinne. Schäbig und nieder kam ich mir vor. Ich fuhr mir durch meine verklebten Haare, was mich noch mehr in meiner Sache bestärkte, was für ein Ferkel ich geworden war.

Mir fehlte Carsten und die Tatsache, dass ich mir zudem Darian auf der Beerdigung eingebildet hatte, machte die Situation nicht besser – im Gegenteil. Manchmal war es Darian, von dem ich zusätzlich träumte und mich dann hinterher dafür schämte, als es mir bewusst wurde.

Ich schritt betrunken mit meinem Weinglas bestückt auf den Flügel zu und setzte mich ungeschickt auf den Hocker, stellte das Glas oben drauf – ohne Untersetzer. Carsten wäre in Ohnmacht gefallen.

Ich klappte den Deckel ungelenk nach oben. Automatisch ließ ich meine Finger beinahe ehrfürchtig über die Klaviertasten gleiten, ließ jeden einzelnen Ton in sich klingen. Bis ich den höchsten Ton, das letzte C erreichte. Dann, als der helle Ton der Klaviertaste ausklang, übermannte mich das Mitleid, unterstützt von dem vielen Wein.

„Carsten, du fehlst mir so“, lallte ich in den Raum, trank dann einen großzügigen Schluck aus dem langstieligen Rotweinglas und stellte es unsanft auf den Flügel. Die Melancholie umgarnte mich und hielt mich eisern in ihren Armen fest. Die Vorstellung, Carsten wäre hier, manifestierte sich und dann sah ich ihn vor mir, wie er neben dem Flügel stand und auf mich herunterblickte. Ich stellte mir vor, was er zu mir sagen würde, wenn er mich wirklich so sehen würde.

„Lass dich nicht hängen“, sprach er zu mir, in dem warmen Ton der mich wärmte. „Hakuna Matata.“ Ein Satz aus dem afrikanischen, was mir immer Carsten zugeflüstert hatte, wenn ich mal wieder in meiner Trauer aufgegangen war. Danach war es mir immer besser gegangen. Warum ich gerade jetzt daran dachte, war mir ein Rätsel. Nach all den leeren Wochen ohne ihn, fielen mir seine Worte ein.

Ich sah zu meinem Sinnbild und wie Carsten dabei lächelte. Sein strahlendes Lächeln, vor seiner schweren Krankheit, als er noch gesund aussah. Ich hatte alles genau so in Erinnerung.

„Ja, ja, ich weiß, alles wird gut“, hickste ich in einem fort und sah weiter geistig zu ihm. Dann aber wurde ich nachdenklich, dachte über die Worte und deren Bedeutung erneut nach.

„Ich lasse mich nicht hängen, versprochen, du fehlst mir nur so.“ Ich schluchzte und meine Hand rutschte aus und fiel unsanft auf drei Tasten, sofort entstanden schiefe Töne.

„Ich werde dich immer lieben, mein geliebter Jaden, doch lebe nun weiter …“, flüsterte die Stimme von Carsten.

„Ich dich auch ... Oh Gott, ich dich auch.“ Wo zuvor Taubheit herrschte, kam die Trauer vollends zurück, aber auch Leben, das in mir so lange geschlafen hatte. Ich weinte ein letztes Mal um ihn. Weinte dann weiter, weil ich wusste, dass ich mein Leben selbst in den Griff bekommen musste. Mir wurde bewusst, dass es nicht Carstens Worte, sondern meine waren, die durch seine vorgetäuschte Gestalt zu mir gesprochen hatten. Mein Inneres warnte mich zudem vor einem weiteren Selbstmord. Doch paradoxerweise war ich davon weit entfernt. Auch wenn ich mich die ganze Zeit über hatte hängen lassen, von Sterben war nie die Rede. Doch um dies zu spüren, um diese Tatsache vor Augen zu führen, musste ich so tief fallen, um genau da hinzukommen. Ein lebendiges Etwas sprudelte aus mir heraus und nahm von mir Besitz.

Angewidert sah ich auf den letzten Schluck Rotwein vor mir, der im Glas dümpelte und darauf wartete, ausgetrunken zu werden, dann fiel mein Blick auf die vielen Zigarettenstummel. Ich schüttelte den Kopf.

Nein, ich will nicht mehr!

 

©Randy D. Avies 2012 



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Veri
2015-09-02T08:19:48+00:00 02.09.2015 10:19
Wenn er die Kurve erstmal bekommt, schaff ich das auch :((( aber es ist so traurig :((((((


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