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Nicht in Zuckerwattenhausen

von

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Roter Apfel

Regen prasselte gegen die Fensterscheibe der Straßenbahn, die mich zum Studentenwohnheim brachte. Ich fokussierte die Regentropfen auf dem Glas. Farblose Tropfen, vom Fahrtwind diagonal nach unten gelenkt, auf ihrem Weg sich mit anderen Tropfen vereinend. Immer schneller rasten sie, je größer der Tropfen wurde. Wasser hatte mich schon als Kind beeindruckt, auf dem Rücksitz im Familienauto; wie es sich nahtlos vereinigen konnte, verschmelzen, zu einem werden.

Wie würde es aussehen, wenn jeder Tropfen eine andere Farbe hätte - regenbogenfarbiger Regen? Ein roter Tropfen, der sich mit einem gelben Tropfen mischte und dabei orange wurde. Aber dann würde er in einen lila Tropfen fließen und braun wurde, bis am Ende jeder einzelne Tropfen grau war, wie das Wasser, mit dem ich früher mit Wassermalfarben gemalt hatte.
 

Eine halbe Stunde später stand ich mit einem kleinen Gute-Besserung-Korb vor Davids Bude.

Der Weg dorthin war der wohl schwerste Gang für mich gewesen. Einer von uns musste schließlich den Anfang machen, und zumindest für mich war diese einwöchige Funkstille unerträglich gewesen! Aus Skype verduftete er, sobald ich online war; er reagierte auf keinerlei Nachrichten von mir. Kaum geschlafen hatte ich und auch keinen Appetit. So konnte ich keinen Tag länger weitermachen.

Von Mik hatte ich heute erfahren, dass David die Grippe hatte und sah das als Chance; als idealen Vorwand, ihn zu besuchen.

Das war schon Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet David krank wurde, der so sehr auf gesunde Ernährung achtete, während Mik, der von morgens bis abends Fastfood in sich reinstopfte und überhaupt keinen Sport trieb, sich bester Gesundheit erfreute.

Eine Packung Kräutertee hatte ich in den Korb gelegt, dazu süße rote Äpfel, einen Beutel Nussmischung und Kartoffelsalat.
 

David öffnete nach einer Ewigkeit die Tür, war vermutlich gerade aus dem Bett gekrabbelt, mit dieser zerknitterten Jogginghose, die er da trug. Dazu diesen wenig attraktiven schlammgrauen Rollkragenpullover, um den er zusätzlich einen dicken Schal gewickelt hatte. Und doch war er der erfreulichste Anblick, den ich seit langem hatte.

Während ich noch nach Worten rang, holte David tief Luft, wie als müsse er sich noch überlegen, was er sagte. „Mit dir hätte ich jetzt echt nicht gerechnet…“, krächzte er mit belegter Stimme.

„Ich bring dir nur schnell ein paar Kleinigkeiten zur Besserung. Meinen selbstgemachten Kartoffelsalat, der dir an Silvester so gut geschmeckt hat“, stammelte ich und drückte ihm den Korb in die Hände. Silvester. Da war die Welt noch in Ordnung gewesen. Könnte man doch nur die Zeit zurückspulen.

„Danke. Magst du reinkommen?“, sagte er nur und verschwand mit dem Korb in der Wohnung, wo er ihn auf dem Tisch abstellte und die Tupperdose mit dem Salat in den Kühlschrank stellte. Ich folgte ihm, bemerkte einen Mentholgeruch, der wohl von der Erkältungssalbe kam.

„Du hast jetzt einen Schaukelstuhl?“, stellte ich fest, schloss die Tür hinter mir und nickte in Richtung der Ecke vor dem Bücherregal. Da stand er, in lackiertem dunklen Holz, Armlehnen und einer durchgelegenen Decke in Kuhfelloptik darauf. Sah richtig teuer aus, der Stuhl, nicht Davids alte Decke.

„Woher hast du ihn?“

„Claudia hat ihn mir vorbeigebracht.“

„Warum trennt sie sich denn von diesem Prachtstück?“

„Die Wohnung von ihrer verstorbenen Großtante wurde aufgelöst, und sie hat einfach keinen Platz dafür. Und ich habe mir schon immer einen Schaukelstuhl gewünscht… Magst du dich mal reinsetzen?“

Ich schüttelte den Kopf und so ließ David sich dort nieder, was das Holz leise ächzen ließ, lehnte sich zurück und schaukelte. Seinen Beistelltisch hatte er jetzt hierher gestellt, fiel mir auf. Viele wissenschaftliche Bücher und Sachbücher türmten sich darauf: Die Frage nach Gott. Das apostolische Glaubensbekenntnis. Vernunft und Glaube. Der Fremdwörter-Duden. Ihm entging mein Blick nicht.

„Weißt du was? Mein einer Dozent heißt mit Vornamen sogar Theo“, sagte er jetzt völlig zusammenhanglos.

Ich schaute ihm in die Augen, die heute klein und müde wirkten. Es war dieser ganz spezielle Blick, den er aufsetzte, wenn wir nur Sekundenbruchteile später losprusteten. So wie jetzt.

„Der hat aber nicht zufällig einen weißen Rauschebart?“, kam ich auf Theo zurück.

David hustete krachend. „Nein, hat er nicht.“ Und er räusperte sich, zerriss die Verpackung eines Hustenbonbons, und sagte, bevor er es sich in den Mund legte: „Ich…es tut mir leid, was ich zu dir gesagt habe… Ich habe dich verletzt, das wollte ich nicht.“

„Schon gut. Ich verzeihe dir.“

David zog mich zu sich. Ich ließ mich auf seine Brust betten und schloss die Augen. Der Gestank seiner Erkältungssalbe drang penetrant zu mir durch, aber ich blieb trotzdem da, so halb auf ihm liegend, und atmete weiter, bis ich es bald nicht mehr roch. Es war verdammt unbequem, aber verdammt, es war David. Mein David, den ich um nichts auf der Welt eintauschen wollte. Liebe. Macht dich stark und machtlos zugleich, und wenn du Pech hast, sogar zum Idioten.

Er kraulte mir durch die Haare und ließ mich an seinem ruhigen, regelmäßigen Herzschlag horchen.

„Hörst du es?“

„Ja. Ganz deutlich.“

Ich ertappte mich, wie ich darauf wartete, dass er sagte, dass sein Herz nur für mich schlug, aber so etwas Kitschiges würde zu David nicht passen. Stattdessen bekam ich zu hören: „Jesus ist in deinem Herzen, hat man mir in meiner Kindheit immer gesagt.“

Ich runzelte die Stirn, aber wollte mich nicht aufregen, nicht darüber, dass er mir mit seinem Jesusgedöns einen Moment zerstörte, den ich ganz unbefangen genießen wollte.

„Und so klein wie ich war, im Kindergartenalter, habe ich das wortwörtlich genommen“, sprach er weiter.

Ich grinste. „Dachtest du echt, da wohnt so ein minikleiner Mensch drin?“

„Ja, wirklich. Der immer klopft und klopft und klopft und mich dadurch am Leben erhält. Ich weiß, das hört sich verrückt an, aber ich war felsenfest davon überzeugt. Jedenfalls, eines Nachts, ich weiß noch, dass es an einem Samstag war und Noah nicht da war. Sonst wäre ich zu ihm ins Bett gekrochen… “

Hol mal Luft, wollte ich ihm sagen, denn er hatte etwas an sich, beim Erzählen das Atmen zu vergessen.

„Und ich bin ziemlich oft ins Bett zu Noah, weil ich so ein Schisser war, und dann hat er mich vor den Monstern beschützt. Ich war also wach, konnte nicht einschlafen, und war ganz alleine. Und mein Herz hat plötzlich wie verrückt gerast, ohne dass ich vor etwas Spezifischem Angst gehabt hätte. Ich hatte nichts ausgefressen oder so. Einfach so hat es losgelegt, grundlos, und dadurch habe ich erst recht richtig Angst gekriegt. Davor, dass jeden Moment Jesus raus springt. Dass er nur deswegen so heftig hämmert, weil er mich nicht mehr mag und sich lieber ein anderes Herz sucht!“

Sein Griff an meinen Haaren verstärkte sich schmerzhaft und nur zu deutlich hörte ich die Furcht aus seiner Stimme heraus.

Ich blickte nach oben, suchte seine Augen, die ins Leere starrten; in diese Erinnerung vor vielen Jahren, und ich sah sie feucht glänzen.

„Panische Angst“, sprach er weiter. „Ich bin aus dem Bett gesprungen, habe mir ein Blatt Papier geholt und ein Herz drauf gemalt! Und innen hinein Jesus, wie ich ihn mir vorgestellt habe, und immer wieder zu mir selbst gesagt: Bitte bleib bei mir… Bitte bleib bei mir, in mir drin…für immer.“

„Und dann?“

„Dann ging es plötzlich wieder. Mein Herz hat sich wieder beruhigt und ich konnte einschlafen. Am nächsten Tag hat meine Mutter das Bild an den Kühlschrank gehängt, da hängt es bis heute.“

„Ohne zu fragen, wie das Bild entstanden ist?“ Der kleine David damals hatte sich natürlich nicht bei seiner Mutter beschwert, dass er durch den Glauben, den er von Geburt an vermittelt bekommen hatte, auch ein Kreuz trug. Immer eine unterschwellige Angst, durch ein Fehlverhalten Sünden zu begehen und in der Hölle zu landen.

„David…Wenn du jetzt nicht in deine Familie hineingeboren wärst, sondern in eine andere, mit einem anderen Glauben, Buddhismus, Hinduismus, oder was weiß ich – meinst du, du wärst heute ein genauso frommer Buddhist, wie du Christ bist?“

„Hm?“, machte er. „Also, was du für Fragen stellst. Das ist doch viel zu hypothetisch, um es beantworten zu können. Geschweige denn, was du mir damit unterstellen würdest.“ Er klang fast ein bisschen verärgert. Ich jedoch fand diese Frage ziemlich interessant.

Und dachte noch ein bisschen darüber nach, während ich mich wieder an ihn kuschelte und seine Nähe genoss.

David schnaufte tief durch. „Dominique…um nochmal darauf zurückzukommen, mir war das zu viel, das neulich bei dir, mich hat das einfach erschlagen, ich wollte damit noch eine Weile warten, aber du hast mich total überrumpelt…“

„Verstehe. Ich bin ja auch nicht Marie“, sagte ich resignierend und erhob mich, weil ich gerade richtig miese Laune bekam. „Ich bin nicht sie, ich bin kein Mädchen, verdammt noch mal, ich hab echt keinen Bock drauf, dass du an sie denkst, wenn wir zusammen sind!“

So schnell war´s draußen, was ich tief im Innern befürchtete. Dass er sie immer noch liebte, irgendwie unterschwellig, auch wenn er mir noch so oft beteuerte, mit ihr abgeschlossen zu haben. Und ich keine Chance gegen sie haben würde.

„Blödsinn.“ Er schüttelte den Kopf dabei. „Was sollte ich noch von ihr wollen? Bei ihr… war es nie so, dass ich plötzlich nicht mehr wusste, wer ich überhaupt bin. Was ich jetzt nicht im Negativen meine, man soll ja auch mal Dinge in Frage stellen, die einem selbstverständlich vorkommen…“

Diese Worte saßen, ich war gerührt. Ich wischte ihm eine Locke, die ihm in die Augen gefallen war, weg. Dabei bemerkte ich, dass seine Stirn heiß war wie ein Stück Kohle.

„David, wo hast du dein Fieberthermometer?“, fragte ich alarmiert.

„Ich habe kein Fieber! Glaube nicht alles, was Mik erzählt. Dass er überhaupt da war, hat mich wirklich überrascht.“

„Mik hat dich besucht?“, fragte ich, selbst überrascht von Miks plötzlicher fürsorglicher Ader. Denn wenn ich etwas hatte, hielt er sich tunlichst fern von mir, aus Angst, sich anzustecken. „Aber wir sollten zur Sicherheit trotzdem mal messen.“

„Wenn es unbedingt sein muss“, murrte David und stand auf, um zum blütenweiß bezogenen Bett hinüber zu wanken, wo auf dem Nachttisch das Fieberthermometer lag und eine Schachtel Tabletten daneben.

„Hast du Hunger? Oder Durst?“

Er schüttelte den Kopf. Aber ich wollte nicht untätig hier rumsitzen, würde am liebsten eine Gemüsesuppe kochen oder so. Mich nützlich machen. Der Apfel! Ich stand auf und wusch ihn an der Spülte, suchte mir ein Messer aus seiner Schublade heraus und setzte mich zu ihm ans Bett, wo ich voller Inbrunst den Apfel schälte. Da piepste auch schon das Thermometer.

„Und? Wie viel?“

„36,9. Also kein Fieber. Hab ich doch gesagt.“

„Hast du auch nicht geschummelt?“ Zum Beweis zeigte er mir das Display.

Ich nickte und vierteilte den Apfel. Einen roten – wäre es ein grüner, würde mir jetzt die Schamesröte ins Gesicht steigen. Ich konnte wohl nie wieder unbefangen grüne Äpfel essen, und das nur dank Sandro!

„Woran denkst du?“

Ich winkte ab. „An nichts Besonderes. Hier. Iss.“ Ich hielt ihm ein Stück Apfel hin. David wollte zuerst nicht, betrachtete mich misstrauisch.

„Och komm schon, Davittchen! Der ist nicht vergiftet.“

„Du Schlange“, erwiderte er trocken.

„Richtig, da steht doch irgendwas in der Bibel, mit einem Apfel und einer Schlange…“

Ich musste unwillkürlich an Sandros Schlangentattoo denken. Sofort drängte ich dieses Gedankenbild in den Keller der verbannten Erinnerungen zurück, schloss diese Falltür dreimal ab und warf den Schlüssel weg. Zur Hölle mit Sandro Schwarzer, denn genau da kam er her!

David konnte mir letzten Endes doch nicht widerstehen und biss endlich von dem knackigen Obst, der verbotenen Frucht, ab.

„Eigentlich war es kein Apfel, es wird bloß eine Frucht erwähnt, und nicht genauer gesagt, welche“, erklärte er mir, ganz der Theologe.

Die Bettdecke zog ich ihm bis zur die Nasenspitze hoch, damit er die Klappe hielt, zupfte hier und dort, dass er es auch ganz bequem hatte, entfernte die kalt gewordene Wärmflasche.

„Soll ich die nochmal neu befüllen?“

„Könntest du schon, aber“, murmelte er, „sei du doch einfach meine Wärmflasche.“

Ich hätte ja mit vielem gerechnet, bloß nicht mit so einem Wunsch. „Das…“ Ich schluckte, darum bemüht, seinem Kuschel-mit-mir-Blick zu entkommen. „Das ist doch nicht richtig, wir beide in einem Bett, du sagtest ja selbst…deine Überzeugung…und so…“

„Wenn wir es beide wollen, dann kann es nicht falsch sein“, unterbrach er mich.

Diese seltsame David-Logik leuchtete mir ein. Denn ich wollte es – ganz egal, was er zuvor alles gesagt hatte. Ich entledigte mich also Schuhen und Pulli, unter dem ich ein dünnes T-Shirt trug, löschte das Licht und kroch zu ihm unter die Decke.

Ganz an die Wand hatte er sich gedreht und sich dünn gemacht. Dicht rutschte ich zu ihm, an seinen warmen Körper heran, und hatte keine Angst, dass er mich mit seiner Erkältung anstecken könnte. Würden wir zusammen wohnen, würden wir das Bett ja auch teilen. Dann wäre es aber hoffentlich ein größeres Bett.

David lag ruhig da wie ein Fels in der Brandung. Wie sehr ich ihn vermisst hatte. Seine Wärme, sein Geruch, seine Haare, auf die ich einen Kuss gab.

Er nahm sogar meine Hand fest in seine. So waren wir eins. Zwei Menschen, die eine weiße Decke zu einem einzigen verschmelzen ließ. Weiß wie Zuckerwatte. Unser persönliches Zuckerwattenhausen. Abgeschirmt durch Liebe von der bösen Welt da draußen.

„Gute Nacht, David.“
 

Draußen tobte der Wind und Regen prasselte gegen die Rollladen. Aber wir waren zusammen im Warmen, Trockenen und hatten alles, was wir brauchten, nämlich uns.

Eine ganze Weile lagen wir so aneinander gekuschelt und ich lauschte seinen rasselnden Atemzügen, bemerkte wie der Druck seiner Hand auf meiner mehr und mehr nachließ. Ich war richtig erleichtert. Dass sich meine Gefühle für ihn kein Stück verändert hatten trotz dem Zwischenfall mit Sandro. Und darüber, dass es sich gut und richtig anfühlte, bei ihm zu sein.
 

„Dominique?“, meldete sich David schlaftrunken. „Bist du noch wach?"

„Kann nicht einschlafen“, murmelte ich.

„Du bleibst doch noch bis morgen, oder, Domi?“

Domi? Diesen Spitznamen fand ich irgendwie süß.

„Gern, aber wenn du aufwachst, bin ich wahrscheinlich schon weg, das darfst du nicht persönlich nehmen, aber ich habe Frühschicht.“ Ich küsste ihn auf die Schläfe und bemerkte, dass es salzig schmeckte.

„Aber wenn du weg bist, kommen die Zweifel raus…sie warten immer, bis ich alleine bin“, flüsterte er.

„Hey. Es wird alles gut, hörst du? Denk an was Schönes. Du hast bald Geburtstag…“

„Ja. Am Samstag. Und ich weiß auch schon, was ich da machen will: Italienisch essen gehen. Nur du und ich!“

„Nur du und ich? Das fände ich eine so verrückte Idee, dass sie schon wieder genial ist!“

David lächelte das Lächeln, das ich liebte, ich sah es vor mir in der Dunkelheit.

Dann wartete ich weiter auf seinen Schlaf, der nicht allzu lange auf sich warten ließ. Mit der Zeit, die verstrich, wurde auch ich langsam schläfrig.
 

Doch kurz vor dem Eindösen zerriss ein ohrenbetäubendes Brummen die Stille. Es kam von meinem Handy, das auf Davids Nachttisch lag. Vibrationen auf Holz, die einen grässlichen Lärm erzeugten. Schnell schnappte ich es mir, ehe David davon aufwachte.

Sandros Name leuchtete auf. Na, der hatte mir jetzt echt noch gefehlt! Genervt drückte ich ihn weg und schaltete das Handy aus.
 

~
 

„Weißt du schon das Neuste?“, fragte mich Fatima, als wir im Pausenraum saßen und eine Portion des Mittagsmenüs aßen, das wir hier kostenlos bekamen. Kartoffelsuppe und Kaiserschmarrn war es heute. Und zum Nachtisch ein Schälchen Fruchtquark. Die Kunst bestand darin, den Gedanken, dass man das gleiche Essen eine halbe Stunde zuvor den Bewohnern eingeflößt hatte, zu verdrängen.

„Ne, was denn?“

Nach meiner Kuschelnacht bei David verspürte ich heute eine seltsame Unlust, ihr zuzuhören, ja überhaupt zu arbeiten. Schon wieder schielte ich zu meinem Handy, das immer Nachricht von ihm anzeigte. Andrerseits war es ja gut, das hieß, er schlief und kurierte sich. Und träumte vielleicht von mir.

Irgendwann würde ich es auch Fatima erzählen, und zwar dann, wenn David sicher war, was mich anging.

„Marlene schreibt an einem Gedicht!“

Ich zuckte die Achseln, nahm den letzten Löffel Kartoffelsuppe aus der Schnabeltasse. Für die Bewohner war diese Tasse praktisch, ich jedoch zog den Löffel vor. „Sie macht ja auch beim Lyrik-Kurs mit, von daher…Moment mal, darfst du sie etwa duzen?“

Fatima grinste nur vielsagend. „Sie meinte, es wäre gar nicht für den Kurs, aber durch den Kurs die Inspiration gefunden, daran weiter zu schreiben, denn sie hat das Gedicht angefangen, als sie noch ganz jung war. Hach, sie ist so süß. Meine Lieblings-Omi hier! Weißt du… wenn ich bei Marlene bin und ihr zuhöre, dann bereue ich es keine Sekunde, Altenpflegerin geworden zu sein und nehme auch in Kauf, sonntags zu arbeiten. Auch, wenn das manchmal voll blöd ist.“

„Soso“, brummte ich. „Schön, dass du deine Berufung doch noch erkannt hast.“

„Allerdings. Isst du deinen Fruchtquark noch?“

„Nein. Nimm ruhig. Da wär noch was, Fatima. Bei den Bewohnern musst du nicht so rumposaunen, dass ich schwul bin, das will ich nicht. Das hier ist mein Arbeitsplatz, vergiss das nicht! Außerdem will ich die alten Leute nicht aufwühlen.“

Jetzt zog sie einen Schmollmund. „Ich habe das doch gar nicht böse gemeint. Ich fände es prima, wenn das was ganz Normales wäre. Genauso, wie wenn du dich mit einem Mädchen getroffen hättest. Dass da gar kein Unterschied wäre, verstehst du?“

„Wie geht’s deinem Cousin?“

Sie schaute mich verblüfft an, bevor sie den Löffel ablegte und antwortete: „Meinst du Faruk? Ganz gut. Er studiert irgendwas mit Medien, im dritten Semester… ist einundzwanzig und wohnt in der Innenstadt. Der Scherzkeks sagt immer, ich bin seine Lieblingscousine, aber ich bin seine einzige Cousine!“

„Von ihm hast du nie was erzählt.“

„Ich wusste nicht, dass er dich interessiert. He, magst du mal ein Foto von ihm sehen?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, wühlte sie in ihrem Smartphone und hielt es mir vor die Nase. Ich schaute in die großen, dunklen Augen eines Mannes, der frontal in die Kamera schaute und auf Brusthöhe eine Spiegelreflexkamera hielt. Optimistisch formuliert, war auf seinen Lippen der leichte Anflug eines Lächelns zu sehen. Er schien viel Wert auf sein Äußeres zu legen. Seine Augenbrauen waren gepflegt, seine Haare gegelt in der Form eines Daches, die linke Seite blond gefärbt. Seitlich waren sie kurz getrimmt. Ein schmaler Bart gab seinem Gesicht Kontur, war etwas dichter an seinem männlichen Kinn, und an seinem Hemd standen die ersten vier Knöpfe offen.

„Hübsch“, gestand ich. Aber kein Vergleich zu David.

„Er fotografiert gerne. Und er ist nicht so böse, wie er aussieht“, kicherte sie, „aber er meinte, er hat dieses Selbstportrait im Spiegel fotografiert und weil er sich so konzentrieren musste, sieht er so ernst aus…“

„Ist er schwul?“

„Was?!“ Sie hob ihre gezupften Brauen und warf selbst noch einmal einen genauen Blick auf das Handy, als ob sie das von seinen Augen ablesen könnte. „Faruk?! Also ich habe vier Cousins und das ist der, bei dem ich es mir am allerwenigsten vorstellen könnte. Gut, er hat gerade keine Freundin, aber er ist ein Macho, wie es im Buche steht.“

„Nun…“, sagte ich, während ich mich gedankenverloren am Kinn kratzte. „Wenn er Wert darauf legt, dass es keiner erfährt, dann erfährt es auch keiner. Und damit keiner die Idee bekommen könnte, verhält er sich wie ein Macho, das kommt öfter vor als du glaubst.“

Sie starrte mich mit großen Augen an, doch in diesem Moment kam endlich eine SMS von David, die meine Laune beträchtlich hob: Ich bin wieder fit! Kein Wunder nach deiner Pflege. Komme dich morgen besuchen wenn du nichts dagegen hast.
 

~
 

„Und was verschafft mir die Ehre?“, würgte ich heraus, nachdem David mich endlich aus der Umarmung losgelassen hatte. Von seiner Erkältung hatte er sich weitestgehend erholt und stand nun bei mir im Flur.

„Ich dachte, wir holen unseren Filmabend einfach nach, weil wir den letzten ja nicht ungestört waren, was meinst du?“ Hinter seinem Rücken zog er eine DVD hervor.

„Die fabelhafte Welt der Amélie?!“

„Ja. Claudia hat ihn mir ausgeliehen, um vor der Prüfung noch mal gute Laune zu tanken. Ihrem Freund hat er gefallen, da dachte ich, ich schau ihn mit dir an. Kennst du ihn schon?“

„Noch nicht. Aber du solltest vielleicht wissen, dass meine Schwester bald heim kommt…“

„Dann lerne ich sie endlich mal kennen.“
 

Wir schauten den Film im Wohnzimmer an und lagen dabei so auf der einen Ecke der Couch, dass David gegen meinen Bauch lehnte. Heute schien er in meiner Anwesenheit vollkommen entspannt zu sein.

„Sag mal, wie fändest du es, wenn wir mal verreisen?“, fragte ich ihn, von einer fixen Idee, einem Gefühl des Fernwehs gepackt.

David fischte sich einen der Apfel-Chips, die er mitgebracht hatte, aus dem Beutel. „Und wohin?“

„Irgendwohin, was Günstiges, ein Städtetrip oder so. Hauptsache, wir haben mal ein paar Tage für uns, du hast doch bald Semesterferien.“

„Hmm. Schlecht finde ich die Idee nicht, aber das muss wirklich etwas sehr Günstiges sein. Ich habe nicht viele Ersparnisse. Um ehrlich zu sein, komme ich gerade so über die Runden. Alles frisst einfach viel mehr Geld, als ich es mir durchkalkuliert hatte, meine Eltern unterstützen mich zwar hie und da, aber das Stadtleben ist nicht zu unterschätzen. Trotzdem, ich will es nie mehr missen, endlich von daheim weg zu sein!“ Damit richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Film. Plötzlich wusste ich ganz genau, was ich ihm schenken würde. Darüber würde er sich wirklich freuen.
 

Als der Abspann lief und es draußen dunkel wurde, streckte sich David und setzte sich auf, wovon ich geweckt wurde. Mehrmals waren mir die Augen zugefallen, doch David schien es glücklicherweise nicht mitbekommen zu haben.

Leise hörte ich ihn sprechen: „Domi? Ich weiß beim besten Willen nicht, wie es weiter gehen soll…“

„Weiter womit?“

„Mit uns…“

Ich ahnte, worauf er hinaus wollte, und wollte es aber nicht hören. War das jener Egoismus, den er mir angekreidet hatte; dass ich ihn um jeden Preis wollte und dabei keine Rücksicht auf seine Zukunftspläne oder sein Gewissen nahm?

„Deswegen bist du also vorbeigekommen, ja?“

„Nein, nicht deswegen…“

„Sag mir, was fühlst du? Hier und jetzt, bei mir, ganz ehrlich?“ Dabei beobachtete ich, wie er die Stirn runzelte und mich anschaute wie eine neu entdeckte Tierart.

„Was ich fühle?“ Eine ganze Weile verging, ehe David sagte: „Ich fühle mich bei dir gut aufgehoben.“ Dann schmiegte er sich wieder an mich, wie um seine Aussage zu unterstreichen. „Ich…“, begann er und dann kam eine lange Pause. „Was ich dich schon immer mal fragen wollte…“

Ich horchte auf. „Frag“, ermutigte ich ihn, auf alles gefasst.

„Woran glaubst du eigentlich?“

„Woran ich glaube?“, wiederholte ich die Frage. „Du meinst, ob ich an Gott glaube? Gute Frage. Ich bin katholisch getauft worden, und hatte Religion dreizehn Jahre in der Schule, aber wenn ich ‚Gott‘ höre, denke ich nicht an den lieben Opi mit weißem Bart. Und ich glaube auch nicht an die Schöpfungsgeschichte und die unbefleckte Empfängnis und was weiß ich noch alles. Sorry, aber das ist mir alles zu märchenhaft.“ David ließ mich in Ruhe ausreden.

„In der Kirche war ich schon lange nicht mehr. Aber ich glaube schon irgendwie an Gott. Ich glaube, dass es ein kreatives Wesen gibt, kein Er, keine Sie, sondern ein gestaltloses Es, das alles erschaffen hat; die Welt, die Planeten und das ganze Universum. Also, erschaffen im Sinne von, dass Es der Funke war, der alles hat wachsen lassen, ohne jetzt speziell Baupläne von Menschen, Tieren und Pflanzen im Hinterkopf zu haben und Moral und Gebote, tut dieses, unterlasst jenes…verstehst du? Dass Es was erschaffen hat allein des Erschaffens Willen wegen, und weil´s ihm Spaß macht. So wie ein Dichter ein Gedicht schreibt oder ein Musiker ein Lied, jenseits von Gut und Böse“, murmelte ich und sah dann wieder David an. „Bist du jetzt enttäuscht?“

„Nein, bin ich nicht…jeder darf sich doch seine persönliche Vorstellung haben.“

Er schien noch etwas sagen zu wollen, doch dann hörten wir beide in der Stille der Wohnung, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte.

„Deine Schwester?“, flüsterte David. „Weiß sie eigentlich…?“

„Bis jetzt noch nicht.“ Und mein Herz hämmerte so heftig in meiner Brust, dass er es mitkriegen musste.

Zuerst vernahmen wir ihre müden Schritte, dann das Klimpern, als sie ihren Schlüssel in die Tonschale auf der Kommode warf – ein weiteres Relikt aus der Zeit, wo sie diesen VHS-Töpferkurs besucht und ihren jetzigen Ex kennengelernt hatte, das Klackern ihrer Absätze auf dem Boden, bis sie sie auszog und in ihre Hausschuhe schlüpfte. Die Diele vor dem Bad knarrte, als sie es betrat um sich dort die Hände zu waschen, wie sie es immer zu tun pflegte.

„Willst du warten, bis sie reinkommt und uns so sieht, oder…“

„Nein.“ Ich richtete mich langsam auf, etwas betrübt darüber, unser Kuscheln so jäh zu unterbrechen. „Bereit? Komm mit.“

David fuhr sich mit Fingern durch die Haare, was jedoch überhaupt nichts brachte, und zupfte seinen Pulli zurecht. Er folgte mir auf den Flur hinaus.
 

„Abend, Desi“, rief ich ihr zu, bevor sie in ihrem Zimmer verschwand. „wie du siehst, haben wir Besuch, aber lass dich nicht stören. Das ist bloß David, mein Schatz.“

„Wieso holst du nie die Post- … Ehh, wie?“

Sie stand an der Kommode, hielt einen Brief in der Hand, den sie im Begriff war zu öffnen. Hatte sie überhaupt gehört, was ich gesagt hatte?

Jetzt drehte sie mir den Kopf zu, schaute von mir zu David, dem ich die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Ich registrierte, wie feuerrot seine Ohren waren.

„Guten Abend. David Zimmermann.“ David streckte ihr seine Hand hin und Desirée schüttelte sie. Ihr Gesichtsausdruck dabei!

Jetzt wandte sie sich mit einem scharfen Chirurgenblick an mich. „Seit wann bist du schwul?“

„Wann haben wir zuletzt über Liebe geredet?“, stellte ich eine Gegenfrage, auf die sie bloß mit den Schultern zuckte.

„Das ist echt zu blöd, Brüderchen. So kriegst du nämlich keine Steuervorteile, wenn du mal heiraten solltest. So sind leider das Gesetze hier“, meinte sie nüchtern.

„Danke für die Auskunft, aber ich hatte eh nicht vor zu heiraten, das ist mir viel zu spießig.“

David verfolgte nur stumm den Schlagabtausch zwischen uns. Tja, nun lernte er meine Schwester kennen.

„Dein Pech. Ich mache dann Abendbrot. Esst ihr mit?“

„Ja. Aber du solltest wissen, dass David kein Fleisch isst.“

„Wie schade…“ Damit war ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihn gerichtet.

„Finde ich nicht“, entgegnete David.
 

Wenig später saßen wir zusammen am Küchentisch vor einem Teller belegter Brote mit Aufstrich, Wurst oder Käse und Gewürzgurken.

„Und was machst du beruflich?“, fragte sie David. Ich seufzte und goss mir noch eine Tasse Tee nach. Ja, das war Désirée, meine Schwester. Kühl und sachlich, eiskalt kalkulierend, stets auf Rentabilität achtend. Wer zu wenig verdiente, hatte nicht mal eine Chance auf ein Date mit ihr.

„Ich studiere hier an der Universität.“

„Und was?“

„Eine Geisteswissenschaft“, antwortete ich für ihn und hoffte, dass sie nicht weiter nachhakte.

„Aha. Und welche genau?“, bohrte sie nach, hob ihre Tasse und nippte an ihrem Tee.

„Theologie“, sagte David. „Katholische Theologie.“

Meine Schwester stockte mitten in der Bewegung, ihre Schultern bebten und fast schien es, als ob sie den ganzen Tee über den Tisch spucken würde. Ich ging schon in Deckung. Doch sie fing sich, spuckte ihn in die Tasse zurück und musste husten, bis sie rot anlief. Ich klopfte ihr fürsorglich auf den Rücken und sie wischte sich Tränen aus den Augen. Nun, das war immerhin ihre erste emotionale Reaktion heute.

„Theologie?“, krächzte sie, nachdem sie endlich ihre Kehle wieder frei hatte, und fügte ironisch hinzu: „Dann passt ihr ja prima zusammen. Weißt du, wann mein Bruder zuletzt in der Kirche war?“

„Du musst gerade reden, glaubst höchstens an Geld und Kapital“, zischte ich.

„Darum geht es überhaupt nicht“, sprach David laut und deutlich. „Der Kirchenbesuch alleine macht keinen Christen aus.“

Désirée gab ihm Recht. Und er wechselte dann das Thema, worüber ich dankbar war.



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