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Geliebter Blutsbruder

von

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Alles auf Anfang

Die Hölle konnte nicht schlimmer sein als der Zustand schierer Verzweiflung, in dem ich mich jetzt befand. Ich hielt den warmen Körper meines geliebten Blutsbruders fest in meinen Armen mit dem Gefühl, jeden Menschen niederschlagen zu müssen, der es wagen würde, ihn mir wieder wegzunehmen. Nie, niemals wieder würde ich Winnetou loslassen wollen, loslassen können. Ich musste ihn warm halten, durfte nicht zulassen, dass ihm kalt wurde, dass er kalt wurde. Augenblicke später wiederum war ich mir sicher, dass er mich verlassen hatte und war der Versuchung nahe, mein Messer aus dem Gürtel zu ziehen, um mich selbst zu richten, damit ich ihm folgen konnte. Wieder etwas später durchflutete mich der hoffnungsvolle Gedanke, dass mein Bruder leben würde, weil er es mir mit seinen letzten Worten doch versprochen hatte! Meine Gefühlslage schwankte in diesen endlosen Sekunden, Minuten, Stunden, ich weiß es nicht mehr, von einem Extrem ins andere.
 

Was um mich herum geschah, kann ich heute nicht mehr sagen, ich glaube nicht, dass ich irgendetwas davon wahrgenommen hatte. Später erzählte man mir, dass sämtliche Westmänner und Apatschen völlig entsetzt um uns herumgestanden hatten, bis auf Entschah-koh sowie Old Firehand, die sich beide den Unteranführer, denn niemand anderer war es gewesen, der geschossen hatte, vorgenommen hatten. Für den Unterhäuptling der Mescaleros war es ein leichtes gewesen, innerhalb weniger Sekunden den Schützen nicht nur ausfindig zu machen, sondern auch zu überwältigen. Old Firehand, in dem eine mörderische Wut kochte, hatte sich nicht mehr halten können und den Banditen, ähnlich wie ich vor wenigen Tagen, in Grund und Boden geprügelt, bis ihm selbst die Kraft ausging - Entschah-koh hingegen hatte einfach nur dabei gestanden und ihn gewähren lassen.

Dem Unteranführer der Geier war es übrigens nur deshalb gelungen, ungesehen in das Tal zu gelangen, weil niemand von uns zu dem Zeitpunkt noch mit einem feindlichen Wesen außerhalb der Bande gerechnet hatte.
 

Ich weiß auch nicht mehr, wie lange ich mit dem leblosen Körper meines Freundes in meinen Armen in dieser Position verharrte. Meinem Gefühl nach mussten es Tage gewesen sein, in Wirklichkeit waren es aber wohl nur wenige Sekunden, in denen der völlig geschockte Doktor Winnetous Hand hielt und seine Finger auf dessen Puls lagen. Irgendwann, dreißig, vierzig Sekunden, nachdem der Apatsche in meinen Armen zusammengesackt war, räusperte sich Dr. Hendrick und sagte mit brüchiger Stimme, die man zuerst gar nicht richtig verstehen konnte, solche Schwierigkeiten bereitete ihm das Sprechen:

„Ich kann seinen Puls immer noch spüren....“ Ich selbst bekam das in meiner Verzweiflung, wie schon erwähnt, gar nicht mit, aber die anderen, Emery, Surehand, Fox, Hammerdull, alle, die direkt bei uns saßen, horchten auf.
 

Hendrik getraute sich gar nicht, weiter zu sprechen, wohl um keine unrealistischen Hoffnungen in den Gefährten zu erwecken, aber nachdem er noch ein paar weitere Sekunden den Puls meines Freundes ertastet hatte, fiel die entsetzliche Lähmung, die ihn wie alle anderen auch ergriffen hatte, plötzlich von ihm ab und sein Tatendrang erwachte wieder. Auch Emery, der das Unfassbare wohl einfach nicht glauben wollte und ebenfalls seine Hand die ganze Zeit über am Körper des Apatschen hatte, flüsterte nun mit aufkeimender Hoffnung:

„Er atmet noch.... er atmet noch, er lebt! Himmel, Charlie!“ Jetzt wurde er lauter und begann an meiner Schulter zu rütteln, um mich aus meinem verzweifelten Zustand herauszuholen.

„Charlie! Ich glaube, er hat sich gar nicht verabschiedet! Im Gegenteil, er hat versucht, dir Hoffnung zu machen! So hör doch, Charlie!“ Auch der Arzt packte mich jetzt unsanft an der Schulter, er wusste, wie man mit Menschen im Schockzustand umgehen musste.

„Shatterhand! Lasst ihn los, wir müssen ihn hinlegen, ich muss die Kugel herausholen, schnell!!“
 

Langsam hob ich den Kopf, sah ihn an, versuchte, den Sinn seiner Worte irgendwie zu mir durchdringen zulassen, aber das war dem Doktor definitiv zu langsam. Er verständigte sich im Nu mit unseren Freunden, und während Emery und Hammerdull mich festhielten und weiter auf mich einredeten, entrissen Surehand, Fox und der Doktor mir Winnetou schnell, aber trotzdem vorsichtig aus meinen Armen, legten ihn auf den Boden, und dann begann Hendrick sofort mit seinen Vorbereitungen für die Operation. Irgendjemand hatte ihm schon seine Tasche gebracht, und jetzt kam auch wieder Leben in den Rest der Umstehenden, die erkannten, dass vielleicht doch noch nicht alles vorbei war. Sie teilten Wachen für die Banditen ein, stellten Posten auch am Ausgang der Schlucht auf, um vor weiteren unliebsamen Überraschungen sicher zu sein, besorgten alles an Decken, Wasser und Verbandsmaterial, was sie finden konnten, entfachten große Feuer in der Nähe, um für den Doktor so viel Licht wie möglich für seine schwere Aufgabe erzeugen zu können
 

Anfangs hatte ich noch versucht, mich dagegen zu wehren, dass man mir meinen Winnetou aus meinen Armen reißen wollte, aber allmählich verstand ich, was Emery mir die ganze Zeit über mitteilen wollte, verstand auch, was der Doktor vorhatte, der jetzt eben sein Skalpell ansetzte, und obwohl ich es einerseits nicht mehr zulassen wollte, dass in mir die Hoffnung erwachte, einfach weil ich Angst hatte, sie wieder aufgeben zu müssen, hielt sie dennoch langsam in meinem Herzen Einzug.

Firehand war inzwischen zurückgekehrt, er hatte den Schützen einfach liegen gelassen, da er genau wusste, dass dieser sich wahrscheinlich nie wieder würde bewegen können. Sein Gesicht war tränenüberströmt, aber als er die Bemühungen des Arztes sah, erkannte auch er, dass Winnetou offenbar doch noch eine Chance hatte. Er setzte sich stumm neben mich nieder, nahm meine Hand, und gemeinsam, aber doch jeder für sich, baten wir unseren Herrgott ein ums andere Mal um Hilfe für meinen Freund.

Surehand assistierte dem Arzt, während Bloody Fox und der Bärenjäger ständig Winnetous Vitalwerte überprüften oder aber einfach nur seine Hände hielten. Ich selbst war im Augenblick nicht in der Lage, irgendetwas Sinnvolles zu tun, raffte mich aber dann doch nach einer Weile auf, weil ich es meinem Freund einfach schuldig war, in diesem Augenblick, wo er erneut um sein Leben kämpfen musste, direkt an seiner Seite zu sein, ihn körperlich spüren zu lassen, dass ich für ihn da war. Ich setzte mich an sein Kopfende, küsste ihm die Stirn, hielt meine Hände auf seine Stirn und seine Wangen, damit er meine Anwesenheit, zumindest vielleicht im Unterbewusstsein, erahnen konnte.
 

Wenige Minuten später rief Hendrick laut: „Ich habe sie!“, und hielt die Gewehrkugel, die eigentlich mir gegolten hatte und die mein über alles geliebter Freund mit seinem Körper für mich aufgefangen hatte, in die Höhe. Die erste schwere Hürde war überwunden! Ich fühlte, dass Winnetou immer noch langsam, stockend atmete, fühlte ganz leise, unregelmäßig seinen Puls schlagen, was in mir so ganz allmählich den Glauben hochkommen ließ, dass er diese Operation, diesen Anschlag tatsächlich überleben könnte.

Der Doktor arbeitete äußerst konzentriert und angestrengt weiter, einzig der Schweiß auf seiner Stirn verriet, wie viel Kraft es ihn innerlich und äußerlich kostete, die einzige Überlebenschance, der einzige Hoffnungsschimmer für den Apatschen zu sein. Jetzt lag es wirklich nur in seinen Händen, an seiner ärztlichen Kunst, das eigentlich Unmögliche möglich zu machen. Es musste ihm gelingen, die Arterie so schnell wie möglich zu verschließen, ohne das Herz dabei zu verletzen, und das unter den primitiven Bedingungen hier mitten in der Wildnis, mit diesen wenigen primitiven Möglichkeiten, die ihm dabei nur zur Verfügung standen. Er sah während seiner Tätigkeit aus, als würde er die ganze Zeit über im Stillen um einen guten Ausgang beten.
 

Seine unglaublichen Anstrengungen waren dann schließlich, nach gefühlten Ewigkeiten - und ich konnte es kaum glauben - von Erfolg gekrönt, unsere Gebete wurden erhört. Irgendwann legte Dr. Hendrick einen Verband an, jetzt mit Unterstützung von Entschah-koh und einigen seiner Heilkräuter, untersuchte Winnetou noch einmal kurz und ließ sich dann erst einmal einfach schwerfällig neben ihn auf den Boden niederfallen, dabei einen abgrundtiefen Seufzer der abklingenden Anspannung und des vorsichtigen Aufatmens ausstoßend. Er vergrub sein Gesicht in seine Hände, schüttelte immer wieder den Kopf, wobei er mehrfach vor sich hin murmelte:

„Das ist doch nicht möglich …..Das kann doch alles einfach nicht wahr sein.....“ Ein abwartendes Schweigen umgab die Szenerie, und als Hendrick sich nicht klarer äußerte, legte Dick Hammerdull seine Hand auf dessen Schulter, um ganz vorsichtig, richtiggehend ängstlich, nachzuforschen:

„Doktor....könnt Ihr denn schon etwas Genaueres sagen?“ Dieser räusperte sich erst einmal, bevor er zu sprechen begann, und an seiner ganzen Haltung war abzulesen, welche grenzenlose Erleichterung ihn in diesem Moment durchflutete, Erleichterung erst einmal nur darüber, dass Winnetou noch lebte.
 

„Es ist fast nicht zu glauben.....was muss dieser Mann für einen unfassbaren Lebenswillen haben...“ Er unterbrach sich, sah jetzt vor allem mich an.

„Für das erste kann ich Euch nur mitteilen, dass die Operation erfolgreich gewesen ist. Die Kugel ist entfernt, der Blutverlust gestoppt, und er lebt – mehr kann ich einfach noch nicht sagen. Eigentlich ist es ein Ding der Unmöglichkeit, dass ein Mensch gleich zwei so schwere Verletzungen innerhalb von drei, dreieinhalb Wochen überlebt....“ Er senkte seinen Blick kurz zu Boden, holte dann tief Luft und fuhr fort:

„Diese Verwundung ist schlimmer als die erste. Allerdings sind wir hier im Vorteil, weil ihm sofort ärztlich geholfen werden konnte. Die Kugel hat aber durch ihre Wucht und der Nähe zum Herzen dieses in seinem Rhythmus völlig erschüttert, so dass es zum Herzstillstand kam. Allein den hätte er ohne Hilfe nicht überlebt, und den Rest erst recht nicht. Aber der zweite Vorteil, den wir haben, ist der, dass weder Herz noch Lunge getroffen worden sind – wieder ein unglaubliches Glück! Doch ab jetzt können wir nichts anderes tun als warten – wir sind eigentlich wieder ganz am Anfang. Und zu seinen Überlebenschancen kann ich nur soviel sagen: Allein die Tatsache, dass er jetzt noch am Leben ist, gibt mir etwas Hoffnung, dass er es schaffen könnte.....“ Seine Stimme war gegen Ende seiner Ausführung immer leiser geworden, und jetzt legte er wieder den Kopf in seine Hände.
 

Stille breitete sich nach diesen hoffnungsvollen? oder doch niederschmetternden? Worten des Arztes aus. Jeder der Männer war immer noch abgrundtief entsetzt, geschockt, fassungslos über das Geschehene. Vor allem Winnetous Opferbereitschaft, wie er sein Leben bedingungslos für meines eingesetzt hatte, hinterließ bei allen einen unauslöschlichen Eindruck, und die Angst um das Leben des Apatschen hatte sie alle fest im Griff.

Der Doktor aber hatte sich wieder etwas von seiner innerlichen Erschöpfung erholt und erteilte jetzt seine weiteren Anweisungen. Der Planwagen wurde vom Ende der Schlucht in unsere Nähe gefahren, ein Lager aus Fellen und Decken, die teils noch im Wagen gelegen hatten, teils von einigen Apatschen mitgeführt worden waren, wurde im Wagen errichtet und dann trugen wir meinen Freund so vorsichtig wie nur möglich dort hinein.
 

Währenddessen errichtete man drum herum ein Nachtlager für die restlichen Gefährten, wobei man die gefangenen Geier einfach in der gleichen Weise liegen ließ, wie sie lagen. Sie bekamen weder zu essen noch zu trinken, niemand von uns sah sich genötigt, ihnen in irgendeiner Weise auch nur die kleinste Annehmlichkeit zu verschaffen. Man achtete darauf, dass sie weit genug auseinanderlagen, damit sie sich nicht gegenseitig befreien konnten, stellte Wachen auf, und dann kümmerte sich niemand mehr um die Banditen. Doch, zwischendurch bekam auch einer der Unteranführer die Wut gleich mehrerer unserer Gefährten zu spüren, nämlich in dem Moment, als er gegenüber seinen Kameraden mit beißendem Spott seine Freude über die schwere Verletzung Winnetous kundtat. Als sie mit ihm fertig waren, war von seinem ursprünglichen Gesicht nicht mehr viel zu erkennen. Damit die anderen Banditen nicht auch solche unsäglichen Äußerungen von sich geben konnten, wurden alle kurzerhand geknebelt, dann überließ man sie vorerst ihrem Schicksal.
 

Einige der Westmänner und Apatschen wurden nun dazu auserkoren, zurück nach Helmers Home zu reiten, um dort wieder für den nötigen Schutz zu sorgen, was allen, die diesen Weg antraten, außerordentlich schwer fiel. Niemand wollte sich jetzt aus Winnetous Nähe entfernen, da alle Sorge hatten, ihn nicht mehr lebend wiederzusehen.
 

Ich beteiligte mich natürlich an keiner dieser Aktivitäten, sondern saß im Wagen bei meinem Freund und wich ihm nicht eine Sekunde mehr von der Seite, ebenso wie Dr. Hendrick. Während dieser in engmaschigen Abständen Winnetous Zustand überprüfte, fielen von mir langsam der erste Schock und die ganze Anspannung ab, um jetzt wieder einer tiefen Verzweiflung, ja, fast schon Resignation, Platz zu machen.

Warum nur hatte mein Freund das getan? Warum hatte er so bedingungslos sein Leben für mich aufs Spiel gesetzt? Wenn mich die Kugel getroffen hätte, wäre es vielleicht nicht so schlimm gewesen wie bei ihm, nachdem er schon vor kurzem die erste schwere und dann die vielen kleineren Verletzungen erlitten hatte!

Wir hatten vor wenigen Wochen so lange und so schwer um das Leben des Apatschen kämpfen müssen, und jetzt sollte das alles wieder von vorne beginnen? Wie konnte ich nur im Entferntesten glauben, dass er das jetzt genauso glücklich und ohne Folgen für seine Gesundheit überleben konnte? Woher sollte er jetzt noch die Kraft dazu hernehmen? Woher sollte ich sie noch hernehmen?

Aber diese Frage war absolut zweitrangig; um meinen geliebten Blutsbruder aus den Fängen des Todes zu entreißen, würde ich, wenn es sein musste, mehrfach durch die Hölle gehen, soviel stand für mich fest. Aber leider gab es für mich im Moment nichts, was ich tun konnte. Ich durfte ihn noch nicht einmal in die Arme nehmen, da jede Bewegung, die die Wunde wieder aufbrechen lassen konnte, vermieden werden musste.
 

Ich war die ganze Zeit über den Tränen nahe, und als ich dann daran dachte, wie glücklich wir in dieser neuen Dimension unserer Liebe zueinander gewesen waren und mir die Frage stellte, ob uns das einfach nicht vergönnt sein sollte, ob wir so nicht leben durften, ob das Ganze vielleicht sogar eine Strafe Gottes war, da konnte ich mich einfach nicht mehr halten und ließ meinen Tränen freien Lauf. Es war, als ob sich in meinem Inneren große Schleusen geöffnet hätten, ich weinte so heftig und so lange wie noch nie in meinem Leben.

Irgendwann bekam ich mit, wie der Doktor seinen Arm um mich legte und versuchte, mir in irgendeiner Weise etwas Trost zu spenden, aber es half nichts, ich konnte die Tränenflut einfach nicht aufhalten. Später spürte ich erst Emery, dann Old Surehand sowie Old Firehand an meiner Seite, die ebenfalls alle versuchten, mir in meiner verzweifelten Lage Beistand zu leisten, aber ich hatte das Gefühl, in ein tiefes Loch gefallen zu sein, aus dem ich gar nicht mehr herauskommen konnte. Vor meinem geistigen Auge flammte immer wieder wie eingebrannt nur dieses eine Bild auf: Winnetou, der mit schmerzverzerrtem Gesicht in die Knie brach, und die Frage, warum er nicht auch einfach mal nur glücklich sein durfte?
 

Irgendwann hatte ich dann keine Tränen, auch keine Kraft mehr. Stumm und hilflos saß ich bei Winnetou, hielt seine Hand und betrachtete sein wachsbleiches Gesicht, welches fast schon gläsern, durchsichtig wirkte. Er lag in tiefer Bewusstlosigkeit, und wenn man nicht genau hinsah, konnte man wirklich nicht glauben, dass noch Leben in ihm war.

So wachte ich die ganze Nacht hindurch an seiner Seite, unfähig, auch nur für wenige Minuten die Augen zu schließen. Dem Doktor ging es genauso, und trotz meiner dumpfen Verzweiflung spürte ich doch eine enorme Dankbarkeit und Bewunderung diesem Mann gegenüber, der seine eigenen Bedürfnisse, sein eigenes Leben im Moment, nein, eigentlich schon seit Wochen, weit hinten an stellte, um ganz für meinen Freund und in diesem Sinne auch für mich da zu sein. Ich würde ihm das in meinem ganzen Leben nicht mehr vergessen, soviel war sicher.
 

Als der Morgen anbrach, hatte sich der Zustand des Apatschen zwar nicht gebessert, sich aber auch nicht verschlechtert, und dieser Umstand löste bei allen einen vorsichtigen Anflug von Hoffnung aus. Man kannte ja mittlerweile seinen unbändigen Lebenswillen, und da er so eine fast ausweglos scheinende Situation schon einmal bewältigt hatte, hielt es niemand mehr für unmöglich, dass er den Tod noch einmal überwinden könnte. Da er aber absolut nicht transportfähig war, entschlossen sich die Gefährten in Absprache mit dem Arzt, noch mindestens zwei Tage in der Schlucht zu bleiben. Man hoffte auf die Ankunft der Mescaleros, die Entschah-koh vor wenigen Tagen hatte benachrichtigen lassen, um so auch die dringend nötige Unterstützung für die Bewachung der Geier zu erhalten. Diese große Bande mit gerade einmal fünfundzwanzig Westmännern und Apatschen den Weg bis zur Farm zurücklegen zu lassen, auch wenn dieser nicht gerade weit war, hielt man für ein zu großes Risiko, und die Schlucht bot allein durch ihre Beschaffenheit eine viel bessere Möglichkeit, die Verbrecher zu bewachen.

Diese erhielten heute wenigstens etwas Wasser, aber Nahrung wurde ihnen weiterhin verwehrt, zumindest kümmerte sich niemand darum, ihnen irgend etwas anzubieten. Ich weiß nicht, ob ich anders entschieden hätte, wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre, doch die Gefährten waren sich alle einig, dass die Bande nichts anderes verdient hatte.
 

So verging dieser Tag in einer dumpfen, trübseligen Stimmung. Die kommende Nacht verbrachte ich halb schlafend, halb wachend, im Sitzen und schreckte immer wieder in der panischen Angst hoch, Winnetou könnte mir unter den Händen wegsterben, während ich schlief. Dr. Hendrick litt unter den gleichen Ängsten, er hatte in den letzten zwei Nächten ebenfalls kaum mehr als zwei Stunden geschlafen.

Der nächste Tag brachte zumindest die Gewissheit, dass Winnetous Kampf gegen den Tod bis jetzt erfolgreich war; auch wenn sich sein Zustand nur in ganz geringem Ausmaße gebessert hatte, immerhin hatte er sich gebessert, dank der unermüdlichen Bemühungen des Arztes und Entschah-kohs, die beide Hand in Hand arbeiteten und somit den größtmöglichen Erfolg erzielten, den man unter diesen Umständen nur haben konnte.
 

Gegen Mittag trafen dann zum Glück sechzig Krieger der Mescaleros ein, eine ungeheuer große Unterstützung für uns, vor allem für die Bewachung der Geier. Und gegen Abend brauchten wir uns ihretwegen überhaupt keine Sorgen mehr zu machen, denn nun kamen uns auch noch die von Hobble Frank und Old Wabble gerufenen Soldaten zu Hilfe, die sogar einen Militärarzt in ihren Reihen hatten, der sofort Dr. Hendrick aufsuchte, um ihn zu unterstützen. Er hatte Medikamente dabei, die Hendrick mittlerweile ausgegangen waren, und so kam es, dass aufgrund dieser medizinischen Hilfe Winnetous Zustand so weit stabilisiert werden konnte, dass er am späten Abend tatsächlich kurz aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte.
 

Er benötigte einige Zeit, bis es ihm gelang, die Augen zu öffnen und sich zu orientieren, und als er mich dann erkannte und mir offenbar meinen Kummer und meine Verzweiflung der vergangenen Stunden und Tage vom Gesicht ablesen konnte, waren seine Augen und seine Mimik voll des Mitleides für mich, so tief, dass ihm, als er meine Hand ergriff und zum Sprechen ansetzte, die Tränen in die Augen traten. Mit stockender, kraftloser Stimme flüsterte er:

„Es tut mir.... so leid,.... Scharlih,.... bitte verzeih ….mir!“ Ich hatte jede seiner Bewegungen, seiner Blicke, seiner Worte voller Dankbarkeit in mich aufgesogen, einfach weil ich gar nicht mehr hatte glauben können, jemals wieder so etwas von ihm zu sehen und zu hören zu bekommen. Als er sich jetzt als erste Reaktion bei mir entschuldigte, für was auch immer, war ich einfach nur noch fassungslos, wusste gar nicht, was ich jetzt antworten sollte.

„Mein Bruder..... was sollte ich dir denn verzeihen? Du müsstest mir verzeihen, weil ich dieses Unglück nicht verhindern konnte...?“ Er benötigte all seine Kraft, um weiter sprechen zu können:

„Winnetou … konnte sein Versprechen .... nicht einhalten ...“ Jetzt liefen ihm wirklich die Tränen über die Wangen, und auch ich konnte sie nicht mehr zurückhalten. Er fuhr fort:

„Ich hatte ... versprochen, dass du ... keine Sorgen mehr ... haben musst ...“. Hilflos schüttelte ich den Kopf bei dem Versuch, die richtigen Worte zu finden:

„Wenn sich irgendjemand rechtfertigen muss, dann bin ich das! Ich hatte nicht aufgepasst, sonst hätte ich den Schurken auch gesehen und du hättest nicht...“ Bei diesen Worten stand die Erinnerung an die schlimmsten Minuten meines Lebens wieder glasklar vor meinem inneren Auge, so überwältigend, dass ich meinen Freund nur noch in die Arme nehmen konnte, um meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Erst als Hendrick mir signalisierte, ihn wieder loszulassen, da er Winnetous Reaktionen sonst nicht mehr im Blick hatte, bettete ich seinen Kopf behutsam in die Kissen und sah ihn an. Er hatte seine Augen wieder geschlossen, aber sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Er wirkte gelöst, fast sah es so aus, als würde er lächeln.
 

Kurz darauf öffnete er nochmals die Lider, und obwohl er kaum mehr Kraft zum Sprechen fand, sagte er in einem sehr bestimmten Tonfall:

„Winnetou wird seinen Bruder nicht verlassen, er weiß es genau!“ Er stockte, brauchte eine kurze Atempause, in der ich keinen Ton hören ließ. Unter Aufbietung aller Reserven flüsterte er weiter:

„Scharlih....ich hatte die Wahl, weißt du? Die Wahl, zu leben oder zu....oder für immer in der Hand des guten Manitou zu bleiben....“ Jetzt konnte er wirklich nicht mehr, erschöpft schloss er die Augen. Ich war völlig überwältigt. Hatte er das damit gemeint, als er mir sagte, er habe den Himmel gesehen, als er dabei diesen fast schon überirdischen Ausdruck in seinen Augen und im Gesicht gehabt hatte? Fast schien es so, und auch jetzt sah es so aus, als würde allein die Erinnerung daran sein Gesicht zum Leuchten bringen.

Meine Emotionen waren nicht mehr aufzuhalten, mir lief das Wasser nur so aus den Augen; trotzdem konnte ich noch erkennen, dass es dem Doktor genauso ging. Einmal noch gelang es dem Apatschen, die Augen zu öffnen, und mit allerletzter Kraft versicherte er mir:

„Hab keine Sorge mehr, ja, Scharlih? Es ist alles gut ...“ Seine Lider schlossen sich, und diesmal für eine lange Zeit. Ich selbst aber wusste jetzt genau, er würde überleben, mein geliebter Freund würde wieder gesund werden! In dieser Nacht schlief ich wieder nicht, diesmal aber, weil mein Herz überquellen wollte vor Freude und Glück, dass Winnetou und mir doch noch eine gemeinsame Zukunft vergönnt sein durfte!



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Onlyknow3
2015-08-07T15:04:36+00:00 07.08.2015 17:04
Musste das jetzt sein? Ich weiß ja das Winnetou sich oft als Unverwundbar gibt, doch as ist er nicht und Old Shatterhand ist kein Mann der so nah an der Tränendrüse liegt. Andererseits muss man die Ausnahmesituation beachten.
Shatterhand ist hier ja nicht nur Westman, sondern auch Blutsbruder, Geliebter und engster Vertrauter.
Aber bitte lass die beiden endlich zur ruhe kommen damit Winnetou sich erholen kann.
Mach weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3


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