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Geliebter Blutsbruder

von

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Widerstand zwecklos

Unsere sechs Späher waren allerdings nicht komplett zurückgekehrt, ein Apatsche fehlte. Sie hatten die Spur des Banditen relativ leicht verfolgen können; dieser hatte zwar versucht, seine Fährte etwas zu verwischen oder erst gar keine zu hinterlassen, aber darin kein großes Geschick bewiesen.

Äußerst überrascht hörten wir nun, dass die Schurken ohne Pferde unterwegs gewesen waren. Wahrscheinlich hatten die Banditen die Gefahr für zu groß gehalten, dass die Pferde von uns entdeckt werden könnten, was dann aber nur heißen konnte, dass sie keinen weiten Weg gehabt hatten. Und – so war es auch.
 

Etwa zwei Stunden Fußmarsch von hier lag in nördlicher Richtung eine spärlich bewaldete Schlucht, die wir auch kannten, weil wir auf unserem Weg nach Helmers Home, von Norden her kommend, immer dort durchritten. Was wir allerdings nicht wussten, war, dass es dort eine zweite, sehr viel kleinere Schlucht gab, die im rechten Winkel auf die erste stieß, aber von außen nicht zu erkennen war, da gerade dort hohe Bäume und dichtes Gestrüpp, bestehend aus Schlingpflanzen, wuchsen, welche den Eingang völlig verdeckten. In dieser Schlucht hielt sich nun die Verbrecherbande versteckt, bestehend aus nicht weniger als fünfundsechzig Banditen. Zumindest hatten unsere Leute so viele zählen können, ob da noch mehr unterwegs waren, konnten sie natürlich nicht sagen. Gezählt hatten sie übrigens nicht vom Eingang aus, was gar nicht möglich gewesen wäre, sondern sie waren den Weg wieder ein Stück zurück geritten und hatten sich von dem Hochplateau aus an den Rand der Schlucht geschlichen, wo sie den besten Überblick hatten. Allerdings mussten unsere Späher unendlich aufpassen, da auch hier die Wachen der Bande auf Kontrollgängen unterwegs waren.
 

Old Firehand und einer der Apatschen namens Tsain-tonkee, der für seine Späherkünste sehr bekannt und vor allem berühmt war, hatten sich dann vorsichtig gewagt, ganz nahe an die Banditen heran zu schleichen, denn sie wollten ja wissen, was diese Schurken planten. Natürlich waren sie nicht durch den Eingang der Schlucht gegangen, dort mussten sie ja trotz aller Vorsicht den Posten auffallen – nein, sie hatten sich in einer entlegenen Ecke der Schlucht von oben an den felsigen, von kleinen Sträuchern bedeckten Wänden herunter gehangelt, was natürlich äußerst zeitaufwändig gewesen war, um ja nicht entdeckt zu werden. Dann hatte es noch sehr lange gedauert, bis sie die Anführer der Banditen ausfindig gemacht hatten, denn dort lohnte sich das Lauschen wahrscheinlich am meisten.
 

Firehand hatte einen guten Zeitpunkt erwischt. Der von Helmers Home zurückgekehrte Geier hatte seine Erzählung wohl noch nicht lange beendet, und nun überlegten die Bosse hin und her, wie sie als nächstes vorgehen sollten. Sie konnten sich ausrechnen, dass ihr Spion trotz seiner Vorsichtsmaßnahmen verfolgt werden könnte und beschlossen deshalb, die Schlucht so schnell wie möglich zu verlassen. Da der Abend nahte, war das natürlich jetzt nicht mehr machbar, aber im ersten Morgengrauen wollten sie sich ein neues Versteck suchen. Dabei wurden die ungefähr einen halben Tagesritt von der Schlucht entfernten felsigen Anhöhen nahe dem Red River erwähnt, wo es viele Höhlen gab, in denen sich die Bande hervorragend verbergen konnte.
 

Das Allerwichtigste aber, was unsere Späher erfuhren, war der geplante Überfall, der tatsächlich Helmers Home und dem Siedlertreck gelten sollte! Die Geier hatten vor einigen Tagen wohl schon einmal, von uns unbemerkt, auf der Anhöhe spioniert und festgestellt, dass die Auswanderer viele Wertgegenstände mitführten, die die Schurken gut gebrauchen konnten. Außerdem hatten sie die hervorragende Bewaffnung der Westmänner und auch der Apatschen gesehen, sowie die große Anzahl teils sehr guter Pferde, vor allem natürlich Winnetous und meinen Rappen. Alles in allem sahen sie eine lohnenswerte Beute vor sich, für die man schon mal ein Risiko eingehen konnte.
 

Worüber die Verbrecher allerdings nicht richtig Bescheid wussten, war die Anwesenheit der Westmänner sowie die des Apatschen und mir. Da Winnetou und ich uns in der letzten Zeit fast immer im Haus befunden hatten, waren wir von ihnen noch nicht entdeckt worden, und von unseren Gefährten hatten sie nur Old Firehand, den Hobble-Frank, die Tante Droll sowie den Dicken Jemmy und den langen Davy erkannt. Nun glaubten sie, mit ihrer Übermacht gegen diese sowie den paar „lumpigen Rothäuten“ und den „Hasenfüßen“ von Siedlern ein leichtes Spiel zu haben, zumal sie sich eine erfolgversprechende List erdacht hatten.
 

Worin diese bestand, konnte Old Firehand allerdings nicht mehr auskundschaften, denn der Anführer der Geier hatte in diesem Moment noch ein paar seiner Leute zu weiteren Kontrollgängen geschickt, da er die Befürchtung hegte, vielleicht jetzt schon belauscht werden zu können. Sofort hatten sich Firehand und sein Apatsche vorsichtig zurückgezogen, und es war ihnen tatsächlich gelungen, von den Geiern unbemerkt die Schlucht zu verlassen.
 

„Es wäre natürlich am besten,“ beendete Old Firehand seinen Bericht, „wenn wir herausfänden, wann und wie genau diese Halunken uns überfallen wollen. Aber dazu müssen wir auf Tsain-tonkee warten, unseren „Spähfuchs“, der den Kerlen solange auf den Fersen bleiben wird, bis er weiß, wo sie sich verbergen werden!“
 

Ein paar Minuten herrschte nachdenkliches Schweigen im Raum, dann begannen einige der Männer, sich Bemerkungen zuzuwerfen, andere fielen ein und schließlich schien die Luft nur noch aus Stimmengewirr zu bestehen, während Winnetou und ich schweigend beieinander saßen und die Lage überdachten. So konnten wir natürlich keine Pläne schmieden; Firehand wurde es dann auch irgendwann zu bunt und er donnerte plötzlich los: „Ruhe jetzt, Himmel noch mal!! Ich schlage vor, wir hören erst einmal die Meinung von Charley und Winnetou!“ Zustimmendes Gemurmel erfüllte das Zimmer, und alle Augen wandten sich uns zu. Winnetou signalisierte mir durch seinen Blick, das Wort zu ergreifen, er war ja mehr ein Mann der Tat, der nur sprach, wenn es sein musste.
 

Ich zögerte noch einen Moment, weil ich mir über unser weiteres Vorgehen nicht so ganz sicher war. Wäre Winnetou vollständig gesund gewesen, hätte es gar keiner Überlegung bedurft, aber so …

Also begann ich langsam und vor allem an meinen Freund gerichtet: „Diese felsigen Anhöhen, in denen die Banditen sich zurückziehen wollen – die liegen doch weiter entfernt von Helmers Home als die Schlucht, in der sie sich jetzt befinden?“ „Mein Bruder liegt mit seiner Vermutung richtig,“ antwortete er, „man reitet ungefähr einen dreiviertel Tag bis dorthin.“ „Hm,“ überlegte ich weiter, „ich denke, dass es zu lange dauert, zu warten, bis Tsain-Tonkee zurückgekehrt ist. Wir würden dann ungefähr eineinhalb Tage verlieren, bis wir die Höhen erreichten, um die endgültigen Pläne der Schurken zu erfahren, oder mindestens einen dreiviertel Tag, bevor er zurück ist und wir uns gegen einen wie auch immer gearteten Angriff wappnen können.“ Ich wandte mich an Old Firehand: „Der Apatsche hat doch nur den Auftrag, den Aufenthaltsort der Geier auszukundschaften? Oder sollte er dableiben und versuchen, sie weiter zu belauschen?“ „Ersteres ist der Fall,“ antwortete Firehand, „wobei ich da, glaube ich, einen Fehler begangen habe. Er hätte besser bleiben sollen, nicht wahr?“

„Nicht unbedingt,“ sagte ich unbestimmt, „für ihn alleine wäre das Risiko wahrscheinlich viel zu hoch. Wenn sie ihn entdecken, würden wir nie erfahren, was passiert wäre und was die Bande jetzt vorhat.“ Ich holte tief Luft und teilte dann den anderen meine Entscheidung mit: „Ich werde gleich morgen früh aufbrechen und herausfinden, was die Schurken planen. Ich überlege mir später, wen ich von euch mitnehmen werde!“
 

Am allerliebsten hätte ich natürlich meinen Blutsbruder dabei gehabt, weil wir einander einfach blind vertrauten und immer genau wussten, wie der andere handeln würde, ohne dass auch nur ein Wort nötig war. Aber das war natürlich und gerade nach dem gestrigen Vorfall überhaupt nicht möglich. Dachte ich.
 

Winnetou war nämlich komplett anderer Meinung. Er sah mich ernst an und fragte: „Kennt mein Bruder die Felsenhügel und die Lage der einzelnen Höhlen dort?“ „Nein,“ entgegnete ich und spätestens jetzt ahnte ich Unheil. „Winnetou kennt sie aber genau. Er kann auch alle Höhlen aufzählen, die groß genug sind oder nahe genug beieinander liegen, um eine solch hohe Anzahl von Menschen und ihre Pferde aufzunehmen. Diese Höhlen liegen teilweise sehr versteckt. Wie will mein Bruder sie finden?“ Ich hatte es kommen sehen! Trotzdem versuchte ich, mich noch irgendwie aus der Falle herauszuwinden: „Deine Krieger werden diese Gegend doch auch gut kennen, nehme ich an?“ „Lange nicht so gut wie Winnetou!“ hielt er mir entgegen. „Deshalb werde ich auch meinen Bruder begleiten!“ „Nein!“ riefen der Doktor und ich im Chor. „Nein, Winnetou, auf keinen Fall! Du bringst dich nur unnütz in Gefahr!“ Ich war fast schon laut geworden, aber ich konnte und wollte auf keinen Fall zulassen, dass er dieses Risiko für seine Gesundheit einging.
 

„Unnütz? Wie sollen wir die Siedler und die Farm vor einem Angriff schützen, wenn wir nicht wissen, wann er stattfindet und auf welche Weise? Und wie will mein Bruder das herausfinden, wenn er die Geier nicht rechtzeitig belauschen kann? Winnetou kennt diese Gegend hier so gut, dass er gar nicht bis zum Morgengrauen warten muss, wir können schon gleich aufbrechen und werden es auch tun. Howgh!“
 

Jetzt begannen auch die anderen Anwesenden laut zu protestieren. Niemand, aber auch wirklich niemand wollte es zulassen, dass Winnetou sich nochmals einer Gefahr aussetzte, zu tief saß bei allen noch der Schrecken des vergangenen Abends. Vor allem der Doktor bekniete den Apatschen, indem er ihm klar zu machen versuchte, dass er gerade eben erst wieder richtig auf den Beinen war und unmöglich schon den Strapazen eines solchen Vorhabens gewachsen sein konnte.

Mein Freund aber ließ das alles nicht gelten. Er beruhigte die Gefährten in kurzen, knappen Worten, drehte sich um und ging hinaus, um die Vorbereitungen für den Ritt zu treffen, ohne sich noch einmal umzusehen.
 

Ich stand noch wie erstarrt im Zimmer und konnte es kaum glauben, fühlte mich völlig überrumpelt. Aber ich kannte meinen Winnetou ja genau. Wenn dieser einmal eine Entscheidung getroffen hatte, konnte nichts und niemand ihn wieder umstimmen, sein „Howgh“ hatte es gerade deutlich genug signalisiert.
 

Mir blieb also nichts anderes übrig, als den Freunden fest zu versprechen, gut auf ihn aufzupassen, dann verließ ich ebenfalls des Raum. Im Flur wurde ich von Entschah-koh eingeholt. „Soll der Unterhäuptling der Mescaleros nochmal versuchen, den Häuptling der Apatschen umzustimmen?“ fragte er mich. Ich konnte ihm, obwohl er es mit aller Macht zu verbergen versuchte, die Angst und die Sorge um Winnetou mehr als gut ansehen. „Kennt Entschah-koh die Höhlen so gut wie der Häuptling?“ war meine Gegenfrage. „Nein, und auch niemand unserer Krieger ist dort so gut bekannt,“ antwortete er ehrlich. „Dann wird auch das nichts nützen, fürchte ich,“ entgegnete ich. „So werde ich euch mit einigen Kriegern begleiten!“ Das war schon fast eine Feststellung von ihm, wobei ich mir aber sicher war, dass auch das keinen Erfolg haben würde.
 

Und genauso kam es auch. Winnetou, der in unserem Zimmer schon den Inhalt seiner Satteltaschen überprüfte und seine Revolver und das Gewehr nachlud, wechselte nur ein paar Worte mit seinem Unterhäuptling, und schon verließ dieser in nicht gerade heiterer Stimmung den Raum, wobei er mir einen fast verzweifelten Blick zuwarf.

Nun versuchte ich nochmal mein Glück und begann, alle Argumente, die gegen diesen Ritt von Winnetou sprachen, in die Waagschale zu werfen, aber genauso gut hätte ich einen Elefanten überreden können, auf einem Drahtseil zu tanzen und dabei Eier zu legen. Zu guter Letzt versuchte ich ihn mit dem Hinweis zu überzeugen, dass wir alle schon unendlich viel Angst um ihn ausgestanden hatten und dass mir meine Sorgen um seine Gesundheit auf diesen Kundschaftergang auch nicht viel helfen würden.
 

Mein Freund stand jetzt auf und sah mich ernst an. „Winnetou hat seinem Bruder erst vor kurzer Zeit versichert, dass dieser sich keine Sorgen mehr machen muss. Und bedenke bittel,“ bei diesen Worten fasste er mich mit beiden Händen an die Schultern und senkte seinen Blick so tief in meine Augen, dass mir ein leichter Schauer über den Rücken rieselte. „Bedenke einmal, was du an meiner Stelle tun würdest. Du würdest deinen Blutsbruder niemals alleine in die Gefahr reiten lassen, und ich werde es auch nicht tun, Scharlih!“
 

Damit hatte er mir allen Wind aus den Segeln genommen. Ich sah ihn an, und dann überkam es mich mit aller Macht, ich umarmte ihn, so fest ich konnte, und flüsterte ihm ins Ohr: „Ich liebe dich so sehr!“ Anschließend küsste ich ihn auf seine halbvollen, wunderschönen Lippen. Er schlang seine Arme um meinen Nacken und erwiderte den Kuss.
 

In diesem Augenblick hörten wir ein Geräusch an der noch halboffenen Tür und sahen zu unserem großen Entsetzen, dass Dr. Hendrick das Zimmer betreten hatte.



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