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Madame Héloïses letzte Fahrt

Eine Geschichte aus Mr. Crawfords Haus im Nebel
von

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Madame Héloïses letzte Fahrt

“Vater, bitte!“ Sophies Stimme war bettelnd und doch lag in ihr noch der Liebreiz des Kindes, das sie nicht mehr war.

“Nein“, beharrte Mortimer streng, wenngleich es ihm angesichts des flehenden Gesichtsausdrucks seiner einzigen Tochter schwer fiel. “Du wirst nicht alleine hier bleiben und ganz bestimmt wirst du nicht alleine nach London fahren.“

“Aber ich wäre doch gar nicht alleine. Ich hätte doch Miss Binnington bei mir“, argumentierte sie, nicht ohne einen gewissen Trotz in der Stimme und liess ihre Gabel auf den Teller fallen. “Und es wäre viel besser für mich, während der Saison am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, anstatt mit euch in irgendein Bauerndorf am Ende der Welt zu fahren.“

“Liebes, du bist doch erst vierzehn“, meinte Clementine, trotz Sophies ungebührlichen Benehmens versöhnlich und bemüht, einen heftigeren Streit zwischen ihrem dickköpfigen Ehegatten und ihrer ebenso dickköpfigen Tochter zu verhindern. “Du hast doch noch viel Zeit um Bälle und irgendwelche Wohltätigkeitskonzerte zu besuchen.“

“Du kannst dein Debüt in der Gesellschaft nächstes Jahr geben“, stimmte Mortimer zu. “Aber deiner Mutter und mir ist es wichtig, dass wir noch etwas Zeit als Familie verbringen, bevor Victor nach Abingdon ins Internat fährt.“

“Aber man kann sein Debüt doch gar nicht früh genug geben! Ich will schliesslich auch jemanden kennen lernen, bevor alle schönen Junggesellen vergeben sind!“

Clementine seufzte und nahm sich vor, ein erstes Gespräch darüber, dass Schönheit bei weitem nicht das wichtigste Kriterium eines guten Ehemannes war, mit ihrer Tochter zu führen.

“Du kommst mit nach Knightsbridge, Sophie, das ist mein letztes Wort.“ Mortimers Stimme war ruhig und gemessen, besass jedoch einen Nachdruck, der deutlich machte, dass er keinen weiteren Widerspruch duldete. “Solange du dich benimmst wie ein verwöhntes Kind, das die Bedeutung des Wortes ‘nein‘ nicht versteht, bist du ohnehin noch nicht bereit, dein Debüt in der Gesellschaft zu geben.“ Er wandte sich an Miss Binnington, die Gouvernante. “Bitte begleiten Sie Sophie in ihr Zimmer; sie ist mit dem Abendessen fertig.“

 

“Du hast sie als Kind zu sehr verwöhnt.“ Clementine sah nicht von ihrem Earl Grey auf und in ihrer Stimme lag kein Vorwurf. Wie so oft stellte sie lediglich nüchtern die Tatsachen fest, während sie mit ihrem Gatten bei der letzten Tasse Tee des Tages in der Bibliothek sass.

“Ach, Sophie ist ein gutes Mädchen“, antwortete Mortimer vor dem kalten Kamin stehend, während er das Portrait seiner Kinder mit einem liebevollen Blick bedachte.

“Das mag ja sein, aber es ist erwiesen, dass Kinder eine strenge Hand brauchen. Und unsere Tochter ist, so leid es mir tut, das sagen zu müssen, das beste Beispiel dafür, dass Nachsichtigkeit nur zu Ungehorsam führt.“ Da war er, der Vorwurf in Clementines Stimme.

“Es ist auch erwiesen, dass ein kräftiger Klaps mit dem Lineal auf die Finger, die Handschrift verbessert. Und du weisst doch, wie meine Geschäftsnotizen aussehen.“ Mortimer schmunzelte, als er seine Frau über die Schulter hinweg ansah.

Clementine erhob sich und umarmte ihren Mann, schmiege ihren Kopf knapp unterhalb der Schulterblätter an seinen Rücken.

“Aber ich weiss auch noch, wie dein erster Brief an mich aussah. Jeder Buchstabe war so klar und ebenmässig als stamme er nicht aus der Feder, sondern der Druckerpresse, jedes Wort stand in Reih und Glied und der Strich deiner Feder war so fein und elegant, dass ich zunächst glaubte, eine andere Frau würde mir schreiben.“

Sanft verwob Mortimer ihre Finger mit den seinen, führte ihre kleine Hand zu seinem Mund und küsste sie warmherzig und zärtlich.

“Du hast keine Vorstellung davon, wie lange es gedauert hat, bis er so aussah.“

“Aber doch warst du fähig dazu.“ Clementine schloss die Augen, genoss den dezenten Hauch von Cologne, der ihren Mortimer umgab. “Ich verlange ja nicht, dass du unsere Kinder weniger liebst. Aber es ist auch deine Pflicht als ihr Vater, sie die nötige Disziplin und Ernsthaftigkeit für das Leben ausserhalb ihrer Kinderstube beizubringen. Versprich mir, dass du dich ein wenig mehr zusammenreissen und sie weniger verwöhnen wirst.“

Mortimer seufzte geschlagen.

“Na schön. Ich verspreche es dir.“ Er drehte sich um und beugte sich hinab um Clementine zu küssen. “Lass uns zu Bett gehen, Tiny.“, hauchte er zärtlich in ihr Ohr, so dass sie errötete.

 

Knightsbridge erwies sich als das kleine Örtchen auf dem Lande, als das Mortimer es sich ausgemalt hatte. Entlang der Dorfstrasse gab es nur das nötigste an Geschäften, überall sah man bezaubernde kleine Cottages und das einzige Teehaus des Städtchens hatte seine Pforten - sehr zu Mortimers Freude und Clementines Ärger - auch für Damen geöffnet.

“Morty, bitte, lass uns erst auspacken. Ich kann doch so nicht in ein Teehaus“, meinte Clementine, die sich in ihrem weiss-blau gestreiften Reisekleid etwas fehl am Platze vorkam.

“Unsinn, Liebes, du siehst wie immer ganz wunderbar aus und ich bin sicher, dass du auch im Reisekleid einen guten ersten Eindruck hinterlassen wirst. Immerhin sind wie auf dem Land; hier sind die Leute sicherlich nicht ganz so streif, wie die Damen in deiner Teerunde zuhause. Es wird niemandem auffallen, dass du das falsche Kleid trägst.“

Clementine überlegte einen Moment lang, ihn darauf hinzuweisen, dass er die feine Grenze zwischen Nonchalance und Unverschämtheit längst überschritten hatte, verwarf den Gedanken jedoch seufzend wieder. Vermutlich war Mortimer sich dessen bereits vollauf bewusst.

„Also dann los. Eine gute Tasse Tee ist längst überflüssig“, bestimmte Mortimer mit einem Blick auf seine kleine silberne Taschenuhr und wandte sich dem kleinen Teehaus zu, während Clementine Miss Binnington bat, in der Zwischenzeit mit dem Hausmädchen nach Willowgarth Hall, dem Cottage, das Mortimer gemietet hatte, zu fahren und schon einmal mit dem Auspacken anzufangen.

 

Von Innen glich das Teehaus mehr einem Pub und der Assamtee, den die Wirtin - eine korpulente Frau mit roten Backen und leuchtenden Augen - ihnen servierte, stellte sich als dünne Brühe ohne nennenswerten Geschmack heraus, die Mortimer in seiner Eigenschaft als Kenner und Liebhaber geradezu beleidigte. Immerhin aber fand er, dass die Scones und die Zitronencremetörtchen, die er zum Tee bestellt hatte, ganz wunderbar schmeckten.

 

Als ein Einheimischer, der anstatt eines Tees einen grossen Krug Ale bevorzugte, Mortimer mit unverschämter Direktheit ansprach, war Clementine, der nach wie vor daran gelegen war, rasch in Willowgarth Hall einzuziehen und sich des Reisekleides zu entledigen, klar, dass es wohl nicht allzu schnell dazu kommen würde.

„Sie sin‘ wohl auf’er Durchreise, was?“, sagte der Fremde in lautem Ton und lachte dröhnend.

„Eigentlich“, begann Mortimer, der scheinbar nur darauf gewartet hatte, einen der Einwohner Knightbridges in ein Gespräch verwickeln zu können. „planen wir, für ein paar Wochen in ihrem hübschen, kleinen Örtchen zu bleiben.“

„Na sowas!“, machte der Mann verblüfft. „Hätt‘ ich nich‘ gedacht. Solch feine Leut‘ gibt’s hier sonst nich‘.“

Mortimer lachte.

„Ach, das ist in Ordnung. Wäre uns an feiner Gesellschaft gelegen, wären wir in der Stadt geblieben.“

Sophie rollte entnervt mit den Augen und hielt den bissigen Hinweis, dass sie genau das hatte tun wollen, jedoch vornehm zurück.

„Na, wenn das so is‘, können se mir gern Bescheid sagen, wenn se was brauch’n. Ich heiss‘ Farley, Pleasant Farley“,  sagte der Fremde und machte ein Gesicht, als empfände er seinen Vornamen ganz und gar nicht als erfreulich. „ Sag’n se ruhig ‚Ples‘; mach’n hier alle.“

„Sehr erfreut. Mortimer Crawford – Morty für Freunde“, erwiderte Mortimer und gab dem Einheimischen die Hand. Zu sagen, dass er Mr. Farley als Freund empfand, wäre zwar vermessen gewesen, aber angesichts der offensichtlichen Gutmütigkeit des Einheimischen beschloss er, auf Förmlichkeiten zu verzichten.

„Meine Frau Clementine“,  fuhr er mit der Vorstellung fort und Mr. Farley tippte sich an den Schirm seiner Mütze,  während er ein unbeholfenes „Ma’am“ murmelte, „und meine Kinder Sophie, Viktor und James.“

„Nette Racker ham‘ se da.“

„In der Tat. Aber sagen Sie“, kam Mortimer mit unverschämter Direktheit auf sein Lieblingsthema zu sprechen. „Hier in der Gegend gibt es doch sicher eine Menge Sagen und Legenden?“

„Aye, das will ich meinen“, sagte Mr. Farley. „Sind se so’n Heimatforscher oder warum int’ressier’n sie sich dafür?“

Mortimer lachte. „Nein, normalerweise verkaufe ich Tee und Gewürze. Mythen und Sagen sind viel mehr ein  persönliches Interesse, ein Zeitvertreib. Gibt es vielleicht eine, die besonders stark mit der Umgebung hier verbunden ist?“

„Aye, die gibt’s.“

Mortimer wartete darauf, dass Mr. Farley weitersprach, doch diesem war die versteckte Aufforderung wohl entgangen und er sagte nicht mehr.

„Wären Sie vielleicht so freundlich, mir mehr darüber zu erzählen, Ples?“, half er ihm mit sanfter Stimme auf die Sprünge.

Mr. Farley erhob sich ohne ein weiteres Wort und Mortimer fürchtete bereits, ungewollt einen wunden Punkt getroffen und ihn so vergrault zu haben, doch er trat lediglich ans leicht fleckige Fenster, das nach der Strasse ging.

„Seh’n se da den Hügel?“, fragte er und zeigte auf einen Punkt in der Ferne.

Mortimer kniff die Augen zusammen. Ja, dort, weit hinter den Häusern auf der anderen Strassenseite erhob sich ein schmaler Hügel, von dichtem Walt fast vollständig bedeckt.

„Wenn se genau hinseh’n, können se ‘ne alte Ruine seh’n. Is aber schon schwer von hier aus“, fuhr Mr. Farley fort.

Mortimer nickt bekräftigend. Tatsächlich sah er jedoch nicht das geringste Anzeichen eines Bauwerkes – Ruine oder nicht – auf dem Hügel.

„Jedenfalls war’s mal ‘ne Ritterburg. Und darin wohnt‘ auch ’n Ritter. Aber nich‘ so ’n braver mit glänzender Rüstung wie in eur’en Märchenbüchern“, wandte Mr. Farley sich nun an die beiden Jungen, die ihm gebannt zuhörten.

„War es ein Raubritter?“, wollte Viktor eifrig wissen. „Von denen hab ich nämlich gelesen!“, fügte er ganz stolz hinzu, in der offensichtlichen Meinung, nun ein Experte zu sein.

„War es?“, echote James seinem grossen Bruder nacheifernd.

„Das weiss ich nich‘“, antwortete Mr. Farley lachend. „Aber ich glaub‘ ‘s war schon ‘n ‚guter‘ Ritter, bloss ‘n schlechter Mensch. Nu guck nich‘ so, Junge, das geht!“

Viktor sah seinen Vater zweifelnd an, doch der nickte bestätigend.

„Natürlich geht das. Schliesslich ist die Welt ja nicht nur schwarz und weiss.“

„Weisste, Junge, er war wohl einigermassen gerecht zu den Leuten hier. Hat se gut beschützt vor plündernden und brandschatzenden Bösewichten und and’rem Gesocks. Aber zu seinen Hausdienern und seiner Frau soll er sehr hässlich gewesen sein. Hat wohl öfters seinen Gürtel zu spür‘n bekommen, das arme Kind. ‘S war aber ’n hübsches Frollein, heisst’s. Französisch und immer ganz fein und gepudert.“

„Wie hiess sie denn?“, wollte James, der schon immer ein kurioses Interesse an verwunschenen Jungfrauen und Prinzessinnen hatte, mit glänzenden Augen wissen.

„Och…“, machte Mr. Farley gequält. „War so ’n französischer Name, aber ich weiss ihn nich‘ mehr. Irgendwas mit ‚H‘ glaub’ ich.“ Er drehte sich um und rief nach der Bedienung zu, die am anderen Ende des Schankraums die Tische abwischte: „Hey, Sue! Weisste noch den Namen von der Lady, ob’n auf ’er Burg?“

„‘Héloïse‘ war das, glaub‘ ich.“, rief sie zurück ohne sich nach ihm umzusehen. Es war offensichtlich, dass sie kaum Kenntnisse der französischen Sprache besass, denn sie sprach den Namen so falsch aus, dass sich die Nerven in Mortimers Backenzähnen schmerzhaft zusammenzogen.

„Jo, klingt richtig für mich“, brummte Mr. Farley. „Also sie hiess Héloïse. Und auf jeden Fall wurd’s ihr irgendwann zu schlimm mit ihrem Mann. Manche sag’n auch, sie hätt‘ ‘nen Liebhaber gehabt. ‘N junger Bursche aus’m Dorf, so einer mit ‘nem hübschen Gesicht und ohne Geld in’en Taschen. Aber ich glaub‘ das sin‘ nur die Leut‘, die aus der Geschichte mehr mach’n, als sie is‘. Is‘ sonst nicht romantisch genug, eh?“ Mr. Farley sah Zustimmung heischend in die Runde.

„Möglich, aber vermutlich werden wir es nie genau wissen“, meinte Clementine.

„Da hab’n se sicher recht, Ma’am. Wo war ich ’n jetzt mit ’er Geschichte...?“

„Der Lady wurde es zu schlimm mit ihrem Mann“, rekapitulierte Sophie, die eigentlich kein allzu grosses Interesse an der Geschichte hatte, sondern genau wie Clementine lediglich bald wieder gehen wollte.

„Ah, richtig, danke, Miss. Also auf jeden Fall hat die Lady Héloïse beschlossen, dass se ‘s einfach nich‘ mehr mit ihr’m Ritter aufhält und hat ihre Kutsche vorbereit’n lass’n. Vielleicht wollt‘ se heim zur Familie, vielleicht auch in ‘n Kloster, wer weiss...

Fand ihr Ehemann natürlich nich‘ so gut. Hat alles versucht, damit se nich‘ fährt. Ihr das Blaue vom Himmel versproch’n. Aber sie wollt‘ nich‘ mehr, da wurd er zornig. Hat aber auch nix gebracht, so entschloss’n war die Lady. Irgendwann hat er wohl auch geschrien, sie müsst‘ direkt zur Hölle fahr’n, wenn se’s wagt, ihn zu verlass’n.

Mortimer lehnte sich zurück und lächelte. Ein Fremder hätte es wohl für spöttisch halten können, doch Clementine erkannte es als ein interessiertes, mit der Geschichte zufriedenes Lächeln.

„Und?“, fragte er erwartungsvoll. „Fuhr Madame?“

„Aye“, bestätigte Mr. Farley was Mortimer ohnehin schon vermutet hatte und senkte verschwörerisch die Stimme. „Zur Hölle und wieder zurück, heisst’s. Weil der Deibel sie nich‘ hab’n wollt‘. War einfach zu gut, das arme Kind. Und ins Paradies konnt‘ se ja auch nich‘. Hat ja versprochen, ihrem Ehemann treu und gehorsam zu sein, damals. Schrecklich sowas!“

„Ja, wirklich eine fürchterliche Situation, in die Lady Héloïse da geraten ist.“ In Mortimers Stimme lag ehrliche Betroffenheit.

„Seht ihr, Kinder, genau deswegen will ich nicht, dass ihr versprechen gebt, die ihr nicht halten könnt.“

Der Versuch ihrer Mutter, in der Schauergeschichte wenigstens einen moralischen Aspekt zu finden, liess Sophie mit den Augen rollen.

Mr. Farley lachte indes dröhnend über die erschrockenen Gesichter Viktors und James‘.

„Ja, ja, hört nur auf eure Frau Mutter. Sonst geht’s euch am End‘ wirklich noch wie der Lady. ‘S heisst nämlich, dass se bis heut‘ keine Ruh‘ gefunden hat. In dunkl’n Nächten fährt se nämlich immer noch zwisch’n der Welt und der Hölle hin und her. Und wenn ‚ne arme Seele ihr’n Weg kreuzt, nimmt se ihn mit auf ‘er Fahrt zum Teufel. Sin‘ scho‘ viele bei Nacht in ‘en Wald gewandert und nich‘ mehr raus gekomm’n.“

„Ach, sicher ist es nachts in einem dunklen Wald auch ohne eine Geisterlady gefährlich genug. Vermutlich haben die Verschwundenen sich lediglich verirrt.“, warf Sophie zweifelnd ein.

„Glaub’n se ’s mir, Frollein, die Lady Héloïse ist sehr echt. Ich hab sie mit meinen eigenen zwei beiden Augen geseh’n!“

„Verzeihen Sie, wenn ich mich meiner Tochter in ihrer Skepsis anschliesse, Ples. Aber es erscheint mir doch äusserst bemerkenswert, dass – obwohl Lady Héloïse die armen Teufel, die ihren Weg kreuzen angeblich zur Hölle mitnimmt – wir doch das unerhörte Glück haben, die Geschichte von jemandem zu hören, der eine Begegnung mit ihr unbeschadet überstanden hat“, warf Mortimer ein.

„Naja…“, machte Mr. Farley verlegen. „Ihr begegnet bin ich jetzt nich‘ so direkt. Hab‘ se von Weit‘m geseh‘n. Die Irrlichter, die die Kutsche beleucht’n. Und die Gäule. Sind in kolossalem Tempo von ’er Ruine her den Hügel runter. Ganz ohne Kutscher! Jedenfalls hab ich kein’ geseh’n. Aber bis zum Waldrand hab ich die Kutsche seh’n könn‘, immer wieder durch die Bäume durch. Und am Waldrand da war se plötzlich verschwund’n.

‘S war ganz sicher die Lady Héloïse, ich schwör’s Ihnen beim Grab meiner Frau Mutter, Gott hab’se seelig. Und ich bin nich der einz’ge, das sag‘ ich Ihnen! Fast jeder hier hat se schon mal geseh’n. Da könn‘ se Jeden fragen.“, ereiferte er sich.

Die Augen Viktors und James‘ leuchteten vor Aufregung.

„Glaubst du, wir werden sie auch sehen, Vater?“, fragte James in fiebriger Eifer.

Mortimer lächelte. „Wenn wir Glück haben, vielleicht.“

„Das Int’resse liegt wohl in ‘er Familie, hä?“, meinte Mr. Farley lachend.

„Nun, zumindest teilweise“, gab Mortimer zu, wohl wissend, dass Clementines und Sophies Interesse eher den weltlichen, denn den spirituellen Dingen galt. Er trank den letzten Rest seines Tees – der Kalt auch nicht besser schmeckte als heiss – aus und erhob sich.

„Haben Sie vielen Dank für die Erzählung, Ples“, sagte er „Aber so langsam wird es Zeit für uns, das Domizil für unseren Aufenthalt zu beziehen.“

Clementine und Sophie atmeten beide innerlich auf.

„Och, nich‘ dafür“, sagte Mr. Farley. „Aber wenn ich Ihnen ‚nen Rat geb’n darf“, fügte er mit ebenso grosser wie plötzlicher Ernsthaftigkeit hinzu, „sein se vorsichtig, ja? Der Wald kann ‚n verflixt gefährlich’r Ort sein. Sie sollten ihn zumindet bei Nach meid’n.“

„Wir werden daran denken“, versicherte ihm Clementine, die bereits wusste, dass sie Mortimer mehr als einmal daran würde erinnern müssen.

 

Willowgarth Hall, das Cottage, welches Mortimer für sich und seine Familie gemietet hatte, lag etwas ausserhalb des Städtchens, fürchterlich nahe am Waldrand und war kleiner als Clementine es sich gewünscht hätte.

Jedoch liess sich die malerische Atmosphäre mit keinem Wort bestreiten:

Es handelte sich um eine alte Mühle. An der Nordseite floss ein Bächlein den Hügel hinab in einen dunklen Teich, um von dort als Kaskade weiter auf das Mühlrad, welches sich – nutzlos geworden – träge drehte, zu stürzen und endlich der schmalen Strasse entlang dem Meer entgegen zu streben.

Nach Westen hin erhob sich eine steile Felswand, wodurch das unterste Geschoss – von Nord, Süd und West von Fels fast gänzlich umschlossen – zum Souterrain wurde.

Folgte man der in die Felswand gehauenen und mit einem schmiedeeisernen Geländer versehenen Treppe, stand man schon bald vor dem Eingang. Von dort aus liess sich – am weissen Oleanderstrauch, der seine Zweige blütenschwer über die niedrige Mauer aus grobem, hellen Sandstein neigte vorbei und über im frühen Abendlicht feenhaft glänzende Prachtlilien und dunkle Duftwicken hinweg – ein Blick auf die kleine Gartenlaube, an der zarte, weisse Rosen himmelwärts kletterten, erhaschen. Bienen und Hummeln summten allerorts geschäftig durch die warme Luft, veranstalteten einen emsigen Tanz um die rosafarbenen und violetten Blüten.

Die verblühten Glyzinien, die sich am Haus empor bis um die Fenstergesimse der ersten Etage und über die mit beigen und roten Backsteinen gemauerte Wölbung des Einganges rankten, liessen Clementine etwas wehmütig an ihr kleines Haus im Vorort Summertown denken, das die Familie bewohnt hatte, bevor Mortimer den Familiensitz der Crawfords im Herzen Oxfords erbte.

Obwohl Mortimer darauf bestand, sich die Ruine der Burg auf dem Hügel anzusehen und im winzigen Stadtarchiv Knightbridges nach dem Wahrheitsgehalt der Sage zu forschen, schien er Mr. Farleys Warnung durchaus ernst zu nehmen. Von seinen Ausgedehnten Spaziergängen durch den Wald kehrte er stets vor Einbruch der Dämmerung zurück; vielleicht, um seinen Söhnen, welche so manchen Abend am Fenster in ihrem Zimmer, das gen Norden ging, verbrachten - immer in der Hoffnung, einen Blick auf Lady Héloïsens geisterhafte Kutsche erhaschen zu können - ein gutes Vorbild zu sein.

Mehr als diese ungewohnte Vernunft überraschte Clementine allerdings, dass ihr Gatte diese während nunmehr fünf Wochen eisern aufrecht erhielt, ohne dass sie ihn auch nur ein einziges Mal daran hätte erinnern müssen.

Dennoch konnte sie nicht umhin zu bemerken, dass Mortimer abends immer öfter aus einem der Nordfenster spähte, über den Mühlteich und den sanften Hügel mit dem Bach hinauf zum Waldrand. Je länger die Ferien andauerten, desto mehr schien sich eine nervöse Unruhe seiner zu bemächtigen. Dieselbe Unruhe, wie sie Clementine auch in ihren Söhnen spürte. Und sie konnte nicht anders, als davon beunruhig zu sein.

 

Es war der Donnerstag vor ihrer Abreise, als Viktor lange nach der Schlafenszeit - Katie hatte bereits herein geschaut um die Jungen wieder ins Bett zu verfrachten, sollten sie einmal mehr am Fenster eingeschlafen sein - wieder aus dem Bett kletterte.

Bei dem Versuch, Hemd und Hose gleichzeitig und mit grosser Eile anzuziehen, fiel er schmerzhaft der Länge nach hin. Vorsichtig rappelte er sich auf, hastete zur Tür und lauschte angestrengt.

Doch auf der zweiten Etage blieb alles still. Aus der ersten drang Gemurmel - das schwache Echo des Gespräches seiner Eltern - zu ihm hinauf.

Sein Fehltritt war scheinbar unbemerkt geblieben.

Doch als er gerade seine Schuhe zugebunden und sich die kleine Dose Salz, sowie eine alte, rostige Ölfunzel, die er im Gärtnerschuppen gefunden hatte, schnappte, wurde er eines Besseren belehrt.

„Vicky?“, klang James‘ Stimme durch das dunkle Zimmer und ein Rascheln verriet Viktor, dass sein kleiner Bruder sich im Bett aufgesetzt hatte. Entnervt drehte der Junge sich um und sah, wie James aus der Schlafstatt kletterte.

 „Geh wieder ins Bett, James!“

 „Du bist doch auch nicht im Bett.“ James stellte die Tatsachen mit ebenso nüchterner Unbeeindruckbarkeit fest, wie seine Mutter  es stets tat, doch die Aufregung in seiner Stimme war unüberhörbar. „Wo willst du denn hin? Gehst du auf Abenteuer?“

 „Und wenn schon!“, meinte Viktor. „Dich nehme ich bestimmt nicht mit.“

„Ich will aber mitkommen!“ James machte sich daran, sich anzuziehen.

 „Nein“, entgegnete Viktor entschiedenen. „Du bist noch viel zu klein  für so etwas.“

 „Ich bin gar nicht mehr klein!“, protestierte James. „Ich bin schliesslich schon acht!“

Viktor stöhnte entnervt auf. „Du kannst trotzdem nicht mitkommen.“

 „Wieso nicht?“

 „Weil ich jetzt in den Wald gehe. Und da seh ich vielleicht sogar die Geisterkutsche. Das is gefährlich und darum kannst du auf keinen Fall mit.“

Viktor hatte gehofft, die Aussicht, Teil einer echten Geistergeschichte zu werden würde James abschrecken, aber natürlich war sein kleiner Bruder nicht weniger seines Vaters Kind als er selbst.

 „Wenn es so gefährlich ist, solltest du nicht alleine gehen“, erklärte James bestimmt und grinste Spitzbübisch. „Ich gehe gleich und sage Vater Bescheid.“ Und er schickte sich an – noch halb im Schlafanzug – das Zimmer  zu verlassen.

In Windeseile hatte sich Viktor auf ihn gestürzt wie auf den Spieler einer gegnerischen Rugby-Mannschaft, den ein gutes Stück kleineren Jungen zu Boden gedrückt und sich auf seine Brust gesetzt.

 „Wag es bloss nicht!“, fauchte er seinen Bruder an.

 „Dann lass mich mitkommen!“, verlangte dieser trotzig. Viktor stiess erneut ein entnervtes Seufzen aus.

 „Na schön, dann komm eben mit. Aber wehe, du nässt dich ein oder sowas!“

 

Die dicken, alten Glyzinien-Ranken hinabzuklettern erwies sich als anstrengender, als Viktor erwartet hatte. Dass es James trotz seiner geringen Körpergrösse nahezu mühelos zu gelingen schien, während er selbst einen halben Meter über dem Boden den halt verlor und schmerzhaft auf dem Rasen landete, ärgerte Viktor besonders.

 

Am Nachmittag und frühen Abend war der Himmel noch klar gewesen, doch mittlerweile hatte der aufgekommene Westwind dichte Wolken aufgetürmt und über dem dunklen Garten lag der eigentümlich-erdige Geruch nach Regen und mischte sich mit dem betäubend süssen Aroma des Oleanders.

Im düsteren Schatten des Hauses nicht mehr ganz so mutig, drängte James seinen Bruder dazu, die Lampe zu entzünden.

„Bist du blöd?“, gab dieser schroff zurück. „Am Ende sieht man uns noch und das war’s dann!“

Dennoch hatte auch Viktor ein etwas ungutes Gefühl, während die beiden Jungen von Schatten zu Schatten um das Haus herum und an das Ufer des kleinen Baches schlichen.

„Also pass auf. Wir laufen einfach immer den Bach entlang, dann kommen wir fast bis zur Ruine rauf und verirren uns auch nicht“, erklärte Viktor - stolz auf die Umsicht, die er in seinen Plan gelegt hatte - während sie dem Wasserlauf den flachen Hügel hinauf bis zum Waldrand folgten.

Erst als sie die ersten Bäume bereits hinter sich gelassen hatten und James bereits zum zweiten Mal über eine Wurzel gestolpert war, beschloss Viktor, dass es nun an der Zeit sei, die Lampe anzuzünden.

Der Wind fuhr mit rasender Tollerei zwischen den Bäumen hindurch, schüttelte das Geäst so heftig, dass hier und da Tannenzapfen herunterfielen und die beiden Jungen es schwer hatten, die Lampe mit den wenigen Streichhölzern, die Viktor mitgebracht hatte zu entzünden.

Als sie endlich brannte, spendete sie ihnen wenig und nur flackerndes Licht.

Wäre Viktor alleine gewesen, wäre er vielleicht wieder umgekehrt - vor James jedoch wollte er auf keinen Fall zugeben, dass es ihm des Nachts im Wald doch allzu unheimlich war. Also stapfte er tapfer voran, immer bemüht, den Bach im Blick zu halten.

Er war sich sehr schlau vorgekommen, nicht dem schmalen Schotterweg, der von Knightsbridge zur Ruine führte, zu folgen, da dieser einen weiten Bogen auf den Hügel hinauf beschrieb, während der Bach in nahezugdirekter Linie von der Ruine nach Willowgarth Hall zu fliessen schien.  Anfangs war der Hügel noch sanft, fast unmerklich angestiegen, doch bald ging es steiler und steiler hinauf und das Bachbett nahm immer mehr Biegungen. Auch mussten die Jungen oft kleine Umwege nehmen um alte, üppige Brombeerranken und allzu steile Abhänge zu umgehen. So kam ihnen der Weg alsbald um ein vielfaches länger vor als noch an jenem heissen Tag in der zweiten Woche, da ihr Vater sie auf seine eigene Erkundung mitgenommen hatte.

Das bedrohliche Grollen eines noch fernen Gewitters lag in der Luft, so dass James sich dicht an der Seite seines grossen Bruders hielt.

„Vielleicht sollten wir lieber zurück gehen“, meinte er, als es schliesslich zu regnen begann.

„Blödsinn“, erwiderte Viktor. „Wir sind doch fast da und es ist nur ein bisschen Wasser. Du bist doch nicht aus Zucker, oder?“

„Nein...“

Trotzdem wäre es James ganz recht gewesen, hätten sie ihr nächtliches Abenteuer nun abgebrochen.

 

Als  die Überreste der Burg schliesslich düster und bedrohlich vor den beiden Jungen aufragten, war aus dem leichten Regenschauer längst ein dichter Vorhang aus Wassertropfen geworden, der sie bis auf die Haut durchnässte.

„Vielleicht sollten wir uns unterstellen und warten, bis es etwas nachlässt...“, lenkte Viktor nun ein.

Die Ecke, in der sie Schutz suchten war erstaunlich dunkel, aber trocken und sicher vor dem Wind, der mit kräftigen Böen Falten in den dichten Regenvorhang warf.

Er heulte schaurig um die gezackten Mauerreste, der Donner dröhnte nun nah und ohrenbetäubend und Blitze erleuchteten die Nacht taghell mit zuckendem Licht.

Viktor und James setzten sich dicht zueinander.

„Vicky, mir is kalt...“, jammerte James.

„Mir auch...“, gab sein Bruder leise zu.

„Ich möcht nach Hause, ja?“ James‘ Gesicht sah im fahlen Lampenschein aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Viktor legte einen Arm um ihn.

„In Ordnung“, sagte er, insgeheim nicht unglücklich über diese Chance, das Abenteuer frühzeitig zu beenden ohne als Feigling dazustehen. „Sobald es ein bisschen nachlässt...“

Weiter kam Viktor nicht, denn es gab einen grellen Lichtblitz und einen gewaltigen Knall, der ihm die das Wort abschnitt und seine Ohren unangenehm klingeln liess.

 

Gerade hatten Clementine und Mortimer sich aus ihren Sesseln erhoben um zu Bett zu gehen, als derselbe Knall - ein gutes Stück weiter entfernt aber dennoch unüberhörbar - sie zusammenfahren liess.

Lotti, die deutsche Dogge, heulte draussen im Garten herzzerreissend.

„Was in Gottes Namen war das denn?“, brachte Clementine hervor, nach dem sie sich einen Moment lang gesammelt hatte.

Dennoch konnte Mortimer das unsichere Zittern in ihrer Stimme hören. Zärtlich drückte er sie einen Moment lang an sich, dann nahm er ihr Gesicht schützend in die Hände und sah ihr tief in die grüngrauen Augen.

„Hab keine Angst, Liebes“, sagte er und spähte nach dem Fenster. Der orangefarbene Wiederschein eines Feuers war von Willowgarth Hall aus gerade noch zu erkennen. “Wahrscheinlich hat ein Blitz in die grosse Linde im Burghof eingeschlagen. Weiter nichts.“

Clementine folgte seinem Blick.

„Weiter nichts...“, wiederholte sie und rollte  mit den Augen. „Du sagst das, als wäre es keine grosse Sache...“

Mortimer küsste sie auf die Stirn.

„Es ist keine grosse Sache. Der Einschlag ist weit weg und bei diesem Regen wird das Feuer bald wieder ausgehen. Wir sind alle wohlauf und sicher. Lass uns zu Bett gehen.“

Doch noch bevor Clementine etwas erwidern konnte, war ein Rumpeln und ein Poltern zu hören, als fiele ein schwerer Koffer eine Treppe hinab.

„Was ist denn hier...?“, begann Mortimer, als er aus dem Wohnzimmer trat, doch er verstummte rasch.

Katie, das Hausmädchen lag am Fuss der Treppe. Obwohl sie wohl ein gutes Stück die Treppe hinunter gestürzt war und sicherlich einige blaue Flecken davontragen würde, schien sie nicht ernstlich verletzt.

Was Mortimer wirklich die Worte nahm, war der Ausdruck schierer Verzweiflung auf dem geröteten Gesicht des Mädchens. Sein Gefühl sagte ihm, dass die Tränen in ihren Augen nicht von dem schmerzhaften Sturz herrührten.

Kurzentschlossen griff er Katie unter die Arme und stellte sie wieder auf die Füsse.

„Katie, was ist passiert?“, fragte er so ruhig wie möglich.

„Sir!“, schluchzte das Mädchen. „Sir, die jungen Herren! Sie sind fort!“

„Was?“ Mortimers fassungsloser Ausruf liess Katie zusammenzucken.

„Ich wollte nachsehen ob das Gewitter sie wach gemacht hat. Der junge Herr James fürchtet sich doch so, wenn’s donnert und blitzt. Aber die Betten sind leer. Das Fenster stand sperrangelweit offen. Der Boden war schon ganz nass vom Regen.“

Clementine eilte in das Zimmer ihrer Söhne, war Mortimer trotz ihrer ungleich kürzeren Beine zwei Schritt voraus.

Doch auch sie fand nichts anderes in dem Zimmer als leere Betten und eine beachtliche Pfütze unter dem Fenster.

„Nein…“, brachte sie hervor, ihre Augen füllten sich mit Tränen, während ihr das Herz in Stücke zu bersten schien. „Oh nein…“

Mortimer zog sie an sich und sie vergrub ihr Gesicht an seiner Brust, weinte hemmungslos und verzweifelt.

„Katie, einen Tee für meine Frau. Mit Rum, falls wir haben.“ Mortimer versuchte ruhig zu bleiben, doch das Zittern in seiner Stimme war nicht zu verbergen. Auch ihm sank das Herz.

„Sehr wohl, Sir“, meinte das Mädchen, wenngleich keineswegs gefasster als zuvor. „Für Sie auch, Sir?“

„Nein. Aber ich möchte, dass sie Sophie und Miss Binnington holen. Aus dem Bett, falls nötig. Machen sie genug Tee, damit es für die beiden auch genügt. Sie werden es sicherlich brauchen können.“

„Natürlich, Sir.“ Katie wuselte davon, dankbar, sich mit dem Erfüllen einer Aufgabe ablenken zu können.

Mortimer geleitete Clementine derweil zurück ins Wohnzimmer und drückte sie mit sanfter Gewalt auf den Divan, wo er sich vor sie kniete.

„Meine armen Kinder“, schluchzte sie immer wieder.

Sanft küsste Mortimer seiner Gattin die Stirn, hielt sie in fester, sichererer Umarmung, bis Katie mit dem Tee zurückkehrte – sie hatte wohl Rum gefunden und hatte grosszügig davon in den Tee gegeben.

Doch seine Zärtlichkeit konnte Clementines Tränen nicht trocknen, noch immer weinte sie bitterlich.

„Miss Sophie und Miss Binnington werden gleich herunterkommen“, informierte das Mädchen ihren Herrn leise. „Kann ich sonst noch etwas tun?“

Mortimer nickte. „Es widerstrebt mir zwar, Sie in dieses fürchterliche Wetter zu schicken, aber bitte, gehen Sie ins Dorf. Holen Sie Mr. Farley, falls möglich und jeden anderen Mann, der willens ist, sich zweier Jungen wegen bei Nacht in den Wald zu wagen. Sagen Sie ihnen, ihre Hilfe wird nicht umsonst sein und sie sollen mich am Tor der Burgruine treffen. Ich habe das Gefühl, das wird ein guter Ausgangspunkt sein. Ich werde mit Lotti vorgehen.“

„Sofort“, sagte Katie entschlossen.

„Ich komme mit dir, Morty!“ Clementine sprang mit dem Elan einer besorgten Mutter auf.

Mortimer fasste sanft ihre Hände.

„Du wärst mir da draussen keine Hilfe, Tiny. Ich brauche dich hier. Vielleicht kommen Vicky und Jimmy von ganz alleine wieder nach Hause. Und ich möchte, dass du dann da bist.“

„Aber den beiden kann da draussen wer weiss was passieren. Es sind doch nur Jungen.“

„Nein. Es sind unsere Jungen. Den beiden geschieht bestimmt nichts.“

Bevor Katie das Haus verlassen hatte, hatte sie ihrem Herrn einen Regenmantel und einen breitkrempigen Hut, sowie eine Öllaterne bereit gelegt.

„Ich werde Katie sagen, sie soll euch ein Lichtzeichen geben, falls die Jungs nach Hause kommen. Pass bitte auf dich auf, Morty.“

Clementine umarmte ihren Mann und für einen Moment schien es, als wollte sie ihn gar nicht mehr loslassen.

„Natürlich, Liebling“, antwortete er und küsste sie zärtlich. „Mach dir keine Sorgen. Ich finde die beiden.“

Mit diesen Worten verschwand er mit Hut, Regenmantel und Lampe gerüstet in den Garten, um sich mit Dogge Lotti auf die Suche zu machen.

 

Im Gegensatz zu Viktor befand Mortimer, dass es wohl klüger wäre, die Strasse zur Burg zu nehmen, anstatt querfeldein durch den Wald zu stapfen.

Er hatte die Ruine noch nicht ganz erreicht, als er hinter sich ein Rufen durch den Wind hörte.

Er wandte sich um und sah nicht weniger als vier Wagen auf sich zu kommen, auf denen wohl zwanzig Männer hockten – mehr als Mortimer erwartet hatte. Drei der Wagen wurden von den kleinen, aber stämmigen und unerwartet starken Ponies mit dem zotteligen Fell gezogen, die Mortimer schon des Öfteren in der Gegend gesehen hatte. Vor den letzten Wagen hatte man hingegen ein geradezu gigantisches Shire Horse gespannt, das die Ponies noch kleiner aussehen liess.

Sie waren bereits nahe genug, dass Mortimer Mr. Farley auf dem Kutschbock des ersten Wagens erkannte.

Begleitet wurde der eher kuriose Zug von einem guten Dutzend Hunde jeglicher Art und Grösse.

„Heyo!“, rief Mr. Farley noch einmal und brachte den Wagen kurz vor Mortimer zum Stehen. „Steig‘n Se auf. Je eher wir oben sind und die Kinder finden, desto eher könn‘ wir wieder verschwind’n.“

Mortimer liess sich nicht zweimal bitten. „Es tut mir sehr leid, dass meine Söhne Ihnen allen solche Umstände bereiten.“

„Ach, ‘s is‘ scho‘ recht. War’n doch auch ma‘ jung un‘ wiss’n wie’s is‘“, brummte Ples gutmütig. „Muss mächtig aufreg’nd sein hier, für so zwei kleine Jungs aus’er Stadt. Aber ham Se keine Angst, wir find’n Ihre zwo Rabauk’n scho.“

„Ich hoffe, Sie haben Recht.“

Mit hochgeschlagenen Mantelkrägen und tief ins Gesicht gezogenen Hüten und Kapuzen fuhr der eigentümliche Tross hinauf zur Ruine.

Kaum angekommen bellte Mr. Farley einige knappe Anweisungen gegen den Wind.

Mitten im Burghof standen die verkohlten Überreste der einstmals stolzen Linde, in die - wie Mortimer ganz richtig vermutet hatte – tatsächlich der Blitz eingeschlagen hatte. Das Feuer war vom Regen bereits wieder gelöscht worden, doch noch dampfte und rauchte der schwarze Stamm.

„Hier is‘ was!“, hörte Mortimer einen der Männer, einen jungen schmächtigen Burschen mit geradezu lächerlich krausem, rotem Haar, das vorwitzig unter seine Kapuze hervorquoll, rufen.

Der Bursche hielt eine alte, rostige Petroleumlampe in die Höhe. „Lag da hint’n, hinter nem angekokelten Ast.“

„Und die Jungen?“, wollte Mortimer eilig wissen.

„Hab ich sonst noch keine Spur von gefund’n.“

„Aber das is doch imm’rhin was“, meinte Mr. Farley um zuversicht bemüht. „Die beid’n war’n hier. Sin‘ vermutlich vor’m Blitzschlag erschocken. Weit könn‘ se ja noch nich‘ sein. Hab’n ja kurze Beine. Ich schlag‘ vor, wir teil’n uns auf un‘ such’n den Wald ab.“

 

Als der Blitz eingeschlagen hatte, hatten Viktor und James in blinder Panik die Flucht ergriffenund die Burgruine trotz kurzer Beine weit hinter sich gelassen.

Atemlos rannten sie durch den dunklen Wald ohne zu wissen, wohin eigentlich, bis James schliesslich in einem besonders steilen Teil des Hügels stolperte und seinen Weg nun purzelnd fortsetzte. Viktor hechtete seinem Bruder hinterher, was aber nur zur Folge hatte, dass auch er stürzte.

 

Er musste wohl einen Moment lang das Bewusstsein verloren haben. Als er wieder zu sich kam, regnete es noch immer, nasses Gras klebte unangenehm an seinen Wangen, aber das Donnergrollen schien ihm ferner zu sein.

Benommen setzte er sich auf, nur um sich im nächsten Moment erneut auf dem Boden wieder zu finden.

„Ich dachte, du bist tot!“, schluchzte James, der sich regelrecht auf seinen Bruder gestürzt hatte.

„Blödsinn, ich doch nicht“, erwiderte Viktor unwirsch und kramte nach seinem durchnässten Taschentuch, damit James sich die Nase putzen konnte. „Bist du verletzt?“

„Nein“, sagte James. „Aber mein Bein tut weh. Und ich will nach Hause.“

Viktor starrte seinen Bruder fassungslos an.

„Bist du blöd? Wenn dein Bein weh tut, dann bist du doch verletzt!“

„Oh…“, machte James. „Stimmt… Aber wenigstens ist mein Kopf noch dran!“ Normalerweise war es Katie, die als ‚gute Nachricht‘ auf diesen offensichtlichen Umstand hinwies.

 „Na Gott sei Dank dafür…“ Viktor verdrehte die Augen, rappelte sich auf und half seinem Bruder auf die Beine.

„Wohin gehen wir jetzt?“, fragte James in der Hoffnung, dass sein grosser Bruder den Heimweg kannte und ergriff dessen Hand, während er sich auf ihn stützte.

Es widerstrebte Viktor es zuzugeben, aber er hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie sich befanden.

In der Senke, in der sie gelandet waren, standen kaum Bäume. Dafür erhob sich am gegenüberliegenden Rand der Lichtung ein gewaltiger Findling, der im nächtlichen Zwielicht bemerkenswerte Ähnlichkeit mit einer übergrossen Eule besass.

„Wir gehen da lang“, sagte er schliesslich und versuchte, zuversichtlich zu klingen, während er in irgendeine Richtung zeigte.

Doch bevor Viktor auch nur einen Schritt in diese Richtung tun konnte, liess ihn ein leises Geräusch innehalten.

„Hey, Jimmy“, wisperte er seinem Bruder zu. „Hörst du das?“

James lauschte. Hufgetrappel war zu hören. Leise zwar, aber deutlich durch den Regen vernehmbar. und es schien lauter zu werden, näher zu kommen. Er drückte Viktors Hand fester und drängte sich näher an ihn.

„Das ist bestimmt die Lady“, jammerte er ängstlich. „Lass uns schnell gehen, bevor sie uns mitnimmt.“

Ein Teil von Viktor war der Meinung, dass James durchaus Recht hatte und es klüger wäre, zu gehen oder zumindest in den Büschen Deckung zu suchen. Ein anderer - grösserer - Teil jedoch verspürte jene Faszination, die sonst so bezeichnend für seinen Vater war. So fand er es beispielsweise recht interessant, dass die Hufklänge ganz deutlich zu vernehmen waren, gerade so als trabten die Pferde auf einer gepflasterten Strasse, obwohl der durchweichte Waldboden das Geräusch hätte dämpfen müssen

Vielleicht war gar nichts Geisterhaftes an dem Gefährt, das sich dort näherte. Vielleicht waren sie durch einen glücklichen Zufall in der Nähe einer Strasse gelandet und es war nur ein ganz normaler Wagen, von einer Brauerei beispielsweise, oder womöglich eine Postkutsche.

So blieb der Junge stehen wo er war und lauschte aufmerksam, ganz gleich wie verzweifelt sein Bruder an seiner Hand zerrte und versuche, ihn zum Gehen zu bewegen.

Doch Viktor wurde alsbald eines Besseren belehrt, denn schon brach die Kutsche durch das Unterholz und fuhr mühelos mitten durch den Eulenfelsen hindurch als wäre er nichts anderes als dünne Luft.

James druckte sich aufheulend an seines Bruders Brust, als das geisterhafte Gefährt auf sie zufuhr. Für einen Moment fürchtete Viktor, die Kutsche könnte sie einfach überrollen und er war sich nicht sicher, ob es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, dass sie kurz vor den beiden zitternden Kindern anhielt.

Mit einem Mal schien es Viktor viel kälter zu werden, als wäre plötzlich der Winter hereingebrochen. Von den Nüstern der Pferde stiegen kleine Dampfwölkchen in die Nachtluft.

Für einen Moment starrten die Jungen einander umklammernd einfach nur die beiden Pferde - einen Fuchs und einen Falben - an, welche die Kutsche zogen. Auf den ersten Blick schienen sie ganz normal - wenn auch von einer seltsam wilden Aura umgeben -, ganz wirklich kamen sie Viktor vor.

Auf den zweiten Blick jedoch fielen ihm die seltsam fahlen Augen der Tiere auf; milchig weiss starrten sie ihm entgegen, als wären die Rösser ganz blind, doch auf wundersame Weise wusste er, dass dem nicht so war. Je länger er die Tiere ansah, desto feuriger schienen ihre Augen zu werden, bis ihm war, als leuchteten sie aus sich selbst heraus, als tauchten sie die Regentropfen in gespenstischen, weiss-bläulichen Glanz.

Nach einer Zeit, die den Jungen viel länger schien, als dass sie tatsächlich war, öffnete sich endlich die Türe der Kutsche, die ebenso wirklich schien wie die Pferde, die sie zogen und heraus trat eine Gestalt die umso unwirklicher schien. Ein eigentümlicher Geruch schlug den beiden entgegen - wie von Maiglöckchen und Honig und zugleich muffig wie ein Raum, der mit altem Teppich ausgeschlagen und lange nicht mehr gelüftet worden war.

Das erste, was Viktor auffiel, war, dass die Dame, die ausgestiegen war, von unglaublicher Blässe war. Es war nicht die noble Blässe, wie sie alle Damen stets pflegten, vielmehr schien alles an ihr verblasst zu sein, wie bei einem Gemälde, das zu lange an einem sonnigen Ort aufgehängt gewesen war. Und dennoch war ihre Erscheinung eigentümlich strahlend - wie auch von den Augen der Pferde ging von ihr ein gespenstisches, weiss-bläuliches Leuchten aus, unmerklich zunächst, doch immer intensiver, je länger man sie ansah.

Das Kleid, das sie, das sie trug, war weniger prächtig als James und Viktor es sich aufgrund der Bilder in ihren Märchenbüchern ausgemalt hatten. Lediglich das Mieder und eine schmale Bordüre an den Säumen des Überkleides und eine kleine Brosche zierten es. Das Unterkleid war wohl weiss oder cremefarben - genau hätte Viktor es nicht sagen können, wäre es auch um sein Leben gegangen - und besass ganz schlichte, weite Ärmel mit einem schmalen Spitzensaum, der über dem Rand des Mieders hervorlugte.

Auch sass keine goldene Krone oder ähnliches auf ihrem Haupt, sondern nur eine schlichte, schwarze Haube mit einem feinen Netz, das ihr dunkles Haar daran hinderte, auf ihre Schultern hinabzufallen.

Ihr Gesicht war fein geschnitten, mit hohen Wangenknochen und dunklen, klugen Augen. Ein milder, wohlwollender Ausdruck lag darauf, der James und Viktor daran zweifeln liess, dass sie irgendjemanden zur Hölle mitnähme.

Dennoch ermahnte sich Viktor im Stillen, sich nicht von einem freundlichen Gesicht täuschen zu lassen. Man konnte schliesslich nie wissen.

„Bonsoir les enfants“, sagte die Dame schliesslich.

Viktor stotterte ein „Bonsoir Madame“ zur Erwiderung, sich plötzlich auf seine dürftigen Französischkenntnisse besinnend. Er meinte, von seinem Vater gehört zu haben, dass es helfen konnte, höflich zu einem Geist zu sein. Der Versuch zumindest konnte nicht schaden.

„Wie kommt es wohl, dass zwei kleine Jungen bei Nacht alleine im Wald herumstromern, frag‘ ich mich.“ Ihr Englisch war tadellos, wenngleich es das melodische Sprachmuster des Französischen und einen leichten Akzent aufwies. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen.

Viktor beschloss, dass es wohl klüger war, das Thema der Geisterkutsche nicht anzusprechen.

„Wir haben uns verirrt, Madame“, sagte er deshalb.

„Weil wir die Geisterkutsche sehen wollten!“, warf James ein, bevor Viktor fortfahren konnte.

Sein Bruder hätte ihn ohrfeigen können, doch das leise Lachen der Dame hielt ihn zurück.

„Meine Glückwünsche, ihr habt sie wohl gefunden.“

„Dann sind Sie wirklich...?“, fragte James verschüchtert.

„Héloïse de Pavilly“, erwiderte die Dame und machte einen eleganten Knicks. „Und mit wem habe ich wohl das Vergnügen?“

Viktor schwellte die Brust. „Viktor Crawford, Madame“, sagte er selbstbewusst. „Und das ist mein Bruder James.“

Er stiess seinen Bruder an, damit er etwas sagte.

„Sehr erfreut“, murmelte James in einem Ton, der erkennen liess, dass er wohl keineswegs erfreut war, die Bekanntschaft Lady Héloïses zu machen.

„Nun, Viktor und James Crawford, ihr seid wohl ganz besonders mutig, non?“, sagte sie. „Wisst ihr denn nicht, was die Dörfler über mich erzählen?“

„Dass Sie Leute mit zur Hölle nehmen“, hauchte Viktor, dem ganz unbehaglich zu Mute wurde. „Dann...“ Er schluckte leer. „Dann stimmt das also?“

Erneut lachte Madame Héloïse.

„Non“, sagte sie schlicht. „Die Dorfleute fürchten, was sie nicht kennen oder verstehen, das ist alles.“

„Warum fahren Sie denn dann hier herum, Frau Héloïse?“, wollte James,  nun etwas mutiger wissen.

Einen Moment lang sah Héloïse gen Himmel als müsste sie ihre Antwort erst bedenken.

„Ich weiss es nicht, mon petit“, sagte sie schliesslich. „Was ihr hier von mir seht, ist bloss eine Erinnerung, eine Reminiszenz derer, die ich einst war. Sie ist ungenau und schwach. Und dennoch weigert sich, was von mir übrig ist, aus dieser Welt zu schwinden.“

Viktor zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen und schürzte die Lippen.

„Sind Sie ordentlich begraben worden, Madame?“, fragte er nach einem Moment des Abwägens.

„Pardonez-moi?“ Madame Héloïses Blick war verblüfft und etwas pikiert, so dass Viktor fürchtete, sie erachte seine Frage als unhöflich oder gar beleidigend.

„Bitte entschuldigen Sie, sollte ich Ihnen mit der Frage zu nahe getreten sein“, bemühte er sich daher rasch zu sagen um sie wieder etwas zu beschwichtigen. „Es ist nur... Sehen Sie, mein Vater hat mir einmal erzählt, dass ruhelose Geister oft nicht ordentlich begraben worden sind und Frieden finden können, wenn man das nachholt. Und er meinte auch, dass Sie so zu sagen einfach aus den Chroniken verschwunden wären, ohne dass ein Sterbedatum oder ein Begräbnis erwähnt wurde, da dachte ich eben...“

Madame Héloïses angespannte Schultern sanken ein kleines Stück, doch der gekränkte Ausdruck auf ihrem Gesicht verschwand nicht.

„Verscharrt hat man mich, wie ein verendetes Tier“, sagte sie leise, ihr Blick ging nach dem Eulenfelsen.

„Dann können wir Ihnen vielleicht sogar helfen, Frieden zu finden!“ Viktors Gesicht schien für einen Moment im Dunkeln zu strahlen.

„Glaubst du wirklich, Vicky?“ Zweifelnd sah James zu seinem Bruder auf.

„Naja... Sicher ist natürlich nichts, aber einen Versuch ist es wert.“

James dachte einen Moment nach.

„Vater wäre sicher sehr stolz auf uns“, meinte er dann zuversichtlich.

 „Ja, wir könnten richtige Helden werden! Also was meinen Sie, Madame?“

Madame Héloïse sah noch immer auf den Findling.

„Frieden...“, antwortete sie versonnen. „Das ist eine sehr schöne Vorstellung.“

„Dann wollen wir es doch versuchen“, meinte Viktor drängend, denn von der Kälte, die in der Senke herrschte, wurden ihm Nase und Finger schon ganz taub. „Wenn sie uns nur den Weg zurück nach Willowgarth Hall weisen könnten.“

Die Geisterdame sah den Jungen irritiert an. „Willowgarth Hall? Von so einem Ort hörte ich nie.“

James begann erneut zu weinen. „Dann kommen wir nie, nie wieder zurück heim zu Mutter und Vater und Sophie und Katie!“, schluchzte er  elend.

„Ah, non, mon cher, weine nicht.“ Madame Héloïse wirkte ernstlich betroffen von James‘ Ausbruch. „Wir finden den Weg bestimmt. Es ist lange her, dass ich im Dorf war. Vielleicht hiess Willowgarth Hall damals noch nicht so oder war noch nicht gebaut.“

„Es ist eine alte Mühle, ein bisschen ausserhalb der Stadt“, versuchte Viktor, das Cottage etwas genauer zu beschreiben. „Aber wenn wir nur zurück nach Knightsbridge kommen, finden wir den Rest des Weges sicherlich.“

„Ich erinnere mich an eine Mühle“, sagte Héloïse jedoch zu seiner Erleichterung. „Ihr seid weit vom Weg abgekommen.“ Eilig schritt sie auf dem Eulenfelsen entgegen und wies auf den Boden. „Hier“, sagte sie. „Genau hier liegen meine Gebeine. Rasch, markiert die Stelle, sodass ihr die wieder findet.“

Umgehend tat Viktor, wie ihm geheissen und schichtete sorgsam drei Steine über der Stelle auf.

Madame Héloïse nickte befriedigt.

„Und nun steigt ein“, sagte sie und wies einladend zur offenen Kutschentür.

Viktor zögerte. Eigentlich hatte er gehofft, die Gefahr, doch noch zur Hölle gefahren zu werden aushebeln zu können, indem er darum bat, dass Madame Héloïse ihnen lediglich den Weg wies.

„Keine Angst“, sagte sie sanft. „Ich fahre wirklich niemanden zur Hölle. Ihr aber solltet schnell aus diesem scheusslichen Wetter. Und auch meine Präsenz tut euch nicht gut. Ich sehe wie sie euch frieren und zittern lässt, auch wenn ich keine Kälte fühle. Wenn ihr aber zu Fuss geht, wärt ihr bis zum Morgengrauen unterwegs und könntet sehr, sehr krank werden. Daher wäre es das Klügste, mit mir zu fahren, auch wenn es bedeutet, euch meiner Kälte noch etwas länger auszusetzen. Dafür werdet ihr in Windeseile daheim im Warmen sein, das verspreche ich euch. Les mortes chevauchent vite.[1] Also kommt, mes enfants.“

Viktor musste zugeben, dass sie nicht Unrecht hatte. Zudem musste James sich mit seinem verletzten Bein noch immer auf ihn stützen. So wären sie noch länger unterwegs. Und um ganz ehrlich zu sein sehnte er sich mittlerweile nach seinem Bett.

„Was meinst du, Jimmy? Wollen wir ihr vertrauen?“, raunte er seinem Bruder zu.

In Gedanken ebenfalls schon sicher in sein warmes, weiches Bett eingekuschelt, nickte James nur.

„Also schön“, sagte Viktor etwas lauter, wenn gleich noch immer zögerlich und stieg ein.

Auch in der Kutsche war es bitterkalt, doch wenigstens trocken und die Sitze waren weich mit dunklem Damast gepolstert.

Dicht aneinander gekuschelt übermannte die Jungen doch alsbald der Schlaf, als die Kutsche sich sanft schaukelnd wie eine fürstliche Wiege in Bewegung setzte.

 

Es war nur ein kurzer Augenblick, den die Senke mit dem Eulenfelsen da lag, als wäre nichts geschehen. Gerade genug, dass die unnatürliche Kälte fortgeweht werden konnte, bevor die Dogge durch das Unterholz brach.

Die Nase dicht am Boden und den Körper voller Schlamm und nasser Blätter durchquerte Lotti die Senke zielstrebig, drehte sich dort, wo die Jungen noch ein paar Augenblicke zuvor gestanden hatten, im Kreis und fand schliesslich den Weg den Hügel wieder hinaus, gegen die Ruine hin. Vor einem spärlichen Ginsterbusch blieb sie stehen und bellte. Einmal. Zweimal. dann folgte ein langgezogenes Heulen. Irgendwo in der Ferne antwortete ein anderer Hund eines anderen Suchtrupps.

Viel wichtiger aber war, dass auch Lottis Herrchen ihr antwortete.

„Ja, ja, ich hab dich gehört“, rief Mortimer, der sich auf seinen zwei Beinen und in Begleitung des eher trägen Mr. Farleys weit langsamer durch das Unterholz fortbewegte, als die Dogge.

Als sie in Sicht kamen, bellte Lotti erneut und bäumte sich schwanzwedelnd auf wie ein scheuendes Pony, als wollte sie sicherstellen, dass die Menschen sie auch wirklich sahen, obwohl ihr weisses Fell mit den dunklen Flecken auch im Dunkeln und mit Schlammspritzern und nassen Blättern gut zu erkennen war.

„Na, was ist denn, mein Mädchen?“, fragte Mortimer und leuchtete mit der Laterne die Umgebung des Ginsters ab, bis er das kleine, quadratische Stück Stoff in den Zweigen hängen sah. Die in eine Ecke eingestickten Initialen J.C. liessen keinen Zweifel daran, dass es sich dabei um James‘ Taschentuch handelte.

Lotti bellte erneut, in Erwartung einer schmackhaften Belohnung, musste jedoch mit einfachem Lob und einem kurzen Kraulen am Halsband Vorlieb nehmen.

„Gut gemacht, Lotti, braves Mädchen“, sagte Mortimer, nur um sie dann erneut zur Suche anzuspornen, während er einmal mehr die Namen seiner Söhne in die Nacht rief.

Gutmütig, doch etwas geknickt trabte Lotti zurück hinab in die Senke, folgte der Spur zum Eulenfelsen und wieder zurück zu der Stelle, wo James und Viktor kurz zuvor gestanden hatten. Erneut drehte sie sich um sich selbst, suchte eine Stelle, an der die Spur weiterführte, doch alles, was sie fand roch fremd und stach sie unangenehm in der Nase.

Egal, wohin sie sich wandte, die Spur der Jungen verlor sich in diesem seltsamen Geruch, den sie nicht zuordnen konnte und nicht mochte.

Frustriert setzte sie sich hin und knurrte leise.

 

Während ihre Männer und Söhne sich draussen in der Dunkelheit die Kehlen nach den beiden Jungen heiser schrien, hatten es einige Frauen Knightbridges auf sich genommen, Clementine und Sophie Gesellschaft zu leisten und ihnen Trost zu spenden.

Es waren bäuerliche Weiber; unwirsch und bodenständig, doch ebenso gutmütig und mitfühlend. Die ehrliche Sorge um die beiden verlorenen Kinder auf ihren rotbackigen Gesichtern machte es Katie unmöglich, sie fort zu schicken und Clementine protestierte nicht, als das Mädchen sie einliess.

Rasch nahmen sie sich der wenigen Arbeiten, die zu erledigen waren, an und gaben dem Hausmädchen so einen Moment Zeit, einfach nur mit einem Becher Tee in der Küche zu sitzen und sich von einigen der jüngeren Frauen Mut zusprechen zu lassen.

Obwohl Katie es unmöglich fand, einfach herum zu sitzen, während andere für ihre Herrschaft sorgten und obwohl die Müdigkeit heftig an ihr zerrte, so war sie insgeheim doch dankbar für diesen Moment.

Als es leise an der Türe klopfte, war sie nur wenig überrascht. Vielleicht waren es Nachzügler oder vielleicht hatte man sich doch dazu entschlossen, einen Arzt oder Priester zu holen.

Schwerfällig erhob sie sich - ihr war, als würde ein grosses Gewicht sie niederdrücken -  öffnete die Tür und was sie da sah, liess sie leise aufschreien.

Auf der Türschwelle lagen James und Viktor, dicht aneinander gekuschelt und offenbar tief schlafend.

„Was ist denn...?“, begann eines der Dorfmädchen, Mary war ihr Name, das herangekommen war um den Grund für Katies Aufschrei zu erfahren, doch sie hielt inne, als ihr Blick auf die beiden Jungen fiel. „Oh, Gott sei Dank!“

Katie hob James rasch auf ihre Arme, schauderte, als seine kleine Hand die ihre berührte. Hastig befühlte sie Viktors Wange.

„Sie sind eiskalt!“ Ihre Stimme zitterte in einem neuen Anflug von Panik. „Rasch! Macht Feuer im Kamin und holt Decken!“, wies sie die anderen Mädchen, die neugierig in die Diele drängten, an, während Mary Viktor hochhob um ihn ins Wohnzimmer zu seiner Mutter zu tragen.

Überglücklich herzte und küsste Clementine ihre Kinder, bis die Jungen schliesslich die Augen aufschlugen und den erleichterten Frauen sogleich von ihrem Abenteuer berichten wollten.

Doch Clementine wollte davon nichts hören, sondern schickte die beiden sogleich mit der drohenden Mahnung, ihr Vater werde sich später mit ihnen befassen, sofort ins Bett, während Katie ging, um mit der Laterne wie vereinbart Signal zu geben.

 

Der Morgen dämmerte bereits, als die Männer Willowgarth Hall erreichten.

Der Regen hatte stark nachgelassen - es nieselte nur noch leicht - und aus den Wiesen stieg ein feiner Dunst, der die Konturen der Welt verwischte wie bei einem Aquarell. Zweifellos würde es ein strahlender Tag werden.

Trotz der durchwachten Nacht erwarteten die Frauen ihre Männer mit einem üppigen Frühstück.

Der Esstisch bog sich unter Bergen von Toast, Marmelade, Tellern mit Spiegeleiern und Rührei, gebratenem Schinken, Speck und Würstchen, Bratkartoffeln, den aufgeschnittenen Resten des Hammelbratens, den es zum Abendessen gegeben hatte, heisser Suppe, Kompott, Porridge, heisser und kalter Milch, Tee, Kaffee und noch vielem mehr, so dass Mortimer sicher war, Katie und die Dorfweiber hätten die Speisekammer gänzlich geleert.

 

Nachdem James und Viktor sich am Nachmittag, als alle ausgeschlafen waren, eine ordentliche Schelte mit je einer kräftigen Ohrfeige über sich hatten ergehen lassen, berichteten sie ihrem Vater ausführlich von ihrer Begegnung mit Madame Héloïse und dem Versprechen, das sie ihr gegeben hatten.

Neugierig geworden, wie viel Wahres denn an der Geschichte seiner Söhne dran sei, liess es sich Mortimer nicht nehmen, Mr. Farley zum Abendessen einzuladen und ihm danach bei einem Glas Cognac in aller Ausführlichkeit von der angeblichen Lage der sterblichen Überreste Héloïses zu erzählen.

 

Zum grossen Erstaunen von Mr. Farley und Thomas Warren, dem Lehrling des örtlichen Totengräbers, bestand Mortimer am nächsten Nachmittag darauf, dass seine Söhne ihnen beim Ausheben der Grube an der von Viktor bezeichneten Stelle zur Hand gingen.

„Es scheint mir eine äusserst milde Strafe dafür zu sein, dass sie Knightsbridge in solch eine Aufregung versetzt haben“, erklärte er. „Ganz besonders, wenn sich herausstellen sollte, dass ihre Geschichte mit Lady Héloïses Geisterkutsche geschwindelt war.“

Eine ganze Weile gruben sie still, bis Mr. Warrens Spaten schliesslich auf etwas stiess, das Mortimer zunächst für einen trockenen Ast gehalten hätte. Bei näherem Hinsehen entpuppte es sich jedoch als eine Rippe, porös geworden und braun verfärbt von der langen Zeit in der Erde.

Nach und nach legten sie mehr und mehr Knochen frei bis schliesslich ein ganzes Skelett vor ihnen in der Grube lag.

„Meiner Treu“, machte Mr. Farley und entzündete seine Pfeife, während er sich auf seinen Spaten stützt. „Da is ‘se ja tatsächlich.“

„Ich sagte doch, wir schwindeln nicht!“, rief Viktor fast etwas beleidigt.

Mr. Warren - eben jener Bursche mit dem lächerlich krausen roten Haar, der die Lampe der Jungen in der Burgruine gefunden hatte - setzte sich fassungslos an den Rand der Grube und nahm einen tiefen Zug aus dem Flachmann, der in seiner Hemdtasche steckte.

„Das hätt‘ ich nich‘ gedacht...“, murmelte er.

„Als Geist war sie viel, viel hübscher...“, fand James.

„Nun, ich denk‘, von hier an komm‘n Mr. Warren und ich gut allein zurecht, nich, Tommy, mein Junge?“ Lachend schlug Mr. Farley dem Burschen gegen die Schulter, so dass dieser beinahe in die Grube fiel. „Geht ja scho‘ bald wieder zurück in die Stadt für Sie, nich wahr?“

„In der Tat, morgen Mittag fahren wir los.“, bestätigte Mortimer.

„Na seh’n Se? Also geh’n Se ruhig, geniess’n Se Ihr’n letzt’n Nachmittag hier und grüss’n Se mir die Frau Gemahlin. Gute Reise wünsch‘ ich Ihnen, sollt’n wir uns nimmer seh’n.“

„Und Madame Héloïse?“, fragte Viktor um die Einhaltung seines Versprechens besorgt.

„Ich werd scho für ‘n ordentliches Begräbnis sorgen, da hab ma‘ kein‘ Kummer, Junge“, sagte Mr. Farley lachend. „Wer weiss, vielleicht hör’n die Spukgeschicht’n dann ja auch ma‘ auf.“

Mortimer rang Mr. Farley noch das Versprechen ab, ihn zu informieren, sollten sich die Spukphänomene fortsetzen, bevor er mit den Jungen nach Willowgarth Hall zurückkehrte.

 

Mortimer sah fast ein wenig wehmütig auf Knightsbridge zurück, das am Horizont verschwand, während die Kutsche die Familie zum nächsten Bahnhof fuhr.

Clementine gegenüber vermied er das Thema der Geisterkutsche, wohl wissend, dass ihr Bedarf an Geistererscheinungen und Spukgeschichten mehr als gedeckt war. Insgeheim jedoch, war er in gewisser Weise stolz darauf, wie Viktor die Begegnung mit der geisterhaften Dame gehandhabt hatte.

Und zweifellos hätte sein ältester Sohn bei den nächtlichen Zusammenkünften, welche die Schüler des Abingdon-Internats zuweilen unerlaubt abzuhalten pflegten, nun eine ganz besonders gute Geistergeschichte zu erzählen.
 

______________

[1]

„Die Toten reiten schnell.“



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