Schlagwütige Veränderung
Der Sonntag zog im Nu vorüber und schon stand Mimi bereits wieder am Schultor und wartete auf ihre beste Freundin.
Heute Morgen war sie zeitig aus dem Bett gekommen, hatte sogar noch Zeit zu frühstücken und entspannt zur Schule zu gehen.
Im Moment war sie froh, dass Haus so schnell wie möglich verlassen zu können.
Ungeduldig wartete sie und trat mit ihrem rechten Fuß gegen einen kleinen Kieselstein, der ein paar Meter weiterrollte.
Sora war sehr spät dran und auch von den anderen fehlte jegliche Spur. Dabei war sie doch recht pünktlich gewesen. Generell hatte sie das Wochenende über kaum etwas von ihr gehört.
Genau genommen gar nichts.
Es war schon seltsam, doch Mimi hatte keine Zeit mehr sich darüber Gedanken zu machen.
Schwerfällig ging sie die Treppen zu ihrem Klassenzimmer hoch, trat die Tür hinein und setzte sich zielstrebig auf ihren Platz.
Die Lehrerin war noch nicht da und es herrschte eine ungewöhnliche Unruhe im Klassensaal.
Es wurde verhältnismäßig viel getuschelt und auch ein paar Namen fielen, die Mimi leider nicht verstand.
Sie drehte sich kurz herum, wandte ihren Blick aber wieder schnell zum Lehrerpult.
Plötzlich hörte Mimi wie die Tür aufgezogen wurde und sah auf einmal ihren rothaarigen Freund dort stehen. Er sah sehr abgehetzt aus und schnaufte leicht.
Langsam bewegte er sich zu seinem Platz und ließ seine Tasche auf den Tisch sinken.
„Du bist aber ganz schön außer Puste. Hast du verschlafen?“
Er schüttelte nur den Kopf und kramte seine Bücher hervor.
„Ich wurde aufgehalten“, murrte er nur und setzte sich. „Hast du denn gar nichts mitbekommen?“
Mimi runzelte nur die Stirn. „Was soll ich mitbekommen haben?“
Izzy rutschte etwas näher, sah sich kurz um und senkte seinen Kopf, so als wolle er nicht, dass jemand etwas mitbekam.
„Tai und Matt sind aneinander geraten.“
„Was? Aneinander geraten?“, wiederholte sie lauter als gewollt und erweckte somit die Aufmerksamkeit der beiden Mädchen, die hinter ihnen saßen.
„Ich habe das auch mitbekommen“, meinte Katsumi und fuhr sich durch ihre langen schwarzen lockigen Haare. „Ihr seid doch mit den beiden befreundet, wisst ihr vielleicht mehr?“
„Ich weiß von gar nichts“, antwortete Mimi wahrheitsgemäß und verzog leicht das Gesicht.
Anscheinend war sie doch nicht so pünktlich gewesen, wie sie anfangs dachte.
Sowas hätte sie doch mitbekommen müssen.
Irritiert drehte sie sich zu Izzy, der nur hilflos mit den Schultern zuckte.
„Ich weiß auch nicht genau, was passiert ist. Bin durch Zufall am Sportplatz vorbei und da habe ich beide gesehen“, erklärte er mit großen Augen. „Sie haben sich gegenseitig beschimpft und Tai hatte sogar eine blutige Lippe.“
„Wirklich?“, fragte sie und riss die Augen unter Schock auf.
„Ja, selbst Sora konnte die beiden nicht beruhigen“, erzählte er weiter.
Sora? Sie war auch da? Das konnte ja nichts Gutes bedeuten.
Mimi biss sich schmerzvoll auf die Unterlippe und hörte zu, was die beiden anderen Mädchen zu sagen hatten.
„Ich wette mit dir, dass sie sich wegen ihr gestritten haben. So Dreiecksgeschichten sind immer gefährlich“, meinte die eine, deren Namen Mimi partout nicht einfallen wollte.
„Dreiecksgeschichten?“, warf Izzy ein und zog die Augenbraue nach oben.
„Ja, die drei hängen doch immer aufeinander. Sie ist das einzige Mädchen, ich bitte dich. Sowas geht immer in die Hose“, meinte Katsumi dramatisch und fixierte Mimi mit ihrem Blick.
„Du bist doch mit Sora befreundet…hat sie dir nichts erzählt?“
Mimi schluckte und überlegte kurz, was sie antworten sollte. Natürlich wusste sie, dass Sora und Matt sowas ähnliches wie eine Beziehung hatten und Tai sie geküsst hatte, aber das konnte sie diesen Tatschweibern doch nicht sagen.
„Nein, ich weiß von nichts“, log sie und versuchte überzeugend rüber zukommen.
Doch die beiden Mädchen sahen sich nur gegenseitig an und grinsten leicht.
„Für dich ist das doch auch ‘ne Scheiß-Situation oder?“
„Für mich?“, fragte sie überrascht und wusste anscheinend nicht, auf was die beiden hinauswollten.
„Naja, wir haben gehört, dass du mit Tai rumgeknutscht hast“, antwortete Katsumi diabolisch grinsend. Mimi hatte das Gefühl, augenblicklich rot anzulaufen und schaute unsicher zu Izzy, der
heute wohl das Schulterzucken übte.
Es war wirklich nur eine Frage der Zeit, bis auch andere von der Knutscherei erfahren würden, schließlich gab es ja auch genug Zeugen.
Hitze stieg in ihr auf und schien sich in ihren entsprechenden Gesichtsregionen zu verteilen. Ihre Wangen glühten und sie hatte das Gefühl augenblicklich an dem Kloß, der sich in ihrem Hals bildete, zu ersticken.
„Ehm, also…nein, ich…ich“, stammelte sie und merkte wie ihre Blicke auf ihr lasteten. „Naja ich…“, begann sie erneut, wurde aber diesmal von dem erneuten Aufziehen der Tür unterbrochen.
Sie schnellte mit ihrem Kopf herum und stellte mit Erleichterung fest, dass es ihre Lehrerin war. Sie sah nochmal kurz zu ihren beiden Mitschülerinnen, die sich enttäuscht auf ihre Plätze setzten.
Mimi hingegen atmete erleichtert aus und versuchte sich einigermaßen auf den Unterricht zu konzentrieren, auch wenn es ihr schwer fiel.
Sie musste unbedingt mit Sora sprechen.
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Nach der Stunde eilte sie aus dem Klassenraum, ohne ihr Umfeld richtig wahrzunehmen. Sie hörte zwar noch, dass Izzy ihr etwas Unvollständiges hinterherrief, aber das war ihr egal.
Sie wollte mit Sora reden und sie direkt an ihrem Klassenraum abfangen. Deswegen beeilte sie sich auch so.
Die ersten Schüler stürmten bereits aus der Klasse, als Mimi ankam. Sora war nicht dabei.
Also beschloss sie am Fensterbrett auf sie zu warten.
Doch nach und nach strömten immer mehr Gesichter an ihr vorbei, sodass sie sich fragte, ob Sora überhaupt noch rauskommen würde. Matt hatte sie auch noch nirgends gesehen.
Schließlich entschloss sie sich dazu, einfach eine ihrer Mitschülerinnen, nach ihrem Verbleib zu fragen.
Schwungvoll drehte sie sich herum und tippte einem Mädchen, dass sie vom Sehen kannte auf die Schulter. Sie gab nur ein leises „Mhm“ von sich und sah Mimi erwartungsvoll an.
„Hey, ehm du sag mal, hast du Sora gesehen?“
„Ihr ging es nicht gut. Sie ist nach Hause gegangen“, erklärte sie und wollte sich gerade von ihr abwenden, als sie sie nach dem Verbleib von Matt ausquetschte.
„Er ist beim Schulleiter. Anscheinend hat er sich mit Yagami geprügelt“, flüsterte sie ihr zu und nickte sachte dabei.
„Oh“, brachte Mimi hervor und bekam gerade noch mit, wie sie sich von ihr entfernte.
Was war nur passiert? Da hatte sie mal ein Wochenende nicht mit ihren Freunden verbracht und schon herrschte das größte Chaos.
Sie schüttelte den Kopf und ging ebenfalls in die Pause.
Auf dem Schulhof angekommen, suchte sie nach den anderen. Doch sie konnte niemanden entdecken. Selbst Izzy saß nicht an ihrem Stammplatz.
Resigniert setzte sie sich auf eine Bank und packte ihr Pausenbrot aus, dass sie sich noch in ihre Jackentasche gestopft hatte.
Sie nahm einen großzügigen Bissen, als auf einmal Kari in ihrem Sichtfeld auftauchte und mit Takeru wild zu diskutieren schien.
Mimi kaute langsamer und legte den Kopf schräg.
Kari fuchtelte mit den Armen, so als wolle sie Takeru von etwas Wichtigem überzeugen. Doch er winkte nur ab, schüttelte den Kopf und verschwand in eine andere Richtung.
Kari blieb stehen und sah etwas verloren aus.
Mimi schlucken den Bissen hinunter, packte ihr Brot wieder ein und stürmte auf sie zu.
Zuerst bemerkte sie sie gar nicht, bis Mimi ihren Namen rief und sie den Kopf hob.
„Ach Mimi, du bist es“, sagte sie erleichtert und zwang sich zu einem Lächeln.
„Ja ich bin‘s und anscheinend habe ich gewaltig was verpasst“, murrte sie ohne Umschweife und verschränkte die Arme vor der Brust. „Weißt du was hier los ist? Sora ist nach Hause gegangen und Matt und Tai sind beim Schulleiter?“
„Ja, ist alles etwas blöd gelaufen“, gab Kari kleinlaut zu und starrte in die Richtung, in die Takeru verschwunden war.
Mimi interpretierte ihren Blick und legte sachte die Hand auf ihre Schulter. „Habt ihr euch deswegen gestritten?“
Kari nickte nur und ein leises Schluchzen entwich ihrer Kehle.
„Das ist alles die Schuld von Tai und Matt“, brachte sie hervor, bevor einzelne Tränen ihre Wange hinunter wanderten. Mimi legte behutsam den Arm um sie und suchte nach einem stillen Plätzchen, um etwas ungestörter reden zu können.
Dort angekommen setzen sich beide auf eine Bank, die unter einem großen Kirchbaum zu finden war.
Um sie herum war es Menschenleer.
Mimi hatte ihre Hand ergriffen und drückte sie leicht.
„Okay und jetzt erzählst du mir, was passiert ist“, erwiderte sie sanft und Karis Schluchzen ließ langsam nach.
„Naja, alles hat am Wochenende angefangen. Takeru und ich haben uns bei mir getroffen. Wir wollten zusammen kochen und später ein paar DVDs gucken“, begann sie langsam. Sie krampfte die Finger ineinander und schielte zur Seite.
„Tai war auch da, aber er war in seinem Zimmer geblieben. Unsere Eltern waren noch zu Besuch bei unseren Großeltern und kamen erst spät abends zurück.“
Mimi nickte nur knapp.
Nervös kaute die Brünette auf ihrer Unterlippe herum und starrte ins Leere.
„Gegen Nachmittag hatte jemand sturmgeklingelt und ich hatte halt die Tür geöffnet, ohne mir groß dabei etwas zu denken.“
„Und wer stand davor?“, fragte Mimi neugierig und beugte sich näher zu ihr hin.
Sie schnaubte und verstärkte ihre Fingerspielerein.
„Es war Matt. Er war so sauer und hatte gefragt, wo Tai war“, erzählte sie weiter und wurde ein wenig hysterisch. „Ich hatte ja nicht damit gerechnet, dass er auf ihn losgeht.“
„Er ist auf ihn losgegangen?“, wiederholte sie überrascht.
„Ja, deswegen hat er auch eine aufgeplatzte Lippe“, sagte sie und deutete auf ihre eigenen, um ihr es besser zu veranschaulichen.
Das Gleiche hatten auch ihre beiden Klassenkameradinnen erzählt. Nur Mimi dachte, dass Tai die blutige Lippe von heute Morgen hatte. Doch dem war nicht so.
„Sora war auch noch später aufgetaucht“, meinte sie plötzlich und erhaschte damit Mimis volle Aufmerksamkeit.
„Ach ja? Wann?“
„Kurz nachdem Matt aufgetaucht und auf Tai losgegangen war.“ Sie machte eine kurze Pause und atmete tief durch. „Es war einfach nur fürchterlich. Takeru hatte versucht ihn zu beruhigen und Matt von Tai runterzuziehen, aber dann hatte er ihm schon einen Kinnhaken verpasst gehabt.“
„Klingt ja nach einem nervenaufreibenden Wochenende“, murmelte Mimi und war eigentlich ganz froh es nicht mitbekommen zu haben. Sie hatte wirklich genug Probleme für zwei Personen.
„Sora hatte sich die ganze Zeit entschuldigt und zu Matt gemeint, er solle sich beruhigen und das es nur ein Kuss war…“, Kari sah Mimi dringlich an, doch sie senkte den Kopf und scheute es ihr in die Augen zu sehen. Sie wusste genau, auf was sie hinaus wollte. Das Gespräch von Freitag hatte sie noch nicht vergessen.
„Hat er dich geküsst, weil er Sora eifersüchtig machen wollte?“
Ihre Stimmung schlug augenblicklich um. Sie hatte das Bedürfnis sich unter der Bettdecke zu verkriechen und die nächsten hundert Jahre nicht mehr hervor zu kommen.
Sie wollte sich damit wirklich nicht auseinandersetzen. Er wollte sie nicht, das tat schon mehr als genug weh.
„Mimi?“, klang Karis besorgte Stimme in ihren Ohren. „Bist du in ihn verliebt?“
Sie presste fest die Lippen aufeinander und wollte schon mit dem Kopf schütteln, als ihre eigenen Tränen sie übermannten.
Erschrocken fuhr sie sich durchs Gesicht, blickte kurz zu Kari und wandte den Kopf in die entgegengesetzte Richtung. Ihr Blick sagte alles.
Sie hatte sie durchschaut.
Etwas, das sie unbedingt vermeiden wollte.
Doch was sollte sie jetzt tun? Sie weinte bereits und Kari schien es schon länger zu wissen.
Sie musste sie überzeugen, dicht zu halten.
Tai durfte von ihren Gefühlen nichts erfahren. Nicht jetzt. Nicht in Zukunft.
„Du musst das für dich behalten“, sagte sie mit zitternder Stimme, ohne sie anzusehen.
„Aber Mimi…“
„Versprich‘ es mir“, forderte sie dringlich und sah sie mit einem starren, bestimmenden Blick an.
„Gibst du ihn wegen Sora auf?“, bohrte sie weiter und Mimi war nicht mehr in der Lage ihrem fragenden Gesicht Stand zu halten.
Sie schüttelte nur den Kopf und vergrub ihr Gesicht in ihren Handflächen. Sie hatte wohl nicht verstanden, dass er sie nicht wollte. Alles war nur eine Masche gewesen, um Sora eifersüchtig zu machen. Mehr nicht.
„Kari“, begann sie mit ruhiger Stimme, „er will mich nicht. Das muss ich akzeptieren!“
Ihr fiel es sichtlich schwer, darüber zu sprechen. Wer gab schon gerne zu, dass der Junge, in den man unsterblich verliebt war, einen nicht haben wollte?
„Verstehe“, gab sie leise von sich.
Mimi fuhr sich über ihre Augenpartie und setzte ein gespieltes Lächeln auf.
„Keine Sorge, ich komme schon klar und jetzt erzähl‘ mal warum du und Takeru euch gestritten habt. Das ist wichtiger“, versicherte sie ihr, griff nach ihrer Hand und drückte sie kurz.
Sie schenkte ihr einen verwirrten Blick, fing jedoch kurze Zeit später an zu erzählen.
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Auch der nächste Tag kam schneller, als Mimi eigentlich lieb war. Sora glänzte mit Abwesenheit und auch auf Anrufe oder SMS reagierte sie nicht.
TK und Kari schienen sich wieder anzunähern, was Mimi in der Pause beobachten konnte.
Es war klar, dass beide zwischen die Fronten geraten würden, wenn bei ihren Brüdern Spannungen herrschten.
Takeru hatte mit Matt gesprochen, der natürlich nur seinen Teil der Geschichte wiedergeben konnte.
Von Kari hatte sie gefahren, dass Sora selbst Matt reinen Wein eingeschenkt hatte.
Daraufhin war er wütend zu Tai aufgebrochen und wollte ihn eigentlich zur Rede stellen, was ihm nicht sonderlich gut gelang. Die blutige Lippe war der beste Beweis dafür.
Nachdem sich Takeru Matts Geschichte angehört hatte, stand er natürlich auf der Seite seines Bruders, auch wenn er ihm nur die halbe Wahrheit erzählt hatte. Schließlich wusste Tai nichts von den beiden, als er Sora geküsst hatte.
Und nur wegen dem Weglassen so wichtiger Tatsachen, hatten sich letztlich auch TK und Kari in die Haare bekommen.
Kari hatte versucht beide Seiten zu verstehen, während TK seinen Unmut gegenüber Tai gnadenlos ausließ.
Für ihre Freundin war es keine leichte Situation, dass hatte Mimi gestern mehr als nur einmal bemerkt. Sie stand zwischen ihrem Freund und ihrem Bruder. Nur das sich Takeru wieder beruhigt hatte und sich für sein Verhalten entschuldigte.
Bei Tai war genau das Gegenteil der Fall. Das merkte sie, als sie bei ihm saß und versuchte eine Matheaufgabe zu lösen. Insgeheim hatte sie schon gehofft, dass sie sich endlich aussprechen würden, auch wenn sie große Angst vor diesem Gespräch hatte.
„Man, Mimi, du machst das voll falsch“, brummte er und zeigte wieder auf die Aufgabe. „Du musst einfach nur die Zahlen in die Formel einsetzen. Sag‘ mal, was ist nur los mit dir?“
Mimi presste die Lippen aufeinander und verkrampfte die Finger um ihren Stift.
Sie warf den Kopf zur Seite und funkelte ihn böse an.
„Keine Ahnung? Vielleicht komme ich einfach nicht damit klar, dass du dich wie ein Arschloch verhältst! Ich kann doch nichts für deine miese Laune“, protestierte sie und sah in sein wütendes Gesicht, dass anscheinend kurz vor dem Ausbruch stand.
„Ich verhalte mich wie ein Arschloch?“, fragte er und war mit jedem Wort lauter geworden.
„Ja, ich kann doch auch nichts dafür, dass Matt und Sora dir nichts gesagt haben“, schoss sie zurück und schürte unwissentlich seine Wut ins Unermessliche.
Entgeistert sah er sie an. Seine Oberlippe bebte vor Zorn.
„Du hast es gewusst? Und mir nichts gesagt?“
Mimi schluckte kurz und wandte den Blick von ihm. „Sora wollte es dir persönlich sagen“, murmelte sie und drückte unbewusst die Spitze ihres Stiftes fest auf das weiße Blatt Papier, sodass ein kleiner blauer Fleck Tinte entstand.
„Wie bitte? Mir persönlich sagen? Und warum lässt sie dann zu, dass ich sie küsse?“
Ihre Atmung wurde unregelmäßiger. Sollte sie ihm sagen, dass Sora verunsichert war?
Aber am Ende entschied sie sich doch für Matt und sie machte ihm dadurch falsche Hoffnungen. Außerdem wollte sie es nicht sagen, da dieser Satz schon mehr als genug wehgetan hatte.
Sie drückte ihren Stift tiefer ins Papier und nuschelte etwas Unvollständiges vor sich hin, was Tai nicht verstand.
„Kannst du das nochmal wiederholen?“, fragte er barsch.
„Ich hab‘ keine Ahnung. Ich weiß nicht, was sie sich dabei gedacht hat.“
„Aber du bist doch sowas wie ihre beste Freundin. Irgendwas musst du doch wissen“, bohrte er weiter und war näher an sie herangerückt.
Ihr wurde heiß. Sie konnte seine Nähe nicht mehr ertragen. Nicht mehr, seit sie definitiv wusste, dass er in Sora verliebt war.
„Man Tai, ich will wirklich meine Hausaufgaben fertig kriegen“, murrte sie und entdeckte den kleinen blauen Fleck auf ihrem Blatt. Sie löste den Druck und legte den Stift beiseite.
„Das kann doch jetzt mal fünf Minuten warten! Bitte sag‘ mir was du weißt. So kann es nicht weitergehen!“ Sein Ton war wieder lauter geworden. Er klang sogar schon richtig verzweifelt.
Doch Mimi wollte sich damit nicht auseinandersetzen. Nicht jetzt. Nicht hier.
„Tai, das geht mich wirklich nichts an“, sagte sie in einem Flüsterton und sah ihn verständnislos an.
„Also weißt du wirklich was“, schlussfolgerte er. „Ich will doch einfach nur wissen, was jetzt Sache ist! Ich will sie nicht verlieren.“
Mimi haute sich ihre Fingernägel in den Arm. Ihr Herz zog sich schmerzvoll zusammen und sie senkte den Kopf. Sie merkte, dass ihr die Tränen kamen, doch sie wollte nicht vor ihm weinen.
Tai hingegen fixierte sie mit einem dringlichen Blick. In seinem Kopf begann es zu rattern und er schien sie mit seinem Blick durchleuchten zu wollen.
„Du bist immer noch wegen dem Kuss sauer, oder?“
Der Kuss. Der, der ihr so viel bedeutet hatte und ihm nur als Mittel zum Zweck diente.
„Nein“, sagte sie verunsichert und schüttelte den Kopf.
Doch er ließ sich nicht beirren und rutschte noch näher an sie heran. Sie spürte seinen unvergesslichen Duft in ihrer Nase kribbeln, merkte aber auch, dass sie es nicht länger aushielt hier neben ihm zu sitzen und so zu tun, als wäre nichts zwischen ihnen geschehen.
Ruckartig drehte sie sich herum, schnappte sich ihren Block und ihren Stift. Sie kramte ihre Tasche hervor und stopfte alles achtlos hinein.
„Hallo, was soll das denn jetzt?“, fragte er verwirrt, als sie aufsprang und zur Tür gehen wollte.
„Ich glaube, wir sollten das hier beenden“, meinte sie tonlos und wirbelte zu ihm herum. „Ich kann dir da echt nicht weiterhelfen und du lässt deine ganze schlechte Laune an mir aus. Damit komme ich echt nicht klar. Das ist eine Sache zwischen dir, Sora und Matt.“
Ihre Stimme wurde immer schwächer und ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals. Es war Zeit zu gehen. Er sollte nicht sehen, wie sehr er sie mit seiner Art verletzte.
Doch er reagierte schnell. Zu schnell.
Sie wollte gerade aus seiner Zimmertür verschwinden, als er sie am Arm packte und reuevoll anstarrte.
„Tut mir leid“, nuschelte er knapp, sah ihr dabei aber nicht in die Augen. „Ich fürchte, ich bin im Moment nicht ich selbst. Ich habe so viel durcheinandergebracht und weiß nicht, wie ich das wieder hinbiegen soll. Diese ganze Sache mit Sora und Matt…und dann dieser Kuss, der alles noch mehr durcheinander gebracht hat. Ich bin einfach völlig verwirrt.“
Nicht er selbst? Er war unglücklich verliebt, da war man niemals man selbst. Davon konnte sie wirklich ein Lied singen. Aber musste er jetzt ernsthaft mit ihr über Sora und den Kuss sprechen, den beide nach Matts Geburtstag miteinander teilten? Warum musste sie immer als Mülleimer herhalten?
Auch wenn sie merkte, dass es ihm leidtat, musste sie dringend verschwinden. So konnte sie nicht mehr weitermachen.
„Mir tut es auch leid“, sagte sie etwas ruppig und konnte sich aus seinem Griff befreien. „Aber darauf habe ich echt keine Lust. Lieber suche ich mir einen anderen Nachhilfelehrer.“
Sie schüttelte den Kopf und stürmte aus seinem Zimmer.
„Man, Mimi! Bleib hier! Bitte!“, rief er ihr noch hinterher, doch sie reagierte nicht mehr.
Schnurstracks lief sie durch die Wohnung, hörte ihn hinter sich lautstark fluchen, was sie allerdings nicht mehr richtig verstand. In diesem Moment war sie echt froh gewesen, dass keiner außer ihnen zuhause war.
Sie schlüpfte schnell in ihre Schuhe und verließ die Wohnung augenblicklich.
Mit rasender Geschwindigkeit verschwand sie über die Treppen und wusch sich zwischenzeitlich einzelne Tränen aus dem Gesicht. Erst als sie außer Reichweite war, ließ sie sich an einer unbeobachteten Stelle nieder und gab sich ihren Gefühlen hemmungslos hin.
Sie lehnte den Kopf gegen eine kühle Wand, ließ ihre Tasche auf den Boden sinken und wurde von einer plötzlichen Wut übermannt, sodass sie mit der Faust gegen das Mauerwerk schlug.
Ein leichter Schmerz durchfuhr sie, aber ihr war alles egal.
Weinend sank sie zu Boden, dachte an Tai, ihre Mutter und an Noriko. Es war alles so furchtbar schwierig geworden. Am liebsten wollte sie sich auf eine einsame Insel wünschen und für immer dort bleiben.
Doch diese Lösung war unrealistisch.
Ein Traum.
Und ihre Träume blieben bisher unerfüllt.