Prolog: Weißt du denn gar nichts?
Das Auftreten des Halo-Effektes wird gefördert, wenn das Urteil besonders schnell gefällt wird.
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Eine Sache wurde ihm immer klarer: Im Winter von zu Hause wegzulaufen war eine dumme Idee.
So saß er nun frierend vor einem Monument auf einem Platz, der nachts um diese Zeit verlassen war. Den Schnee hatte er beiseite gewischt, damit er nicht auf diesem sitzen müsste, aber wirklich bequem war es nicht. Die Kälte kroch durch seine Kleidung, die Schneeflocken fielen auf seinen Kopf, schmolzen dort und durchnässten sein braunes Haar, während sich auf seinen Schultern schon kleine Schneehügel bildeten.
Obwohl seine Hände in den Taschen seines Mantels steckten, waren sie eiskalt und schmerzten bei jeder Bewegung, seine Nase schien bereits tot zu sein. Da überkam ihn doch die Frage, ob er nicht lieber wieder nach Hause gehen sollte, dort hatte er zwar ebenfalls Schmerzen, aber immerhin war es warm, angenehm warm.
Gerade dachte er darüber nach, doch wieder nach Hause zu gehen, sich bei seinem Vater reumütig zu entschuldigen und die Strafe auf sich zu nehmen, als er bemerkte, dass er nicht mehr allein war.
Den Kopf hebend, entdeckte er einen Jungen, ein wenig jünger als er vielleicht, dessen rabenschwarzes Haar mit Schneeflocken gespickt war. Aus braunen Augen sah er ratlos auf ihn nieder, als wüsste er nicht so recht, was er mit ihm anfangen sollte.
„Was willst du?“, fragte er den fremden Jungen.
„Was machst du hier?“, erwiderte dieser mit geneigtem Kopf.
„Ich sitze, bist du blöd oder so?“
Für einen kurzen Moment schwieg der Fremde, dann lächelte er. „Ach so. Ich dachte schon, du wärst von einem Dämon angegriffen worden.“
„Dämonen gibt es doch gar nicht.“
Ungefragt setzte der Fremde sich neben ihn, er wischte nicht einmal den Schnee beiseite, als wäre ihm die Kälte und die Nässe vollkommen gleichgültig. Dann sah er in den Himmel. „Man kann heute keine Sterne sehen.“
Er folgte seinem Blick, nur um Schneeflocken in die Augen zu bekommen und blinzeln zu müssen. Der Himmel war mit dichten dunklen Wolken verhangen, aus denen es unablässig schneite. Aber er wusste auch so, dass es ohnehin hoffnungslos war.
„Man hätte sie so oder so nicht gesehen“, sagte er. „Die Lichter hier sind viel zu grell dafür. Weißt du denn gar nichts?“
Dabei deutete er auf die hell leuchtenden Straßenlaternen und die illuminierten Hochhäuser, die eigentlich jedem klar machen müssten, dass sie für die Menschen heller strahlten, als die weit entfernten Sterne. Aber der Junge zuckte mit den Schultern. „Aber man weiß ja, dass die Sterne dort sind. Eigentlich muss man sie deswegen gar nicht sehen.“
Er wollte ihn fragen, wieso er sich dann von den Wolken stören ließ, aber eigentlich interessierte es ihn doch nicht so sehr – der fremde Junge ließ sich davon allerdings nicht beirren und führte das alles sofort aus: „Wenn die Wolken davor sind, weiß man ja gar nicht, ob der Himmel überhaupt noch da ist. Und wenn der Himmel nicht mehr da ist, sind auch keine Sterne da.“
Das war natürlich … verständlich, in gewisser Weise. Dennoch ärgerte es ihn ein wenig, dass dieser Idiot ihm solche Sachen erklärte, obwohl er nicht einmal gefragt worden war. Warum konnte er ihn nicht einfach in Ruhe lassen?
Allerdings forderte er ihn auch nicht auf, wegzugehen, stattdessen saß er dort, stundenlang, und starrte mit dem fremden Jungen in den bewölkten Himmel hinauf, beobachtete, wie es schneite und beachtete dabei die Kälte nicht mehr, während er sich fragte, ob hinter der Wolkendecke wirklich noch Sterne existierten. Und dann fragte er sich, ob er vielleicht auch aufhören könnte zu existieren, wenn er erst einmal vollkommen von Schnee bedeckt wäre. Eigentlich müsste es doch funktionieren.
Also bewegte er sich nicht mehr und wartete darauf, vollkommen von dieser weißen Masse verdeckt zu werden, während er gleichzeitig dem leisen Gesang des Jungen neben sich lauschte und dann langsam in den Schlaf abdriftete, in der Hoffnung, nie wieder zu erwachen.
Kapitel 1: Das war einfach unhöflich.
Im Gegensatz zu allen anderen im Raum, war Faren vollkommen gelöst. Die Ellenbögen auf den Tisch gestützt, die Beine übereinandergeschlagen, wartete er mit einem leichten Lächeln darauf, dass er an der Reihe war. Leises, gepeinigtes Stöhnen, verbunden mit ratlosem Murmeln war bereits im ganzen Zimmer zu hören, aber er machte sich keinerlei Sorgen.
Schließlich blieb der Henker auch neben ihm stehen. „Griffin ...“
Ohne jedes weitere Wort reichte er ihm ein Blatt, Farens Augen glitten suchend über den oberen Abschnitt – und kaum erblickte er die ersehnten 100 %, breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. Es ging ihm gar nicht darum, der beste in der Klasse zu sein – obwohl er das ohnehin spielend schaffte – sondern einfach aus Prinzip all seine Klausuren bestmöglich abzuschließen. Mit dieser hatte er wieder einmal sein selbstgestecktes Ziel erreicht und konnte sich erst einmal zufrieden zurücklehnen.
Kaum war der Unterricht vorbei – der ohnehin nur aus einer unzufriedenen Rede seines Lehrers über das beschämende Ergebnis der anderen Schüler bestanden hatte –, hängte Faren sich seine Ledertasche um und verließ das Klassenzimmer mit einem lockeren Abschiedsgruß auf den Lippen, der von seinen Mitschülern erwidert wurde. Die anderen wirkten wesentlich niedergeschlagener als er, aber er kümmerte sich nicht sonderlich darum, das würde er ein andermal wieder tun.
Sein Weg für heute führte ihn die breite Treppe hinauf, dabei lockerte er bereits seine rote Krawatte und rollte die blauen Ärmel seiner Schuluniform bis zum Ellenbogen hoch.
Der Frühling war in diesem Jahr bereits früh angebrochen, Faren konnte es daher kaum erwarten, bis sie auf Sommeruniform umsteigen durften, damit ihm nicht immer so warm sein musste, denn das Ausziehen des Jacketts war dummerweise verboten. Das war eben der Nachteil, wenn man eine elitäre Privatschule besuchte.
Die Vorteile überwogen aber ganz klar, nicht nur, was die spätere Jobsuche anging, wie er inzwischen wusste und deswegen blieb er auch dabei. Außerdem war es nur noch ein Jahr bis zu seinem Abschluss, also war es nicht mehr viel Zeit, in der er sich damit auseinandersetzen musste.
Zwei Stockwerke weiter oben, lenkte er seine Schritte den Gang hinab. Dabei streifte sein Blick mehrere Gemälde an der Wand, die von künstlerisch talentierten Schülern hergestellt worden waren und die sicher einen gewissen künstlerischen Wert besaßen, aber ihn berührten sie schon lange nicht mehr, dafür hatte er sie schon zu oft gesehen.
Ihn interessierte im Moment mehr das Chemie-Labor, in dessen Tür er wieder stehenblieb, um sich gegen den Rahmen zu lehnen. Die meisten Schüler waren bereits fort, genau wie der Lehrer. Lediglich ein einziger war noch da, er stand neben dem Waschbecken und war in das Reinigen der Reagenzgläser vertieft. Sein dunkelbraunes Haar fiel ihm dabei in die Stirn, störte ihn aber nicht weiter, während er routiniert mit einer Rundbürste in die Gläser hineinfuhr, um sie wirklich gründlich zu säubern. Er wirkte dabei hingebungsvoll, als gäbe es für ihn nichts Schöneres.
Faren wartete, bis er fertig war, alle Reagenzgläser im dazugehörigen Ständer untergebracht hatte und dann seine Brille wieder aufsetzte.
„Hey, Al~“, grüßte Faren ihn schließlich.
Albert wandte sich ihm zu, seine dunklen Augen wirkten so leblos und finster, dass die meisten sofort zurückwichen, wenn sie ihn sahen – Faren dagegen scherzte lieber, dass Albert einmal ein böses Supergenie werden und die Welt unterjochen würde. Und manchmal war er sich gar nicht so sicher, ob das wirklich nur ein Scherz war oder Albert das wirklich im Geheimen plante.
„Was ist los, Faren?“
Mit einem Schmunzeln ging er näher, ehe er die gute Nachricht verkündete: „Ich habe wieder 100 % erreicht~. Großartig, oder?“
„Wie immer.“ Alberts Begeisterung blieb aus, aber damit hatte er bereits gerechnet.
Faren grinste und rückte sich seine eigene Brille, mit dem breiten, schwarzen Rahmen, zurecht. „Ach, komm schon, Al. Freu dich doch für mich. Ich freue mich auch immer für dich.“
„Ich freue mich ja.“ Albert deutete auf sein finsteres Gesicht. „Das ist mein Happy Face.“
Freudig überrascht klopfte Faren ihm auf die Schulter. „Langsam merkt man, dass du Zeit mit mir verbringst. Gut für dich. Bist du hier jetzt fertig?“
Er warf einen raschen Blick durch das Labor, das so sauber war, dass niemand glauben würde, dass hier vor kurzem noch Unterricht stattgefunden hatte. Die Stühle standen auf den Tischen, die von niemandem bekritzelt oder mit einem Taschenmesser eingeritzt worden waren, der Lehrerpult war frei von jeglichen Kreide-, Asche-, oder Wasserspuren, die ihr Chemielehrer so gerne hinterließ und auch der Boden schien erst vor kurzem gefegt worden zu sein.
Albert war wirklich gründlich gewesen, wie Faren wieder einmal zufrieden feststellte, da diese Sauberkeit ein inneres Bedürfnis von ihm zufrieden stellte.
Sein Freund nahm seine schwarze Ledertasche und hängte sich diese über die Schulter, ehe er Faren zunickte. „Gehen wir.“
Gemeinsam verließen sie dann die Schule, um den Heimweg anzutreten, wie schon in den letzten drei Jahren, seit Albert ebenfalls diese Lehranstalt besuchte. Da sie sich noch von der Mittelschule kannten, wenngleich sie keine guten Erinnerungen miteinander geteilt hatten, war es zumindest für Faren selbstverständlich gewesen, dass sie Freunde werden müssten. Albert bestätigte das zwar nie, aber er widersprach auch nicht und sie verbrachten einiges an Zeit miteinander, also ging Faren davon aus, dass sie wirklich Freunde waren.
Draußen fuhr der warme Frühlingswind durch Farens schulterlanges, braunes Haar. Sein Gesicht war größtenteils frei von Strähnen, da er diese zu einem hohen Pferdeschwanz zurückgebunden hatte. So waren seine glitzernden, braunen Augen gut zu sehen und damit fiel ihm auch das Flirten wesentlich leichter; allerdings hielt er sich damit zurück, wenn er gemeinsam mit Albert unterwegs war.
Während sie nebeneinander herliefen unterhielten sie sich erst über den Unterricht, besonders jenen, bei dem sie die gleichen Lehrer hatten. Im Gegensatz zu ihrer alten Schule gab es aber kaum irgendwelche lustigen Geschichten zu erzählen. Schüler und Lehrer waren stets bemüht, möglichst seriös und gefasst zu wirken, was Faren als langweilig empfand. Aber niemand fragte ihn wirklich nach seiner Meinung und Albert rümpfte stets die Nase, wenn er das erwähnte, deswegen vermied er das lieber.
Erst an einer Ampel, bei der sie auf Grün warten mussten, hielten sie beide wieder inne und verfielen ins Schweigen. Faren blickte nach oben, um in den blauen Himmel zu sehen, der nur von wenigen weißen Wolken verdeckt war, losgelöste Fetzen, kaum groß genug, um wirklich als Decke zu zählen, wie er zufrieden feststellte. „Die Sterne sind noch da.“
Albert stutzte. „Was?“
Erst in diesem Moment bemerkte Faren, dass er das wohl laut ausgesprochen hatte. Er lachte ein wenig verlegen. „Ach, gar nichts. Ich habe mich nur gerade an etwas erinnert, das ist alles.“
Sichtlich unzufrieden über diese Antwort, blickte Albert ebenfalls nach oben. „Ich sehe jedenfalls keine Sterne. Keine Ahnung, wo du hier welche siehst.“
„Ach.“ Faren winkte ab. „Das verstehst du nicht.“
Er hoffte, dass das Thema damit erledigt wäre und wollte sich gerade wieder auf die Ampel konzentrieren, als er plötzlich einen Stoß in den Rücken spürte, gefolgt von einer gemurmelten, halbherzigen Entschuldigung. Er fuhr herum, um die Person aufzufordern, sich richtig zu entschuldigen – und spürte Unsymapthie auf den ersten Blick.
Vor ihm stand ein Schüler, etwas jünger als er, der in ein Buch vertieft war und ihn nicht einmal beachtete. Das schwarze Haar fiel ihm in das schmale, feminine Gesicht, so dass nur eines seiner dunkelbraunen Augen zu sehen war – das rechte –, aber dieses war deutlich mit der Lektüre beschäftigt. Bei genauerem Hinsehen bemerkte Faren, dass der Junge eine Schuluniform trug und wohl ebenfalls gerade auf dem Heimweg war, aber weder das blaue Jackett, noch das aufgenähte Wappen wollte ihm bekannt vorkommen. Deswegen sah er kein Problem darin, ihn wegen seiner Unhöflichkeit anzuschnauben. „Hey! Hey, du!“
Nur widerwillig hob sein Gegenüber den Blick. „Was?“
„Willst du dich nicht vernünftig entschuldigen?“
Der Junge schielte zur Seite, als überlege er wirklich, das abzulehnen, dann zuckte er knapp mit den Schultern. „Habe ich dich denn verletzt?“
„Nein, aber das ist einfach furchtbar unhöflich!“
Er blickte auf das Buch hinunter, als suche er darin nach einer Antwort, dann hob er wieder den Kopf, sah aber immer noch reichlich gleichgültig aus. „Es tut mir leid, dass ich dich angerempelt habe. Das kommt nie wieder vor.“
Sein monotoner Tonfall, als er das herunterbetete, als würde er das andauernd sagen müssen, gefiel Faren nicht. Aber er spürte bereits Alberts ungeduldigen Blick im Nacken und außerdem war seine Laune bislang eigentlich ziemlich gut gewesen, deswegen wollte er nicht weiter darauf herumhacken. Er würde die dadurch entstandene schlechte Laune schon anders loswerden.
„Na bitte“, sagte er gönnerhaft. „War das so schwer?“
Der Fremde warf ihm einen Blick zu, der wohl in etwa Meinst du das ernst? aussagen sollte, dann huschte er ohne jedes weitere Wort an ihm vorbei, um über die Straße zu gehen. Die Ampel zeigte inzwischen grün.
Faren machte sich mit Albert sofort ebenfalls an die Überquerung der Straße. Als sie auf der anderen Seite ankamen, war der Fremde bereits in den Strömen der Fußgänger auf der Einkaufsmeile untergegangen. Offenbar bewegte er sich unter vielen Menschen graziöser oder er hatte endlich das verdammte Buch weggesteckt. Faren konnte für ihn nur hoffen, dass es ein Buch über Benimmregeln war, wenn er diese offenbar so wenig kannte.
Kaum waren sie ebenfalls ein Teil des Stroms geworden, seufzte Albert frustriert. „Was sollte das eben eigentlich?“
„Huh? Das war einfach unhöflich. Warum sollte ich ihn da nicht zurechtweisen?“
„Aber gleich so scharf? Der Kerl hat dich kurz angerempelt und dich nicht mutwillig auf die Straße gestoßen. Du hast dir nicht einmal einen blauen Fleck dabei geholt.“
Es enttäuschte Faren ein wenig, dass Albert hierbei nicht auf seiner Seite war. Andererseits kannte er ihn so aber auch – immerzu logisch und bedacht, niemals emotional. Er konnte natürlich nicht verstehen, was ihn an diesem Verhalten so sehr geärgert hatte.
Dass er es aber offenbar doch konnte, zeigte sich ihm sofort: „Nur weil dein Vater dich in den Wahnsinn treibt, ist das kein Grund, es an Leuten auszulassen, die dich nicht kennen und die du nie wiedersehen wirst.“
Faren runzelte die Stirn. „Dann wird er wenigstens schon zukünftig niemanden mehr einfach anrempeln und ohne Entschuldigung stehenlassen. Und die Probleme mit meinem Vater kannst du ruhig mir überlassen.“
Normalerweise sagte Albert zu dem Thema immerhin auch nichts. Dass Timothy Griffin ein einstmals alkoholkranker Schläger, der seine Wut an seinem angeblich respektlosen Sohn ausgelassen hatte, inzwischen im Rollstuhl saß und auf Pflege von genau diesem Sohn angewiesen war, schien für Albert kein Thema zu sein, bei dem er sich einmischen wollte. Aber gerade in diesem Moment kramte er es wirklich hervor, das hob Farens Stimmung nicht gerade.
Lange wollte er wohl aber auch nicht bei diesem Thema bleiben, denn gleich nach Farens Worten zuckte er mit den Schultern. „Von mir aus. Was machst du eigentlich morgen?“
„Sag bloß, du willst mir mal anbieten, was mit dir zu unternehmen. Normalerweise muss ich dich doch regelrecht dazu zwingen, Zeit mit mir zu verbringen.“
Albert wandte ihm das Gesicht zu, damit er das verärgerte Blitzen seiner Augen besser sehen konnte, dann sah er wieder geradeaus, ehe er antwortete: „Ich dachte nur, du hättest ausnahmsweise einmal Lust, mit mir ins Museum zu gehen.“
Faren rümpfte bereits die Nase. Sicher, er galt als intelligent und hochbegabt, aber eigentlich waren das für ihn nur Worte. Es war schön, dass er ohne große Anstrengung gute Noten einstreichen konnte und eigentlich nie lernen musste, aber bei der Betrachtung der anderen Wunderkindern, die er so kannte, fühlte er sich einfach falsch eingeordnet. Er verspürte keinerlei Bedürfnis, sich über Kunst auszudrücken, gierte nicht andauernd nach Wissen und sprach auch keine sieben Sprachen fließend – und beim Gedanken an eine wissenschaftliche Karriere überkam ihn lediglich ein großer Anfall von Müdigkeit. Deswegen konnte er sich wesentlich Besseres vorstellen, als einen Ausflug ins Museum. Selbst das Planetarium erschien ihm reizvoller – da konnte man sich wenigstens hinlegen.
„Es gibt morgen Abend eine Lasershow im Museum“, lockte Albert ihn.
Das weckte nun allerdings doch Farens Begeisterung. „Klar, ich komme gern mit.“
Als er sich schließlich von Albert an einer Kreuzung verabschiedete und seinem Weg nach Hause folgte, dachte Faren schon gar nicht mehr an den Kerl von zuvor, der ihn angerempelt hatte.
Albert lebte als reicher Unternehmenssohn natürlich in einem Viertel, das seinen Verhältnissen angemessen war. Angefüllt mit großen Häusern und Gärten, alles eingezäunt und mit Sicherheitstoren versehen, damit kein unerwünschter Eindringling den Weg hineinfinden könnte.
Farens Viertel war das genaue Gegenteil. Hier reihten sich anonyme Mehr-Parteien-Häuser aneinander, viele davon schon verlassen und nie wieder bezogen worden, mit staubigen Fenstern, sofern diese nicht schon von gelangweilten Jugendlichen eingeworfen worden waren. Der einzige, kleine Supermarkt war mit Gittern an den Frontscheiben gesichert und jeder wusste, dass der Verkäufer einen Revolver besaß und nicht zögerte, diesen einzusetzen.
Wer konnte, zog früh aus dieser Gegend weg, wer nicht, endete als Sozialfall oder starb früh.
Faren hatte nicht vor, eines dieser drei Dinge zu tun, jedenfalls nicht solange sein Vater noch lebte. Dabei besaß er alle Voraussetzungen dafür. Bald den Abschluss an einer privaten Elite-Schule, voraussichtlich mit Noten, die dafür sorgen sollten, dass alle Universitäten sich die Finger nach ihm leckten und dann war er nicht einmal sonderlich unbegabt, wenn es um das Geigenspiel ging.
Er war für Höheres bestimmt, wie ihm immer eingetrichtert wurde – und doch war ihm seine Rache für vergangene Dinge wesentlich wichtiger, als seine Zukunft und bislang hatte ihn niemand vom Gegenteil überzeugen können.
Während er sich seinem Wohnhaus näherte, bemerkte er plötzlich eine Person, die sich gegen eine Mauer lehnte und ein Buch las. Das war in dieser Gegend ein derart ungewohnter Anblick, dass er erst einmal für einen kurzen Moment innehalten musste. Auf die Entfernung konnte er den Buchtitel nicht lesen, aber der interessierte ihn auch gar nicht weiter, als er die Person erkannte.
Leise schnaubend ging er weiter, fest entschlossen, einfach an ihm vorbeizugehen. Aber der Gedanke, dass er gleich seinem Vater gegenüberstehen und ihm schon bald das Abendessen machen müsste, ließ ihn doch innehalten, kaum war er an ihm vorbei. Er fuhr herum und funkelte den Fremden, der ihn zuvor auch schon angerempelt hatte, an. „Hast du schon mal was davon gehört, wie schlecht es aussieht, in der Gegend herumzulungern?“
Der Junge hielt stirnrunzelnd inne und hob den Kopf, um ihn zu mustern. Auf diese Entfernung konnte Faren auch den Buchtitel sehen, aber zu seiner Entrüstung war es nicht der Knigge, sondern irgendein Roman, von dem er bislang noch nichts gehört hatte. The Black and Bloodstained Chronicles, so entschied er für sich, war doch ein sehr seltsamer Titel. Aber so wie der Junge immer darin vertieft war, musste es wohl zumindest spannend sein.
Schließlich erkannte ihn der andere wohl auch wieder. „Denkst du nicht, dass es ziemlich unhöflich ist, dauernd jemanden derart scharf anzufahren? Besonders wenn er gerade, so wie ich, einfach nur herumsteht und liest?“
„Nutzt du gerade meine Taktik gegen mich?“
Er zuckte mit den Schultern. „Du hast immerhin angefangen.“
Faren biss sich auf die Zunge, damit er nicht noch anfangen würde zu lächeln. Vor diesem Kerl würde er das bestimmt nicht tun wollen, schon gar nicht wegen etwas, das er gesagt hatte. Wahrscheinlich war er neben unhöflich einfach nur so dumm und kindisch, dass er keinen anderen Ausweg sah; Faren wollte nicht glauben, dass dieser Idiot auch nur ein bisschen intelligent war.
„Was suchst du überhaupt hier?“, fragte er stattdessen.
„Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“ Der Fremde blickte ihn fest an, während er das sagte, dabei wirkte sein sichtbares braunes Auge derart dunkel, dass es fast schon schwarz war.
Und Faren wusste eigentlich nicht einmal, warum ihn das interessierte, abgesehen davon, dass er hoffte, dass der Junge nicht hier in der Gegend lebte. Ansonsten würde er ihn vermutlich öfter treffen, als ihm lieb war. „Wohnst du hier in der Gegend?“
„Nein.“
Eine knappe Antwort, aber sie genügte, dass er schon beruhigt war. Außer er log vielleicht. Skeptisch legte er die Stirn in Falten und versuchte, zu ergründen, ob sein Gegenüber die Wahrheit sagte, aber dieser schien vollkommen undurchdringlich. Sein Gesichtsausdruck änderte sich kein bisschen, egal wie lange Faren ihn ansah, deswegen entschied er sich schließlich, es aufzugeben. Mit einem Gefühl, das Frustration glich, wandte er sich halb ab. „Wir haben uns jetzt zweimal getroffen, wir haben also das Sprichwort erfüllt. Ich würde sagen, das reicht. Auf Nimmerwiedersehen.“
Er hob knapp die Hand und wandte sich schließlich gänzlich ab, der andere sagte nichts. Wenige Schritte seines Weges später, blickte er über die Schulter und bemerkte, dass der Junge sich bereits wieder in sein Buch vertieft hatte. Was immer er hier auch machte … irgendjemand sollte ihm mal sagen, dass es leichter war, mit E-Readern in der Gegend herumzulungern.
Doch schließlich sah er wieder nach vorne, straffte die Schultern und beschloss, den Kerl wirklich wieder aus seiner Erinnerung zu streichen oder zumindest nicht mehr an ihn zu denken. Lieber sollte er sich auf seinen bevorstehenden Ausflug mit Albert zu dieser Lasershow konzentrieren und die 100 %, die er in seiner letzten Klausur erreicht hatte.
Als er dann endlich seine Haustür erreichte, war es ihm tatsächlich gelungen, diesen fremden Jungen aus seinen Gedanken zu verdrängen und so konnte er bereits wieder leise summen, während er ins Haus hineinging und die Tür hinter sich zufallen ließ.
Dabei bemerkte er nicht, dass er von einem formlosen Schatten beobachtet wurde, der vor der Tür verharrte und trotz des Sonnenlichts kaum zu sehen war. Erst als Faren aus dem unmittelbaren Sichtfeld getreten war, löste sich der Schatten auf, als wäre er niemals da gewesen – und zumindest für Faren war es auch genau so.
Kapitel 2: Ich kümmere mich schon darum.
Faren atmete noch einmal tief durch, ehe er seine Wohnungstür aufdrückte und dort von dem Geruch von Desinfektionsmitteln geradewegs angegriffen wurde. Jedenfalls litt seine Nase darunter, statt dass er endlich einmal immun dagegen wurde, wie es sich eigentlich gehörte.
Ohne Rücksicht ließ er den Schlüssel aus möglichst großer Höhe in die Schale neben der Tür fallen, damit der Aufprall besonders laut war. Zufrieden lächelnd warf er dann auch die Tür hinter sich zu, ehe er seinen Weg ins Wohnzimmer hinter sich brachte.
Dort bot sich ihm das übliche Bild. Der Fernseher – natürlich Flachbild und HD, etwas anderes kam ja gar nicht in Frage – zeigte irgendein anspruchsloses Programm, in dem Laiendarsteller über Probleme sprachen, die ohnehin keiner verstehen konnte, weil sie viel zu übertrieben waren.
Neben dem grauen Sofa, gegenüber des niedrigen Wohnzimmertisches aus Holz und Glas, stand ein schwarzer Rollstuhl, in dem sein Vater, Timothy Griffin, saß und dumpf auf den Fernseher starrte.
Vor langer Zeit einmal mussten er und Faren sich einmal ähnlich gesehen haben. Jedenfalls deuteten alte Fotos darauf hin, dass sie beide denselben schelmischen Ausdruck beim Lächeln besaßen und auch ihre Haarfarben waren identisch gewesen. Heute war sein Gesicht verkniffen und kannte kein Lächeln mehr und sein Haar war ergraut, wenngleich auch noch voll, statt ausgedünnt.
„Hey, Dad“, grüßte Faren ihn ohne jedes Gefühl in der Stimme.
Timothy löste den Blick vom Fernseher, um ihn anzusehen. Dabei bemerkte Faren wieder einmal, dass die Augen seines Vaters jeglichen Glanz verloren hatten. Aber er spürte kein Mitleid, sondern nur wieder den Schmerz seiner Knochen, die von ihm gebrochen worden waren, all die Narben, die er ihm beigebracht hatte, zwickten, jede erlittene Demütigung, die noch immer in seinem Gedächtnis existierte, erinnerte ihn wieder daran, warum er nicht mit ihm mitfühlen konnte.
„Da bist du ja endlich“, brummte Timothy. „Deine Mutter ist schon vor einer Ewigkeit verschwunden.“
„Klar, sie ist immerhin Krankenschwester.“ Faren beneidete sie nicht darum, dass sie während der Arbeit fremde Menschen und dann zu Hause ihren eigenen Mann pflegen musste, auch wenn es sie nicht im Mindesten zu stören schien – jedenfalls sah er sie dabei stets sanft lächeln.
„Das heißt nicht, dass man mich hier dauernd allein lassen muss“, brummte Timothy. „Sehe ich so aus, als könnte ich irgendetwas selbst machen?“
Farens Mundwinkel zuckten, dann verzogen sie sich zu einem hämischen Grinsen. „Tja, Dad, wenn du nicht versucht hättest, dich umzubringen, wäre das nicht geschehen.“
Normalerweise würde er so etwas nicht sagen, aber bei dieser Person, die ihn derart gequält hatte, war ihm jegliches Benehmen egal. Dafür erntete er einen glühenden Blick von Timothy, der ihm sagen sollte, dass er kein Recht hätte, so mit ihm zu sprechen. Dafür kannte er ihn schon zur Genüge, aber er kümmerte sich nicht weiter darum. Sein Grinsen erlosch allerdings zumindest wieder, weswegen er mit einem Seufzen gleich eine Frage hinterherschob: „Was soll ich tun?“
„Ich habe Durst.“
Ohne jedes weitere Wort ging Faren wieder hinaus, öffnete auf dem Weg zur Küche eine Tür und warf seine Schultasche achtlos in sein Zimmer hinein. Erst dann betrat er die kleine Küche, die wirklich alles andere als gehindertenberecht war – eigentlich war sie nicht einmal für eine Person ausreichend. Stand man in der Mitte, konnte man sich in jede Richtung drehen und dabei alles erreichen, was man benötigte. Kühlschrank, Geschirrschrank, Herd, Waschbecken, Faren musste sich, dank seiner Größe, nicht einmal zu sehr nach etwas strecken, sondern konnte bequem alles erreichen. Für größere Feiern oder lange Kocheinheiten war sie jedoch nicht geeignet, aber da er hier nur wenig Zeit verbrachte, störte sich Faren nicht daran. Stattdessen nahm er ein Glas und hielt es dann unter den Wasserhahn, während er gleichzeitig einen Blick durch das Fenster hinauswarf, das sich über der Spüle befand.
Ihre Wohnung befand sich im zweiten Stock, weswegen es ihm möglich war, die Straße sehr deutlich zu sehen, aber das, was er da entdeckte, ließ ihn die Stirn runzeln. Der schwarzhaarige Fremde von zuvor stand dort unten vor dem Haus und blickte direkt zu ihm herauf. Er hoffte allerdings, dass er sich das nur einbildete. Aber falls nicht, musste er sich fragen, ob dieser Kerl ihn vielleicht verfolgte – und falls ja, weswegen. War er etwa sauer, weil Faren ihn nach dem Anrempeln derart angeschnauzt hatte? Aber dann hätte er auch gerade eben etwas sagen können.
Vielleicht sah er ja auch gar nicht zu ihm hinauf, sondern zu einer anderen Wohnung, in der ein Freund von ihm lebte. Wenn jemand wie er überhaupt Freunde besaß. Vermutlich war er ein sehr einsamer Mensch, kein Wunder, dass er so unsozial war.
Aber weswegen hielt er sich dann in einer Gegend auf, in der er gar nicht lebte, und die auch nicht unbedingt für ihre Sehenswürdigkeiten berühmt war? Es war ohnehin überraschend, dass er noch nicht verprügelt worden war.
„Wo bleibt mein Wasser?“, hörte er die Stimme seines Vaters.
Leise seufzend wandte Faren den Blick über die Schulter in Richtung des Wohnzimmers. „Ich komme ja gleich!“
Als er wieder aus dem Fenster hinaussah, war der Junge verschwunden.
Seine Hausaufgaben erledigte Faren seit Timothys Selbstmordversuch – oder genauer gesagt, seit er wieder zu Hause war – zwar immer noch in seinem Zimmer, aber zumindest bei offener Tür, damit er seinen Vater jederzeit hören konnte.
Vor etwa einem Jahr musste es ihm zu viel gewesen sein, der Alkohol, die Streitereien mit seinem Sohn, der eigentlich von zu Hause ausreißen wollte und es nur nicht getan hatte, weil er seine Mutter nicht im Stich lassen konnte, also war er vor einen Zug gesprungen. Doch das einzige, was er dadurch erreicht hatte, war eine Lähmung ab der Hüfte abwärts. Nicht, weil er sich Nerven durchtrennt hatte, sondern weil seine Beine derart in Mitleidenschaft gezogen worden waren, dass er sie nie wieder würde benutzen können. Laut den Ärzten war es ein Wunder, dass er sie nicht vollständig verloren hatte.
Nach seiner Zeit in der chirurgischen Klinik war er dann eine Weile in der psychiatrischen Klinik gewesen und anschließend wieder nach Hause gekommen. Seitdem pflegten sie ihn hier, auch wenn Faren das nur gezwungenermaßen tat und auch mit ein wenig Genugtuung. Seinen einstmals so selbstgerechten Vater nun vollkommen hilflos zu erleben, sogar zu unfähig, sich noch einmal das Leben zu nehmen – immerhin versteckte seine Mutter alle Medikamente in einem Schränkchen, an das nicht einmal sie ohne Schemel herankam –, erfüllte ihn mit einer geradezu perversen Freude, die man nur mit Rache verbinden konnte. Er konnte nur froh sein, dass niemand etwas von diesen Gefühlen in seinem Inneren ahnte, sonst wäre er längst nicht mehr so beliebt, wie er es im Moment war.
Zum wiederholten Mal an diesem Tag klingelte bereits sein Handy und teilte ihm damit mit, dass er eine neue Nachricht erhalten hatte, die er sofort lesen musste, auch wenn ihn das von den Hausaufgaben ablenkte. Partyeinladungen, Anfragen, ob er gemeinsam mit jemandem zum Sport gehen wollte, ob er Lust habe, Fußball zu spielen, man brauche dringend noch einen Spieler.
Alles Dinge, die er ablehnen musste. Für heute war er mit seinem Vater ausgelastet, morgen würde er mit Albert ins Museum gehen und am Sonntag bestand seine Mutter stets darauf, dass die Familie zusammen war, um zumindest so zu tun, als existiere zwischen ihnen eine Idylle. Er war es leid, aber solange er sie nicht im Stich lassen wollte, konnte er sich dem nicht widersetzen.
Mit Bedauern schickte er jedem eine Absage, verbunden mit einem Smiley, damit niemand glaubte, es sei etwas Persönliches, dann wandte er sich wieder den Hausaufgaben zu, nur um nach kurzer Zeit von seinem Vater gestört zu werden: „Faren! Was ist mit dem Essen?“
„Was soll schon damit sein?“, fragte er murmelnd, erhob sich allerdings, ehe er laut zurückrief: „Ich kümmere mich schon darum!“
Wenngleich er das nicht vollkommen allein tun musste, wie er feststellte, als er in die Küche kam. Seine Mutter hatte bereits einen Auflauf vorbereitet, der noch immer im Backofen stand und den er nur aufwärmen musste. Nachdem er den Backofen eingeschalten hatte, warf er wieder einen Blick durch das Fenster. Von dem Jungen war nichts zu sehen, lediglich die üblichen Teenager, die sich in ihren Gangster-Outfits cool fühlten, standen vor dem Haus, jeder mit einer Dose Bier in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand, als wären sie tatsächlich alt genug, um beides zu kaufen. Aber die traurige Wahrheit war wohl eher, dass es dem Kioskbesitzer einfach nur furchtbar egal war, wie alt seine Kunden waren.
Manchmal wünschte Faren sich allerdings, ebenfalls zu einer solchen Gruppe Menschen gehören zu können. Sie schienen keinerlei Verpflichtungen zu haben, nichts, was sie davon abhielt, einfach das zu tun, was ihnen wirklich Freude bereitete, selbst wenn das nur daraus bestand, hier herumzustehen, zu rauchen und Bier zu trinken.
Und was tat er? Wärmte Essen für seinen pflegebedürftigen Vater, den er voller Inbrunst hasste und stritt sich mit einem Kerl, der ihn auf der Straße angerempelt hatte, was neben der bevorstehenden Lasershow wohl die größte Aufregung in seinem Leben war. Noch schöner wäre es nur, wenn dieser Kerl sich auch angemessen wehren würde, falls er ihn jemals wiedersah.
Leise seufzend löste er sich von dem Anblick und ging wieder hinaus. Dann lehnte er sich ins Wohnzimmer hinein, teilte seinem Vater mit, dass es noch ein paar Minuten dauern würde und kehrte anschließend in sein Zimmer zurück, um sich weiterhin seinen Hausaufgaben zu widmen.
Sein Schwung war damit allerdings erst einmal verloren, deswegen starrte er auf die leeren Seiten seines Blocks und fragte sich, wie lange es wohl noch dauerte, bis dieses Leben enden und ein neues beginnen würde.
Glücklicherweise kehrte Farens Mutter, Maylis, am Abend wieder nach Hause zurück, so dass sie Timothys Pflege wieder übernehmen konnte. Ihr Mann quittierte das dankbar, indem er aufhörte, zu jammern und sich stattdessen darauf konzentrierte, vollkommen ruhig zu sein. Jedenfalls soweit es einem Mann wie ihm möglich war. Hin und wieder ließ er immer noch ein Brummen ertönen, wenn ihm etwas nicht passte, aber er beklagte sich nicht.
Faren schloss derweil die Tür seines Zimmers, um endlich seine Ruhe zu genießen. Mit dem Drehstuhl saß er am Fenster, um nach draußen in den Sternenhimmel zu sehen. Keine Wolken ließen unklar, ob es überhaupt Himmelskörper gab, sie glitzerten wie unzählige Diamanten, die auf einem dunkelblauen Teppich verstreut worden waren.
Jetzt werde ich auch noch kitschig ..., dachte er amüsiert bei sich. Wird ja immer besser mit mir.
Er verstand nicht einmal, warum er so angetan war von dem Himmel und den Sternen. Es war, als ob es ihn mit irgendetwas verband, etwas Tröstlichem, das ihn davon abhielt, sich deutlich an seine Vergangenheit zu erinnern. Es lag wie ein Vorhang zwischen ihm und dem, was war.
Eine weitere Nachricht auf seinem Handy lenkte ihn von seinen Gedanken an früher ab. Er stieß sich von der Wand ab, damit er zum Schreibtisch rollen konnte. Dort nahm er sein Handy an sich. Es war eine Einladung zu einer Party Samstag Nacht, was ihn kurz nachdenken ließ. Bislang hatte er alle Einladungen abgesagt, aber inzwischen hatte er auch nachgesehen, was genau es mit der Lasershow im Museum auf sich hatte. Diese ging nur bis zum Abend und so wie er Albert kannte, würde dieser direkt danach nach Hause gehen, also könnte er im Anschluss durchaus zu dieser Party gehen. Und wenn Albert doch nicht nach Hause gehen wollte, könnten sie auch gemeinsam zur Party, das würde ihm auch mal nicht schaden.
Nach dieser Erkenntnis schickte er eine Bestätigung und legte das Handy wieder ab. Doch als er ans Fenster zurückkehrte, hatten sich Wolken vor die Sterne geschoben, was in ihm unwillkürlich die Frage weckte, ob der Himmel überhaupt noch da war. Er seufzte leise, schob sich wieder ein wenig von der Wand weg und blieb in der Mitte des Zimmers mit seinem Stuhl stehen.
Dummerweise gab es nicht viele Hobbys, denen er nachgehen konnte. Zum Geige spielen war es inzwischen zu spät, zum Chatten hatte er keine Lust und sonst ... ja, sein Leben war einfach wirklich langweilig, wie er selbst wieder einsehen musste.
Seufzend stand er auf und trat an den Schrank, um sich umzuziehen, damit er ins Bett gehen könnte. Das war jetzt die einzige Alternative, die ihm noch einfiel, um den restlichen Abend zu überstehen.
Eigentlich ganz schön traurig, wenn man so darüber nachdenkt.
Er zuckte mit den Schultern, schloss die Vorhänge und legte sich ins Bett. So bemerkte er nicht mehr, dass sich vor seinem Fenster mehrere Schatten versammelten, die neugierig aus roten Augen zu ihm hineinstarrten und sich dieses Mal nicht einfach so auflösten.
Obwohl es in diesem dämmrigen Licht kaum möglich war, hatte er bislang gelesen. Kaum erlosch das Licht in Farens Zimmer jedoch, schloss er das Buch mit einem gut hörbaren Laut, der durch die Nacht zu hallen schien.
Die Schatten, die sich um Farens Fenster versammelt hatten, wandten ihre Blicke in seine Richtung, auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses, allerdings nur kurz, dann widmeten sie sich lieber wieder der Person im Zimmer, hinter der sie bereits den ganzen Tag her waren. Er trug wesentlich mehr von dem in sich, was sie wollten, und er war keine Gefahr, im Gegensatz zu dem anderen.
„Für heute ist das genug“, sagte er mit ruhiger, monotoner Stimme.
Bereits an der Ampel wäre Faren, trotz des eigentlich schützenden Sonnenlichts, beinahe von einem dieser Schatten angegriffen worden, hätte er, Kieran, ihn nicht angerempelt. Aber jetzt war er von einer ganzen Anzahl von Schatten belagert, die bislang nur von dem Licht abgehalten worden waren. Ohne dieses schützende Element war er diesen Wesen ausgesetzt und wenn sie ihn und seine Negativität erst einmal verzehrt hatten ...
Er ließ eine Armbrust in seinen Händen erscheinen und deutete damit, ohne einen Bolzen einzusetzen, auf die Schatten. Als er abdrückte, entstand ein Bolzen aus Licht, der in eines der Wesen eindrang und dort steckenblieb. Aus ihm flossen goldene Fäden, die sich rasch mit den anderen Feinden verbanden. Kaum war das Netz gesponnen, leuchtete es einmal hell auf – und im nächsten Moment waren sämtliche Wesen spurlos verschwunden.
Daraufhin ließ Kieran die Armbrust wieder verschwinden. Er glaubte nicht, dass in dieser Nacht noch mehr von ihnen erscheinen würden. Dennoch setzte er sich wieder auf den Rand des Daches und öffnete das Buch erneut, um weiterzulesen und weiterhin zu beobachten, ob Faren auch in dieser Nacht wieder sicher sein würde.
Kapitel 3: War das schon die Show?
Da Farens Mutter mit der Pflege von Timothy beschäftigt war, arbeitete sie nicht mehr so viel wie sonst, obwohl sie immerhin Krankenschwester war. Dadurch war auch ihr Gehalt gemindert, so dass er sich oft fragte, wie es möglich sein konnte, ihn auf diese teure Privatschule zu schicken, aber er stellte diese Frage nie laut. Dafür gab es keinen genauen Grund, außer jenem, dass er sicher war, dass die Antwort mit seinem Vater im Zusammenhang stand und der interessierte ihn nun einmal gar nicht.
Ihre geringe Arbeitszeit sorgte dafür, dass Faren am Samstag wirklich zu seinem Treffen mit Albert gehen konnte, da sie sich um Timothy kümmerte. So stand Faren um kurz vor drei Uhr vor dem eindrucksvollen Gebäude, in dem das Museum beherbergt wurde. Zahlreiche Stufen, an denen in regelmäßigen Abständen Wasser herabfloss, um sich in einem Becken am Fuß der Treppe zu sammeln, führten zu dem Bau hinauf. Auf dem Vorplatz des Museums gab es ein weiteres Wasserbecken mit drei Fontänen, die weiß sprudelndes Wasser in die Höhe sprühten. Bei jedem starken Windstoß wurde ein leichter Sprühnebel über den Platz geschickt.
Oberhalb des Eingangs, eingraviert in das Gestein, aus dem das Gemäuer bestand, standen Worte in Latein – Ars vincit horas – , die, laut Farens Kenntnissen Kunst überwindet die Zeit bedeuteten.
Mehrere runde Säulen flankierten die modernen gläsernen Eingangstüren, die in einem krassen Kontrast zum Rest des Gebäudes standen und deswegen umso eindrucksvoller auf Faren wirkten.
Albert erwartete ihn bereits vor der Tür, die Arme vor der Brust verschränkt. Als er Faren entdeckte, runzelte er die Stirn. „Wie siehst du denn aus?“
„Dir auch ein Hallo, mein Bester~“, erwiderte er schmunzelnd. „Was stimmt denn mit meinem Outfit nicht?“
Gut, die Jacke war vielleicht ein bisschen zu knallig pink, aber das ärmellose Hemd darunter war schwarz, genau wie die Jeans, die er trug und die Turnschuhe waren immerhin weiß, dazu noch die braun-weiße Feder, die er als Anhänger an einem schwarzen Lederband befestigt um seinen Hals trug; er verstand wirklich nicht, was Alberts Problem damit war.
„Du hast nachher noch vor, auf eine Party zu gehen, oder?“, fragte dieser bereits.
Faren strahlte. „Ja, das ist richtig. Möchtest du vielleicht mitgehen?“
„Nein, danke, kein Bedarf.“
Er spielte mit dem Gedanken, Albert doch zu überreden, aber er kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er bei diesem Tonfall und dem dazugehörigen Gesichtsausdruck keine Chance hatte, gegen seine Sturheit anzukommen. Er war eben einfach kein Partymensch. Auch wenn es Faren unbegreiflich war, aber solche Menschen gab es nun einmal auch. Dabei war er überzeugt, dass ihnen jede Menge Spaß entging. Allerdings war das im Endeffekt nicht seine Sache.
Faren zuckte lächelnd mit den Schultern. „Also, gehen wir rein?“
Albert präsentierte zwei Eintrittskarten und reichte ihm eine davon. Nachdem Faren sich höflich bedankt hatte, so wie sein Freund es sich wünschte, betraten sie das Museum und wurden schon im Eingangsbereich, in dem sich ebenfalls mehrere Säulen befanden, von einer altehrwürdigen Aura empfangen. Ein anderer Begriff wollte Faren nicht einfallen, egal wie lange er darüber nachdachte. Es fühlte sich alt an und weise, als würde er allein durch seine Anwesenheit an diesem Ort etwas lernen und als würde er gleichzeitig ein Teil von alldem werden. Fast schon schade, dass er sich nach dem Ereignis direkt wieder entfernte.
Im Eingangsbereich gab es neben dem Empfangsschalter noch ein Weg zu den Spinden, dazu ein Souvenirgeschäft und mehrere lederne Sitzbänke ohne jegliche Lehnen.
Der wie ein Schachbrett gemusterte Boden führte in einen weiteren Gang, der sich bald zu einer großen Halle öffnete, in der sich bereits mehrere Dutzend Personen befanden, die sich allesamt miteinander unterhielten, weswegen es klang, als würde ein wütender Bienenschwarm ihnen hier Gesellschaft leisten. Schick angezogene Kellner huschten mit Tabletts voller Sektgläser durch die Menge, blieben immer nur wieder kurz stehen, um jemandem etwas anzubieten.
Während die Menschen allesamt ausgeschwärmt waren, um sich auszubreiten und den Platz einzunehmen, indem sie nicht selten auch in kleinen Gruppen zusammenstanden, um sich zu unterhalten, war ein Bereich in der Mitte frei von jedem Besucher. Dies lag an den roten Seilen, die einen quadratischen Raum beschrieben, auf dem vermutlich später einmal die Show stattfinden sollte. Jedenfalls wenn Faren sich die seltsamen Apparaturen ansah, die auf dem Boden angebracht waren, deren Zweck ihm aber schleierhaft war.
Hoch über der Halle gab es ein gläsernes Dach, das sich wie eine Kuppel nach außen bog, dabei aber nicht rund war, sondern die Form eines Hexaeders besaß. Diese Bauform schaffte es, das Sonnenlicht ideal einzufangen, egal welche Tageszeit es war, und es in die Halle weiterzuleiten.
Während Faren das bewunderte, kam er nicht umhin, sich vorzustellen, dass hier bestimmt auch ein guter Ort wäre, um die Sterne zu beobachten. Vielleicht sollte er Albert einmal fragen, ob man auch nachts hier hereinkommen durfte. Zumindest zu bestimmten Gelegenheiten.
„Bist du eigentlich das erste Mal hier?“, fragte Albert da gerade seinerseits.
„Ja, schon. Ich interessiere mich ja eigentlich nicht für Museen und bei den Ausflügen dorthin habe ich auch gern gefehlt.“
Während Faren darüber nur amüsiert lächeln konnte, blickte Albert ihn mit gerunzelter Stirn an. Für ihn war es unverständlich, dass man sich nicht für das alles interessieren konnte. Er selbst saugte immerhin jegliches Wissen wie ein Schwamm auf und gab es auch gern jederzeit wieder.
Das Thema wollte Faren aber lieber nicht vertiefen – Gespräche darüber, dass er sein Talent verschwendete, führte er schon genug mit seinem Direktor – deswegen stellte er lieber eine Frage: „Wie wird die Lasershow eigentlich funktionieren?“ Er vollführte eine Drehung aus dem Handgelenk. „Es ist doch viel zu hell.“
Alberts Brauen zogen sich noch mehr zusammen als ohnehin schon. Manchmal glaubte Faren, er bräuchte eigentlich noch eine Stirn, damit er diese auch runzeln könnte, wenn ihm etwas nicht gefiel. Aber glücklicherweise war so etwas – noch – nicht möglich.
„Sie verdunkeln die Halle“, wies Albert ihn auch schon direkt in seinem unverkennbaren oberlehrerhaften Ton hin.
Nicht jeder konnte mit diesem Tonfall umgehen, aber für Faren gab es wesentlich Schlimmeres. Da er dennoch Alberts gutes Herz kannte, störte er sich auch nie an dessen Stimmungen. Andererseits gab es jede Menge Leute, die Stein und Bein schwörten, dass Albert nicht einmal irgendein Herz besaß, das nicht ein Fels oder aus Eis war, und es somit auch nicht gut sein konnte.
„Oh, verstehe.“ Faren lächelte entwaffnend. „Das ist natürlich nicht schlecht. Aber ich hätte nicht gedacht, dass sie diese wundervolle Kuppel verstecken werden.“
Die Sorge um die Architektur besänftigte Albert wieder spürbar, so dass Faren einen kurzen Blick auf seine Uhr werfen konnte. Diese verriet ihm, dass es wenige Minuten nach drei Uhr war. Nachdem er sich genauer umgesehen hatte, erkannte er, dass auch keine weiteren Besucher mehr die Halle betraten. Offenbar wurde es dann langsam mal Zeit.
Bevor das aber noch geschah, hörte er, wie ein Mikrofon mehrmals getestet wurde, ehe sich jemand leise direkt davor räusperte. Faren angelte nach einem Sektglas, als ein Kellner an ihm vorbeiging, ohne ihm auch nur eines Blickes zu würdigen. Albert dagegen verzichtete ohnehin auf jeglichen Alkohol, er hob nur kurz die Hand, was dem Kellner Zeichen genug schien, dass er ihn auch ignorieren konnte.
Faren nahm einen Schluck, verzog dann aber das Gesicht. „Einen noch trockeneren Sekt hätten sie nicht auftreiben können?“
Albert warf ihm nur einen wütenden Blick zu, aber bevor Faren sich verteidigen konnte, schien der Sprecher endlich seine Stimme gefunden zu haben: „Sehr geehrte Damen und Herren, ich heiße Sie herzlich Willkommen zu diesem ganz besonderen Ereignis in unserem Museum.“
Es war ein alter Mann mit schneeweißem Haar, der auf einem kleinen Podest stand, dem sich nun sämtliche Aufmerksamkeit zuwandte. Er trug einen dunkelblauen Anzug, passend zu dem Rahmen seiner Brille, die auf seiner spitzen Nase balancierte. „Es ist mir eine Ehre, Ihnen unsere heutige Show zu präsentieren. Eine einmalige Neuheit, die noch in keinem anderen Museum durchgeführt wurde. Ermöglicht durch die Mitarbeiter der Firma Neon Laser.“
Dabei deutete er zu einigen reichlich unauffälligen Personen, die am Rand standen, sich aber lieber um die Technik, als um die Rede kümmerten. Verhaltener Applaus ertönte, der eher peinlich als lobend war, dann fuhr der alte Mann fort.
Faren blendete die Rede allerdings aus, während er weiterhin die Techniker beobachtete. Sie arbeiteten, ohne sich stören zu lassen, unentwegt an diesen Geräten und einem Schaltpult. Absolut gar nichts störte sie bei der Erfüllung ihrer Pflicht, fast so als wären sie nur für diesen Zweck geboren worden und alles andere wäre lediglich ein Störgeräusch für sie.
Aber diese Überlegungen endeten sofort, als sie alle geradezu einstimmig nickten. Im selben Moment beendeten sie die Arbeit an den Geräten alle gleichzeitig.
Ein metallisches Summen verriet, dass die Verdunkelung einsetzte. Faren legte den Kopf in den Nacken und entdeckte eine Platte, die sich aus einer vermutlich hohlen Decke herausschob, direkt vor die Kuppel. Die Ausgangstüren wurden mit einem dunklen Rollladen verschlossen, so dass es schlagartig dunkel wurde. Das einzige Licht bildeten nun leuchtende Streifen an der Kleidung der Techniker. Sie bewegten sich absolut sicher durch die Finsternis, ohne sich von dem leisen Flüstern irritieren zu lassen.
Faren glaubte zuerst, diese leisen Stimmen wären das Ergebnis der nervösen Besucher, aber immer wieder erklangen sie direkt neben seinem Ohr, ohne dass dort jemand stand. Außerdem verstand er die genauen Worte nicht. Aber er spürte den Hass, die Kälte, das Unmenschliche darin, so dass es ihm kalt den Rücken hinablief.
Je länger sie im Dunkeln standen, desto unwohler fühlte Faren sich. Obwohl er nicht viel gegessen hatte, kam es ihm so vor, als wolle alles, was er jemals gegessen hatte, sich wieder den Weg durch seine Speiseröhre nach oben zu arbeiten. Es brannte als wolle es ihn gleichzeitig von innen heraus entzünden. Faren fühlte das Bedürfnis, zu schreien, um die Schmerzen zu lindern, aber gerade als er den Mund öffnete, spürte er eine Hand auf seiner Schulter, gefolgt von einer vertrauten Stimme, der es gelang, das Flüstern zu vertreiben: „Keine Angst, es ist gleich vorbei.“
Es war ein Mann, der da mit ihm sprach, jung, aber er konnte ihn nicht sofort einordnen. Dennoch spürte er, wie sein Körper sich sofort entspannte und die Symptome der Nervosität auch nach und nach verschwanden. Kaum ging es ihm wieder gut, zog sich die Hand von seiner Schulter zurück.
Faren fuhr herum, damit er erfahren könnte, bei wem es sich um diesen Mann handelte, im selben Moment erhellte ein grelles Licht den Raum, als die Laser aktiviert wurden. Ein kollektives, begeistertes „Oooh“ ging durch die Reihen der Besucher, aber es war niemand mehr zu sehen, der ihm gerade die Hand auf die Schulter gelegt haben könnte. Alle standen vollkommen still auf ihren Plätzen und sahen wie hypnotisiert zu den Laserstrahlen.
Da er so niemanden ausmachen konnte, widmete Faren seine Aufmerksamkeit ebenfalls der Show, während er weiter darüber nachdachte, woher genau er diese Stimme nur kannte.
Das grüne Licht war inzwischen von einem hellen Blau ersetzt worden, das eine Kugel zu bilden schien. Weitere Strahlen in grün und rot ließen den Eindruck von Leben, Pflanzen und Menschen, entstehen. Eine sanfte, traurig klingende Geigenmelodie erklang, um die Szene zu unterstreichen.
Faren erwartete eine Erzählung des zu Sehenden, aber niemand sagte etwas, stattdessen schien sich jeder selbst eine Meinung zu bilden, was zu beobachten war.
Noch ein Grund, warum ich Kunst nicht mag.
Das Bild änderte sich, zoomte heran und zeigte nun die Oberfläche dieser Kugel, die wohl eine Welt darstellen sollte. Die menschliche rote Figur, die keinen echten Menschen darstellte, sondern nur einen solchen versinnbildlichte, war nun deutlicher zu sehen – genau wie die blauen Flügel, die plötzlich aus ihrem Rücken sprossen, verbunden mit schnörkeligen schwachen Linien und einem Raunen der Besucher.
Doch da tauchte ein weiterer Mensch auf, dargestellt durch einen lila Laser, der sich nicht sonderlich begeistert von der Entwicklung … zeigte? Faren war sich nicht sicher, woher er diesen Glauben nahm, aber er war überzeugt, dass die lila Figur wütend war.
Die rote Figur schlug mit den Flügeln und erhob sich von der Oberfläche – doch da schwang Lila ein Lasso, fing Rot wieder ein und zog ihn zurück auf den Boden. Ehe er sich erholen konnte, entstand ein gelber (oder war er doch eher golden?) Käfig um Rot herum.
Faren wurde schwer ums Herz, als er das beobachtete und zu sehen glaubte, wie Rot vor Verzweiflung zu weinen begann, obwohl es gar nicht zu erkennen war. Lila dagegen war sichtlich zufrieden und ließ sich auf einem roten Thron nieder, der hinter ihm erschien.
Unter den beiden entstanden goldene Fäden, die sich nach oben durcharbeiteten – und dann dafür sorgten, dass sich alles auflöste.
Das nächste Bild zeigte eine moosgrüne Fläche, die keiner Kugel entsprach, sondern wirklich … flach zu sein schien. Rot erschien tanzend darauf, seine Flügel waren immer noch deutlich zu sehen. Während Rot noch tanzte, kam Lila von der Seite hinzu, er wirkte geknickt und beobachtete Rot nur. Dieser ließ sich nicht beirren, nahm Lila aber, ohne innezuhalten, an den Händen, damit er gemeinsam mit ihm tanzen könnte. Die Musik wurde schneller, schwungvoller, während sie beide miteinander tanzten – und dann verstummte die Geige und mit ihr erloschen die Laser, worauf der gesamte Saal wieder in Dunkelheit gehüllt war.
Für einen kurzen Moment herrschte angespanntes Schweigen. Als klar wurde, dass nichts mehr käme, brach ein gewaltiger Applaus los, der von wesentlich mehr Menschen verursacht zu werden schien als eigentlich anwesend waren. Selbst Albert war begeistert dabei, während Faren nur einen weiteren Schluck aus seinem Glas nahm und es dann schlagartig leerte.
Noch immer starrte er dorthin, wo das Schauspiel eben zu sehen gewesen war, hörte das Echo der Violine in sich nachklingen, sah weiterhin den verzweifelten Rot in seinem Käfig sitzen und weinen, während Lila zufrieden auf seinem Thron saß. Etwas an dieser Geschichte, auch wenn keinerlei Narration sie begleitet hatte, berührte Saiten in seinem Inneren, die bislang unangetastet geblieben waren. Erinnerungen schwangen im Einklang mit ihnen, aber sie waren derart losgelöst von allem, derart undeutlich, dass er sie nicht klar erkennen und einordnen konnte.
Deswegen schob er sie vorsichtshalber weiter von sich weg, um nicht mit ihnen in Berührung kommen zu müssen. Er wollte, dass sie weiterschliefen. Schon allein, weil Albert ihn gerade angesprochen hatte und nun auf eine Antwort wartete.
„Hm?“ Faren wandte sich ihm mit einem verlegenen Lächeln zu. „Was ist?“
Bloß nicht zeigen, woran du gedacht hast, schärfte er sich ein. Niemand darf etwas davon erfahren.
Am Ende schickte man ihm doch noch zu einem Psychiater und das könnte er nun überhaupt nicht gebrauchen. Jedenfalls nicht im Moment, solange sein Vater noch lebte.
Albert runzelte die Stirn über seine Frage, ging aber nicht weiter darauf ein, sondern kam lieber zu seiner eigentlichen Frage: „Wie hat es dir gefallen?“
„Es war aufregend“, antwortete Faren, von seiner Seite aus wahrheitsgemäß. „Besonders die Geigenmusik war faszinierend.“
Er ignorierte Alberts schrägen Blick und stellte sein leeres Glas auf das Tablett eines vorbeieilenden Kellners. „War das schon die Show? Oder kommt noch etwas?“
„Ist dir bewusst, wie aufwändig es ist, eine solche Show auf die Beine zu stellen?“, fragte Albert. „Du hättest jede Sekunde genießen sollen, statt auf mehr zu warten.“
Der Widerspruch erstarb in Farens Kehle. Er hatte keine Lust, sich mit Albert deswegen zu streiten, schon allein weil sich das bei seinem Freund ohnehin nie lohnte. Und außerdem bekam Faren gerade Kopfschmerzen wegen ihm. Oder wegen der Atmosphäre. Oder wegen irgendetwas anderem. Er war sich nur sicher, dass er nach draußen wollte. Am besten zu der Party, die er besuchen wollte. Alkohol in rauen Mengen könnte ihm gerade sicher helfen, dass es ihm wieder besser ging. Das gelang immer.
„Du willst also gehen?“
Albert war ihm gefolgt, als er, ohne es zu merken, zur wieder geöffneten Tür gestrebt war. Seine Hand lag bereits auf dem Griff der Glastür, als er von Albert wieder aus der Trance gerissen wurde.
Mühsam setzte er wieder ein Lächeln auf, auch wenn es gequält aussah. „Ja, ich sagte dir doch, dass ich noch auf eine Party gehe. Sicher, dass du nicht mit willst?“
„Ganz sicher“, erwiderte Albert trocken. „Aber sei vorsichtig, in Ordnung?“
Faren wollte einen Scherz machen, um die Atmosphäre aufzulockern, aber er spürte, wie aufrichtig Alberts Sorge war, auch wenn man das seinem gelangweilten Gesichtsausdruck nicht ansah. Deswegen nickte er. „Bin ich. Bis dann, Al.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete er die Tür und ging hinaus. Hinter ihm fiel die Tür lautlos wieder zu. Am noch blauen Himmel war bereits der erste, besonders hell leuchtende, Stern zu sehen.
Kapitel 4: Was machst du hier?
Im Endeffekt hatte Faren nicht so viel getrunken, wie es eigentlich geplant gewesen war. Statt sich ein Taxi zu rufen, lief er deswegen nach Hause. Zum einen kam er damit noch einmal um eine Begegnung mit seinem Vater herum, der dann sicher bereits im Bett wäre, sobald er nach Hause käme. Zum anderen konnte er so einen Teil seines Rausches direkt in der Nachtluft wieder loswerden. Damit schlief er später dann sicher um einiges besser und mit weniger Albträumen vor allem. Auf diese verzichtete er immer gern.
Sein Weg führte ihn durch einige abgelegene Wohngegenden von Cherrygrove. Trotz der Gärten, die sich hier aneinanderreihten und eigentlich geradewegs zu Grillfeiern einluden, waren die gepflegten Rasen verwaist. Hinter manchen Fenstern brannte noch Licht, aber die meisten schienen bereits ins Bett gegangen zu sein. Manchmal sah er auch hinter verdunkelten Scheiben noch blaue flackernde Lichter, was ihn daran erinnerte, dass er gern wieder einmal einen Horrorfilm ansehen würde, einen richtig guten am besten.
Während er an den Häusern entlanglief, sich keine Gedanken darum machte, was wohl die Geschichte der Bewohner war, tastete er nach seinen Zigaretten. Als er sich daran erinnerte, dass er auf der Party die letzte geraucht hatte, seufzte er innerlich, tröstete sich dann aber damit, dass er sich an der nächsten Ecke eine neue Packung kaufen könnte.
So wirklich abgelenkt hatte die Party seine Gedanken aber nicht. Während er dort gewesen war, hatte es funktioniert. Die laute Musik, die tanzenden Menschen, die rauchgeschwängerte Luft und die bunten Lichter, das alles ließ ihn immer wieder den Puls des Lebens spüren. In solchen Momenten war er nicht mehr Faren Griffin, er war Teil eines wesentlich größeren Organismus, der keine Probleme kannte. Zu schade, dass dieser Zustand immer wieder enden musste, jedenfalls dachte er das im ersten Moment danach immer.
Nachdem er das Viertel der Einfamilienhäuser hinter sich gelassen hatte, kam er das direkt angrenzende Viertel, in dem es hauptsächlich Wohnungen für kleinere Familien gab, manche von ihnen lagen über oder neben den unterschiedlichsten Geschäften, die um diese Zeit natürlich geschlossen hatten. Die sonst so hell erleuchteten Schaufenster waren dunkel und traurig, die einladenden Türen zeigten mit Gittern, dass sie genauso abweisend sein konnten.
An der Mauer des Supermarktes war ein Zigarettenautomat befestigt. Faren klaubte sein letztes Kleingeld aus seiner Geldbörse. Sein Glück war ihm hold, er konnte eine Packung seiner Lieblingsmarke ziehen, das stimmte ihn schon zufriedener. Vielleicht wurde dann ja noch etwas aus dieser Nacht.
Rauchend setzte er seinen Weg fort. Ein kurzer Blick auf seine Armbanduhr, verriet ihm, dass es bereits weit nach Mitternacht war. Da wunderte es ihn nicht, dass sich außer ihm niemand mehr auf der Straße befand, nicht einmal ein fahrendes Auto. Genau wie er es sich normalerweise immer wünschte, sobald er der Party-Atmosphäre entflohen war. Allein mit sich und seinen Gedanken, all seinen Problemen, fühlte er sich zwar nicht wohl, aber es war notwendig, damit er sicherstellen konnte, dass er noch als Individuum existierte. In einer Masse unterzugehen war angenehm, aber in ihm lebte ein kleiner Rebell, jemand, dessen Stimme gehört werden wollte, deswegen war es immer wieder heilsam, wirklich allein zu sein. Der Schmerz der Trennung war also bitter-süß.
Er dachte noch darüber nach, als er plötzlich ein leises Geräusch hinter sich hören konnte. Er drehte sich allerdings nicht um Selbst eine unbelebte Stadt konnte in der Nacht merkwürdige Geräusche erzeugen, deswegen machte er sich keine Gedanken.
Das änderte sich allerdings, als es noch einmal erklang. Und dann noch einmal.
Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken, erzeugte ihm eine Gänsehaut. Die Wiederholung hatte ihm die Möglichkeit gegeben, das Geräusch näher zu erkennen. Es klang nach Krallen, die auf dem bloßen Betonboden klackerten. Natürlich war es möglich, dass es sich dabei nur um einen streunenden Hund handelte, aber er traute sich nicht, sich umzudrehen.
Es erklang noch mehrmals, näherte sich ihm langsam, vorsichtig. Faren lief weiterhin, um seinem vermeintlichen Feind nicht zu zeigen, dass er ihn bemerkt hatte. Er zog an seiner Zigarette, konzentrierte sich darauf, sich weiter nichts anmerken zu lassen. Der Weg kam ihm plötzlich viel weiter vor als sonst.
Plötzlich hörte es sich an als würden sich noch weitere Krallen zu den anderen gesellen. Innerhalb kürzester Zeit kam es ihm vor als verfolgte ihn gut ein Dutzend dieser Wesen. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn.
Er nahm den letzten Zug der Zigarette und blieb stehen. Das Klackern verstummte ebenfalls. Seine Aufregung verschwand allerdings nicht. Innerlich zählte er bis drei, dann warf er die Zigarette weg, gleichzeitig fuhr er herum – aber die Straße war leer. Die Straßenlaterne am nächsten zu ihm flackerte ein wenig, eine Motte flatterte dennoch um sie herum. Das war aber das einzige Leben, das er wahrnehmen konnte.
Faren lachte nervös. Lag es an der Dunkelheit, dass er derart paranoid war? Oder hätte er vielleicht weniger trinken sollen? Oder doch mehr?
Gerade wollte er sich erleichtert abwenden, als er das Klackern noch einmal hörte. Diesmal war es nicht hinter ihm, es klang mehr danach als befand sich der Verursacher seitlich von ihm. Sein Körper versteifte sich sofort wieder, obwohl er sich damit zu beruhigen versuchte, dass auch beim ersten Mal nichts geschehen war und er lediglich … nervös war. Derart beruhigt, wandte er den Kopf nach rechts, zu einer Häuserwand, wo er natürlich nichts sah. Nur um sicherzugehen, ließ er den Blick nach oben wandern, worauf er wieder erstarrte.
Dort, auf der Wand, saß eine Echse, die ihn finster anstarrte. Die schwarzen Schuppen glitzerten im Licht der Straßenlaterne, die langen Krallen bohrten sich mühelos in das Mauerwerk. Die spitzen Zähne in seinem Maul wurden durch das finstere Knurren noch hervorgehoben, zumindest lenkte es Farens Aufmerksamkeit nur unnötig in diese Richtung.
Er wusste nicht, wie lange sie sich gegenseitig nur anstarrten. Es erschien ihm wie eine Ewigkeit, aber vermutlich waren es nur wenige Sekunden gewesen, bis das Leben gleichzeitig in sie beide zurückkehrte.
Faren sprang zurück, gleichzeitig stieß die Echse sich von der Wand ab. Als sie auf der Straße landete, verursachte die Wucht ihres Aufpralls Risse im Asphalt. Faren stolperte über seine eigenen Füße und stürzte zu Boden. Statt liegenzubleiben, richtete er sich sofort wieder auf, ohne den Blick von diesem Wesen zu nehmen, das ihn ebenfalls anstarrte, während es ihm langsam folgte.
Der ehrgeizige Gedanke, dieser Echse davonlaufen zu können, trieb Faren auf die Straße hinaus, wo er direkt seinen Fehler erkannte. Hatte er zuvor gut ein Dutzend dieser Wesen gehört, so hatte er nur eines gesehen – die anderen elf waren immerhin damit beschäftigt gewesen, ihn zu umzingeln. Egal, in welche Richtung er sich wandte, sie waren überall, starrten ihn an, knurrten, hielten siegessicher inne, nachdem sie den Ring um ihn geschlossen hatten.
Faren versuchte, seine zu schnelle Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen, versuchte, sein Gehirn dazu zu bringen, ihm eine Antwort zu liefern. Aber es verweigerte ihm jegliche Kooperation, verriet ihm weder, womit er sich hier gerade konfrontiert sah, noch wie er dieser Situation entkommen sollte. Alles, was er sah, war lediglich sein bevorstehender Tod.
So habe ich mir das nicht vorgestellt ...
Als jemand, der mit Gewalt seitens seines eigenen Vaters aufgewachsen war, hatte er sich oft Gedanken über den eigenen Tod gemacht. Schließlich war er zu dem Ergebnis gekommen, dass er durch von den Misshandlungen verursachten Komplikationen sterben würde, allein in einem Krankenhauszimmer, in dem er nur lag, weil er dem Personal irgendeine Geschichte von einem Treppensturz aufgetischt hatte. Kein schöner Tod, aber immer noch besser als hier auf einer dunklen Straße von einem Dutzend monstergleicher Echsen gefressen zu werden.
Aber vielleicht war es besser, sich direkt an dieser Stelle damit abzufinden.
Er seufzte, seine Schultern sanken nach unten. Die Echsen spürten, dass er aufgab, und wurden entsprechend aufgeregt. Sie machten einen Schritt nach vorne – und hielten sofort wieder verwirrt inne.
Faren fragte sich, worauf sie warteten, dann hörte er die Stimme: „Es ist okay. Dir wird nichts geschehen, versprochen.“
Niemand war in der Nähe, woher war die Stimme gekommen? Und warum war sie ihm so bekannt vorgekommen?
Die Echsen sahen nach oben, dann wichen sie fauchend zurück ohne zu fliehen. Faren folgte ihren Blicken, und entdeckte zu seiner eigenen Überraschung einen … Engel. Nein, das konnte nicht sein. Aber egal wie oft Faren blinzelte, er sah immer noch diesen schwarzhaarigen Nichtsnutz, dem weiße Flügel aus dem Rücken gewachsen zu sein schienen, und der nun langsam herabschwebte. Schließlich stand er direkt vor Faren, der fasziniert die Hand hob, um die Flügel zu berühren. Sie waren nicht echt, bestanden nicht aus Federn, sondern reinem Licht, was sie nur umso eigenartiger und gleichzeitig schöner erscheinen ließ.
„Was machst du hier?“, fragte Faren.
„Dir helfen“, erwiderte der andere. „Du bist jetzt in Sicherheit.“
Es lag ihm bereits auf der Zunge, dass die Echsen immer noch ziemlich hungrig aussahen, da erstrahlte ein viel zu helles Licht in den Händen des anderen. Es formte sich zu einem kunstvoll verzierten Bogen, und als er an der Sehne zog, erschien sogar ein strahlender Pfeil. Er ließ die Sehne wieder los, das Projektil schnellte auf eine der Echsen zu, diese schrie gequält auf, als sich die Spitze in sie bohrte. Faren beobachtete, wie ein goldener Faden sich aus dem Ende des Pfeils schlängelte – dieser schoss zur Echse neben ihm, bohrte sich auch unter deren Schuppen und schickte einen neuen Faden los. Plötzlich ging dieser Vorgang derart schnell vonstatten, dass Faren ihm kaum noch mit den Augen folgen konnte, bis alle Echsen über die Fäden verbunden waren. Der Engel ließ den Bogen verschwinden, worauf der Pfeil und die Fäden zu glühen begannen – und dann explodierten. Die Echsen stießen noch einmal Schreie aus, dann lösten sie sich einfach in golden glühende Funken auf, die in den Nachthimmel schwebten.
Kaum verschwanden sie, folgten auch die Flügel des anderen, der sich nun endlich Faren zuwandte. Sein Gesicht war genauso ausdruckslos wie bei ihren ersten beiden Begegnungen, aber plötzlich störte er sich nicht mehr so sehr daran. „Du ...“
„Ich bin Kieran“, stellte er sich endlich vor, bevor er direkt in eine Predigt überging: „Mit all deiner Negativität solltest du nicht einfach allein in der Nacht herumlaufen. Dämonen werden davon angezogen, sie ernähren sich davon.“
„Dämonen gibt es doch gar nicht“, erwiderte Faren automatisch, trotz der Wesen, die er gerade beobachtet hatte, und der Art und Weise, wie Kieran sich ihrer entledigt hatte.
Der andere störte sich aber offenbar nicht sonderlich an dieser Widerrede. „Du solltest auf dich aufpassen. Es ist kaum auszudenken, welche Stärke die Dämonen gewinnen könnten, wenn sie deine Negativität in sich aufnähmen.“
So ganz verstand er das wirklich nicht. Aber zumindest einer Sache musste er widersprechen: „Ich bin nicht negativ. Zumindest nicht so sehr, wie du es gerade darzustellen versuchst, Mann.“
Kieran sagte nichts darauf, aber er setzte sich in Bewegung und bedeutete Faren, ihm zu folgen. Es gefiel ihm zwar nicht, aber er hatte noch Fragen, deswegen schloss er sich dem anderen an – und außerdem wollte er nicht allein an diesem Ort bleiben, an dem gerade ein Dutzend Dämonen gestorben waren.
„Die Dämonen lauern quasi in den Schatten“, erklärte Kieran, ohne ihn anzusehen. „Das darfst du dir aber nicht wörtlich vorstellen. Es ist eher so als gäbe es in den Schatten noch etwas Dunkleres, etwas worin sie sich verstecken können, während Menschen es nicht sehen können.“
Woher wusste er davon? Und warum erzählte er das einfach so?
„Das sind doch Dinge, die du gern wissen möchtest, oder? Wie Dämonen überhaupt in dieser Welt existieren können, ohne dass die Menschen sie nicht bemerken.“
„Ja, schon, aber-“
„Nachts kommen sie aus ihren Verstecken, scharen sich um jene, die viel Negativität in sich tragen, und fressen diese. Negative Energie ist das, wovon sie sich ernähren, und was sie stärker macht.“
Also war das wirklich der Plan der Echsen gewesen. Es war kaum zu glauben, dass er noch immer lebte. Oder?
Faren warf einen Blick über seine Schulter, nur um sicherzugehen. Es lag kein Körper auf der Straße, also lebte er noch, zumindest soweit er sagen konnte. Das hier war nicht nur eine Fantasie seines sterbenden Gehirns.
Alles wirkte noch wie zuvor, aber gleichzeitig kam es ihm auch vor als wäre ein Schleier gelüftet worden, der ihm die unschöne Wahrheit hinter allem offenbarte. Und das auf einer einsamen Straße, mitten in der Nacht.
„Warum kannst du gegen sie kämpfen? Was waren das für Tricks?“
Kieran antwortete darauf nicht. Er lief einfach nur.
„Hängst du deswegen immer irgendwie in meiner Nähe herum? Weil du mich beschützt?“
„Ja. Auch wenn ich es nicht wirklich gern mache.“
„Warum denn das?“
„Es geht mir nicht darum, jemanden wie dich zu beschützen, stattdessen will ich nur verhindern, dass die Dämonen an Stärke gewinnen.“
Jemanden wie dich? Wie war das denn gemeint?
Kieran warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. „Ich meine damit so einen unsympathischen Menschen wie dich.“
Mit weit ausgreifenden Schritten überholte Faren ihn, und stellte sich so vor Kieran, dass dieser stehenbleiben musste. „Du findest mich unsympathisch? Wie soll ich das denn verstehen?“
Sein Gegenüber hielt inne und sah ihn unbeeindruckt an. „Wir haben uns dreimal getroffen, und bei zwei Begegnungen hast du mich nur scharf angefahren. Bei der dritten hättest du das sicher ebenfalls gemacht, wenn ich dich nicht gerettet hätte.“
„Hey, blende mal nicht aus, dass du mich beim ersten Mal angerempelt hast!“
„Um dich vor einem Dämon zu retten.“
Das brachte Farens ganze Argumentation ins Straucheln. Aber so einfach ließ er sich nicht besiegen, auch wenn seine Erwiderung schon wesentlich kleinlauter klang: „Das hättest du mir ruhig auch irgendwann mal sagen können.“
„Hätte das irgendetwas geändert?“
„Natürlich hätte es das. Ich wäre dann netter zu dir gewesen.“
Kieran rollte mit dem sichtbaren Auge. „Warum kannst du nicht einfach so nett sein?“
„Das bin ich ja auch! Da musst du nur alle fragen, die mich kennen. Ich bin ein toller Typ.“
Jedenfalls gab es, bis auf seinen Vater, keine Beschwerden über ihn. Sonst würde er wohl auch kaum auf alle möglichen Partys eingeladen werden. Aber Kieran ließ sich von dieser Argumentation nicht beeindrucken. „Ich denke, du bist gut darin, allen etwas vorzuspielen. Das ist weit weg von der guten Person für die du dich hältst.“
Vielleicht hatte er da in gewisser Weise recht. Möglicherweise war Faren kein sonderlich guter Kerl, genoss es aber, einen solchen darzustellen. Eventuell würde Albert ihm aber auch sagen, dass er sich einfach zu viele Gedanken machte.
„Ich werde dir beweisen, dass ich ein guter Kerl bin!“
Diesmal stutzte Kieran tatsächlich. „Was?“
„Wir werden miteinander Zeit verbringen, dann siehst du, was für ein toller Mensch ich bin, dann stimmst du den anderen auch zu. Komm schon, du musst doch sowieso auf mich aufpassen, oder? Dann kannst du das ja genausogut mit mir zusammen machen.“
Dem konnte Kieran offenbar nichts entgegensetzen, denn er schwieg.
„Du musst das ja nicht für immer machen. Sagen wir, eine Woche?“ Er hielt dem anderen die Hand entgegen, damit dieser einfach nur einschlagen musste.
Kieran hatte die Stirn gerunzelt, der Rest seines Gesichts war nach wie vor unergründlich. Wie machte der Kerl das nur? Hatte er sich Botox spritzen lassen?
Schließlich, als Faren schon nicht mehr daran glaubte, schlug Kieran doch in seine Hand ein. Der Druck war erstaunlich fest, das sah man dem anderen gar nicht an.
„Du hast eine Woche“, sagte Kieran. „Aber sei dir bewusst, dass ich sehr daran zweifle, dass du mich überzeugen kannst.“
Faren schlug sich gegen die Brust. „Wart's nur ab, ich bekomme das schon hin.“
Damit trat er beiseite, damit Kieran weitergehen und er sich wieder anschließen könnte. Während er das tat und den Rest des Weges schweigend hinter sich brachte, fragte Faren sich, ob es ihm wirklich gelingen könnte, jemanden wie Kieran von etwas zu überzeugen, an das er nicht einmal selbst wirklich glauben konnte.