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Oni

von

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M.
 

Zaghaft lasse ich mich auf das tägliche Klang- und Farbspiel des Unterrichts ein. Das kristallklare Flüstern. Die erdrückenden Blautöne. Bekannte, unwirkliche Normalität. Betäubend vertraut vereinen sich die feinen Noten der Klasse zu einem kaum wahrnehmbaren Summen. Sie lassen die Gedanken abschweifen, hin zu den Bildern verdrängter Abgründe. Phantastische Töne roter Leere, fern der überbelichteten Realität, die mich umgibt. Mit verführerischen Klängen versuchen sie, alles um mich auszublenden.

Lenk’ dich ab, befiehlt mir die Gegenstimme der Vernunft, und ich gehorche.

Meine Blicke durchschweifen die blaue Monotonie des Raumes, jagen etwas, das fesselnd genug ist, um die rot gefärbten Tagträume wegzuschließen. Als sie die hohen Fenster durchdringen, finden sie, was ich suchte. Dort scheint der Mond im blauen Licht des Tages, umringt von kreisenden Wolken, die ihn zu verschlingen drohen. Verloren blicke ich zu dem reflektierenden Narbengebilde. Seine Krater haben mich schon immer beruhigt. Er trägt seine Male offen, ich maskiert.

Ob er sie auch kennt, die schneidenden Bilder, die meinen Blick zu ihm trieben? Die roten Phantasmen, die nicht in diese Welt passen – und doch nach Umsetzung verlangen. Vielleicht ist der Himmel seine blaue Wirklichkeit, in die er nicht gehört, und die Wolken sind seine roten Gedanken, die ihm nahe kommen, ohne ihn jemals zu vertilgen.Völlig deplatziert in Raum und Zeit …

Die Brechung meiner eigenen Realität verdrängt die Bilder und Gedanken aus meinem Kopf. Ruhig atme ich ein und lasse die Umgebung wieder über die Schwelle meiner Wahrnehmung gleiten. Die anderen richten ihren Blick nach vorne oder nach unten. Niemand scheint den Mond zu bemerken, wie er zur falschen Tageszeit am Himmel steht. Vielleicht ist ihnen das Fenster zu hoch, vielleicht sind ihre Gedanken blau wie der Tag, sodass sie keine Ablenkung brauchen. Stattdessen starren sie auf ihre Art zur Tafel; auf die Weise, wie sich die Hinterköpfe ihrer Mitschüler bewegen; in die Rillen der leeren Pulte, auf denen ihre Gesichter liegen, oder womöglich in das Nichts hinter allen Dingen. Ich kann es nicht mit Gewissheit sagen, sie sind nicht greifbar für mich.
 


 

Der Mond ist so narbig, weil Freiheit verletzt
 

D.
 

Es liegt nichts Greifbares hinter den Dingen, die sich auf den Dach abspielten. Jetzt bin ich das Messer und das Messer ist alles. Alles, was ich bin, liegt in meiner Hand. Alles, was ich bin, befindet sich im Treppenhaus, und bewegt sich vom Dach der Schule in den Flur des dritten Stocks. Vom Himmel abwärts. Wohin der Stahl zeigt, wird er geführt. Gehorsam ist die Maske, hinter der ich mich verstecke. Ohne die Klinge war ich nichts. Auch alles, was vor dem Moment liegt, in dem ich den Flur des dritten Stocks betrete, hört auf.

Ich bin, was dem Messer folgt. Die anderen weichen mir aus, weichen zurück. Gerade weit genug, damit ich sie nicht haschen kann, doch nah genug, dass mich ihre Angst noch feindlich anspringt. Die Furcht ist ihre Maske. Was auch immer sich dahinter verbirgt, es flieht vor meinen Augen.

Nur der Mond weicht meinem Blick nicht aus. Der Mond und das Mädchen, das vor mir steht. Ich hebe die Klinge empor. Sie schreckt nicht zurück. Das Licht ist klar, beinah steril. Da ist Angst in ihrem Blick, aber sie geht nicht weg. In dem kalten Metall spiegelt sich der Mond. In ihren Pupillen sehe ich mich. Nein, nicht mich, nur mein Spiegelbild, das nicht vor mir zurückweicht. Das ist nicht meine Angst, das ist die Reflektion meiner Angst. Ich will nicht mehr das Messer sein, steht in meinen Pupillen geschrieben. Ich sehe es in ihren Augen. In meiner Iris. In der Spiegelung meines Blicks sehe ich, wie mein Wille zerfällt. Ich breche an meinen Augen entzwei. Langsam strecke ich die Waffe dem Mädchen entgegen. Sie soll weggehen. Die Reflektion. Das Mädchen. Die Angst. Es soll aufhören. Sie weicht nicht vor mir zurück. Das Messer ist auf sie gerichtet. Langsam nimmt sie es aus meiner Hand.
 

Die Sonne macht farbig, was Wolken entsetzt
 

N.
 

Das Metall in meiner Hand spiegelt mein Inneres, es lässt mich erkennen. Ich bin Oni, das Messer, das fängt. Es hat alles abgetrennt, was im Kern nie zu mir gehörte, und ließ nur ein N zurück. Der Rest ist von mir abgefallen wie die Maske fremder Angst.

Das Mädchen, das einst Messer war, fällt vor mir auf den Boden und bleibt regungslos liegen. Ich senke die Klinge und wende meinen Blick ab. Alle Augen wandern zu mir, denn ich bin Oni. Auch der Mond sieht nur mich. Die Wolken und der Himmel, niemand kümmert sich um das Mädchen, das hinter mir liegt. Mitten im Flur. Niemand hat gesehen, wie ihre Maske an mir zerbrach. Nur ich. Ich zerbreche nicht.

Das helle Licht und die ängstlichen Blicke meiner Mitschüler lassen mich kalt. Ich atme die Ruhe, die ihnen fehlt. Von irgendwoher summt etwas das alte Lied von Jäger und Beute.

Meine Faust umfasst den Griff fester. Schmerz breitet sich von ihr aus. Unerwartet. Finger zucken. Meine Pupillen dürfen das Zucken der Finger nicht imitieren. Die Ruhe weicht vor mir zurück. Niemand darf es sehen. Nichts hat sich verändert. Es ist nur ein Grat am Griff. Warmes Blut in meiner Hand. Blut, kein Angstschweiß. Keine Unsicherheit. Nur das fehlerhafte Messer, das mir wie ein Kompass die Richtung diktiert. Und ein Ich, das folgt.

Langsam streife ich durch den langen Gang voller halbtransparenter Schatten. Masken ohne Substanz. Sie weichen mir aus. Das Messer ist alles, was zählt. Es ist alles, was ich bin, und solange ich es führe, bin ich vor allem geschützt. Vor allen anderen und vor der Angst, die aus meiner Hand tropft.

Der Stahl zeigt auf eine Tür, ich öffne sie. Das Messer zeigt auf ein Mädchen. Ich werde sie öffnen. Meine Füße tragen die Klinge zu ihr. Die Waffe hebt sich … Ich zögere. Mein Arm verkrampft – unfähig, in mein Opfer zu stürzen. Meine Hände tropfen. Ich kann sie nicht öffnen. Ich kann nicht. Wie gelähmt starre ich das Mädchen an. Sie starrt auf die Spitze der Klinge, die Schneide, den Griff, auf die Angst, die aus meiner Hand strömt … Ihre kalten Augen starren mir das Messer aus der Hand. Ich ertrage es nicht. Soll sie es doch haben. Ich bin es nicht wert.
 

Das Messer, es trifft dich, wenn du es verführst
 

O.
 

Starr umspielt das kalte Licht mein Spiegelbild in der Klinge. Es verzerrt, doch das ist nicht schlimm. Es ist das Wertvollste, was ich je in der Hand hatte. Seit die Andere es mir gab, wird es wärmer. Viel wärmer. Von meiner Hand breitet sich ein nie gekanntes Wohlgefühl in meinem ganzen Körper aus. Es ist, als wäre das Messer die einzige Wärme in einer völlig erfrorenen Welt.

Mein Name ist O. Ich weiß, dass dies mein Name ist, weil er auf dem silbergrauen Metall des Messers steht. Vielleicht stand dort einst mehr, und mein Name ging über diesen Buchstaben hinaus. Aber das Messer flüstert mir zu, dass alles, was früher war, nicht mehr wichtig sei. Und ich glaube ihm jedes Wort, denn es ist so rein, dass es im Licht des Mondes blaue Schatten wirft. Die Andere sucht zaghaft Abstand von mir. Ich habe nicht gemerkt, dass ich aufgestanden bin. Aber die Klasse weiß es. Alle Augen blicken zu mir. Ich bin Oni, das Messer, das opfert. Ich weiß es, weil das Messer es mir gesagt hat. Doch begreife ich nicht, was es zu bedeuten hat.

Alles, was ich weiß, ist – sie alle bestehen aus Eis: die Tische, die Menschen, die Gedanken, der Mond … auch ich bin aus Eis, und nur aus dem Messer flutet Wärme in die Welt. Mehr als Wärme, Hitze. Ein Übermaß seiner Energie strömt in mich, durch mich hindurch und aus mir heraus. Trage ich es zu lange bei mir, wird mein Arm aus Eis verbrennen. Es muss kühlen, an jemandem gekühlt werden, der nicht Oni ist. Das Messer fordert, und meine Mitschüler verstehen es, einige von ihnen sind aufgestanden. Die mir am nächsten stehen, suchen Abstand. Ihre Blicke weichen mir aus, sobald sich die Klingen unserer Augen berühren. Doch was jetzt geschieht, ist unausweichlich. Ich weiß das, weil das Messer es mir prophezeit hat.

Nur ein Augenpaar fixiert das meine. Ich verstehe nicht, was es von mir verlangt, aber die Spitze der Klinge zeigt auf sie. Das Messer wärmt mich, verbrennt mich und zeigt auf sie. Auf das Mädchen, das den Mond anstarrte. Es will sie. Ich will es nicht. Nicht mehr, es ist zu viel.

Ich stehe vor ihrem Pult, wie ich hergekommen bin, ist mir entfallen. Eben war ich noch an meinem Platz, zwei Reihen hinter ihr. Sie betrachtet mich ungewohnt ruhig. Fast skeptisch. Als würde sie abwägen, ob ich bin oder nicht. Die Hitze des Messers steigt, aber ich spüre sie kaum. Da ist etwas anderes hinter ihr. Hinter allen. Versonnen schaue ich ins Nichts, das ich war, bevor ich Oni wurde. Der Griff des Messers brennt wie Feuer. Es erreicht mich nicht. Dort hinter allen Dingen. Vielleicht ist das Eis meiner Hand schon geschmolzen. Alles ist so weit weg. Irgendwo am Rande meiner Wahrnehmung spüre ich, dass meine Hand noch Finger hat. Aber sie halten das Messer nicht mehr.
 

Und Träume sind giftig, wenn du sie berührst
 

M.
 

Der metallene Griff des Messers ist kalt. Eiskalt. Erst als ich den Stahl aus dem Pult gezogen hatte, begann ich zu zweifeln, ob alles nur Einbildung ist. Das Messer ist echt, das Mädchen vor mir ist echt. Wären sie Vorstellung, hätte sie es bereut, ihre Waffe fallen zu lassen. Als würde sie meine Gedanken lesen, zuckt sie zusammen. Haben mich meine Augen verraten – oder erschrak sie vor sich selbst? Im Affekt stehe ich auf und versuche, sie zu beschwichtigen. Das muss real sein, ich bin es gewohnt, mich in der Realität zu rechtfertigen. Bevor ich etwas sagen kann, sehe ich, wie sich meine Mitschüler erheben. Alle, die nicht schon standen, erheben sich und weichen vor mir zurück. Ich spüre ihre Blicke überall auf mir. Sie mustern mich, wie die Herde den Wolf. Es fühlt sich stechend an, verstörend, echt. So echt wie das Messer in meiner Hand. Das ist keine Einbildung. Ich bin der Jäger, sie das Wild. Doch statt blanker Angst blicken mich blaue Augen voller Unsicherheit an, die schnell in Angriffslust umschlagen kann. Und ein Teil von mir bettelt geradezu darum. Nicht der vernünftige Teil, nicht der Teil, der verstanden hat, dass dies kein Spiel ist. Die Herde macht sie stark, und ich bin es nicht gewohnt, das Messer offen vor mir zu tragen statt in mir.

Sie lauern. Warten auf eine Tat. Etwas spannt meinen Körper und lässt die Härchen im Nacken wie kleine Klingen aufstehen. Ich will weg von ihnen, von der Gefahr, von meinem Wunsch und der Bedrohung, die sie in mir sehen. Instinktiv weiche ich zurück, bis ich ein Pult im Rücken spüre.

Sie tauschen Blicke, ändern ihre Haltung. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich sehe es in ihren weit aufgerissenen Augen. Szenen überschlagen sich in meinem Kopf. Sie kommen auf mich zu. Zaghaft, doch beständig. Übelkeit steigt in mir auf. Wie viele von ihnen könnte ich überwältigen? Das Messer ist kalt in meiner Hand. Vielleicht ein paar. Meine Gedanken haben mich nicht zum Mörder gemacht. Das Messer wird es auch nicht schaffen.

Sie weichen nicht zurück. Ich bin der Fehler. Sie sind überall. Sie kreisen mich ein. Leg das Messer weg, sagen ihre Blicke. Ich beginne zu zittern. Ich darf das Messer nicht loslassen. Sie kommen näher. Das Messer gehört zu mir. Noch näher. Sie dürfen es nicht haben. Zu nah. Viel zu nah.

Ihre Arme greifen nach mir. Nach dem Messer. Schützend berge ich es an meiner Brust. Erstaunlich gut schmiegt es sich an meine Rippen. Sie werden mich zerreißen. Sie werden es mir wegnehmen. Unfähig, etwas zu tun, schließe ich meine Augen. Ich will in die Dunkelheit flüchten, vor einer Welt, in der man mir mein Messer stiehlt. Ich halte die Luft an, und spüre den Atem der Klinge. Durch den Stahl schlägt mein Herz. Schlagartig öffne ich meine Augen, bereit für alles, was kommen mag.

Vor mir sind Pulte, Stühle, dahinter Wände und tiefe Schatten. Ich sehe mich um. Angespannter als zuvor. Sie sind weg. Alle. Der Fußboden ist klebrig unter meinen Füßen. Etwas Rotes spiegelt sich im Messer. Auf der Suche fällt mein Blick auf die hohen Fenster. Der Mond ist gegangen. An seine Stelle ist eine blutrote Abendsonne getreten.



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